cr-2F. C. S. SchillerNietzscheP. SzendeK. MannheimMH    
 
MAX HORKHEIMER
Zum Problem der Wahrheit
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"Die erkenntnistheoretische Lehre, daß die Wahrheit lebensfördernd ist, oder vielmehr, daß alles lohnende Denken auch wahr sein muß, enthält eine harmonistische Täuschung, falls diese Erkenntnistheorie nicht einem Ganzen angehört, in dem die Tendenzen, die auf einen besseren, das Leben fördernden Zustand hintreiben, wirklich zum Ausdruck kommen. Losgelöst von einer bestimmten Theorie der Gesamtgesellschaft bleibt jede Erkenntnistheorie formalistisch und abstrakt."

"Solange das gesellschaftliche Leben nicht aus solidarischer Arbeit, sondern aus der vernichtenden Konkurrenz von Einzelsubjekten hervorgeht, deren Beziehung wesentlich durch den Tausch von Waren vermittelt wird, spielt das Ich, das Haben, das Mein und Nicht-Mein eine fundamentale, alle Einzelheiten in bestimmender Weise kennzeichnende und beherrschende Rolle im Erleben, in der Sprache und im Denken, in allen kulturellen Äußerungen überhaupt."

Im Begriff  Bewährung  stecken verschiedene Elemente, die in der pragmatistischen Literatur nicht immer voneinander unterschieden werden. Eine Ansicht kann sich ohne Rest bewähren, indem sich die gegenständlichen Verhältnisse finden, deren Existenz behauptet wird, somit aufgrund von Erfahrung und Beobachtung unter Verwendung einwandfreier Hilfsmittel und logischer Schlüsse, und sie kann außerdem noch ihrem Träger oder anderen Menschen praktisch nützen. Auch bei der ersten dieser Beziehungen entsteht ein Nutzen für die gedankliche Ordnung und Orientierung. JAMES spricht dabei von einer "Funktion des Hinführens, das der Mühe lohnt" (25). Er sieht, daß diese theoretische Bewährung, die Übereinstimmung zwischen Gedanken und Wirklichkeit, das Abbilden, oft nichts anderes bedeutet, als "daß auf dem Weg, den unsere Ideen uns führen, uns kein von der betreffenden Wirklichkeit ausgehender Widerspruch, keine Störung begegnet." (26) Wird jedoch der Unterschied zhwischen dieser theoretischen Verifikation der Wahrheit und ihrer praktischen Bedeutung, der "Lebensförderung" in einem gegebenen historischen Augenblick verwischt, so kommt jene Idee eines geradlinig parallelen Fortschritts von Wissenschaft und Menschheit zustande, der durch den Positivismus philosophisch fundiert, im Liberalismus zur allgemeinen Jllusion geworden ist. Je mehr jedoch eine gegebene gesellschaftliche Ordnung aus einer Förderung der kulturschaffenden Kräfte zu ihrer Hemmung wird, desto stärker widerspricht die verifizierbare Wahrheit den mit dieser Form verbundenen Interessen und bringt die Träger der Wahrheit in einen Gegensatz zur vorhandenen Wirklichkeit. Sofern es ihnen freilich mehr auf die Allgemeinheit als auf die eigene Existenz ankommt, haben die Individuen einen Grund, die Wahrheit, die auszusprechen sie gefährden kann, trotzdem zu schärfen und weiterzutreiben, denn der Ausgang ihres Kampfes um die Verwirklichung besserer Prinzipien der Gesellschaft hängt entscheidend von der theoretischen Klarheit ab. Der Pragmatismus übersieht, daß dieselbe Theorie für jene anderen Interessen im gleichen Maß zur vernichtenden Macht wird, in der sie die Aktivität der nach vorwärts gerichteten Kräfte erhöht und wirksamer macht. Die erkenntnistheoretische Lehre, daß die Wahrheit lebensfördernd ist, oder vielmehr, daß alles "lohnende" Denken auch wahr sein muß, enthält eine harmonistische Täuschung, falls diese Erkenntnistheorie nicht einem Ganzen angehört, in dem die Tendenzen, die auf einen besseren, das Leben fördernden Zustand hintreiben, wirklich zum Ausdruck kommen. Losgelöst von einer bestimmten Theorie der Gesamtgesellschaft bleibt jede Erkenntnistheorie formalistisch und abstrakt. Nicht bloß Ausdrücke wie  Leben  und  Förderung,  sondern auch scheinbar spezifisch erkenntnistheoretische Terminie wie  Verifikation, Bestätigung, Bewährung  usw. bleiben bei der sorgfältigsten Definition und bei einer Übernahme in eine mathematische Formelsprache vage und unbestimmt, wenn sie nicht durch die Zugehörigkeit zu einer umfassenden theoretischen Einheit mit der wirklichen Geschichte in Verbindung stehen und ihre Bestimmung erhalten. Auch für sie gilt der dialektische Satz, daß jeder Begriff erst als Moment des theoretischen Ganzen reale Gültigkeit besitzt, er kommt zu seiner eigentlichen Bedeutung erst, wenn über seine Verflechtung mit anderen Begriffen zur theoretischen Einheit fortgeschritten und seine Rolle in ihr erkannt ist. Welches Leben fördern die Gedanken, denen das Prädikat der Wahrheit zugesprochen werden soll? Worin besteht die Förderung in der gegenwärtigen Periode? Gilt der Gedanke auch dann als wahr, wenn der Einzelne, der ihn gefaßt hat, zugrunde geht, dagegen die Gemeinschaft, die Klasse, die Allgemeinheit vorwärts schreitet, für die er kämpft? Was heißt Bestätigung? Soll die Macht von Verleumdern und Schurken den Behauptungen zum Beweis dienen, mit deren Hilfe sie zu ihr gekommen sind? Kann der krudeste Aberglauben, die armseligste Verkehrung der Wahrheit über Welt, Gesellschaft, Recht, Religion und Geschichte denn nicht ganze Völker ergreifen und sich im Leben seiner Urheber und ihres Anhangs auf das Trefflichste bewähren? Bedeutet umgekehrt die Niederlage der freiheitlichen Kräfte die Widerlegung ihrer Theorie?

Der Begriff der  Bewährung  spielt auch in der materialistischen Denkart eine Rolle. Vor allem seine kritische Bedeutung gegenüber der Annahme einer transzendenten übermenschlichen Wahrheit, die, anstatt der Erfahrung und Praxis grundsätzlich zugänglich zu sein, der Offenbarung und Einsicht von Auserwählten vorbehalten bliebe, macht ihn zur Waffe gegenüber jeder Art von Mystizismus. So sehr jedoch Theorie und Praxis in der Geschichte verknüpft sind, so wenig waltet zwischen ihnen eine prästabilierte [vorgefertigte - wp] Harmonie. Was sich theoretisch als richtig einsehen läßt, ist darum nicht zugleich schon verwirklicht. Die menschliche Tätigkeit ist keine eindeutige Funktion der Einsicht, sondern ein Prozeß, der in jedem Augenblick ebenso von anderen Faktoren und Widerständen bestimmt wird. Aus dem heutige Zustand der Geschichtstheorie geht dies klar hervor. Eine Reihe von Tendenzen der Gesellschaft sind in ihrer Wechselwirkung theoretisch dargestellt: die Zusammenballung großer Kapitalien gegenüber dem sinkenden Anteil des durchschnittlichen Individuums im Verhältnis zum Reichtung der Gesamtgesellschaft, die durch immer kürzere Perioden eines relativen Aufschwungs eine unterbrochene Vermehrung der Arbeitslosigkeit, die steigende Diskrepanz zwischen der Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit auf die verschiedenen Warenarten und dem Bedürfnis der Allgemeinheit, die Ablenkung der Produktivität von konstruktiven auf destruktive Ziele, die Zuspitzung der Gegensätze im Innern und Äußeren der Staaten, alle diese Prozesse wurden von MARX als notwendig nachgewiesen, als sie sich nur in wenigen fortgeschrittenen Ländern und im Keim studieren ließen und die Aussicht einer liberalistischen Verfassung der Welt noch ausgezeichnet schien. Die heute in der Tat bestätigte Ansicht der Geschichte, von der diese Dynamik nicht bloß überhaupt vorausgesagt, sondern zugleich als notwendig erwiesen worden ist, hat diese Verläufe jedoch von Anfang an in einem ganz bestimmten Sinn aufgefaßt, nämlich als Tendenzen, die durch den Einsatz der von dieser Theorie geleiteten Menschen daran verhindert werden könnten, zum Rückfall der Gesellschaft in Barbarei zu führen. Die durch den historischen Verlauf bewährte Theorie war nicht bloß als Theorie, sondern als Moment einer befreienden Praxis gedacht und mit der ganzen Ungeduld der bedrohten Menschen verknüpft. Die Bewährung des unbeirrbaren Glaubens, der in diesem Kampf enthalten ist, hängt mit der schon eingetretenen Bestätigung jener vorausgesagten Tendenzen eng zusammen, aber beide Reihen der Verifikation sind doch nicht unmittelbar dasselbe, die Vermittlung bildet vielmehr die wirkliche Anstrengung, die Lösung der konkreten historischen Probleme aufgrund der durch die Erfahrung erhärteten Theorie. Bei diesem Tun mögen sich fortwährend einzelne Teilansichten als falsch erweisen, Zeitbestimmungen widerlegt, Verbesserungen notwendig werden, es zeigen sich geschichtliche Faktoren, die übersehen wurden, manche heftig verteidigte und gehegte These erweist sich als Irrtum. Der Zusammenhang mit der Theorie als ganzer geht jedoch bei dieser Anwendung keineswegs verloren. Das Festhalten an ihrem bestätigten Lehrgehalt und den sie gestaltenden und durchherrschenden Interessen und Zielen ist die Voraussetzung der wirksamen Verbesserung von Fehlern. Unbeirrbare Treue zu dem als wahr Erkannten ist ebensosehr ein Moment des theoretischen Fortschritts wie die Offenheit für neue Aufgaben, Situationen und eine entsprechende Zentrierung der Gedanken.

Wenn in einem solchen Prozeß der Bewährung die um vernünftigere Zustände ringenden Einzelnen oder Gruppen völlig erliegen und die gesellschaftliche Verfassung der Menschen in eine rückläufige Entwicklung geraten würde, was als denkbare Möglichkeit jede nicht in einen Fatalismus entartete Geschichtsauffassung formal gelten lassen muß, dann wäre das Vertrauen in die Zukunft, das freilich nicht bloß als äußerlicher Zusatz, sondern als begriffsbildende Kraft zur Theorie gehört, widerlegt. Aber der eitle Hinweis wohlmeinender Kritiker, die jede verfrühte Feststellung, jede verfehlte Analyse einer augenblicklichen Situation bei den Anhängern der Sache der Freiheit als Beweis gegen ihre Theorie im ganzen, ja gegen Theorie überhaupt benutzen, entbehrt dennoch der Berechtigung. Die Niederlagen einer großen Sache, die der Hoffnung auf ihren nahen Sieg zuwiderlaufen, beruhen häufig auf Fehlern, die den theoretischen Inhalt der Gesamtauffassung nicht zerstören, mögen sie noch so weittragende Folgen haben. Hängen auch Richtung und Inhalt der Aktivität und somit auch das Gelingen bei den geschichtlich nach vorwärts strebenden Gruppen enger mit ihrer Theorie zusammen als bei den Beauftragten der bloßen Macht, deren Rede zu ihrem Aufstieg im Verhältnis eines mechanischen Hilfsmittels steht und nur die Sprache der offenen und geheimen Gewalt durch die der List und des Betrugs ergänzt, selbst wenn sie dem Wortlaut nach der Wahrheit gleichen sollte, so könnte die Erkenntnis der untergehenden Kämpfer, sofern sie die Struktur der gegenwärtigen Epoche und der grundsätzlichen Möglichkeit einer besseren spiegelt, nicht dadurch zu Schanden werden, daß die Menschheit in Bomben und Giftgasen verkommt. So einfach ist der Begriff der  Bewährung  als Kriterium der Wahrheit nicht aufzufassen. Die Wahrheit ist ein Moment der richtigen Praxis; wer sie jedoch unmittelbar mit dem Erfolg identifiziert, überspringt die Geschichte und macht sich zum Apologeten der jeweils herrschenden Wirklichkeit; die unaufhebbare Differenz von Begriff und Realität verkennend, kehrt er zu Idealismus, Spiritismus und Mystizismus zurück.

In der marxistischen Literatur sind Formulierungen zu finden, die der pragmatistischen Lehre nahestehen.
    "Die Theorie schlägt unmittelbar in Praxis um", schreibt  Max Adler (27), "weil in der Theorie, wie sie der Marxismus uns verstehen gelehrt hat, nichts richtig sein kann, was in der Praxis nicht taugt; ist die soziale Theorie doch nur die Rekapitulation der Praxis selbst".
Über der Identität von Theorie und Praxis ist aber ihr Unterschied nicht zu vergessen. Bei aller Pflicht jedes verantwortlich Handelnden, aus den Rückschlägen in der Praxis zu lernen, vermögen diese doch nicht die bestätigte Grundstruktur der Theorie auszulöschen, im Hinblick auf die sie einzig als Rückschläge zu verstehen sind. Nach dem Pragmatismus gehen die Bewährung der Gedanken und ihre Wahrheit ineinander auf; dem Materialismus nach bildet die Bewährung, der Nachweis, daß Gedanken und objektive Realität übereinstimmen, selbst einen historischen Vorgang, der gehemmt und unterbrochen werden kann. So wenig diese Ansicht eine grundsätzlich verschlossene, unerkennbare Wahrheit oder das Sein von Ideen, die keiner Wirklichkeit bedürfen, respektiert, so wenig fällt der Begriff einer Überzeugung, die infolge der gegebenen Konstellation der Welt von Bewährung und Erfolg abgeschnitten ist, a priori mit der Unwahrheit zusammen. Dies trifft auch für die historischen Konflikte zu. Die Möglichkeit einer vernünftigeren Form des menschlichen Zusammenlebens ist auch im Großen heute schon genugsam bewährt, um offenbar zu sein. Zur vollen Demonstrierung gehört der universale Erfolg; dieser hängt von der historischen Entwicklung ab. Daß inzwischen das Elend andauert und der Schrecken sich ausbreitet, die furchtbare Gewalt, die jene allgemeine Bewährung unterdrückt, hat keine Beweiskraft für das Gegenteil.

An der umfangreichen Widerlegung, die der Pragmatismus durch MAX SCHELER im Nachkriegsdeutschland erfuhr, treten die Gegensätze deutlich zutage (28). SCHELER hat das relative Recht des Pragmatismus nicht verkannt:
    "Sogenanntes Wissen nur um des Wissens willen gibt es nirgends und darf es und soll es auch gar nicht geben; und hat es ernsthaft auch nie und nirgends auf der Welt gegeben. Wenn der Pragmatismus den positiven, exakten Wissenschaften an erster Stelle einen praktischen Beherrschungszweck zuweist, so ist das sicher nicht falsch; es ist vielmehr eitle Geckenhaftigkeit, die positive Wissenschaft zu gut oder zu vornehm zu befinden, dem Menschen Freiheit und Macht zu geben, die Welt zu lenken und zu leiten." (29)
Er hat ferner begriffen, daß die Ausbildung des Kriteriums der praktischen Arbeit in dieser Lehre ausschließlich am Vorbild der anorganischen Naturwissenschaft gewonnen und dann mechanisch undifferenziert auf die gesamte Erkenntnis übertragen wurde. Hätte er nun den Begriff der Praxis selbst einer Analyse entzogen, so wäre offenbar geworden, daß dieser keineswegs so klar und einfach ist, wie es im Pragmatismus aussieht, wo er die Wahrheit reduziert und verärmlicht. Bei naturwissenschaftlichen Experimenten freilicht kommt der Sinn des Kriteriums nicht zur Entfaltung. Ihr Wesen besteht darin, Behauptung, Gegenstand und Verifikation sauber zu isolieren; die Unbestimmtheit und Fragwürdigkeit der Situation liegt in dem unausgesprochenen Verhältnis der besonderen wissenschaftlichen Verrichtung zum Leben der Individuen und der Allgemeinheit, in der scheinbaren Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit der theoretischen Handlung. Das Unaufgelöste, Problematische an ihrer Beziehung zum konkreten, historischen Leben, in das sie sinngemäß verflochten ist, tritt zutage, sobald man die maßgeblichen Kategorien, die Wahl des Gegenstandes und der Methoden näher untersucht. Die Praxis als Bewährung führt selbst zur Kritik der die Naturwissenschaft und ihre Grundbegriffe hypostasierenden positivistischen Philosophie; es bedarf nicht der Hilfe der Metaphysik. So sehr die Fragen der Naturwissenschaft in ihr selbst und mit ihren spezifischen Mitteln aufzulösen sind und sich jeder anderen Kompetenz entziehen, so sehr ist andererseits das fachliche Wissen ansich abstrakt und gewinnt seine volle Wahrheit erst in der Theorie, welche die Naturwissenschaft in dieser bestimmten historischen Lage als ein Moment der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung begreift. Wird weiter die Praxis bloß im Spezialfall des physikalischen Experiments und der darauf begründeten Technik, sondern in der Theorie der Geschichte als Kriterium verstanden, dann zeigt sich ohne weiteres, daß in ihm jeweils die gesamte Situation der Gesellschaft in einem bestimmten, historischen Moment enthalten ist. Um zu bestimmen, ob diese oder jene Beurteilung der autoritären Staaten in der Gegenwart richtig ist, ob sie etwa nur in politisch zurückgebliebenen Ländern und mit starken Überresten einer Landaristokratie vorkommen oder ob sie im Gegenteil als adäquate Staatsform der gegenwärtigen Wirtschaftsphase anzusehen und deshalb mit Notwendigkeit in anderen Territorien zu erwarten sind, ob ferner diese oder jene Theorie der kolonisatorischen Ausbreitung zutrifft, ob - um auf abstraktere Probleme zu kommen - die fortschreitende fachliche Ablösung, die Mathematisierung von Logik und Nationalökonomie im Gegensatz zum Festhalten an einer die historische Situation widerspiegelnden Begriffsbildung, diesen Wissenszweigen auf ihrem gegenwärtigen Stand besser angemessen ist - um solche Fragen nach dem Kriterium der Praxis zu entscheiden, bedarf es nicht bloß der Aufmerksamkeit auf isolierte Ereignisse oder Ereignisgruppen oder des Messens an Allgemeinbegriffen wie dem der  Förderung,  sondern einer bestimmten Theorie der Gesamtgesellschaft, die selbst nur im Zusammenhang mit bestimmten Interessen und Aufgaben, mit eigener Stellungnahme und Aktivität zu denken ist.

SCHELER verfolgt nicht diese Bewegung des Begriffs, in der sich zeigt, daß die Praxis als abstraktes Kriterium der Wahrheit in die konkrete Theorie der Gesellschaft umschlägt und den Formalismus abstreift, den sie im undialektischen Denken der pragmatischen Schule an sich trägt, er treibt diese Kategorie nicht bis zu den Konsequenzen, die dem System des bürgerlichen Denkens widersprechen, in dem sie einen festen Platz einnimmt und erstarrt ist, sondern er stellt dem durch Praxis verifizierbaren und kritisierbaren Wissen andere Wissensarten gegenüber, die daneben und ohne innere Verbindung mit ihm gelten sollen. Anstatt in der philosophischen Verabsolutierung der mechanischen Naturwissenschaft den ideologischen Reflex der bürgerlichen Gesellschaft zu erkennen, welche die Vernunft und somit die menschliche "Macht und Freiheit" in der sachlichen Produktionstechnik äußerst zu steigern vermochte, jedoch die immer dringender notwendige Neugestaltung der menschlichen Beziehungen in der Produktion ihrem eigenen Prinzip nach verhindern und so dieselben Kriterien der Vernunft, Macht und Freiheit negieren und vernichten muß, die sie auf isolierten Gebieten erkenntnistheoretisch anerkennt, anstatt ferner die von ihm bekämpfte bürgerliche Wirklichkeit und Wissenschaft zu ihren eigenen Ideen und Maßstäben in Beziehung zu setzen und auf diese Weise beides, Gesellschaft und Ideen, in ihrer Einseitigkeit und Abstraktheit zu relativieren und zu ihrer Aufhebung beizutragen, geht er, darin BERGSON und anderen Philosophen dieser Periode ähnlich, dazu über, eigene, besondere, höhere Erkenntnisarten zu verkünden. Angesichts der sich vertiefenden Widersprüche zwischen dem Nutzen in der Wissenschaft und für die Menschen, zwischen dem Nutzen privilegierter Gruppen und der Gesamtgesellschaft, zwischen dem Nutzen bei einer Erleichterung der Produktion und einer Erleichterung des Lebens war das Kriterium der Nützlichkeit ein bedenkliches Prinzip geworden. SCHELER geht der in ihm angelegten Dialektik nicht weiter nach, sondern stellt die nützliche Wissenschaft ganz zu unterst in der Rangordnung des Wissens. Nach früheren Stufen der menschlichen Entwicklung zurückgewandt, propagiert er im Gegensatz zum "Herrschafts- oder Leistungswissen", die beiden Arten des "Bildungswissens" und "Erlösungswissen". Er erklärt sich mit den "neuen unterbürgerlichen Klassen" in der pragmatistischen Auffassung "der anspruchsvollen, rationalistischen Metaphysik des bürgerlichen Unternehmertums" (30) ganz einverstanden, bekämpft jedoch dabei auf das Schärfste den klassischen deutschen Idealismus und den historischen Materialismus, der aus ihm hervorgegangen ist. Ein Unsinn sei es,
    "daß jemals der menschliche Geist und die Idealfaktoren die Realfaktoren nach einen Plan positiv beherrschen könnten. Was Fichte, Hegel (Vernunftzeitalter) und ihnen folgend nur an eine zukünftige Geschichtsstelle verschoben, Karl Marx in seiner Lehre vom Sprung in die Freiheit geträumt haben, ... wird zu allen Zeiten ein bloßer Traum bleiben" (31).
Im Gegensatz zu dieser Freiheit, bei der die Wissenschaft in der Tat eine wichtige Rolle zu spielen hätte, soll und darf die Welt, so prophezeite SCHELER, das Heraufkommen edler und geistig hochstehender Gruppen erwarten. Wenn Bürgertum und Proletariat "für alles Bildungswissen und Erlösungswissen völlig unschöpferisch" sind (32), wird dem von nun an dadurch abgeholfen,
    "daß der wachsende und fortschreitende Kapitalismus allmählich wieder eine ganze Schicht rein erkennender Menschen und zugleich solcher Menschen, die mit den autoritativen Klassenlehren, mit bürgerlicher und proletarischer Metaphysik - d. h. mit absoluter Mechanistik und philosophischem Pragmatismus - gleichsehr gebrochen haben, wieder zu treten vermag. In dieser Elite und ihren Händen allein ruht die Zukunft der menschlichen Wissensentwicklung ... Die Zukunft aber besitzt eine neue selbständige Erhebung des echt philosophischen und metaphysischen Geistes." (33)
EPIKUR bestimmt im Anschluß an die früher angeführte Stelle das allgemeine Ziel der Wissenschaft und Weisheit als Lust und Glück der Menschen. SCHELERs Ansicht und die von ihm gekündete Gegenwart stehen in der Tat zu diesem weiteren materialistischen Pragmatismus in einem unversöhnlichen Wettstreit.

Bei der Analyse des Begriffs der  Bewährung , wie er in dem nicht abschlußhaften, dialektischen Denken eine Rolle spielt, zeigt es sich, daß die Entscheidung über bestimmte Wahrheiten von noch nicht vollendeten geschichtlichen Verläufen abhängt. So sehr der Fortschritt in Theorie und Praxis dadurch bedingt ist, daß im Gegensatz zur relativistischen Neutralität eine bestimmte, dem höchsten erreichbaren Erkenntnisstand entsprechende Theorie und die mit ihr in Wechselwirkung stehenden Ideen und Ziele wirklich festgehalten und angewandt werden, so sehr wirkt andererseits diese Anwendung auf die Gestalt der Theorie und den Sinn ihrer Begriffe zurück. Das gilt nicht bloß im Sinn einer Korrektur von Irrtümern. Auch Kategorien wie  Geschichte, Gesellschaft, Fortschritt, Wissenschaft  usw. erfahren in der Zeit einen Wandel ihrer Funktion. Sie sind keine selbständigen Wesenheiten, sondern Momente des jeweiligen Erkenntnisganzen, das die Menschen in der Auseinandersetzung miteinander und mit der Natur entwickeln und das niemals mit der Realität identisch wird. Dies bezieht sich auch auf die Dialektik selbst. Sie inst der Inbegriff der Methoden und Gesetze, die das Denken befolgt, um die Wirklichkeit so genau wie möglich nachzubilden, und die mit den Formprinzipien der wirklichen Verläufe soweit wie möglich übereinstimmen.

Die Eigentümlichkeiten des dialektischen Denkens: jedes selbst noch so vielseitige, aber ausschließende Bestimmungsurteil im Bewußtsein der Veränderung des Subjekts und Objekts sowie ihres Verhältnisses zu relativieren (was im Idealismus von einem vorausgesetzten Absoluten aus, im Materialismus auf Grund fortschreitender Erfahrung geschieht (34); das Bestreben, nicht Merkmale nebeneinander zu stellen, sondern durch eine Analyse jeder allgemeinen Eigenschaft im Hinblick auf das bestimmte Objekt darzulegen, daß diese Allgemeinheit ausschließlich genommen dem Objekt zugleich widerspricht, das vielmehr, um richtig erfaßt zu werden, auch zur gegensätzlichen Eigenschaft, ja in letzter Linie zum Gesamtsystem der Erkenntnis in Beziehung gebracht werden muß; das hieraus folgende Prinzip, jede Einsicht erst im Zusammenhang mit der gesamten theoretischen Erkenntnis als wahr zu nehmen und sie daher begrifflich so zu fassen, daß in der Formulierung die Verbindung mit den die Theorie beherrschenden Strukturprinzipien und praktischen Tendenzen gewahrt bleibt; die damit zusammenhängende Regel, bei aller Unbeirrbarkeit in den maßgebenden Ideen und Zielen, beim Festhalten an den historischen Aufgaben der Epoche, den Stil der Darstellung mehr durch das Sowohl-als-auch als das Entweder-Oder auszuzeichnen; der Grundsatz, die Untrennbarkeit der retardierenden [rückschrittlichen - wp] und vorwärtstreibenden Momente, der erhaltenden und auflösenden, guten und schlechten Seiten der bestimmten Zustände in Natur und Menschengeschichte aufzuweisen; das Bestreben, es nicht bei den berechtigten Scheidungen und Abstraktionen der Fachwissenschaft bewenden zu lassen, um dann bei der Erfassung der konkreten Wirklichkeit nach der Metaphysik und der Religion zu greifen, sondern die analytisch gewonnenen Begriffe zueinander in Beziehung zu setzen und die Wirklichkeit durch sie zu rekonstruieren - diese und alle sonstigen Kennzeichen der dialektischen Vernunft entsprechen der Form der verschlungenen, in allen Einzelheiten sich fortwährend ändernden Wirklichkeit.

Wenn aber derartige allgemeinste Bewegungsgesetze des Denkens, die aus seiner bisherigen Geschichte abstrahiert sind und den Inhalt der allgemeinen dialektischen Logik bilden, als relativ konstant und damit auch als äußerst leer erscheinen, so entsprechen die besonderen dialektischen Darstellungsformen eines bestimmten Gegenstandsgebietes seiner Eigentümlichkeit und verlieren mit der Änderung seiner Grundlagen auch ihre Gültigkeit als Formen der Theorie. Die gegenwärtige Gesellschaftsform ist in der Kritik der politischen Ökonomie erfaßt. Aus dem allgemeinen Grundbegriff der Ware wird hier in rein gedanklicher Konstruktion derjenige des Wertes abgeleitet. Aus ihm entwickelt MARX [wage] die Kategorien von Geld und Kapital in einem geschlossenen Zusammenhang; alle historischen Tendenzen dieser Form der Wirtschaft, die Zusammenballung der Kapitalien, die sinkende Verwertungsmöglichkeit, Arbeitslosigkeit und Krisen sind mit diesem Begriff gesetzt, werden in strenger Folge abgeleitet. Zwischen dem ersten allgemeinen Begriff, dessen Abstraktheit mit jedem theoretischen Schritt weiter überwunden wird, und den einmaligen historischen Verläufen soll - zumindest der theoretischen Intention nach - ein geschlossener gedanklicher Zusammenhang bestehen, in dem jede These notwendig aus der ersten Setzung, dem Begriff des freien Tausches von Waren folgt. Gemäß der theoretischen Absicht, deren Gelingen hier nicht in Frage steht, soll die Erkenntnis aller gesellschaftlichen Prozesse auf ökonomischen, politischen und allen übrigen kulturellen Gebieten aus jener ursprünglichen Erkenntnis vermittelt werden. Dieser Versuch, die Theorie in der geschlossenen Gestalt eines in sich notwendigen Gedankengangs bis zu Ende durchzuführen, hat einen objektiven Sinn. In der theoretischen Notwendigkeit spiegelt sich die reale Zwangsläufigkeit, mit der in dieser Epoche die Produktion und Reproduktion des menschlichen Lebens vor sich geht, die Selbständigkeit, welche die ökonomischen Mächte den Menschen gegenüber gewonnen haben, die Abhängigkeit aller gesellschaftlichen Gruppen von der Eigengesetzlichkeit des wirtschaftlichen Apparats. Daß die Menschen ihre eigene Arbeit nicht nach ihrem gemeinsamen Willen gestalten können, sondern unter einem Prinzip, das sie einzeln und in Gruppen einander gegenüberstellt, mit ihrer Arbeit nicht Sicherheit und Freiheit, sondern allgemeine Unsicherheit und Abhängigkeit hervorbringen; daß sie statt das unermeßlich gewachsene gesellschaftliche Vermögen zu ihrem Glück anzuwenden, in Elend, Krieg und Zerstörung geraten und anstatt die Herren die Sklaven ihres Schicksals sind - dies kommt in der logischen Notwendigkeit zum Ausdruck, die der wahren Theorie der gegenwärtigen Gesellschaft eigen ist. Es wäre daher eine verkehrte Ansicht, daß die Vorgänge in einer künftigen Gesellschaft nach denselben Prinzipien und mit derselben Notwendigkeit abgeleitet werden könnten wie die Entwicklungslinien der gegenwärtigen.

Mit der Struktur der Gesellschaft, aus deren Analyse sie gewonnen sind und in deren Darstellung sie eine Rolle spielen, wird sich auch der Sinn der Kategorien verändern. Der Begriff der historischen Tendenz verliert das Moment der bestimmten Zwangsläufigkeit, die ihm aus den bisherigen Geschichtsperioden eigen war, während er andererseits zur Kategorie der Naturnotwendigkeit, die zwar einzuschränken, aber niemals ganz zu überwinden ist, in Beziehung bleibt. Der Begriff des Individuums verliert in dem Augenblick, wo die Zwecke der Einzelnen wirklich mit denen der Allgemeinheit zusammenfallen und im Ganzen der Gesellschaft aufgehoben sind, wo der Mensch nicht mehr bloß in seiner Einbildung die Verkörperung der absoluten Selbstbestimmung, sondern in Wirklichkeit ein Mitglied der frei sich selbst bestimmenden Gesellschaft ist, den Charakter der einsamen Monade und zugleich seine unbedingt Zentrale Stelle im System des Denkens und Fühlens, die er in den letzten Jahrhunderten einnahm. Während dort, aus der ökonomischen Struktur der Gegensatz zwischen besonderen und allgemeinen Zwecken notwendig hervorgeht, die verbreitete Ansicht von der vollzogenen Überwindung des individualistischen Prinzips teils auf bewußter Irreführung und teils auf träumerischer Impotenz beruth, verliert mit der Aufhebung dieses Zustands die Kategorie des Ichs, ihre das gesamte Verhalten zur Welt beherrschende Funktion und gewinnt eine andere Bedeutung. Solange das gesellschaftliche Leben nicht aus solidarischer Arbeit, sondern aus der vernichtenden Konkurrenz von Einzelsubjekten hervorgeht, deren Beziehung wesentlich durch den Tausch von Waren vermittelt wird, spielt das Ich, das Haben, das Mein und Nicht-Mein eine fundamentale, alle Einzelheiten in bestimmender Weise kennzeichnende und beherrschende Rolle im Erleben, in der Sprache und im Denken, in allen kulturellen Äußerungen überhaupt. Die Welt zerfällt in dieser Periode in Ich und Nicht-Ich wie in FICHTEs transzendentaler Philosophie, und der eigene Tod bedeutet, soweit dieses Verhältnis nicht durch einen metaphysischen oder religiösen Trost gemildert wird, die absolute Vernichtung. Wie die Kategorie der Tendenz und des Individuums so werden alle anderen gesellschaftstheoretischen Begriffe von der Änderung der Realität betroffen. Die mehr formalen Kategorien wie soziale Gesetzmäßigkeit, Kausalität, Notwendigkeit, Wissenschaft usw. ebenso wie die mehr materialen, Wert, Preis, Gewinn, Klasse, Familie, Nation usw. gewinnen in den theoretischen Bildungen, die einem neuen Zustand entsprechen, ein anderes Gesicht.

In der traditionellen Logik wird diese Änderung der Begriffe so aufgefaßt, daß die ursprünglichen Gattungen im System der Klassifizierung eines Wissensgebietes durch neue Unterarten spezifiziert werden. Unter den Gattungsbegriff  Tendenz  fallen dann sowohl die historischen Tendenzen der gegenwärtigen Gesellschaft wie die möglichen andersartigen Tendenzen in einer zukünftigen. Trotz allen geschichtlichen Wandels lassen sich etwa die Bestimmungen des ARISTOTELES, daß die Polis aus Individuen und Gruppen besteht und nicht bloß quantitativ, sondern qualitativ von ihren Elementen verschieden ist, in eine oberste formale Kategorie der Gesellschaft überhaupt, die für alle Gesellschaftsformen gültig ist, aufnehmen und so in ihrer Allgemeingültigkeit bewahren. Für ARISTOTELES selbst gehörte freilich zu dieser obersten Kategorie die Sklaverei noch mit hinzu, während diese in den späteren Begriffssystemen nur noch eine Unterart der Gesellschaft kennzeichnet, der andere bestimmte Arten gegenüberstehen. Der Begriffsrealismus, der die platonische und teilweise die mittelalterliche Philosophie beherrscht und dessen Reste in der neueren Logik noch keineswegs überwunden sind (z. B. in der modernen Phänomenologie), hat die Eigentümlichkeit der diskursiven Logik, die alle Veränderungen als bloße Hinzufügung neuer Unterarten unter die universalen Gattungen begreift, verabsolutiert und die metaphysische Ansicht aufgestellt, daß aller Wechsel als eine verschiedene Verkörperung oder Emanation [Erscheinungsweise - wp] fester Ideen und Wesenheiten in immer neuen Spezifikationen und Exemplaren zu verstehen ist. Das Wesentliche bliebe somit immer beim alten, es gäbe ein ewiges Reich unbeweglicher Ideen, und aller Wechsel beträfe bloß die niederen Stufen des Seins, ja er wäre nicht eigentlich wirklich und nur für die stumpfen Sinne der Menschen vorhanden. Indem die HEGELsche Philosophie die Struktur der in ihrem Rahmen abgehandelten Kategorien hypostasiert [einem Wort gegenständliche Realität zubilligen - wp], enthält sie selbst noch etwas von diesem Realismus und verfällt in den von ihr so sehr bekämpften Dualismus von Wesen und Erscheinung. Das bestimmte Schicksal der historisch bestimmten Individuen, die wechselnden Zustände in der gegenwärtigen und zukünftigen Geschichte werden gegenüber den Ideen, die der vergangenen zugrunde liegen sollen, zum Nichtigen und Wesenlosen. Die diskursive, die "Verstandes"logik ist nur innerhalb von HEGELs System begrenzt, über seine Philosophie als Ganzes im Sinne einer metaphysischen Legende behält sie ihre verdinglichende Macht. Die Verstandeslogik abstrahiert davon, daß angesichts des veränderten Gehalts der Begriffe ihre Zusammenfassung mit den früheren unter dieselben Gattungen gleichgültig und schief und eine neue Bestimmung, eine neue Ordnung und Hierarchie der Begriffe notwendig werden kann. Die Kategorie der  Tendenz  wird später vielleicht so umstrukturiert, daß sich ihr Verhältnis zu den Begriffen der planvollen Absicht einerseits und der Naturmacht andererseits umwälzt, der Begriff des Staates ändert die Beziehung zu den Kategorien des Willens, der Herrschaft, der Gewalt, der Allgemeinheit usw. Solche bestimmten Perspektiven gehen nicht aus der Betrachtung des gegenwärtig gültigen Klassifikationssystems der gesellschaftlichen Erscheinungen, sondern aus der Theorie der historischen Entwicklung selbst hervor, von der jenes vielmehr bloß ein geordnetes begriffliches Inventar darstellt. Der Zusammenhang zwischen der konkreten Bewegung des Denkens, wie es in einer stetigen Verflechtung mit dem gesellschaftlichen Leben vorwärtsgeht und den Systemen des ordnenden Verstandes wird von der traditionellen Logik nicht im Einzelnen erforscht, sie weist ihn als Gegenstand der Wissenschafts- oder Kulturgeschichte in ein von ihr getrenntes Fach. Sie selbst handelt von den Beziehungen der feststehenden Begriffe als solchen, wie man urteilend und schließend von einem zum andern kommt und wie man das, was jeder enthält, aus ihm entwickelt. Die traditionelle Logik ist
    "eine Wissenschaft der notwendigen Gesetze des Denkens, ohne welche gar kein Gebrauch des Verstandes und der Vernunft stattfindet, die folglich die Bedingungen sind, unter denen der Verstand einzig mit sich selbst zusammenstimmen kann und soll, - die notwendigen Gesetze und Bedingungen des richtigen Gebrauchs". (35)
Ihr Geschäft ist, "klare Begriffe deutlich zu machen" (36, dabei geht sie analytisch vor, sie holt aus dem Begriff heraus, was in ihm liegt, er selbst
    "bleibt derselbe, nur die Form wird verändert. ... So wie duch die bloße Jllumination einer Karte zu ihr selbst nichts weiter hinzukommt: so wird auch durch die bloße Aufhellung eines gegebenen Begriffs mittels der Analysis seiner Merkmale dieser Begriff selbst nicht im mindesten vermehrt." (37
Mit der Veränderung der "Karte", der Aufstellung neuer Ordnungssysteme hat die traditionelle Logik nichts zu tun. Geschieht jedoch die Verwendung von Begriffen ohne strenge Orientierung am jeweiligen Bezugssystem, in dem sämtliche bisherigen Erfahrungen des betreffenden Zweiges eine Anordnung gefunden haben, ohne das richtige Lesen der "Karte", das nach den Gesetzen der Logik zu geschehen hat, so bleibt jeder gedankliche Entwurf notwendig verschwommen oder vielmehr ganz nichtssagend. Die nachbildende Darstellung des Gegenstands geschieht durch das methodische Zusammenwirken aller Erkenntniskräfte in der theoretischen Konstruktion. "Der tabellarische Verstand" gibt außer der "Inhaltsanzeige" (38 für diesen Inhalt, den er selbst nicht ausführt, freilich auch das begriffliche Material. "Die empirischen Wissenschaften", die Forschung und Analyse haben jeweils der dialektischen Darstellung "den Stoff entgegen gearbeitet, indem sie die allgemeinen Bestimmungen, Gattungen und Gesetze finden." (39 Die reale Bedeutung dieser Arbeit, der Erkenntniswert des Verstandes beruth darauf, daß die Wirklichkeit nicht bloß einen stetigen Wechsel, sondern zugleich relativ statische Strukturen kennt. Daß die Entwicklung nicht allmählich, sondern sprunghaft vor sich geht, heißt zugleich, daß zwischen diesen "Knotenpunkten", Sprüngen und Revolutionen Perioden liegen, in denen die immanenten, über sie hinaustreibenden Spannungen und Gegensätze als Elemente einer relativ geschlossenen, festen Totalität erscheinen, bis die betreffende Seinsform in eine andere umschlägt. Dieses Feststellen und Ordnen ist daher eine notwendige Bedingung der Wahrheit, freilich nicht selbst schon ihre wirkliche Gestalt, Bewegung und Fortschritt.

Nicht bloß im Hinblick auf die historisch bedingte Veränderung der grundlegenden Kategorien, sondern auf jeden die Sache erfassenden Denkprozeß ist somit die traditionelle Logik ungenügend und begreift nur einzelne Seiten. Indem ein Begriff in der dialektischen Konstruktion eines Geschehens eine bestimmte Rolle spielt, wird er zum unselbständigen Moment eines gedanklichen Ganzen, das andere Eigenschaften hat als die Summe aller in es aufgenommenen Begriffe; dieses Ganze, die Konstruktion des bestimmten Gegenstands, kann freilich nur dann in einer der jeweiligen Erkenntnis angemessenen Weise zustande kommen, wenn die Begriffe in dem Sinn in dieses aufgenommen sind, der ihnen in den Systemen der Einzelwissenschaften, in den systematischen Inventaren wissenschaftlich fundierter Definitionen zukommt - soweit es sich überhaupt um Begriffe handelt, für welche Fachwissenschaften zuständig sind. Im "Kapital" führt MARX die Grundbegriffe der klassischen englischen Nationalökonomie: Tauschwert, Preis, Arbeitszeit usw., nach ihren exakten Bestimmungen ein. Alle aufgrund der wissenschaftlichen Erfahrung damals fortgeschrittensten Definitionen werden herangezogen. Im Zusammenhang der Darstellung gewinnen jedoch diese Kategorien neue Funktionen, sie tragen zu einem theoretischen Ganzen bei, dessen Charakter den statischen Anschauungen, innerhalb deren sie entstanden sind, und vor allem ihrer unkritischen isolierten Anwendung widerspricht. Das Ganze der materialistischen Ökonomik ist dem System der klassischen entgegengesetzt, und doch sind ihre einzelnen Begriffe übernommen. Die dialektischen Bewegungsformen des Denkens erweisen sich als dieselben wie diejenigen der Wirklichkeit. Wie ein Wasserstoffatom isoliert betrachtet seine bestimmten Eigenschaften hat, in der molekularen Verbindung mit anderen Elementen neue Qualitäten gewinnt, um die alten wieder aufzuweisen, sobald es aus der Verbindung losgerissen wird, so sind auch die Begriffe zu handhaben, sie behalten einzeln betrachtet ihre Definitionen und werden im Zusammenhang zu Momenten neuer Sinneinheiten (40. In der "Flüssigkeit" der Begriffe spiegelt sich die Bewegung der Realität.

Die unabgeschlossene materialistische Dialektik denkt das "Vernünftige" an keiner Stelle der Geschichte als vollendet gegeben und glaubt nicht, die Auflösung der Gegensätze und Spannungen, das Ende der historischen Dynamik durch den Vollzug bloßer Gedanken und ihrer einfachen Konsequenzen herbeizuführen. Sie ermangelt des Moments der idealistischen Dialektik, das HEGEL selbst als "spekulativ" und zugleich als "mystisch" bezeichnet hat (41, nämlich der Vorstellung, das angeblich Unbedingte zu wissen und somit selbst unbedingt zu sein. Sie hypostasiert kein noch so universales Kategoriensystem. Um zum "positiv Vernünftigen" zu gelangen, genügt nicht die Aufhebung der Gegensätze in Gedanken, sondern es bedarf des geschichtlichen Kampfes, dessen leitende Ideen und theoretische Voraussetzungen freilich im Bewußtsein der Kämpfenden gegeben sind. Das Ergebnis läßt sich jedoch rein theoretisch nicht vorwegnehmen, denn es wird durch keine festumrissene Einheit, etwa den "Geschichtslauf", dessen Prinzipien einheitlich und ein für allemal festzulegen wären, sondern durch die unter sich selbst und mit der Natur sich auseinandersetzenden Menschen bestimmt, die in neue Verhältnisse und Strukturen eintreten und sich dabei verändern. Die Auflösung von Widersprüchen im subjektiven Denken und die Bewältigung objektiver Gegensätze kann eng zusammenhängen, unmittelbar identisch ist sie keineswegs. Eine freie Gesellschaft im Sinne einer freien Entwicklung der Individuen und im Sinne der Gewerbefreiheit auf der Grundlage von Ungleichheit wird in einer bestimmten historischen Periode gedanklich und real widerspruchsvoll. Die Auflösung in Gedanken geschieht durch den Begriff einer differenzierteren, höheren Form der Freiheit, der bei der realen Überwindung entscheidend mitspricht, aber keineswegs mit ihr zusammenfällt und die Zukunft nur abstrakt und ungenau antizipiert. Indem die Logik der unabgeschlossenen Dialektik der Möglichkeit Rechnung trägt, daß die Änderung auch das gesamte vorhandene Kategorienmaterial betrifft, ohne die Theorie, die aus ihm geformt ist, darum weniger wahr zu nehmen, entspricht sie genau der HEGELschen Vorstellung vom Unterschied zwischen Dialektik und Verstand, ohne ihn durch einen neuen Dogmatismus zu überbauen.
    "Das  Verständige  bleibt bei den Begriffen in ihrer festen Bestimmtheit und Unterschiedenheit von anderen stehen; das  Dialektische  zeigt sie in ihrem Übergehen und ihrer Auflösung auf." (42
Das erste freilich ist dem zweiten immanent: ohne Bestimmtheit und Ordnung der Begriffe, ohne Verstand gibt es kein Denken, auch kein dialektisches. Der Verstand aber wird metaphysisch, sobald er seine bewahrende und die gegebene Erkenntnis ausbreitende, seine feststellende, ordnende, schließende Funktion oder ihre Resultate als Dasein und Fortgang der Wahrheit verabsolutiert. Die Umwälzung, Aufhebung, Neustrukturierung der Erkenntnis, ihr wechselndes Verhältnis zur Realität, ihr aus der Verflechtung in die Geschichte stammender Funktionswandel fallen außerhalb der gedanklichen Vorgänge, welche die traditionelle Logik, die den Verstand zum Thema hat, erfaßt. Isoliert genommen führt sie zum falschen Begriff eines losgelösten Denkens mit unverrückbaren, ewigen, selbständigen Resultaten. NIETZSCHE hat gesagt, eine große Wahrheit "will kritisiert, nicht angebetet sein" (43. Dies gilt für die Wahrheit überhaupt. Er hätte hinzufügen können, daß zur Kritik nicht bloß das negative skeptische Moment, sondern ebensosehr die innere Unabhängigkeit gehört, das Wahre nicht fallen zu lassen, sondern in seiner Anwendung fest zu bleiben, wenngleich es einmal vergehen mag. Zum Prozeß der Erkenntnis gehört beim Individuum nicht bloß Intelligenz, sondern auch Charakter und bei einer Gruppe nicht bloß Anpassung an die wandelnde Realität, sondern die Kraft, ihre eigenen Ansichten und Ideen zu behaupten und durchzusetzen.

Die Eingangs erörterte Zwiespältigkeit des bürgerlichen Geistes gegenüber der Wahrheit im Unterschied vom dialektischen Denken kommt besonders deutlich in der Stellung zur Religion zum Ausdruck. Vor dem primitiven Materialismus, der das wirtschaftliche Leben beherrscht, hat sie sich immer mehr ins Innere seiner Subjekte zurückgezogen. Die Praxis des allgemeinen Wettbewerbs, der die gegenwärtige Wirklichkeit kennzeichnet, war von Anfang an erbarumungslos und ist mit Ausnahme weniger Perioden in zunehmendem Maß unmenschlich geworden. Ihre Mittel und Auswirkungen, die in bestimmten geschichtlichen Augenblicken bis zur Unterordnung unter die Herrschaft kleiner ökonomischer Gruppen, bis zur Vergebung der Macht an die kulturell zurückgebliebensten Elemente der Gesellschaft, bis zur Ausrottung von Minoritäten führten, widersprechen offenkundig den Grundlehren des Christentums. In einem Zeitalter, in dem trotz großer Widerstände das Lesen und Schreiben aus wirtschaftlichen Gründen schließlich zur allgemeinen Fertigkeit werden mußte und der Wortlaut der Bibel für die Massen auf die Dauer kein Geheimnis bleiben konnte, wäre es daher seit langem das Gegebene gewesen, das widersprechende Prinzip des Christentums auch offen dem Prinzip der Wirklichkeit zu opfern und den vulgären Positivismus der nackten Tatsachen samt dem Erfolgsglauben, die dieser Lebensform immanent sind, als die ausschließliche und höchste Wahrheit auszubreiten. Aber der bestehende krasse Widerspruch wurde innerhalb des Bürgertums nur von religiösen Outsidern (wie TOLSTOI und KIERKEGAARD) wirklich erfaßt. Die monistische Propaganda von STRAUSS, HAECKEL usw., die ihn von der Forschung aus betonte, sah bloß den freilich damit zusammenhängenden Unterschied zwischen der isolierten Naturwissenschaft und der Offenbarung und verkannte beides, den Geist der Evangelien und die historische Wirklichkeit. Diese naturwissenschaftlichen Materialisten mußten Sektierer bleiben, denn die Religion war für die gesellschaftlichen Gruppen, denen sie angehörten, nicht zu entbehren. Es ist von der herrschenden Geistigkeit der letzten Jahrhunderte nicht der Weg eingeschlagen worden, die Kluft aufzudecken, sondern die Religion wurde solange eines klaren bestimmten Inhalts beraubt, formalisiert, angepaßt, spiritualisiert, in die innerste Innerlichkeit der Subjekte verlegt, bis sie sich mit jedem Handeln und mit jeder öffentlichen Praxis vertrug, die in dieser atheistischen Wirklichkeit gang und gäbe war.

Seit die Individuen selbständiger zu denken begannen, d. h. seit dem Aufkommen der neuen Wirtschaftsordnung hat die Philosophie auf allen Gebieten immer eindeutiger die Funktion erfüllt, den Widerspruch zwischen der herrschenden Lebenspraxis einerseits und den christlichen oder sich mit dem Christentum berührenden theoretischen und praktischen Lehren und Ideen zu verwischen. Der Grund dafür fällt einerseits zusammen mit der Wurzel des bürgerlichen Dogmatismus überhaupt. Das isolierte Individuum, das in seiner Abstraktheit zugleich für absolut frei und verantwortlich gehalten wird, ist in der gegenwärtigen Epoche notwendig von Angst und Unsicherheit beherrscht. Außer dieser inneren Bedürftigkeit, die unmittelbar im atomistischen Prinzip der vorhandenen Ordnung begründet ist, hat noch die äußere Rücksicht auf den sozialen Frieden die Anwendung großer geistiger Energien auf die Verschleierung der Unvereinbarkeit von moderner Wissenschaft und allgemeiner Lebenspraxis sowohl mit den religiösen Ansichten über Werden und Struktur der Welt wie auch mit den Vorstellungen der Nächstenliebe, Gerechtigkeit, Güte Gottes bedingt. TROELTSCH, dieser kennzeichnende Religionsphilosoph im Vorkriegsdeutschland, spricht es offen aus, was er befürchtet:
    "Wer die Menschen auch nur einigermaßen kennt, wird es für ganz undenkbar halten, daß die göttliche Autorität jemals ohne Schaden für das Sittengesetz wegfallen könnte, daß der überhaupt gröber denkende Durchschnittsmensch auf diesen Zuschuß zur Motivationskraft des Sittlichen verzichten kann. Die Abstraktion eines durch sich selbst geltenden Gesetzes wird für ihn immer unvollziehbar sein, er wird zum Gesetz immer den Gesetzgeber und Wächter hinzu denken müssen. Er denkt dabei vielleicht ein bißchen grob, aber gar nicht so unvernünftig ... Wo die atheistische Moral in den Massen die göttliche Autorität gestürzt hat, da ist ja auch erfahrungsgemäß nur wenig von der Empfindung jenes Gesetzes übrig geblieben. Ein grimmiger Haß gegen alle Autorität und eine maßlose Entfesselung der Selbstsucht als des Selbstverständlichsten der Welt ist hier mit wenigen Ausnahmen die logisch sehr wohl begreifliche Folge gewesen." (44
Einen gesellschaftlichen Zustand, in dem ein "Wächter" weder in Gestalt eines transzendenten Seins noch "eines durch sich selbst geltenden Gesetzes" die "maßlose" Selbstsucht der Massen im Zaum zu halten hätte, vermag er sich gar nicht vorzustellen. Das dogmatische Festhalten an der überlieferten Vorstellungswelt gilt ihm als selbstverständliche Voraussetzung, als  thema probandum [die zu beweisende Sache - wp]. Zugleich sieht er jedoch,
    "daß das protestantisch-konfessionelle Axiom selbst revidiert und freier gefaßt werden muß, daß seine Gewinnung auf eine breitere, allgemeinere Grundlegung zurückgehen und von der unmittelbaren kirchlichen Wirklichkeit sich weit unabhängiger machen muß, daß seine Fassung der historischen Detailforschung und der Auseinandersetzung mit sicheren Ergebnissen der Wissenschaft freien Raum lassen und beständig aus dieser Arbeit heraus wieder von neuem revidierbar sein muß. Freilich ist dabei die Möglichkeit vorhanden, daß einer schließlich das Christentum als Axiom selber beseitigt." (45
Die Axiome, auf welche die frühere liberale Theologie noch zurückgreifen konnte, sind inzwischen gestürzt.  "Kant  und  Schleiermacher, Goethe  und  Hegel  lebten noch unter dem Einfluß einer axiomatischen Geltung, die heute so nicht mehr vorhanden ist." (46 Er empfiehlt daher, zur kritischen Philosophie KANTs zu greifen, "die die letzten Voraussetzungen statt in der Metaphysik in der Organisation des Bewußtseins aufzuweisen unternimmt." (47. Er sucht Zuflucht bei einer "Kritik des religiösen Bewußtseins" (48 und hofft
    "den festen Halt durch eine allgemeine Theorie der Religion und ihrer geschichtlichen Entwicklung zu finden. Diese Theorie selbst aber wird in einer transzendentalen Bewußtseinstheorie ihrerseits wurzeln müssen und von diesem letzten Halt aller wissenschaftlichen Orientierung, dieser letzten und richtigen Voraussetzung aus, beide Fragen beantworten müssen: die Frage nach dem Recht der Religion überhaupt und nach dem Wertunterschied ihrer geschichtlichen Bildungen. Damit ist die Theologie an die Religionsphilosophie gewiesen. Von ihr aus wird sie erst Wesen und Geltung des Christentums so konstruieren können, daß damit dem modernen Geist der Voraussetzungslosigkeit genügt ist. Die letzten Voraussetzungen liegen in der Philosophie des Transzendentalismus." (49
Danach steht also das "Recht der Religion überhaupt" und gar der Vorzug der christlichen erst noch in Frage, und die ganze Unsicherheit, der relativistische, zu Konzessionen, nicht an die Selbstsucht der Massen, sondern an die scheinbar voraussetzungslose Wissenschaft bereite Charakter dieses Denkens tritt deutlich hervor. Um jeden Preis wird nur eines festgehalten:
    "es muß in allem Wechsel eine beharrende Wahrheit geben. Das ist eine Forderung jeden idealen Glaubens, auf die verzichten auf den Sinn der Welt verzichten heißen würde". (50
Wenn dieser so notwendige Glaube an einen ewigen Sinn nur erhalten bleibt, kann man sich mit idealistischer Metaphysik, mit Judentum, Islam, Konfuzianismus und brahmanischen und buddhistischen Erlösungsideen verständen. (51

Dieses zweideutige Verhalten gegenüber der Religion kennzeichnet das gesamte Zeitalter und findet in Erscheinungen wie TROELTSCH nur einen besonders deutlichen ideologischen Ausdruck. Es bildet ein Moment der objektiven Unaufrichtigkeit, die trotz des guten Gewissens der Beteiligten die geistige Atmosphäre beherrschte. Daß jetzt an vielen Stellen im öffentlichen Bewußtsein die krasse und offenkundige Lüge zu Ehren gekommen ist, bedeutet bei genauer Betrachtung der Vorgeschichte keinen unbegreiflichen Umschwung. Die Lage des Bürgertum hatte es mit sich gebracht, daß die geistige Entwicklung in moralischen und religiösen Fragen hintangehalten und zentrale Gebiete wie auf eine stillschweigende Vereinbarung hin im Zwielicht gehalten wurden. Die religiöse Philosophie des Mittelalters umreißt den geistigen Horizont, welcher der damaligen Gesellschaft entsprach; ihre wichtigsten Leistungen bilden daher historische Zeugnisse von offenbarer Größe. Indem die Religionslosigkeit, die der modernen Naturwissenschaft und Technik, diesen spezifisch bürgerlichen Leistungen, innewohnt, im allgemeinen Bewußtsein keinen entsprechenden Platz gefunden hat und die damit zusammenhängenden Konflikte nicht ausgetragen worden sind, haftet der offiziellen Geistigkeit ein Zug der Hypokrise und der Nachsicht gegen bestimmte Arten von Irrtum und Unrecht an, der sich schließlich über das kulturelle Leben ganzer Völker ausgebreitet hat. Der einzige große Geist, der angesichts der ungeheuren Verdichtung dieses Nebels, die seit der Mitte des letzten Jahrhunderts eingetreten ist, die Freiheit von  Jllusionen  und den Überblick gewonnen hat, die von den Positionen des Großbürgertums aus möglich sind, ist NIETZSCHE. Es mußte ihm freilich entgehen, daß die intellektuelle Redlichkeit, um die es ihm zu tun war, sich mit diesem gesellschaftlichen Standpunkt nicht vertrug. Weder im individuellen noch im nationalen Charakter liegt der Grund der von ihm bekämpften Unsauberkeit, sondern in der Struktur der gesellschaftlichen Totalität, die beide in sich enthält. Indem er als echter bürgerlicher Philosoph die Psychologie, wenngleich die tiefste, die es bis heute gibt, zur Grundwissenschaft der Geschichte machte, hat er den Ursprung der geistigen Verkommenheit sowie den Weg aus ihr verkannt, und das Schicksal, das seinem eigenen Werk widerfuhr ("Wer von meinen Freunden hätte mehr darin gesehen, als eine unerlaubte, zum Glück vollkommen gleichgültige Anmaßung?") (52, hat daher seine Notwendigkeit.

Die philosophisch vermittelte Unaufrichtigkeit in den Fragen der Religion ist nicht durch eine psychologische und sonstige Aufklärung aus der Welt zu schaffen. Im Gegensatz zu NIETZSCHE, der das religiöse Problem und die christlichen moralischen Werte negativ ins Zentrum rückt und sich damit selbst zum Ideologen macht, ist auch diese Seite des gegebenen Zustandes nur mit seiner geschichtlichen Überwindung durch höhere Lebensformen der Gesellschaft aufzuheben. Im dialektischen Denken werden auch die religiösen Phänomene auf das Ganze der Erkenntnis bezogen und jeweils im Zusammenhang mit der Analyse der gesamten historischen Situation beurteilt. So sehr die Einsicht in die Unverträglichkeit des religiösen Inhalts mit der fortgeschrittenen Erkenntnis wichtig ist, so sehr beweist die Gegenwart, daß andererseits die Zentrierung der gesamten kulturellen Problematik um religiöse Fragen schief sein kann. In der Literatur der katholischen Gegenrevolution in Frankreich, bei BONALD und de MAISTRE, in den Schriften des katholischen Royalisten BALZAC ist mehr eindringende Analyse der bürgerlichen Gesellschaft zu finden als bei den gleichzeitigen Kritikern der Religion in Deutschland. Die gläubigen VICTOR HUGO und TOLSTOI haben das Grauen der bestehenden Zustände großartiger dargestellt und schärfer bekämpft als die aufgeklärten GUTZKOW und FRIEDRICH THEODOR VISCHER. In der Praxis des täglichen Lebens können Bestrebungen, die sich am dialektischen Denken orientieren, zum zeitweiligen Zusammengehen mit religiös gerichteten Gruppen und Tendenzen und in einen radikalen Gegensatz zu anti-religiösen führen. Der historische Aufgabenkreis, der für eine illusionslose und nach vorwärts gerichtete Haltung in der Gegenwart maßgebend ist, stellt die Menschen nicht primär aufgrund ihrer religiösen Entscheidung einander gegenüber. Das bestimmte, freilich theoretisch zu explizierende Interesse an gerechten Zuständen, welche die freie Entfaltung der Menschen bedingen, an der Überwindung von Verhältnissen der Unfreiheit, die der Menschheit gefährlich und unwürdig sind, oder das Fehlen dieses Interesses ermöglicht heute eine raschere Kennzeichnung von Gruppen und Individuen als ihr Verhalten zur Religion. Der verschiedene Bildungsgrad der sozialen Gruppen, die, soweit gesellschaftliche Probleme in Frage stehen, ganz im Argen liegende Erziehung und andere Faktoren bringen es mit sich, daß Religion in verschiedenen Schichten und bei verschiedenen Existenzen ganz Verschiedenes bedeuten kann. Es gehört nicht bloß Erfahrung und theoretische Schulung, sondern auch ein bestimmtes Schicksal in der Gesellschaft dazu, um das Denken weder zur Schöpfung von Idolen zu überspannen noch als Inbegriff bloßer Jllusionen zu entwerten, es weder zum absoluten Gesetzgeber des Handelns, zum eindeutigen Wegweiser zu machen noch von den Zielen und Aufgaben der Praxis zu trennen, mit denen es vielmehr in Wechselwirkung steht.
LITERATUR: Max Horkheimer, Zum Problem der Wahrheit, Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang IV, Paris 1935, Heft 3
    Anmerkungen
    25) WILLIAM JAMES, Pragmatismus, übersetzt von WILHELM JERUSALEM, Leipzig 1908, Seite 137
    26) JAMES, Pragmatismus, a. a. O., Seite 134.
    27) MAX ADLER, Marx als Denker, Berlin 1908, Seite 75
    28) MAX SCHELER, Erkenntnis und Arbeit, in: Die Wissensformen und die Gesellschaft, Leipzig 1926.
    29) SCHELER, Erkenntnis und Arbeit, a. a. O., Seite 250-251.
    30) SCHELER, Erkenntnis und Arbeit, a. a. O., Seite 485
    31) SCHELER, Wissensformen, a. a. O., Seite 44
    32) SCHELER, Erkenntnis und Arbeit, a. a. O., Seite 484
    33) SCHELER, Erkenntnis und Arbeit, a. a. O., Seite 486
    34) In der Phänomenologie (a. a. O., Seite 28) hat HEGEL selbst die Dialektik als "Wissenschaft der Erfahrung, die das Bewußtsein macht", bezeichnet. Diese Bestimmung, die NICOLAI HARTMANN (z. B. in dem Aufsatz "Hegel und das Problem der Realdialektik", französische Übersetzung im Sammelwerk "Études sur Hegel", Paris 1931, vgl. besonders Seite 17f) als allein maßgebend gelten läßt, gewinnt in der Auffassung des Materialismus eine fundamentalere Bedeutung als in der HEGELschen Logik selbst, da HEGELs abschlußhafte Metaphysik entscheidende, die geltenden begrifflichen Strukturen verändernde Erfahrung im künftigen Fortgang der Geschichte ausschließt. HARTMANNs kontemplativer Standpunkt läßt ihn freilich die Wechselwirkung zwischen Begriff und Gegenstand verkennen, so daß er die dynamische Natur des Denkens einseitig aus dem Bemühen des Subjekts, der Wirklichkeit zu folgen, sich ihr anzupassen, als "subjektives Denkgesetz" (a. a. O. Seite 20) begreift. Das Problem des im geschichtlichen Prozeß, in der Praxis sich verändernden Verhältnisses beider Prinzipien wird dabei nicht gestellt, sondern beide in ihrer Isolierung festgehalten.
    35) Immanuel Kants Logik, hg. von JÄSCHE, Akademie-Ausgabe, Bd. IX, Seite 13
    36) Kants Logik, a. a. O., Seite 63.
    37) Kants Logik, a. a. O., Seite 64
    38) HEGEL, Phänomenologie, a. a. O., Seite 42
    39) HEGEL, Enzyklopädie, § 12, 1. a. a. O., VI, Seite 20.
    40) Vgl. HORKHEIMER, Zum Rationalismusstreit in der gegenwärtigen Philosophie, Zeitschrift für Sozialforschung, Jhg. 1934, Seite 20f
    41) HEGEL, Enzyklopädie, Bd. I, § 82, Zusatz, a. a. O., Bd. IV, erste Auflage, Seite 160.
    42) HEGEL, Philosophische Propädeutik, a. a. O., Bd. XVIII, erste Auflage, Seite 148-149.
    43) NIETZSCHE, Nachlaß, Werke, II. Abteilung, Bd. XI, Leipzig 1919, Seite 171.
    44) ERNST TROELTSCH, Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Gesammelte Schriften, Bd. II, Tübingen 1922, Seite 535.
    45) TROELTSCH, a. a. O., Seite 190-191
    46) TROELTSCH, a. a. O.
    47) TROELTSCH, a. a. O., Seite 191-192
    48) TROELTSCH, a. a. O.
    49) TROELTSCH, a. a. O.
    50) TROELTSCH, a. a. O., Seite 311
    51) Vgl. TROELTSCH, a. a. O., Seite 802
    52) NIETZSCHE, Werke, Nachlaß, II. Abteilung, Bd. XI, Ecce homo, Leipzig 1933, Seite 115