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Zum Problem der Wahrheit [2/2]
Im Begriff Bewährung stecken verschiedene Elemente, die in der pragmatistischen Literatur nicht immer voneinander unterschieden werden. Eine Ansicht kann sich ohne Rest bewähren, indem sich die gegenständlichen Verhältnisse finden, deren Existenz behauptet wird, somit aufgrund von Erfahrung und Beobachtung unter Verwendung einwandfreier Hilfsmittel und logischer Schlüsse, und sie kann außerdem noch ihrem Träger oder anderen Menschen praktisch nützen. Auch bei der ersten dieser Beziehungen entsteht ein Nutzen für die gedankliche Ordnung und Orientierung. JAMES spricht dabei von einer "Funktion des Hinführens, das der Mühe lohnt" (25). Er sieht, daß diese theoretische Bewährung, die Übereinstimmung zwischen Gedanken und Wirklichkeit, das Abbilden, oft nichts anderes bedeutet, als "daß auf dem Weg, den unsere Ideen uns führen, uns kein von der betreffenden Wirklichkeit ausgehender Widerspruch, keine Störung begegnet." (26) Wird jedoch der Unterschied zhwischen dieser theoretischen Verifikation der Wahrheit und ihrer praktischen Bedeutung, der "Lebensförderung" in einem gegebenen historischen Augenblick verwischt, so kommt jene Idee eines geradlinig parallelen Fortschritts von Wissenschaft und Menschheit zustande, der durch den Positivismus philosophisch fundiert, im Liberalismus zur allgemeinen Jllusion geworden ist. Je mehr jedoch eine gegebene gesellschaftliche Ordnung aus einer Förderung der kulturschaffenden Kräfte zu ihrer Hemmung wird, desto stärker widerspricht die verifizierbare Wahrheit den mit dieser Form verbundenen Interessen und bringt die Träger der Wahrheit in einen Gegensatz zur vorhandenen Wirklichkeit. Sofern es ihnen freilich mehr auf die Allgemeinheit als auf die eigene Existenz ankommt, haben die Individuen einen Grund, die Wahrheit, die auszusprechen sie gefährden kann, trotzdem zu schärfen und weiterzutreiben, denn der Ausgang ihres Kampfes um die Verwirklichung besserer Prinzipien der Gesellschaft hängt entscheidend von der theoretischen Klarheit ab. Der Pragmatismus übersieht, daß dieselbe Theorie für jene anderen Interessen im gleichen Maß zur vernichtenden Macht wird, in der sie die Aktivität der nach vorwärts gerichteten Kräfte erhöht und wirksamer macht. Die erkenntnistheoretische Lehre, daß die Wahrheit lebensfördernd ist, oder vielmehr, daß alles "lohnende" Denken auch wahr sein muß, enthält eine harmonistische Täuschung, falls diese Erkenntnistheorie nicht einem Ganzen angehört, in dem die Tendenzen, die auf einen besseren, das Leben fördernden Zustand hintreiben, wirklich zum Ausdruck kommen. Losgelöst von einer bestimmten Theorie der Gesamtgesellschaft bleibt jede Erkenntnistheorie formalistisch und abstrakt. Nicht bloß Ausdrücke wie Leben und Förderung, sondern auch scheinbar spezifisch erkenntnistheoretische Terminie wie Verifikation, Bestätigung, Bewährung usw. bleiben bei der sorgfältigsten Definition und bei einer Übernahme in eine mathematische Formelsprache vage und unbestimmt, wenn sie nicht durch die Zugehörigkeit zu einer umfassenden theoretischen Einheit mit der wirklichen Geschichte in Verbindung stehen und ihre Bestimmung erhalten. Auch für sie gilt der dialektische Satz, daß jeder Begriff erst als Moment des theoretischen Ganzen reale Gültigkeit besitzt, er kommt zu seiner eigentlichen Bedeutung erst, wenn über seine Verflechtung mit anderen Begriffen zur theoretischen Einheit fortgeschritten und seine Rolle in ihr erkannt ist. Welches Leben fördern die Gedanken, denen das Prädikat der Wahrheit zugesprochen werden soll? Worin besteht die Förderung in der gegenwärtigen Periode? Gilt der Gedanke auch dann als wahr, wenn der Einzelne, der ihn gefaßt hat, zugrunde geht, dagegen die Gemeinschaft, die Klasse, die Allgemeinheit vorwärts schreitet, für die er kämpft? Was heißt Bestätigung? Soll die Macht von Verleumdern und Schurken den Behauptungen zum Beweis dienen, mit deren Hilfe sie zu ihr gekommen sind? Kann der krudeste Aberglauben, die armseligste Verkehrung der Wahrheit über Welt, Gesellschaft, Recht, Religion und Geschichte denn nicht ganze Völker ergreifen und sich im Leben seiner Urheber und ihres Anhangs auf das Trefflichste bewähren? Bedeutet umgekehrt die Niederlage der freiheitlichen Kräfte die Widerlegung ihrer Theorie? Der Begriff der Bewährung spielt auch in der materialistischen Denkart eine Rolle. Vor allem seine kritische Bedeutung gegenüber der Annahme einer transzendenten übermenschlichen Wahrheit, die, anstatt der Erfahrung und Praxis grundsätzlich zugänglich zu sein, der Offenbarung und Einsicht von Auserwählten vorbehalten bliebe, macht ihn zur Waffe gegenüber jeder Art von Mystizismus. So sehr jedoch Theorie und Praxis in der Geschichte verknüpft sind, so wenig waltet zwischen ihnen eine prästabilierte [vorgefertigte - wp] Harmonie. Was sich theoretisch als richtig einsehen läßt, ist darum nicht zugleich schon verwirklicht. Die menschliche Tätigkeit ist keine eindeutige Funktion der Einsicht, sondern ein Prozeß, der in jedem Augenblick ebenso von anderen Faktoren und Widerständen bestimmt wird. Aus dem heutige Zustand der Geschichtstheorie geht dies klar hervor. Eine Reihe von Tendenzen der Gesellschaft sind in ihrer Wechselwirkung theoretisch dargestellt: die Zusammenballung großer Kapitalien gegenüber dem sinkenden Anteil des durchschnittlichen Individuums im Verhältnis zum Reichtung der Gesamtgesellschaft, die durch immer kürzere Perioden eines relativen Aufschwungs eine unterbrochene Vermehrung der Arbeitslosigkeit, die steigende Diskrepanz zwischen der Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit auf die verschiedenen Warenarten und dem Bedürfnis der Allgemeinheit, die Ablenkung der Produktivität von konstruktiven auf destruktive Ziele, die Zuspitzung der Gegensätze im Innern und Äußeren der Staaten, alle diese Prozesse wurden von MARX als notwendig nachgewiesen, als sie sich nur in wenigen fortgeschrittenen Ländern und im Keim studieren ließen und die Aussicht einer liberalistischen Verfassung der Welt noch ausgezeichnet schien. Die heute in der Tat bestätigte Ansicht der Geschichte, von der diese Dynamik nicht bloß überhaupt vorausgesagt, sondern zugleich als notwendig erwiesen worden ist, hat diese Verläufe jedoch von Anfang an in einem ganz bestimmten Sinn aufgefaßt, nämlich als Tendenzen, die durch den Einsatz der von dieser Theorie geleiteten Menschen daran verhindert werden könnten, zum Rückfall der Gesellschaft in Barbarei zu führen. Die durch den historischen Verlauf bewährte Theorie war nicht bloß als Theorie, sondern als Moment einer befreienden Praxis gedacht und mit der ganzen Ungeduld der bedrohten Menschen verknüpft. Die Bewährung des unbeirrbaren Glaubens, der in diesem Kampf enthalten ist, hängt mit der schon eingetretenen Bestätigung jener vorausgesagten Tendenzen eng zusammen, aber beide Reihen der Verifikation sind doch nicht unmittelbar dasselbe, die Vermittlung bildet vielmehr die wirkliche Anstrengung, die Lösung der konkreten historischen Probleme aufgrund der durch die Erfahrung erhärteten Theorie. Bei diesem Tun mögen sich fortwährend einzelne Teilansichten als falsch erweisen, Zeitbestimmungen widerlegt, Verbesserungen notwendig werden, es zeigen sich geschichtliche Faktoren, die übersehen wurden, manche heftig verteidigte und gehegte These erweist sich als Irrtum. Der Zusammenhang mit der Theorie als ganzer geht jedoch bei dieser Anwendung keineswegs verloren. Das Festhalten an ihrem bestätigten Lehrgehalt und den sie gestaltenden und durchherrschenden Interessen und Zielen ist die Voraussetzung der wirksamen Verbesserung von Fehlern. Unbeirrbare Treue zu dem als wahr Erkannten ist ebensosehr ein Moment des theoretischen Fortschritts wie die Offenheit für neue Aufgaben, Situationen und eine entsprechende Zentrierung der Gedanken. Wenn in einem solchen Prozeß der Bewährung die um vernünftigere Zustände ringenden Einzelnen oder Gruppen völlig erliegen und die gesellschaftliche Verfassung der Menschen in eine rückläufige Entwicklung geraten würde, was als denkbare Möglichkeit jede nicht in einen Fatalismus entartete Geschichtsauffassung formal gelten lassen muß, dann wäre das Vertrauen in die Zukunft, das freilich nicht bloß als äußerlicher Zusatz, sondern als begriffsbildende Kraft zur Theorie gehört, widerlegt. Aber der eitle Hinweis wohlmeinender Kritiker, die jede verfrühte Feststellung, jede verfehlte Analyse einer augenblicklichen Situation bei den Anhängern der Sache der Freiheit als Beweis gegen ihre Theorie im ganzen, ja gegen Theorie überhaupt benutzen, entbehrt dennoch der Berechtigung. Die Niederlagen einer großen Sache, die der Hoffnung auf ihren nahen Sieg zuwiderlaufen, beruhen häufig auf Fehlern, die den theoretischen Inhalt der Gesamtauffassung nicht zerstören, mögen sie noch so weittragende Folgen haben. Hängen auch Richtung und Inhalt der Aktivität und somit auch das Gelingen bei den geschichtlich nach vorwärts strebenden Gruppen enger mit ihrer Theorie zusammen als bei den Beauftragten der bloßen Macht, deren Rede zu ihrem Aufstieg im Verhältnis eines mechanischen Hilfsmittels steht und nur die Sprache der offenen und geheimen Gewalt durch die der List und des Betrugs ergänzt, selbst wenn sie dem Wortlaut nach der Wahrheit gleichen sollte, so könnte die Erkenntnis der untergehenden Kämpfer, sofern sie die Struktur der gegenwärtigen Epoche und der grundsätzlichen Möglichkeit einer besseren spiegelt, nicht dadurch zu Schanden werden, daß die Menschheit in Bomben und Giftgasen verkommt. So einfach ist der Begriff der Bewährung als Kriterium der Wahrheit nicht aufzufassen. Die Wahrheit ist ein Moment der richtigen Praxis; wer sie jedoch unmittelbar mit dem Erfolg identifiziert, überspringt die Geschichte und macht sich zum Apologeten der jeweils herrschenden Wirklichkeit; die unaufhebbare Differenz von Begriff und Realität verkennend, kehrt er zu Idealismus, Spiritismus und Mystizismus zurück. In der marxistischen Literatur sind Formulierungen zu finden, die der pragmatistischen Lehre nahestehen.
An der umfangreichen Widerlegung, die der Pragmatismus durch MAX SCHELER im Nachkriegsdeutschland erfuhr, treten die Gegensätze deutlich zutage (28). SCHELER hat das relative Recht des Pragmatismus nicht verkannt:
SCHELER verfolgt nicht diese Bewegung des Begriffs, in der sich zeigt, daß die Praxis als abstraktes Kriterium der Wahrheit in die konkrete Theorie der Gesellschaft umschlägt und den Formalismus abstreift, den sie im undialektischen Denken der pragmatischen Schule an sich trägt, er treibt diese Kategorie nicht bis zu den Konsequenzen, die dem System des bürgerlichen Denkens widersprechen, in dem sie einen festen Platz einnimmt und erstarrt ist, sondern er stellt dem durch Praxis verifizierbaren und kritisierbaren Wissen andere Wissensarten gegenüber, die daneben und ohne innere Verbindung mit ihm gelten sollen. Anstatt in der philosophischen Verabsolutierung der mechanischen Naturwissenschaft den ideologischen Reflex der bürgerlichen Gesellschaft zu erkennen, welche die Vernunft und somit die menschliche "Macht und Freiheit" in der sachlichen Produktionstechnik äußerst zu steigern vermochte, jedoch die immer dringender notwendige Neugestaltung der menschlichen Beziehungen in der Produktion ihrem eigenen Prinzip nach verhindern und so dieselben Kriterien der Vernunft, Macht und Freiheit negieren und vernichten muß, die sie auf isolierten Gebieten erkenntnistheoretisch anerkennt, anstatt ferner die von ihm bekämpfte bürgerliche Wirklichkeit und Wissenschaft zu ihren eigenen Ideen und Maßstäben in Beziehung zu setzen und auf diese Weise beides, Gesellschaft und Ideen, in ihrer Einseitigkeit und Abstraktheit zu relativieren und zu ihrer Aufhebung beizutragen, geht er, darin BERGSON und anderen Philosophen dieser Periode ähnlich, dazu über, eigene, besondere, höhere Erkenntnisarten zu verkünden. Angesichts der sich vertiefenden Widersprüche zwischen dem Nutzen in der Wissenschaft und für die Menschen, zwischen dem Nutzen privilegierter Gruppen und der Gesamtgesellschaft, zwischen dem Nutzen bei einer Erleichterung der Produktion und einer Erleichterung des Lebens war das Kriterium der Nützlichkeit ein bedenkliches Prinzip geworden. SCHELER geht der in ihm angelegten Dialektik nicht weiter nach, sondern stellt die nützliche Wissenschaft ganz zu unterst in der Rangordnung des Wissens. Nach früheren Stufen der menschlichen Entwicklung zurückgewandt, propagiert er im Gegensatz zum "Herrschafts- oder Leistungswissen", die beiden Arten des "Bildungswissens" und "Erlösungswissen". Er erklärt sich mit den "neuen unterbürgerlichen Klassen" in der pragmatistischen Auffassung "der anspruchsvollen, rationalistischen Metaphysik des bürgerlichen Unternehmertums" (30) ganz einverstanden, bekämpft jedoch dabei auf das Schärfste den klassischen deutschen Idealismus und den historischen Materialismus, der aus ihm hervorgegangen ist. Ein Unsinn sei es,
Bei der Analyse des Begriffs der Bewährung , wie er in dem nicht abschlußhaften, dialektischen Denken eine Rolle spielt, zeigt es sich, daß die Entscheidung über bestimmte Wahrheiten von noch nicht vollendeten geschichtlichen Verläufen abhängt. So sehr der Fortschritt in Theorie und Praxis dadurch bedingt ist, daß im Gegensatz zur relativistischen Neutralität eine bestimmte, dem höchsten erreichbaren Erkenntnisstand entsprechende Theorie und die mit ihr in Wechselwirkung stehenden Ideen und Ziele wirklich festgehalten und angewandt werden, so sehr wirkt andererseits diese Anwendung auf die Gestalt der Theorie und den Sinn ihrer Begriffe zurück. Das gilt nicht bloß im Sinn einer Korrektur von Irrtümern. Auch Kategorien wie Geschichte, Gesellschaft, Fortschritt, Wissenschaft usw. erfahren in der Zeit einen Wandel ihrer Funktion. Sie sind keine selbständigen Wesenheiten, sondern Momente des jeweiligen Erkenntnisganzen, das die Menschen in der Auseinandersetzung miteinander und mit der Natur entwickeln und das niemals mit der Realität identisch wird. Dies bezieht sich auch auf die Dialektik selbst. Sie inst der Inbegriff der Methoden und Gesetze, die das Denken befolgt, um die Wirklichkeit so genau wie möglich nachzubilden, und die mit den Formprinzipien der wirklichen Verläufe soweit wie möglich übereinstimmen. Die Eigentümlichkeiten des dialektischen Denkens: jedes selbst noch so vielseitige, aber ausschließende Bestimmungsurteil im Bewußtsein der Veränderung des Subjekts und Objekts sowie ihres Verhältnisses zu relativieren (was im Idealismus von einem vorausgesetzten Absoluten aus, im Materialismus auf Grund fortschreitender Erfahrung geschieht (34); das Bestreben, nicht Merkmale nebeneinander zu stellen, sondern durch eine Analyse jeder allgemeinen Eigenschaft im Hinblick auf das bestimmte Objekt darzulegen, daß diese Allgemeinheit ausschließlich genommen dem Objekt zugleich widerspricht, das vielmehr, um richtig erfaßt zu werden, auch zur gegensätzlichen Eigenschaft, ja in letzter Linie zum Gesamtsystem der Erkenntnis in Beziehung gebracht werden muß; das hieraus folgende Prinzip, jede Einsicht erst im Zusammenhang mit der gesamten theoretischen Erkenntnis als wahr zu nehmen und sie daher begrifflich so zu fassen, daß in der Formulierung die Verbindung mit den die Theorie beherrschenden Strukturprinzipien und praktischen Tendenzen gewahrt bleibt; die damit zusammenhängende Regel, bei aller Unbeirrbarkeit in den maßgebenden Ideen und Zielen, beim Festhalten an den historischen Aufgaben der Epoche, den Stil der Darstellung mehr durch das Sowohl-als-auch als das Entweder-Oder auszuzeichnen; der Grundsatz, die Untrennbarkeit der retardierenden [rückschrittlichen - wp] und vorwärtstreibenden Momente, der erhaltenden und auflösenden, guten und schlechten Seiten der bestimmten Zustände in Natur und Menschengeschichte aufzuweisen; das Bestreben, es nicht bei den berechtigten Scheidungen und Abstraktionen der Fachwissenschaft bewenden zu lassen, um dann bei der Erfassung der konkreten Wirklichkeit nach der Metaphysik und der Religion zu greifen, sondern die analytisch gewonnenen Begriffe zueinander in Beziehung zu setzen und die Wirklichkeit durch sie zu rekonstruieren - diese und alle sonstigen Kennzeichen der dialektischen Vernunft entsprechen der Form der verschlungenen, in allen Einzelheiten sich fortwährend ändernden Wirklichkeit. Wenn aber derartige allgemeinste Bewegungsgesetze des Denkens, die aus seiner bisherigen Geschichte abstrahiert sind und den Inhalt der allgemeinen dialektischen Logik bilden, als relativ konstant und damit auch als äußerst leer erscheinen, so entsprechen die besonderen dialektischen Darstellungsformen eines bestimmten Gegenstandsgebietes seiner Eigentümlichkeit und verlieren mit der Änderung seiner Grundlagen auch ihre Gültigkeit als Formen der Theorie. Die gegenwärtige Gesellschaftsform ist in der Kritik der politischen Ökonomie erfaßt. Aus dem allgemeinen Grundbegriff der Ware wird hier in rein gedanklicher Konstruktion derjenige des Wertes abgeleitet. Aus ihm entwickelt MARX [wage] die Kategorien von Geld und Kapital in einem geschlossenen Zusammenhang; alle historischen Tendenzen dieser Form der Wirtschaft, die Zusammenballung der Kapitalien, die sinkende Verwertungsmöglichkeit, Arbeitslosigkeit und Krisen sind mit diesem Begriff gesetzt, werden in strenger Folge abgeleitet. Zwischen dem ersten allgemeinen Begriff, dessen Abstraktheit mit jedem theoretischen Schritt weiter überwunden wird, und den einmaligen historischen Verläufen soll - zumindest der theoretischen Intention nach - ein geschlossener gedanklicher Zusammenhang bestehen, in dem jede These notwendig aus der ersten Setzung, dem Begriff des freien Tausches von Waren folgt. Gemäß der theoretischen Absicht, deren Gelingen hier nicht in Frage steht, soll die Erkenntnis aller gesellschaftlichen Prozesse auf ökonomischen, politischen und allen übrigen kulturellen Gebieten aus jener ursprünglichen Erkenntnis vermittelt werden. Dieser Versuch, die Theorie in der geschlossenen Gestalt eines in sich notwendigen Gedankengangs bis zu Ende durchzuführen, hat einen objektiven Sinn. In der theoretischen Notwendigkeit spiegelt sich die reale Zwangsläufigkeit, mit der in dieser Epoche die Produktion und Reproduktion des menschlichen Lebens vor sich geht, die Selbständigkeit, welche die ökonomischen Mächte den Menschen gegenüber gewonnen haben, die Abhängigkeit aller gesellschaftlichen Gruppen von der Eigengesetzlichkeit des wirtschaftlichen Apparats. Daß die Menschen ihre eigene Arbeit nicht nach ihrem gemeinsamen Willen gestalten können, sondern unter einem Prinzip, das sie einzeln und in Gruppen einander gegenüberstellt, mit ihrer Arbeit nicht Sicherheit und Freiheit, sondern allgemeine Unsicherheit und Abhängigkeit hervorbringen; daß sie statt das unermeßlich gewachsene gesellschaftliche Vermögen zu ihrem Glück anzuwenden, in Elend, Krieg und Zerstörung geraten und anstatt die Herren die Sklaven ihres Schicksals sind - dies kommt in der logischen Notwendigkeit zum Ausdruck, die der wahren Theorie der gegenwärtigen Gesellschaft eigen ist. Es wäre daher eine verkehrte Ansicht, daß die Vorgänge in einer künftigen Gesellschaft nach denselben Prinzipien und mit derselben Notwendigkeit abgeleitet werden könnten wie die Entwicklungslinien der gegenwärtigen. Mit der Struktur der Gesellschaft, aus deren Analyse sie gewonnen sind und in deren Darstellung sie eine Rolle spielen, wird sich auch der Sinn der Kategorien verändern. Der Begriff der historischen Tendenz verliert das Moment der bestimmten Zwangsläufigkeit, die ihm aus den bisherigen Geschichtsperioden eigen war, während er andererseits zur Kategorie der Naturnotwendigkeit, die zwar einzuschränken, aber niemals ganz zu überwinden ist, in Beziehung bleibt. Der Begriff des Individuums verliert in dem Augenblick, wo die Zwecke der Einzelnen wirklich mit denen der Allgemeinheit zusammenfallen und im Ganzen der Gesellschaft aufgehoben sind, wo der Mensch nicht mehr bloß in seiner Einbildung die Verkörperung der absoluten Selbstbestimmung, sondern in Wirklichkeit ein Mitglied der frei sich selbst bestimmenden Gesellschaft ist, den Charakter der einsamen Monade und zugleich seine unbedingt Zentrale Stelle im System des Denkens und Fühlens, die er in den letzten Jahrhunderten einnahm. Während dort, aus der ökonomischen Struktur der Gegensatz zwischen besonderen und allgemeinen Zwecken notwendig hervorgeht, die verbreitete Ansicht von der vollzogenen Überwindung des individualistischen Prinzips teils auf bewußter Irreführung und teils auf träumerischer Impotenz beruth, verliert mit der Aufhebung dieses Zustands die Kategorie des Ichs, ihre das gesamte Verhalten zur Welt beherrschende Funktion und gewinnt eine andere Bedeutung. Solange das gesellschaftliche Leben nicht aus solidarischer Arbeit, sondern aus der vernichtenden Konkurrenz von Einzelsubjekten hervorgeht, deren Beziehung wesentlich durch den Tausch von Waren vermittelt wird, spielt das Ich, das Haben, das Mein und Nicht-Mein eine fundamentale, alle Einzelheiten in bestimmender Weise kennzeichnende und beherrschende Rolle im Erleben, in der Sprache und im Denken, in allen kulturellen Äußerungen überhaupt. Die Welt zerfällt in dieser Periode in Ich und Nicht-Ich wie in FICHTEs transzendentaler Philosophie, und der eigene Tod bedeutet, soweit dieses Verhältnis nicht durch einen metaphysischen oder religiösen Trost gemildert wird, die absolute Vernichtung. Wie die Kategorie der Tendenz und des Individuums so werden alle anderen gesellschaftstheoretischen Begriffe von der Änderung der Realität betroffen. Die mehr formalen Kategorien wie soziale Gesetzmäßigkeit, Kausalität, Notwendigkeit, Wissenschaft usw. ebenso wie die mehr materialen, Wert, Preis, Gewinn, Klasse, Familie, Nation usw. gewinnen in den theoretischen Bildungen, die einem neuen Zustand entsprechen, ein anderes Gesicht. In der traditionellen Logik wird diese Änderung der Begriffe so aufgefaßt, daß die ursprünglichen Gattungen im System der Klassifizierung eines Wissensgebietes durch neue Unterarten spezifiziert werden. Unter den Gattungsbegriff Tendenz fallen dann sowohl die historischen Tendenzen der gegenwärtigen Gesellschaft wie die möglichen andersartigen Tendenzen in einer zukünftigen. Trotz allen geschichtlichen Wandels lassen sich etwa die Bestimmungen des ARISTOTELES, daß die Polis aus Individuen und Gruppen besteht und nicht bloß quantitativ, sondern qualitativ von ihren Elementen verschieden ist, in eine oberste formale Kategorie der Gesellschaft überhaupt, die für alle Gesellschaftsformen gültig ist, aufnehmen und so in ihrer Allgemeingültigkeit bewahren. Für ARISTOTELES selbst gehörte freilich zu dieser obersten Kategorie die Sklaverei noch mit hinzu, während diese in den späteren Begriffssystemen nur noch eine Unterart der Gesellschaft kennzeichnet, der andere bestimmte Arten gegenüberstehen. Der Begriffsrealismus, der die platonische und teilweise die mittelalterliche Philosophie beherrscht und dessen Reste in der neueren Logik noch keineswegs überwunden sind (z. B. in der modernen Phänomenologie), hat die Eigentümlichkeit der diskursiven Logik, die alle Veränderungen als bloße Hinzufügung neuer Unterarten unter die universalen Gattungen begreift, verabsolutiert und die metaphysische Ansicht aufgestellt, daß aller Wechsel als eine verschiedene Verkörperung oder Emanation [Erscheinungsweise - wp] fester Ideen und Wesenheiten in immer neuen Spezifikationen und Exemplaren zu verstehen ist. Das Wesentliche bliebe somit immer beim alten, es gäbe ein ewiges Reich unbeweglicher Ideen, und aller Wechsel beträfe bloß die niederen Stufen des Seins, ja er wäre nicht eigentlich wirklich und nur für die stumpfen Sinne der Menschen vorhanden. Indem die HEGELsche Philosophie die Struktur der in ihrem Rahmen abgehandelten Kategorien hypostasiert [einem Wort gegenständliche Realität zubilligen - wp], enthält sie selbst noch etwas von diesem Realismus und verfällt in den von ihr so sehr bekämpften Dualismus von Wesen und Erscheinung. Das bestimmte Schicksal der historisch bestimmten Individuen, die wechselnden Zustände in der gegenwärtigen und zukünftigen Geschichte werden gegenüber den Ideen, die der vergangenen zugrunde liegen sollen, zum Nichtigen und Wesenlosen. Die diskursive, die "Verstandes"logik ist nur innerhalb von HEGELs System begrenzt, über seine Philosophie als Ganzes im Sinne einer metaphysischen Legende behält sie ihre verdinglichende Macht. Die Verstandeslogik abstrahiert davon, daß angesichts des veränderten Gehalts der Begriffe ihre Zusammenfassung mit den früheren unter dieselben Gattungen gleichgültig und schief und eine neue Bestimmung, eine neue Ordnung und Hierarchie der Begriffe notwendig werden kann. Die Kategorie der Tendenz wird später vielleicht so umstrukturiert, daß sich ihr Verhältnis zu den Begriffen der planvollen Absicht einerseits und der Naturmacht andererseits umwälzt, der Begriff des Staates ändert die Beziehung zu den Kategorien des Willens, der Herrschaft, der Gewalt, der Allgemeinheit usw. Solche bestimmten Perspektiven gehen nicht aus der Betrachtung des gegenwärtig gültigen Klassifikationssystems der gesellschaftlichen Erscheinungen, sondern aus der Theorie der historischen Entwicklung selbst hervor, von der jenes vielmehr bloß ein geordnetes begriffliches Inventar darstellt. Der Zusammenhang zwischen der konkreten Bewegung des Denkens, wie es in einer stetigen Verflechtung mit dem gesellschaftlichen Leben vorwärtsgeht und den Systemen des ordnenden Verstandes wird von der traditionellen Logik nicht im Einzelnen erforscht, sie weist ihn als Gegenstand der Wissenschafts- oder Kulturgeschichte in ein von ihr getrenntes Fach. Sie selbst handelt von den Beziehungen der feststehenden Begriffe als solchen, wie man urteilend und schließend von einem zum andern kommt und wie man das, was jeder enthält, aus ihm entwickelt. Die traditionelle Logik ist
Nicht bloß im Hinblick auf die historisch bedingte Veränderung der grundlegenden Kategorien, sondern auf jeden die Sache erfassenden Denkprozeß ist somit die traditionelle Logik ungenügend und begreift nur einzelne Seiten. Indem ein Begriff in der dialektischen Konstruktion eines Geschehens eine bestimmte Rolle spielt, wird er zum unselbständigen Moment eines gedanklichen Ganzen, das andere Eigenschaften hat als die Summe aller in es aufgenommenen Begriffe; dieses Ganze, die Konstruktion des bestimmten Gegenstands, kann freilich nur dann in einer der jeweiligen Erkenntnis angemessenen Weise zustande kommen, wenn die Begriffe in dem Sinn in dieses aufgenommen sind, der ihnen in den Systemen der Einzelwissenschaften, in den systematischen Inventaren wissenschaftlich fundierter Definitionen zukommt - soweit es sich überhaupt um Begriffe handelt, für welche Fachwissenschaften zuständig sind. Im "Kapital" führt MARX die Grundbegriffe der klassischen englischen Nationalökonomie: Tauschwert, Preis, Arbeitszeit usw., nach ihren exakten Bestimmungen ein. Alle aufgrund der wissenschaftlichen Erfahrung damals fortgeschrittensten Definitionen werden herangezogen. Im Zusammenhang der Darstellung gewinnen jedoch diese Kategorien neue Funktionen, sie tragen zu einem theoretischen Ganzen bei, dessen Charakter den statischen Anschauungen, innerhalb deren sie entstanden sind, und vor allem ihrer unkritischen isolierten Anwendung widerspricht. Das Ganze der materialistischen Ökonomik ist dem System der klassischen entgegengesetzt, und doch sind ihre einzelnen Begriffe übernommen. Die dialektischen Bewegungsformen des Denkens erweisen sich als dieselben wie diejenigen der Wirklichkeit. Wie ein Wasserstoffatom isoliert betrachtet seine bestimmten Eigenschaften hat, in der molekularen Verbindung mit anderen Elementen neue Qualitäten gewinnt, um die alten wieder aufzuweisen, sobald es aus der Verbindung losgerissen wird, so sind auch die Begriffe zu handhaben, sie behalten einzeln betrachtet ihre Definitionen und werden im Zusammenhang zu Momenten neuer Sinneinheiten (40. In der "Flüssigkeit" der Begriffe spiegelt sich die Bewegung der Realität. Die unabgeschlossene materialistische Dialektik denkt das "Vernünftige" an keiner Stelle der Geschichte als vollendet gegeben und glaubt nicht, die Auflösung der Gegensätze und Spannungen, das Ende der historischen Dynamik durch den Vollzug bloßer Gedanken und ihrer einfachen Konsequenzen herbeizuführen. Sie ermangelt des Moments der idealistischen Dialektik, das HEGEL selbst als "spekulativ" und zugleich als "mystisch" bezeichnet hat (41, nämlich der Vorstellung, das angeblich Unbedingte zu wissen und somit selbst unbedingt zu sein. Sie hypostasiert kein noch so universales Kategoriensystem. Um zum "positiv Vernünftigen" zu gelangen, genügt nicht die Aufhebung der Gegensätze in Gedanken, sondern es bedarf des geschichtlichen Kampfes, dessen leitende Ideen und theoretische Voraussetzungen freilich im Bewußtsein der Kämpfenden gegeben sind. Das Ergebnis läßt sich jedoch rein theoretisch nicht vorwegnehmen, denn es wird durch keine festumrissene Einheit, etwa den "Geschichtslauf", dessen Prinzipien einheitlich und ein für allemal festzulegen wären, sondern durch die unter sich selbst und mit der Natur sich auseinandersetzenden Menschen bestimmt, die in neue Verhältnisse und Strukturen eintreten und sich dabei verändern. Die Auflösung von Widersprüchen im subjektiven Denken und die Bewältigung objektiver Gegensätze kann eng zusammenhängen, unmittelbar identisch ist sie keineswegs. Eine freie Gesellschaft im Sinne einer freien Entwicklung der Individuen und im Sinne der Gewerbefreiheit auf der Grundlage von Ungleichheit wird in einer bestimmten historischen Periode gedanklich und real widerspruchsvoll. Die Auflösung in Gedanken geschieht durch den Begriff einer differenzierteren, höheren Form der Freiheit, der bei der realen Überwindung entscheidend mitspricht, aber keineswegs mit ihr zusammenfällt und die Zukunft nur abstrakt und ungenau antizipiert. Indem die Logik der unabgeschlossenen Dialektik der Möglichkeit Rechnung trägt, daß die Änderung auch das gesamte vorhandene Kategorienmaterial betrifft, ohne die Theorie, die aus ihm geformt ist, darum weniger wahr zu nehmen, entspricht sie genau der HEGELschen Vorstellung vom Unterschied zwischen Dialektik und Verstand, ohne ihn durch einen neuen Dogmatismus zu überbauen.
Die Eingangs erörterte Zwiespältigkeit des bürgerlichen Geistes gegenüber der Wahrheit im Unterschied vom dialektischen Denken kommt besonders deutlich in der Stellung zur Religion zum Ausdruck. Vor dem primitiven Materialismus, der das wirtschaftliche Leben beherrscht, hat sie sich immer mehr ins Innere seiner Subjekte zurückgezogen. Die Praxis des allgemeinen Wettbewerbs, der die gegenwärtige Wirklichkeit kennzeichnet, war von Anfang an erbarumungslos und ist mit Ausnahme weniger Perioden in zunehmendem Maß unmenschlich geworden. Ihre Mittel und Auswirkungen, die in bestimmten geschichtlichen Augenblicken bis zur Unterordnung unter die Herrschaft kleiner ökonomischer Gruppen, bis zur Vergebung der Macht an die kulturell zurückgebliebensten Elemente der Gesellschaft, bis zur Ausrottung von Minoritäten führten, widersprechen offenkundig den Grundlehren des Christentums. In einem Zeitalter, in dem trotz großer Widerstände das Lesen und Schreiben aus wirtschaftlichen Gründen schließlich zur allgemeinen Fertigkeit werden mußte und der Wortlaut der Bibel für die Massen auf die Dauer kein Geheimnis bleiben konnte, wäre es daher seit langem das Gegebene gewesen, das widersprechende Prinzip des Christentums auch offen dem Prinzip der Wirklichkeit zu opfern und den vulgären Positivismus der nackten Tatsachen samt dem Erfolgsglauben, die dieser Lebensform immanent sind, als die ausschließliche und höchste Wahrheit auszubreiten. Aber der bestehende krasse Widerspruch wurde innerhalb des Bürgertums nur von religiösen Outsidern (wie TOLSTOI und KIERKEGAARD) wirklich erfaßt. Die monistische Propaganda von STRAUSS, HAECKEL usw., die ihn von der Forschung aus betonte, sah bloß den freilich damit zusammenhängenden Unterschied zwischen der isolierten Naturwissenschaft und der Offenbarung und verkannte beides, den Geist der Evangelien und die historische Wirklichkeit. Diese naturwissenschaftlichen Materialisten mußten Sektierer bleiben, denn die Religion war für die gesellschaftlichen Gruppen, denen sie angehörten, nicht zu entbehren. Es ist von der herrschenden Geistigkeit der letzten Jahrhunderte nicht der Weg eingeschlagen worden, die Kluft aufzudecken, sondern die Religion wurde solange eines klaren bestimmten Inhalts beraubt, formalisiert, angepaßt, spiritualisiert, in die innerste Innerlichkeit der Subjekte verlegt, bis sie sich mit jedem Handeln und mit jeder öffentlichen Praxis vertrug, die in dieser atheistischen Wirklichkeit gang und gäbe war. Seit die Individuen selbständiger zu denken begannen, d. h. seit dem Aufkommen der neuen Wirtschaftsordnung hat die Philosophie auf allen Gebieten immer eindeutiger die Funktion erfüllt, den Widerspruch zwischen der herrschenden Lebenspraxis einerseits und den christlichen oder sich mit dem Christentum berührenden theoretischen und praktischen Lehren und Ideen zu verwischen. Der Grund dafür fällt einerseits zusammen mit der Wurzel des bürgerlichen Dogmatismus überhaupt. Das isolierte Individuum, das in seiner Abstraktheit zugleich für absolut frei und verantwortlich gehalten wird, ist in der gegenwärtigen Epoche notwendig von Angst und Unsicherheit beherrscht. Außer dieser inneren Bedürftigkeit, die unmittelbar im atomistischen Prinzip der vorhandenen Ordnung begründet ist, hat noch die äußere Rücksicht auf den sozialen Frieden die Anwendung großer geistiger Energien auf die Verschleierung der Unvereinbarkeit von moderner Wissenschaft und allgemeiner Lebenspraxis sowohl mit den religiösen Ansichten über Werden und Struktur der Welt wie auch mit den Vorstellungen der Nächstenliebe, Gerechtigkeit, Güte Gottes bedingt. TROELTSCH, dieser kennzeichnende Religionsphilosoph im Vorkriegsdeutschland, spricht es offen aus, was er befürchtet:
Dieses zweideutige Verhalten gegenüber der Religion kennzeichnet das gesamte Zeitalter und findet in Erscheinungen wie TROELTSCH nur einen besonders deutlichen ideologischen Ausdruck. Es bildet ein Moment der objektiven Unaufrichtigkeit, die trotz des guten Gewissens der Beteiligten die geistige Atmosphäre beherrschte. Daß jetzt an vielen Stellen im öffentlichen Bewußtsein die krasse und offenkundige Lüge zu Ehren gekommen ist, bedeutet bei genauer Betrachtung der Vorgeschichte keinen unbegreiflichen Umschwung. Die Lage des Bürgertum hatte es mit sich gebracht, daß die geistige Entwicklung in moralischen und religiösen Fragen hintangehalten und zentrale Gebiete wie auf eine stillschweigende Vereinbarung hin im Zwielicht gehalten wurden. Die religiöse Philosophie des Mittelalters umreißt den geistigen Horizont, welcher der damaligen Gesellschaft entsprach; ihre wichtigsten Leistungen bilden daher historische Zeugnisse von offenbarer Größe. Indem die Religionslosigkeit, die der modernen Naturwissenschaft und Technik, diesen spezifisch bürgerlichen Leistungen, innewohnt, im allgemeinen Bewußtsein keinen entsprechenden Platz gefunden hat und die damit zusammenhängenden Konflikte nicht ausgetragen worden sind, haftet der offiziellen Geistigkeit ein Zug der Hypokrise und der Nachsicht gegen bestimmte Arten von Irrtum und Unrecht an, der sich schließlich über das kulturelle Leben ganzer Völker ausgebreitet hat. Der einzige große Geist, der angesichts der ungeheuren Verdichtung dieses Nebels, die seit der Mitte des letzten Jahrhunderts eingetreten ist, die Freiheit von Jllusionen und den Überblick gewonnen hat, die von den Positionen des Großbürgertums aus möglich sind, ist NIETZSCHE. Es mußte ihm freilich entgehen, daß die intellektuelle Redlichkeit, um die es ihm zu tun war, sich mit diesem gesellschaftlichen Standpunkt nicht vertrug. Weder im individuellen noch im nationalen Charakter liegt der Grund der von ihm bekämpften Unsauberkeit, sondern in der Struktur der gesellschaftlichen Totalität, die beide in sich enthält. Indem er als echter bürgerlicher Philosoph die Psychologie, wenngleich die tiefste, die es bis heute gibt, zur Grundwissenschaft der Geschichte machte, hat er den Ursprung der geistigen Verkommenheit sowie den Weg aus ihr verkannt, und das Schicksal, das seinem eigenen Werk widerfuhr ("Wer von meinen Freunden hätte mehr darin gesehen, als eine unerlaubte, zum Glück vollkommen gleichgültige Anmaßung?") (52, hat daher seine Notwendigkeit. Die philosophisch vermittelte Unaufrichtigkeit in den Fragen der Religion ist nicht durch eine psychologische und sonstige Aufklärung aus der Welt zu schaffen. Im Gegensatz zu NIETZSCHE, der das religiöse Problem und die christlichen moralischen Werte negativ ins Zentrum rückt und sich damit selbst zum Ideologen macht, ist auch diese Seite des gegebenen Zustandes nur mit seiner geschichtlichen Überwindung durch höhere Lebensformen der Gesellschaft aufzuheben. Im dialektischen Denken werden auch die religiösen Phänomene auf das Ganze der Erkenntnis bezogen und jeweils im Zusammenhang mit der Analyse der gesamten historischen Situation beurteilt. So sehr die Einsicht in die Unverträglichkeit des religiösen Inhalts mit der fortgeschrittenen Erkenntnis wichtig ist, so sehr beweist die Gegenwart, daß andererseits die Zentrierung der gesamten kulturellen Problematik um religiöse Fragen schief sein kann. In der Literatur der katholischen Gegenrevolution in Frankreich, bei BONALD und de MAISTRE, in den Schriften des katholischen Royalisten BALZAC ist mehr eindringende Analyse der bürgerlichen Gesellschaft zu finden als bei den gleichzeitigen Kritikern der Religion in Deutschland. Die gläubigen VICTOR HUGO und TOLSTOI haben das Grauen der bestehenden Zustände großartiger dargestellt und schärfer bekämpft als die aufgeklärten GUTZKOW und FRIEDRICH THEODOR VISCHER. In der Praxis des täglichen Lebens können Bestrebungen, die sich am dialektischen Denken orientieren, zum zeitweiligen Zusammengehen mit religiös gerichteten Gruppen und Tendenzen und in einen radikalen Gegensatz zu anti-religiösen führen. Der historische Aufgabenkreis, der für eine illusionslose und nach vorwärts gerichtete Haltung in der Gegenwart maßgebend ist, stellt die Menschen nicht primär aufgrund ihrer religiösen Entscheidung einander gegenüber. Das bestimmte, freilich theoretisch zu explizierende Interesse an gerechten Zuständen, welche die freie Entfaltung der Menschen bedingen, an der Überwindung von Verhältnissen der Unfreiheit, die der Menschheit gefährlich und unwürdig sind, oder das Fehlen dieses Interesses ermöglicht heute eine raschere Kennzeichnung von Gruppen und Individuen als ihr Verhalten zur Religion. Der verschiedene Bildungsgrad der sozialen Gruppen, die, soweit gesellschaftliche Probleme in Frage stehen, ganz im Argen liegende Erziehung und andere Faktoren bringen es mit sich, daß Religion in verschiedenen Schichten und bei verschiedenen Existenzen ganz Verschiedenes bedeuten kann. Es gehört nicht bloß Erfahrung und theoretische Schulung, sondern auch ein bestimmtes Schicksal in der Gesellschaft dazu, um das Denken weder zur Schöpfung von Idolen zu überspannen noch als Inbegriff bloßer Jllusionen zu entwerten, es weder zum absoluten Gesetzgeber des Handelns, zum eindeutigen Wegweiser zu machen noch von den Zielen und Aufgaben der Praxis zu trennen, mit denen es vielmehr in Wechselwirkung steht. ![]()
25) WILLIAM JAMES, Pragmatismus, übersetzt von WILHELM JERUSALEM, Leipzig 1908, Seite 137 26) JAMES, Pragmatismus, a. a. O., Seite 134. 27) MAX ADLER, Marx als Denker, Berlin 1908, Seite 75 28) MAX SCHELER, Erkenntnis und Arbeit, in: Die Wissensformen und die Gesellschaft, Leipzig 1926. 29) SCHELER, Erkenntnis und Arbeit, a. a. O., Seite 250-251. 30) SCHELER, Erkenntnis und Arbeit, a. a. O., Seite 485 31) SCHELER, Wissensformen, a. a. O., Seite 44 32) SCHELER, Erkenntnis und Arbeit, a. a. O., Seite 484 33) SCHELER, Erkenntnis und Arbeit, a. a. O., Seite 486 34) In der Phänomenologie (a. a. O., Seite 28) hat HEGEL selbst die Dialektik als "Wissenschaft der Erfahrung, die das Bewußtsein macht", bezeichnet. Diese Bestimmung, die NICOLAI HARTMANN (z. B. in dem Aufsatz "Hegel und das Problem der Realdialektik", französische Übersetzung im Sammelwerk "Études sur Hegel", Paris 1931, vgl. besonders Seite 17f) als allein maßgebend gelten läßt, gewinnt in der Auffassung des Materialismus eine fundamentalere Bedeutung als in der HEGELschen Logik selbst, da HEGELs abschlußhafte Metaphysik entscheidende, die geltenden begrifflichen Strukturen verändernde Erfahrung im künftigen Fortgang der Geschichte ausschließt. HARTMANNs kontemplativer Standpunkt läßt ihn freilich die Wechselwirkung zwischen Begriff und Gegenstand verkennen, so daß er die dynamische Natur des Denkens einseitig aus dem Bemühen des Subjekts, der Wirklichkeit zu folgen, sich ihr anzupassen, als "subjektives Denkgesetz" (a. a. O. Seite 20) begreift. Das Problem des im geschichtlichen Prozeß, in der Praxis sich verändernden Verhältnisses beider Prinzipien wird dabei nicht gestellt, sondern beide in ihrer Isolierung festgehalten. 35) Immanuel Kants Logik, hg. von JÄSCHE, Akademie-Ausgabe, Bd. IX, Seite 13 36) Kants Logik, a. a. O., Seite 63. 37) Kants Logik, a. a. O., Seite 64 38) HEGEL, Phänomenologie, a. a. O., Seite 42 39) HEGEL, Enzyklopädie, § 12, 1. a. a. O., VI, Seite 20. 40) Vgl. HORKHEIMER, Zum Rationalismusstreit in der gegenwärtigen Philosophie, Zeitschrift für Sozialforschung, Jhg. 1934, Seite 20f 41) HEGEL, Enzyklopädie, Bd. I, § 82, Zusatz, a. a. O., Bd. IV, erste Auflage, Seite 160. 42) HEGEL, Philosophische Propädeutik, a. a. O., Bd. XVIII, erste Auflage, Seite 148-149. 43) NIETZSCHE, Nachlaß, Werke, II. Abteilung, Bd. XI, Leipzig 1919, Seite 171. 44) ERNST TROELTSCH, Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Gesammelte Schriften, Bd. II, Tübingen 1922, Seite 535. 45) TROELTSCH, a. a. O., Seite 190-191 46) TROELTSCH, a. a. O. 47) TROELTSCH, a. a. O., Seite 191-192 48) TROELTSCH, a. a. O. 49) TROELTSCH, a. a. O. 50) TROELTSCH, a. a. O., Seite 311 51) Vgl. TROELTSCH, a. a. O., Seite 802 52) NIETZSCHE, Werke, Nachlaß, II. Abteilung, Bd. XI, Ecce homo, Leipzig 1933, Seite 115 |