H.-J. LieberW. JerusalemW. Stark | |||
Probleme einer Soziologie des Wissens [2/2]
Zu diesem eben skizzierten Teil der Kultursoziologie gehört nun eng ein zweiter Teil, der sie sozialen Formen der geistigen Kooperation, der mehr oder weniger organisierten und unorganisierten, betrifft. Die drei obersten Hauptarten des Wissens erscheinen zunächst zu allen Zeiten in sozialen Formen, die ihrem obersten intentionalen Wissensziel wesensmäßig angemessen und je nach dem Sosein des Gegenstandes, der vorausgesetzt ist, in sich notwendig verschieden sind. Dasselbe gilt aber auch für alle Grundarten spezifisch geistiger, kultureller Betätigung. Es gibt für die vorwiegend religiöse Form des Heilswissens Gemeinden, Kirchen, Sekten, kaum organisierte "schwebende" mystische Verbände oder nur theologisch geeinte Denkrichtungen. Es gibt andererseits "Weisheitsschulen" und Bildungsgemeinschaften im antiken Sinne, die Lehre, Forschung, Lebenspraxis ihrer Glieder zu einer überlebensgemeinschaftlichen, oft auch übervölkischen Einheit verbinden und ein das Weltganz betreffendes "System" von Ideen und Werten gemeinsam anerkennen. Es gibt endlich die auf Gegenstandsscheidung und auf Arbeitsteilung beruhenden Lehr- und Forschungsorganisationen der positiven Wissenschaft, enger oder loser verbunden mit den Organisationen der Technik und Industrie, bzw. mit bestimmten Berufsverbänden, wie der Juristen, Ärzte, Beamten: die "wissenschaftlichen Körperschaften", wie wir sie generell nennen können. Ähnlich entwickeln die Künste ihre "Meister"schulen. Alle diese Formen entwickeln je nach ihrer Artung Dogmen, Prinzipien, Theorie in Formulierungen, die sich über die natürliche Sprache in die Sphäre der "Bildungssprache" erheben, bzw. in "künstlichen" Zeichensystemen ausgedrückt werden, nach Konventionen der Messung und einer "Axiomatik", die sie je gemeinsam anerkennen. Die Wissensorganisationen sind natürlich sämtlich zu scheiden von denjenigen Unterweisungsformen und "Schulen", in den Kinder verschiedener Altersstufen das Durchschnittswissen des jeweiligen Kulturstandes der umfassenden Lebensgemeinschaften (der Stämme, Völker, Staaten, Nationen, Kulturkreise) erst erwerben, in denen der durchschnittliche ja sozial allgemein notwendige Wissensstand von Generation zu Generation nur übertragen wird; jeweils selbst wieder verschieden nach Kasten, Ständen und Klassen. Im Verhältnis zu diesen Lehr- und Erziehungs organisationen stellen jene erstgenannten Verbände einen Überbau dar, von dem aus das hier je neu erworbene Wissen sehr langsam hineinfließt in die Lehrerschaften dieser "Schuleinrichtungen" der Gemeinden, Städte, Staaten, Kirchen usw. Ferner sind die vorgenannten Wissensinhalte zu scheiden von den kraft Standes-, Berufs-, Klassen-, Parteizugehörigkeit den Menschen gemeinsamen Mischgebilden von kollektiven Interessen und (vermeintlichen Wissensinhalten, die wir unter den Gesamttitel der "Vorurteile" der Standes-, Berufs-, Klassen- und Parteivorurteile bringen wollen. Die Eigenart dieses Schein wissens ist es, daß die kollektive Interessenwurzel dieses "Wissens" stets denen unbewußt bleibt, daß nur sie als Gruppe und nur vermöge dieser Zugehörigkeit zu einer dieser Gruppen dieses Wissen gemeinsam haben. Suchen sich diese Systeme von automatisch und unbewußt gewordenen "Vorurteilen" in einer bewußten Reflexion hinter einer Richtung des religiösen, metaphysischen oder positivwissenschaftlichen Denkens zu rechtfertigen, oder auch durch eine Heranziehung von Dogmen, Prinzipien, Theorien, die jenen höheren Wissensorganisationen entstammen, so entstehen die neuen Mischgebildet von "Ideologien"; deren gewaltigstes Beispiel innerhalb der neueren Geschichte der Marxismus als eine Art der "Unterdrücktenideologien" ist. Den Gesetzen des Werdens der Ideologien das Werden allen Wissens unterzuordnen, ist eine spezifische These der ökonomischen Geschichtsauffassung. Ein gewisses Klärbecken für die Vorurteile und Ideologien bildet bereits die "öffentliche Meinung" (23), eine den "Gebildeten" einer Gruppe gemeinsame Haltung (24). Die Kultursoziologie hat diese Formen der geistigen Kooperation idealtypologisch zu unterscheiden und zu definieren, und sie hat dann zu versuchen, Phasenordnungen im Ablauf dieser Formen innerhalb jeweils eines Kulturganzen zu suchen, Phasenordnungen auch in der Verschiebung der Machtverhältnisse dieser Organisationsformen des Wissens zueinander, zum Beispiel der Kirche zur Philosophie, bei der zur Wissenschaft usw. Immer ist hier auf das Verhältnis des Inhalts des Wissens, zum Beispiel der Glaubensinhalte, der dogmatisch oder nichtdogmatisch definierten, zu den Organisationsformen selbst Bedacht zu nehmen. So fordert beispielsweise schon der Inhalt der jüdischen JAHWE-Religion, daß sie eine nichtmissionierende auserwählte Volksreligion sei, ein "Volk" ihr Träger sei; so schließt der Inhalt aller poly- und henotheistischen Formen der Religion die Universalreligion (schon als Anspruch) aus; so fordert der Inhalt der Ideenlehre PLATOs weitgehend die Form und Organisation der platonischen Akademie. So ist die Organisation der protestantischen Kirchen und Sekten primär vom Glaubensinhalt selbst bestimmt, der eben nur in dieser und keiner anderen sozialen Form existieren kann. (25) Und so fordert der Gegenstand und die Methodik der positiven Wissenschaft notwendig die internationale Form der vertretbaren Kooperation und der Organisationen; der Inhalt und schon die Aufgabe einer Metaphysik dagegen die kosmopolitische Form der Kooperation des Zusammenwirkens von individual verschiedenen, unersetzlichen und unvertretbaren Volksgeistern, bzw. ihrer Repräsentanten. Die allgemeinsten und der Größenordnung nach primären Unterschiede der möglichen Organisationsformen des Wissens aber sind jene, die sich an die Arten knüpfen, in denen Kulturen die Wesensformen menschlicher Gruppierung überhaupt durchlaufen, nämlich die Formen der fluktuierenden Horden, der (im Sinne von TÖNNIES) dauernden Lebensgemeinschaft, der Gemeinschaft und der Form des personalistischen Solidaritätssystems selbständiger, selbst- und mitverantwortlicher Individuen (26). Denn diese Unterschiede gehen - wie sich im Folgenden zeigt - stets und notwendig mit Unterschieden der Denk- und Anschauungs formen gemeinsam einher. Das Denken zum Beispiel in der vorwiegenden Lebensgemeinschaft einer historischen Gruppe muß notwendig vorwiegend sein:
2. Ihre Methode muß vorwiegend ontologisch und dogmatisch sein, nicht erkenntnistheoretisch und kritisch. 3. Ihre "Denkart" muß begriffsrealistisch sein, nicht nominalistisch wie in der Gesellschaft. Aber sie wird gleichwohl nicht mehr die Worte selbst als die Eigenschaften und Kräfte von Dingen fassen, wie die Menschen der primitiven Horde, wo nach Levy-Bruhls treffendem Wort aller Wissenserwerb auf einem "Gespräch" des Menschen mit Geistern und Dämonen beruth, die sich in den Erscheinungen der Natur ausdrücken und verlautbaren. 4. Ihr Kategoriensystem muß vorwiegend organologisch (d. h. am Organismus ideirt und dann auf alles generalisiert) sein, also auch die Welt für sie eine Art "Lebewesen", kein Mechanismus wie in der Gesellschaft. Eine weitere Aufgabe der allgemeinen Kultursoziologie ist nun ferner das Problem, welchen essentiellen Bewegungsformen die Kulturgebiete, respektive bestimmte Bestandteile der Kulturgebiete, zum Beispiel Stil der Kunst und Kunst technik, unterworfen sind, welchen Bewegungen des Aufblühens, Reifens, Vergehens. Die Bewegungsformen der Wissensarten sind nur ein spezieller Fall dieser großen umfassenden Frage der soziologischen Dynamik der Kultur. Es scheinen mir mehrere große Fragenkomplexe zu sein, in die dieses Gebiet zerfällt: Nimmt, und wie weit nimmt die Geisteskultur an der prinzipiellen Sterblichkeit der noch vorwiegend biologischen Kollektiv- und Abstammungseinheiten teil, die ihre Träger und Produzenten waren und sind; bzw. in welchen Größenordnungen (nicht metrischen Größen) der Dauerhauftigkeit stehen die Gebiete der geistigen Kultur zueinander, zum Beispiel Religion zu Philosophie, Philosophie zu Wissenschaft usw.? Nennen wir dieses Problem das Problem vom Grad der "Überlebensfähigkeit der Kultur" über die Existenz der sie produzierenden Gruppen. In welchen Gebieten ist ferner Kultur nur ein einmaliger, niewiederholbarer Lebens- und Seelenausdruck (SPENGLER sagt "Physiognomik", er dehnt diese Form der Bewegung irrtümlich auf alle Kultur aus) der Kollektivseele der biologischen Kollektiva, die Kultur tragen, so daß sie mit deren kollektiv biologischer Totalexistenz, zum Beispiel den Erbrassen, den Völkern und Stämmen, den zugehörigen soziologischen Realfaktoren und deren Zuständlichkeiten notwendig verschwinden? In welchen Wert- und Sachgebieten ist zweitens jene besondere Art des "Wachsens" der Kultur vorwiegend, die - beruhend auf einem nur geistigen Übernehmunen von Volk zu Volk in der Zeit (Tradition und Rezeption) - zugleich ein Bewahren des einmal gewonnenen Kulturinhalts und ein Überwinden und Überhöhen des Gewonnenen in einer neuen, lebendigen Kultursynthese ist, - ein "Aufheben" im Doppelsinn HEGELs - so aber, daß
b) zwar nicht Gültigkeit und Sinngehalt der Kulturinhalte, wohl aber ihr Ursprung in prinzipiell unersetzlicher und unvertretbarer Weise bestimmten individuellen Kultursubjekten in der Abfolge der Zeiten und in einem Nebeneinander zugeordnet bleibt?
b) auf den Inbegriff der zu dieser Lenkung notwendigen Vorrichtungen (Technik) hin. Die bisher angedeuteten Probleme betreffen nur gesetzmäßige Werdensbedingungen, die zwischen den Produkten des Geistes selbst obwalten. Aber die tiefsten und fruchtbarsten Fragen der Kultursoziologie liegen in einem Problemkreis anderer Art beschlossen. Er ist begrenzt durch die Frage, in welcher gesetzmäßigen Ordnung die den Triebstrukturen der führenden Eliten jeweils objektiv entsprechenden realen Institutionen auf die Produktion, Erhaltung, Förderung oder Hemmung jener idealen Sinnwelt einwirken, die zu jedem Zeitpunkt der realen Begebenheits- und Zustandsgeschichte diese Geschichte der Wirklichkeiten überschwebt, ferner aber auch immer der möglichen Geschichte der Zukunft als Projekt, Erwartung, Glaube, Programm vorschwebt. Es ist ja eine nur der Menschengeschichte eigene, jeglicher Naturerkenntnis und sogenannter Naturgeschichte völlig fehlende Erkenntnismöglichkeit, daß wir in der Menschengeschichte nicht nur Werdensprozesse aus festen Gewordenheiten erschließen und gleichsam interpolieren können, sondern vielmehr das Werden des Gewordenen selbst kraft unseres Nacherlebens der Interessen, der Bestrebungen, der Planungen, der Programme und Projekte, der mißglückten "Versuche" mitzuverfolgen vermögen, aus denen diese und jene geschichtliche Wirklichkeit allererst herausquillt - stets herausquillt als ein nur minimaler Teil aus diesen den je gegebenen Wirklichkeiten vorausschreitenden Ideen und Wollungen, Projekten und Plänen, stets auch prinzipiell anders beschaffen, als irgendeine Gruppe oder irgendjemand überhaupt, der eine geschichtliche Rolle spielte, gewollt, gewußt und erwartet hat. Diese immer ungeheure quantitative und qualitative Verschiedenheit der geistig möglichen, d. h. der zu jedem Zeitpunkt potentiellen und werdenden Geschichte von der Geschichte, die Begebenheit, Werk und wirklicher Zustand geworden ist, können wir kraft der doppelten Erkenntnisquelle des Nacherlebens der Pläne, Projekte, Ideen einerseits und all dessen, was dann als wirklich geschehen erkannt wird, selbst noch klar erkennen. Diese stets und konstant vorhandene Differenz zwischen dem Werdenden und Gewordenen bezeichnet nun aber die Stelle, wo die Wirksamkeit der Realfaktoren in die Geschichte des Geistes und seiner idealen Werke eingreift und das sinnlogisch zu Erwartende bald von aller Verwirklichung ausschließt, bald seine "Sinnkontinuität" zerreißt und sprengt, bald fördert und "verbreitet". Es ist der grundsätzliche Fehler aller naturalistischen Geschichtserklärungen, daß sie den Realfaktoren, die sie als die sogenannten ausschlaggebenden Machtverhältnisse oder Verhältnisse der ökonomischen Produktion, die Rolle zuschreiben, diese ideale Sinnwelt, wie wir sie in den Werken des Geistes verkörpert finden und an ihnen uns zum Verständnis bringen, eindeutig zu determinieren; mit einem Wort, daß sie diese ideale Welt aus der realen Geschichtswelt sogar "erklären" zu können meinen. Es ist aber der mindestens gleichgroße Irrtum aller ideologischen, spiritualistischen und personalistischen Geschichtsauffassungen, daß sie umgekehrt vermeinen, die Geschichte der realen Begebenheiten, der Institutionen und der Zustände der Massen direkt oder auf einem Umweg als eine geradlinige Fortsetzung der Geschichte des Geistes begreifen zu können. Wir hingegen sagen: Nur Leitung und Lenkung (29) einer festgeordneten Phasenabfolge eigengesetzlicher, automatisch eintretender, vom "Willen" der Menschen unabhängiger und geistwert blinder Geschehnisse und Zustände vermag der menschliche Geist und Wille gegenüber dem Gang der Realgeschichte zu leisten. Er vermag kein bißchen mehr! Wo Ideen keinerlei Kräfte, Interessen, Leidenschaften, Triebe und deren in Institutionen verobjektivierte "Betriebe" finden, da sind sie - was immer ihr geistiger Eigenwert ist - realgeschichtlich völlig bedeutungslos. Es gibt auch nichts, das "List der Idee" (HEGEL) heißen könnte, durch die eine Idee gleichsam von hinten herum sich der Interessen und Affekte "bedienen" und sie also meistern könnte. Die Zustände und Ereignisse kümmern sich keinen Deut um solche vermeintliche "Listen". Was HEGEL die "List der Idee" nannte, ist nur die Übertragung des liberalen und statischen Harmoniesystems des 18. Jahrhunderts auf die Dynamik der Abfolge historischer Stadien. Die Abfolge der Realgeschichte ist insofern vollendet gleichgültig gegen die sinn logischen Forderungen der geistigen Produktion! Aber ebensowenig bestimmen die realgeschichtlichen Abfolgen den Sinn- und Wertgehalt der geistigen Kultur in eindeutiger Weisen (30). Sie enthemmen, beschränken oder hemmen nur die Art und das Maß der Auswirkung der geistigen Potenzen. Das, was sich auswirkt, wenn es sich auszuwirken vermag, ist immer unvergleichlich mannigfaltiger und reicher, als es einer "eindeutigen" Bestimmung durch die realen Faktoren entspräche. Das besagt aber: Es ist immer nur die Differenz des nach Sinngesetzen potentiell möglichen Werkes und des wirklichen Werkes, was die Geschichte der realen Zustände und Begebenheiten am Fortgang der Geistesgeschichte zu "erklären" vermag. Die "fatalité modifiable" [veränderbares Schicksal - wp] der Realgeschichte bestimmt also keineswegs den positiven Sinngehalt der Werke des Geistes, wohl aber hindert sie, enthemmt sie, verzögert oder beschleunigt sie das Werk- und Wirklich werden dieses Sinngehalts. Um ein Bild zu gebrauchen: Sie öffnet und schließt in bestimmter Art und Ordnung die Schleusen des geistigen Stromes (31). Wenn trotz dieser souveränen Gleich gültigkeit der Realgeschichte der Institutionen, Begebenheiten, Zustände gegen die Geistesgeschichte und gegen die Forderungen ihrer Sinnlogik, dennoch die jeweilige Gestaltung der Wirtschaft, der politischen Machtverhältnisse, der Bevölkerungsverhältnisse nach Quantität und Qualität, nach Rassenmischung und -scheidung mit der Gestaltung der gleichzeitigen Geisteskultur gewisse ohne Zweifel bestehende Gleichartigkeiten des Gesamtstiles aufweist, wenn auch die Massen (die "große Zahl") und die führenden Eliten (die "kleine Zahl") stets seltsam zusammenpassen, so besteht dieser Sachverhalt keineswegs deswegen, weil die eine dieser Serien die andere nach sich gestaltet, wie die jeweils ideologisch-personalistischen oder die naturalistisch-kollektivistischen Geschichtslehren annehmen. Diese "Übereinstimmungen" rühren vielmehr daher, daß die obersten Geistesstrukturen einer Epoche und Gruppe, nach denen die Realgeschichte jeweils "geleitet und gelenkt" wird und nach denen im vollständig verschiedenen Bereich der Geistesgeschichte die Produktion der Werke erfolgt, jeweils ein und dieselben Strukturen sind. Daß die Größenordnung des Einflusses der Leitung und Lenkung auf die Serien der realen Geschichte im Ablauf eines relativ geschlossenen, zusammenhängenden Kulturprozesses keineswegs zu allen Zeiten dieselbe ist, sei hier nur nebenher erwähnt. In den drei Hauptphasen, der aufstrebenden Jugendphase einer Kultur, ihrer Blüte und Reife, und der Phase ihres Verfalles, nehmen die Größenordnungen der Leitbarkeit und Lenkbarkeit deutlich ab; das kollektivistische Fatalitätsmoment, damit auch das Determinationsgefühl der Menschen, wächst in diesem Ablauf; und damit wächst auch die Unleitbarkeit und Unlenkbarkeit des realen Geschichtsprozesses. Jede Endphase eines solchen Prozesses ist die Vermassung des Lebens. Andererseits lösen sich aber die geistig idealen Kulturgehalte, lösen sich ihre persönlichen Trägerschaften in dieser Endphase auch in immer stärkerem Maß los von dem "Dienst" der Leitung und Lenkung der Realgeschichte, um ihrer selbst wegen da zu sein und zu leben. Was früher ein Kausalfaktor - oder auch ein Kausalfaktor - für die reale Geschichte war (wenn auch nur im Dienst der Leitung und Lenkung), wird zunehmend Selbstzweck und Selbstwert. Das "l'art pour l'art" [Kunst um der Kunst willen - wp], "science pour la science" usw. sind die Schlagworte solcher Spätepochen; der ganz sich selbst und seiner Bildung lebende Individualist ist eine ihrer ausgeprägtesten Erscheinungen, zum Beispiel im "Dandysmus". Für die Kultursoziologie besteht nun noch die zentrale Frage: Gibt es in der Geschichtsdauer der Menschengeschichte eine konstante oder eine mit der Phasenordnung der Abläufe relativ geschlossener Kulturkörper gesetzlich wechselnde Ordnung, nach der' die Realfaktoren jenes Schleusenöffnen und Schleusenschließen vollziehen, das wir als die Grundart ihres möglichen Einflusses auf die Geistesgeschichte erkannten? Hier ist der Punkt berührt, an dem sich jene drei großen Hauptrichtungen des geschichtlichen und soziologischen Denkens, die man als Rassennativismus, Politismus und Ökonomismus bezeichnen kann und deren langjähriger Streit und Gegensatz an erster Stelle die Real soziologie betrifft, sich auch auf die Geschichte und Soziologie der geistigen Kultur äußern muß. GUMPLOWICZ, GOBINEAU hier, die Rankeaner und Neurankeaner dort, schließlich der Ökonomismus von KARL MARX, stellen einseitige Denkrichtungen in dieser Hinsicht dar. Alle drei Richtungen werden gemeinsam zu einem irrigen "Naturalismus", wenn sie anstelle des Schleusenöffnens und -schließens eine eindeutige Inhaltsbestimmung der geistien Kulturgehalte setzen; als solchen "Naturalismus" haben wir sie bereits abgelehnt. Aber ihr innerer Gegensatz bleibt natürlich auch bestehen, wenn wir unsere allgemeine Abhängigkeitsregel einführen und fragen: Welche von den Realfaktoren in ihren jeweiligen Ausgestaltungen schließen und öffnen primär, sekundär oder tertiär die "Schleusen" für die Auswirkung der geistigen Potenzen? Auf diese Frage kann ich an dieser Stelle nur eine Reihe von Thesen vorlegen, deren volle Begründung an anderer Stelle gegeben wird (32): Eine, meist heimlich und unbewußt vollzogene, Voraussetzung der oben bezeichneten soziologischen Richtungen des Streites scheint mir vor allem die Annahme, daß die unabhängig Variable unter den drei Faktoren Blut, politische Herrschaftsverhältnisse, Wirtschaft für den ganzen Geschichtsprozeß immer ein und dieselbe ist, oder daß - wie rein empiristische Opportunisten der Methode annehmen - hier überhaupt keinerlei feste Ordnung der geschichtsbildenden Kräfte besteht, es eben bald so, bald anders ist. Die frühesten Breschen in die Position dieser gemeinsam falschen Voraussetzung der streitenden Teile wurden durch die Ethnologen gelegt, die immer klarer und deutlicher eine reiche Formenwelt vorstaatlicher und vorpolitischer "Gesellschaften" aufdeckten, nämlich ein gewaltiges Zeitalter der vorherrschenden Geschlechterverbände, und die das unter Historikern und Philosophen leider noch sehr verbreitete antike und christliche Vorurteil zerbrachen, es sei der "Staat" eine Wesens bestimmtheit der menschlichen Natur. Eine solche Wesensbestimmtheit ist nun ohne Zweifel das gesellschaftliche Leben überhaupt, ferner das formale Gesetz einer "großen Zahl" von Gefolgschaft und einer "kleinen Zahl" der Führer. Ja, dieses Gesetz umfaßt selbst die tierischen Gesellschaften. Daß auch die Frühzeitalter der Kulturvölker, nicht nur der Halb- und Ganznaturvölker, je tiefer wir in sie eindringen, in einem vorwiegenden Geschlechterverbrand enden, und daß überall erst ein Jahrhunderte währender Kampf des beginnenden "Staates", das heißt zuerst einer dauernd werdenden Kriegshäuptlingsschaft und ihrer Jungmännergefolgschaft gegen und wider die Ordnung der Geschlechterverbände und gegen ihre so vielfachen Organisations- und Rechtsformen, gegen ihre Heiligtümer, gegen ihre Sitten, Bräuche, Zeremonien, Riten, gegen ihr Weltbild und ihre Mentalität, diese vor politische Welt der Menschheit zerschlagen und versinken ließ - diese Welt, die in jeder Hinsicht auf dem Primat und der Ordnung der Blutsverhältnisse und des Alters und ihrer sozialisierenden und geschichtsbildenden Kräfte beruhte -, ist heute als eines der sichersten Ergebnisse der Erforschung primitiver Gesellschaften anzusehen (33). Die zweite Bresche in jenes gemeinsame Vorurteil ist auf einem völlig anderen Boden gelegt worden, dem Boden der abendländischen Geschichte. Soweit meine Kenntnis reicht, ist es WERNER SOMBARTs spezifisches geschichtssoziologisches Verdienst, im Laufe des Prozesses seiner Auseinandersetzung mit KARL MARX, dessen Anschauungen er in seiner Jugend nahestand, zuerst gesehen und hervorgehoben zu haben, daß die vorkapitalistische Welt Europas sicher nicht durch das Primat ökonomischer Faktoren bestimmt ist, sondern durch ein anderes Gesetz von geschichtsgenetischen Prozessen, die zwischen Staat und Wirtschaft, Politik und Ökonomie, Machtstellung und Reichtum der Gruppen bestehen; anders als die kapitalistische Welt in der Artung, wie sie sich seit dem Frühkapitalismus in bestimmten Phasen immer mächtiger ausladet und auswirkt. Daß also der Ökonomismus zwar entfernt nicht (so, wie MARX es meinte) für die ganze Geschichte des Abendlandes oder gar die ganze Menschheitsgeschichte gilt, oder doch bis zum Termin jenes mystischen "Sprunges in die Freiheit" der allen Klassenkampf aufhebenden sozialistischen Zukunftsgesellschaft, daß er aber - wenn außerdem befreit von seinem "naturalistischen" Allgemeincharakter, der ihn überhaupt erst zum eigentlichen ökonomischen "Materialismus" macht, demgemäß nämlich die ökonomischen Verhältnisse den Gehalt der geistigen Natur eindeutig erklären sollen - relativ für eine engumgrenzte Epoche der spätabendländischen Geschichte,' und nur der abendländischen Geschichte, annähernd in der Tat Geltung besitzt. Nachdem ich selbst zur Schärfung dieser Einsicht einiges beigetragen hatte (34), hat SOMBART, besonders in der zweiten Auflage seines großen Werkes im Kapitel, das den Titel "Machtreichtum und Reichtumsmacht" trägt, diesen Gedanken im großen Stil durchgeführt. Ein Ergebnis beider Einsichten scheint mir Folgendes: Es gibt im Ablauf der Geschichte keine konstante unabhängige Variable unter den drei obersten Hauptgruppen von Realfaktoren, Blut, Macht, Wirtschaft; aber es gibt gleichwohl Ordnungsgesetze des jeweiligen Primates ihrer für die Geistesgeschichte hemmenden und enthemmenden Wirksamkeit, das heißt es gibt je ein verschiedenes Ordnungsgesetz für bestimmte Phasen des Geschichtsablaufs einer Kultur. Der bei Historikern vielfach herrschende empirisch-methodische Opportunismus der Geschichte ist durch dieses Ergebnis ebenso hinfällig wie die gemeinsam falsche Voraussetzung der genannten drei Denkrichtungen vom konstanten Primat eines der Faktoren. Ich habe ich jahrelanger Arbeit an den Problemen der soziologischen Dynamik, an erster Stelle der realen Geschichte selbst, nicht also ihre Einwirkung auf die Geschichte des Geistes - die hier allein zur Verhandlung steht -, obigen Gedanken nach mehreren Richtungen zu unterbauen gesucht. Insbesondere suchte ich ihn in einer Lehre von der Entwicklungsordnung der menschlichen Triebe tiefer zu fundieren (35). Das Resultat dieser Bemühungen ist eben jenes Ordnungsgesetz, von dem ich sprach. Sein Inhalt lautet: In jedem zusammenhängenden Ablauf eines relativ räumlich und zeitlich geschlossenen Kulturprozesses sind drei große Phasen zu scheiden. Es wird hierbei nicht etwa bestritten, sondern vorausgesetzt, daß es einen solchen zusammenhängenden Ablauf an ein und demselben biologisch einheitlichen Völkermaterial eigentlich de facto nicht und nirgends gibt. Aber es wird versucht, kraft der abstrahierenden resolutiven und vergleichenden Methode, die wirklichen Ursachenfaktoren des Geschichtsablaufs so zu scheiden, daß man die inneren autochthonen [eingessenen - wp] und die von außen eintretenden, mehr oder weniger "katastrophalen" Ursachen der Entwicklung (Kriege, Wanderungen, Naturkatastrophen usw.) zumindest in Form von Gedankenexperimenten scheidet. Unter dieser idealen Voraussetzung bestehen nun für den nur durch innere Ursachen bedingten und zu erwartenden Ablauf die folgenden Phasen:
2. Eine Phase, in der dieses Wirkprimat - das Wort im gleichen eingeschränkten Sinn der Spielraumsetzung verstanden - auf die politischen Machtfaktoren, an erster Stelle auf die Wirksamkeit des Staates, übergeht. 3. Eine Phase, da die Wirtschaft das Wirkprimat erhält und die "ökonomischen Faktoren" es sind, die an erster Stelle für das Realgeschehen bestimmend werden, für die Geistesgeschichte aber "schleusenöffnend" und "-schließend" werden. Was die erste Phase betrifft, so scheint sich für das Werden aller Hochkultur schon jetzt mit großer Allgemeinheit die Regel aufstellen zu lassen, daß sie Kultur mischungen nicht additiver Art von vorwiegend bodendständigen, mutterrechtlichen, animistischen Kulturen und von vorwiegend vaterrechtlichen, auf eine weiträumige Verbreitung angelegten, Fernhandel mitsichbringenden, aktiven Persönlichkeitskulturen darstellen; daß ferner diejenigen unter ihnen, die das reichste und mannigfaltigste Geschichtsleben aufweisen, auch rassemäßig meist geschichtet sind, und daß aus dieser Doppelschichtung heraus sich eines der mächtigsten Motive für das Werden aller höheren Kultur mit ihrer Scheidung von Kasten, Ständen, Klassen, Arbeitsteilung erklärt (36) Erst in diesen Mischungen und Schichtungen werden die dynamischen Gegen sätze und Spannungen der Geschlechter, die Rassenkämpfe, und der zunehmende Ausgleich dieser Kämpfe durch die eben in der steigenden Nivellierung dieser Gegensätz sich mächtig aufarbeitende politische "Staatsgewalt" sind die wichtigsten Werdefaktoren der Hochkulturen. Daß die ersten Ursachen auch der Kasten-, Stände- und Klassenscheidungen keineswegs in der Differenzierung ökonomischer Besitzklassen gelegen sind, wie die Marxisten und u. a. BÜCHER meinten, indem sie eine Gesetzmäßigkeit der dritten Spätphase schon in die erste Phase hinübertragen, ebensowenig aber in erblich werdender Berufsscheidung gelegen sind, wie GUSTAV SCHMOLLER (37) anzunehmen neigte, sondern in der Schichtung der Rassen aufgrund ihrer eingeborenen dynamischen Kräfte, der Maße vor allem ihres Herrschafts- und Unterwerfungstriebes, - dies klar gesehen zu haben scheint mir das eminente Verdienst von GUMPLOWICZ umd die Realsoziologie zu sein. Solange und wo immer auch die Ansichten über das religiöse und metaphysische Schicksal der Ober- und Unterklassen, ferner der Männer und Weiber verschieden artige sind, etwa in Bezug auf Sterblichkeit und Unsterblichkeit oder doch auf die Art und Weise des Fortlebens nach dem Tode (38), wo ferner die religiöse und metaphysische Wissensverteilung selbst eine kastenhaft geordnete ist (den Sudras in Indien z. B. sind die die "heiligen Bücher" vorenthalten), ist eben hierin auch eine kulturelle Auswirkung dieser rassensoziologischen Tatsachen zu sehen. Die religiös-metaphysische Demokratie ist in aller Geschichte die oberste Voraussetzung jeder anderen Art von Demokratie und ihres Forschrittes gewesen, ebensowohl der politischen wie der sozialen und ökonomischen. Es ist aber stets die blutbändigende politische Gewalt (gemeinhin in Form der Monarchie), die fast überall mit Hilfe der relativ "unteren" Schichten jene Nivellierung der Bluts-, Rassen- und Geschlechtergegensätze herbeiführt, die jene metaphysisch demokratische Anschauung vorbereitet - eine Denkart, die für die gesamte abendländische Entwicklung, soweit wir sie überblicken, im Gegensatz zu Asien, im Wesentlichen bereits die oberste Voraussetzung und ihr Ausgangspunkt gewesen ist. Von Rußland abgesehen, dessen ganze Geschichte ja durch den Wechsel der Fremdherrenvölker (Tartaren, Schweden, Polen, Germanen, Juden) bestimmt ist, die über das unterwerfungslustige Rassenkonglomerat herrschen, ist die abendländische Stände- und Klassengeschichte freilich von Anfang an schon durch vorwiegend politische Ursachen bestimmt, sodaß das primäre Gesetz der Bildung von sozialen Schichten durch diesen Geschichtszug allein mehr verhüllt als erleuchtet wird. Nur im Übergang der späten Antike in die Phase der Geschichte der "germanoromanischen Völker" (RANKE) tritt das Primäre der Blutsfaktoren wieder in Erscheinung, freilich in Verbindung mit so vielen anderen inneren "Ursachen des Untergangs" der spätantiken Zivilisation, daß man es auch hier, so wie es MAX WEBER in seiner römischen Agrargeschichte getan hat, in Frage stellen konnte. Das politische Machtprinzip, das an zweiter Stelle zur Klassenbildung führt, aber bleibt seinerseits die Sprungfeder und der Keim aller Klassengliederung und zugleich der Regulator für die Spielräume möglicher Wirtschaftsgestaltung bis zum Ende des absolutistischen und merkantilistischen Zeitalters. Denn auch der "Kapitalismus" ist bis zu diesem Zeitpunkt an erster Stelle das Instrument von Mächten politischer Provenienz [Herkunft - wp], von Mächten, die keineswegs in ökonomischen Ursachen begründet sind, wie sehr die ökonomischen gleichzeitigen Entwicklungsabläufe ihnen auch zu Hilfe kommen. Erst im Zeitalter aber des Hochkapitalismus (der Kohle) setzt langsam die Epoche ein, die als relativ vorwiegend "ökonomistisch" bezeichnet werden kann, und deren besondere Bewegungsgesetze MARX nicht nur naturalistisch zum "Geschichtsmaterialismus" übersteigerte, sondern auch fälschlich auf die ganze Universalgeschichte verallgemeinerte. Nur so konnte ihm "alle" bisherige Geschichte zu einer Abfolge ökonomischer Klassenkämpfe werden. (39) Unser Gesetz der drei Phasen je vorwiegender Primärkausalität der Realfaktoren darf jedoch nicht so aufgefaßt werden, als solle es für drei Phasen einer einzigen zusammenhängenden Universalgeschichte gelten. Geltung besitzt es - unter obiger Restriktion eines empirisch nie stattfindenden, nur inneren Ablaufs der zusammenhängenden Geschichtsprozesse - auch nur relativ für die jeweils kleinere Gruppeneinheit, nicht für die jeweils größere Gruppeneinheit unter den Gruppeneinheiten, die in einen schicksalssolidarischen Geschichtsprozeß schon hineingeflochten sind. Was damit gesagt sein soll, kann durch Beispiele erläutert werden. In der Bildung der großen "nationalen", politisch geeinten Körper ging überall die politische Gewalt der ökonomischen Einung vorher. Liberalismus und Freihandel folgen dem Staatskapitalismus der absolutistisch-merkantilistischen Epoche. Auch der deutsche Zollverein ist durch und durch politischen Ursprungs und ein politisches Instrument (40). Ist aber für die Einheit "Nation" auf diese Weise die ökonomische Wirtscahfts- und Verkehrseinheit angebahnt, so tritt innerhalb dieser Einheit, aber auch nur innerhalb ihrer, noch keineswegs im Verhältnis der europäischen Nationen zueinander, das Primat des Ökonomischen bezüglich aller intra nationen Verhältnisse langsam hervor. Dagegen bleibt innerhalb der umfassenden Einheit "Europa" trotz aller sich anbahnenden sogenannten "Welt"wirtschaft - faktisch nur einer Durchflechtung von Nationalwirtschaften - das Primat der politischen Gewalt bestehen. Die wechselnden ökonomischen Motive der europäischen Bündnispolitik vor dem Weltkrieg, der Kampf insbesondere um außereuropäische Absatzzonen für die ungeheurlich an Zahl wachsende, immer stärker industrialisierte europäische Gesellschaft durfte nicht übersehen lassen, daß sowohl die obersten Macht positionen wie auch die von diesen Motiven scharf unterschiedenen Ziele dieser Politikmethode keineswegs ökonomischen Ursprungs waren, sondern stehengebliebene Reste aus dem machtpolitischen Zeitalter Europas überhaupt. Ganz vorzüglich erscheint mir in dieser Frage das, was SCHUMPETER in seiner tiefgründigen Studie über die "Soziologie des Imperialismus" ausgeführt hat. Der ökonomische Expansivismus und Imperialismus der europäischen Großstaaten hätte niemals zum Weltkrieg führen können, hätten nicht politische und militärische Machtkomplexe bestanden, deren Realität, Wesen und Geist aus dem machtpolitischen und vorkapitalistischen Zeitalter Europas stammen, ja bis ins Zeitalter der feudalen Periode zurückreichen. Es ist aber eine nur sehr künstliche Rettung, die SCHUMPETER dann mit dem Ökonomismus vornimmt, wenn er nach seiner vorzüglichen Widerlegung der populär marxistischen These, der "Weltkapitalismus" sei die oberste Ursache des Weltkrieges (41) gewesen, bemerkt, der jeweils politische Überbau der ökonomischen Produktionsverhältnisse könne eben einer weit älteren ökonomischen Phase als der je gegenwärtigen entsprechen. Ein seltsames Quidproquo! [dieses für jenes - wp] Haben die ökonomischen Produktionsverhältnisse im Laufe so erheblicher Zeiträume wie seit dem Ursprung der kapitalistischen, der "dynamischen" Wirtschaft im Sinne SCHUMPETERs nicht die Kraft besessen, die politischen und rechtlichen Überbauten nach sich umzugestalten, sollte dann nicht der ganze ökonomistische Ansatz falsch sein? Ich habe, was ich hier nur andeuten, nicht des Näheren ausführen kann, das ebengenannte, in dieser Weise eingeschränkte "Gesetz der Ordnung der Kausalfaktoren" in den drei Phasen zusammenhängender Geschichtsabläufe nicht nur induktiv zu verifizieren versucht, sondern auch versucht, es deduktiv verständlich zu machen aus einer "Ursprungslehre der menschlichen Triebe", die ich aller Realsoziologie analog zugrunde lege wie die Geistlehre der Kultursoziologie, und gleichzeitig aus den Gesetzen des vitalpsychischen Alterns, nach denen bestimmte Urtriebe des Menschen in den wichtigsten Altersphasen die Vor herrschaft über die anderen Urtriebe erhalten. Ich verstehe dabei unter Urtriebe diejenigen Triebsysteme, aus denen alle spezielleren Triebe, teils durch Prozesse vitalpsychischer Differenzierung selbst, teils durch eine Verknüpfung der Triebimpulse mit geistiger Verarbeitung hervorgehen. Die wesentlich artdienlichen Sexual- und Fortpflanzungstriebe, die singular- und kollektivdienlich gemischten Machttriebe, und die wesentlich auf die Erhaltung des Einzelwesens gerichteten Nahrungstriebe (die in den Institutionen der realsoziologischen Wirklichkeit nur objektiviert und zugleich in Formen des Rechts in jeweils verschiedener Weise gehemmt und enthemmt erscheinen) zeigen nämlich eine Umbildung ihrer dynamischen Beziehungen zueinander nach Triebvorherrschaft und Triebunterordnung, die uns vielleicht in nicht allzu ferner Zeit das Phasengesetz von der Ordnung und Umordnung der realen Geschichtskausalfaktoren in den drei Phasen als ein einfaches Gesetz des Alterns der die Kulturen tragenden und ihnen zugrunde liegende Völkermaterialien durchschauen lassen; d. h. als das Gesetz eines Prozesses, der die prinzipiell "unsterblichen" idealen Kulturgehalte in keiner Weise bestimmt und betrifft, sondern nur sekundäre beührt; der wohl aber alle Realfaktoren und Realinstitutionen gleich ursprünglich erfaßt. (42) Völlig abzulehnen haben wir alle Lehren, die nur die Thesen des utopischen Vernunftsozialismus des 18. Jahrhunderts in der Schein form eines geschichtlichen "Evolutionismus" erneuert haben, wenn sie die Möglichkeit annehmen, daß an irgendeiner zukünftigen Geschichtsstelle das Verhältnis zwischen Ideal- und Realfaktoren - wie wir es früher in der zweifachen Form, nämlich als Hemmung und Entbindung geistiger Potenzen durch die Realfaktoren und als "Leitung und Lenkung" der Realgeschichte durch die geistig-persönliche Kausalität der Eliten festlegten - sich prinzipiell in sein Gegenteil jemals verwandeln könnte, und zwar in dem Sinne verwandeln, daß jeweils der menschliche Geist und die Idealfaktoren die Realfaktoren nach einem Plan positiv beherrschen könnten. Was FICHTE, HEGEL ("Vernunftzeitalter") und ihnen folgend, nur an eine zukünftige Geschichtsstelle verschoben, KARL MARX in seiner Lehre vom "Sprung in die Freiheit" geträumt haben - in dieser Lehre ganz ein Schüler HEGELs und seines antiken Vorurteils von der möglichen "Selbst macht der Idee" -, wird zu allen Zeiten ein bloßer Traum bleiben. Es ist wohl zu beachten, daß erst auf dem Hintergrund dieser Lehre von der Möglichkeit einer positien "Herrschaft der Vernunft" über die Realgeschichte - anstatt bloßer Leitung und Lenkung eines ansich fatalen zeit geordneten Prozesses - das Zerrbild einer im Kern nur anklägerisch angeschauten Geschichte der Vergangenheit der Menschheit erstehen konnte, wie es der Marxismus gezeichnet hat, ebenso auch die durchaus "messianistische" Lehre vom welthistorischen "Beruf" des Proletariats zur Beendigung aller Klassenkämpfe überhaupt, und damit des Aufhörens der ökonomisch determinierten Welt der historischen Idealbildungen. Es steht also nach unserer Ansicht genau umgekehrt, wie KARL MARX meinte: Es gibt keine Konstanz im Wirkprimat der Realfaktoren; gerade hierin besteht geordnete Variabilität. Wohl aber besteht ein Grundverhältnis der Idealfaktoren zu den Realfaktoren überhaupt (wie wir es oben bestimmt haben), das strengste Konstanz in aller Geschichte des Menschen besitzt und eine Umkehrung oder auch nur eine Veränderung in keiner Weise zuläßt. (43) Die Art aber schließlich, in der die jeweils in verschiedener Ordnung innerhalb ihrer Phasen wirkenden drei Realfaktoren auf die eigengesetzmäßig ablaufenden Reiche der Idealfaktoren wirken, bedeutet für uns einen zweifellosen "Fortschritt der Entwicklung", freilich nur in dem beschränkten Sinn, daß die Ausladung der geistigen Potenzen in den drei Phasen des Blutes, der politischen Machtdetermination und der Ökonomie immer reicher und mannigfaltiger wird. Aber dieser Fortschritt betrifft nur die ansich gegensatz- und wertfreie Fülle der Ausladung der geistigen Potenzen, keineswegs betrifft sie die geistigen Potenzen, sofern sie an irgendwelchen Wertgegensätzen - "wahr und falsch", "gut und böse", "schön und häßlich" usw. - gemessen werden. Die geistigen Potenzen der Gruppen werden bezüglich ihrer möglichen Auswirkung ja stets von den Zuständen der Institutionen aller drei Arten von Realfaktoren teils gehemmt, teils entbunden. Aber diese Hemmung und Entbindung ist nicht ein und dieselbe an Größe und Macht in den drei Phasen des verschiedenartigen Kausalprimats. Die Hemmung und Selektion, welche die geistigen Potenzen durch die Realfaktoren erfahren, ist in vorwiegend ökonomisch- determinierten Zeitaltern und den ihnen zugehörigen Gruppen die kleinste, die Entbindung der Potenzenfülle aber die größte. Sowohl für die geistige Produktion innerhalb der idealen Reihe der Werke als für die Leitung und Lenkung der realen Reihe der Geschichte vermag sich umso mehr und umso reichere geistige Potenz zu aktualisieren, als nur noch ökonomische Hemmungen, d. h. solche, die in den Produktions- und Besitzverhältnissen und in der Gestaltung der Arbeit gelegen sind, die erste "Auswahl" im Wirksamwerden der Potenzen vollziehen. Wo dagegen schon die Blutszugehörigkeit, ferner die Geschlechts- und Alterszugehörigkeit einer Gruppe direkt oder indirekt die mögliche Ausladung ihrer geistigen Potenzen entscheidet, da ist auch die Hemmungsgröße der geistigen Potenzen die größte, ihre Entbindungsmöglichkeit die kleinste. Die spezifisch machtpolitischen Zeitalter stehen in der Mitte. Gerade in ihren höchsten Altersstufen, wo immer entscheidender das Maß der Arbeit und des Besitzes die mögliche Ausladung vorhandener Geistespotenzen primär bestimmt, ist daher die geistige Kultur keineswegs notwendig die positiv "wertvollste", wohl aber stets die reichste, differenzierteste, bunteste, am meisten geschichtete. Und ferner ist überhaupt dem Menschengeist so engbegrenzt verliehene Tatkraft auf den Gang der, ihrer Ordnung nach fatalen Realverhältnisse in Leitung und Lenkung hier die größt mögliche. Der romantische Affekt und das romantische Denken nur, das zu einem so erheblichen Teil, mehr als er selbst wußte, auch KARL MARX übernommen hat, besonders deutlich überall, wo die Romantik die Geldwirtschaft und den "Liberalismus" ihrer bittersten Kritik unterzog, wird vergebens die "Seele" gegen den "Geist", "Leben und Blut" gegen "Geld und Geist" (SPENGLER) sentimental ausspielen und diesen unzerreißbaren Zusammenhang von Ökonomismus und maximaler Freiheit und Ausladung des Geistes zu zerreißen suchen. Denn das ist die tragische und meiner Meinung nach im metaphysischen Bereich selbst endgültig verwurzelte Tatsache, daß das "Stirb und Werde" aller Entwicklungen für die Entfaltung der realen Geschichts- und Sozialverhältnisse ein grundsätzlich anderes ist als für die Entfaltung der Fülle des idealen Reiches menschlicher Kultur. (44)
23) Vgl. das ausgezeichnete Werk von FERDINAND TÖNNIES, "Die öffentliche Meinung". 24) Über Wesen und Ursprung nationaler Ideologien vergleiche "Zur Soziologie und Weltanschauungslehre", Bd. 2, "Nation", ferner meine Studie über den "cant" im Anhang meines Buches "Der Genius des Krieges". 25) Vgl. hierzu ERNST TROELTSCH, "Soziallehren der christlichen Kirchen", wo diese Inhaltsbeziehungen trefflich dargestellt sind. 26) Eine scharfe Charakteristik dieser Wesensformen menschlicher Verbände gab ich bereits in meiner "Ethik". Weitergeführt wurden die hier angeführten Scheidungen von EDITH STEIN, "Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung", Bd. 5, in Beiträge zur philosophischen Begründung der Psychologie in den Geisteswissenschaften. Ähnliche Ziele setzte sich THEODOR LITT in seinem Werk "Individuum und Gemeinschaft", zweite Auflage. 27) Über den genauen Ablauf dieses Streites siehe auch heute noch CARL PRANTL, Geschichte der Logik im Abendland. 28) Siehe hierzu das Schlußkapitel meiner Arbeit "Probleme der Religion", in "Vom Ewigen im Menschen, Bd. I, zweiter Halbband, zweite Auflage, Leipzig 1923. In einer sehr einseitigen Weise nehmen solche Monopole und Vorrechte der Jugendperioden für metaphysisches Wissen an BACHOFEN, dessen Methoden eben BERNOULLI in seinem großen Werk über BACHOFEN sehr lehrreich auseinandersetzt, noch radikaler LUDWIG KLAGES (vgl. auch dazu BERNOULLI) in "Mensch und Erde", "Wesen des Bewußtseins" und "Vom kosmogonischen Eros". Die gesamte Wissensgeschichte der Menschheit wird in dieser von der Romantik (SAVIGNY) ausgegangenen Lehre ebenso einseitig eine fortlaufende "Dekadenz", wie sie nach dem Positivismus ein steter Fortschritt ist. 29) "Leitung" ist die primäre, "Lenkung" die sekundäre Funktion des Geistes. Leitung ist ein Vorhalten einer wertbetonten Idee, Lenkung ist Hemmung und Enthemmung der triebhaften Impulse, deren zugeordnete Bewegungen die Idee realisieren. Die Leitung bestimmt die Art der Lenkung. 30) So wie es z. B. die ökonomische Geschichtsauffassung annimmt. 31) Ich glaube an anderer Stelle zeigen zu können, daß in diesem fundamentalen Punkt des Grundverhältnisses der Geistesgeschichte zur Realgeschichte überhaupt die sonst weit untereinander abweichenden Forscher WILHELM DILTHEY (siehe "Über die Einbildungskraft des Dichters"), ERNST TROELTSCH (siehe seine Einleitung zu den "Soziallehren"), MAX WEBER (siehe Einleitendes zur Religionssoziologie) im Wesentlichen mit dem Obigen übereinstimmen. 32) Dies geschieht in meiner "Philosophischen Anthropologie", im Verein mit dem 4. und 5. Band meiner Schriftenreihe "Zur Soziologie und Weltanschauungslehre": "Probleme der Geschichtsphilosophie". 33) Vgl. hierzu WUNDT, Völkerpsychologie, Bd. III, "Die politische Gesellschaft"; durchaus treffend auch neuerdings FRANZ OPPENHEIMER, Soziologie, Bd. 1; Kritisches zu dieser Frage gibt ferner auch ALFRED VIERKANDT, Gesellschaftslehre, 1923, Seite 320f. Doch können wir uns der Ansicht VIERKANDTs, der Staat könne "auch" rein genossenschaftlich entstanden sein, nicht nur als Herrschaftsorganisation, nicht anschließen. 34) Vgl. meine Abhandlungen über Kapitalismus im zweiten Band des Werkes "Der Umsturz der Werte", wo ich die Bedeutung des Gegensatzes des machtgeborenen Reichtums und der reichtumsgeborenen politischen Macht zuerst scharf herausstellte. 35) Die Lehre dieser Entwicklungsordnung der Triebe selbst bildet einen wichtigen Teil meiner demnächst erscheinenden Anthropologie. 36) Vgl. hierzu FRITZ GRAEBNIER, "Das Weltbild der Primitiven", München 1924, ein Buch das in überaus einleuchtender Weise den die ganze Weltanschauung, Technik und Rechtscharakter berührenden Gegensatz von Vaterrechts- und Mutterrechtskultur herausstellt, ferner den Gedanken, daß die Hochkulturen Mischungen dieser beiden Kulturen darstellen und stets die Neigung haben, diesen inneren Gegensatz durch eine politische Monarchie mehr oder weniger despotischer Form auszugleichen, vortrefflich ausführt. 37) Vgl. GUSTAV SCHMOLLER, Die soziale Frage, Bd. 1, München 1918 38) Siehe die angegebene Beispiele bei GRAEBNER, a. a. O., Setie 48f 39) Eine gute historische Entstehungslehre der Klassenkampftheorie gibt SOMBART in seinm Aufsatz "Die Idee des Klassenkampfes", Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 21, Heft 1, 1925. 40) Vgl. MAX WEBERs Wirtschaftssoziologie, wo WEBER die politische Natur des Zollvereins und seinen Antagonismus zu den ökonomisch determinierten Tendenzen der rheinisch-westfälischen, schlesischen Industrie und der ostpreußischen Landwirtschaft trefflich nachweist. 41) Es handelt sich hier nicht um die Kriegsursachen in einem historischen Sinne einmaliger Kausalität mit Einschluß der freien Willensakte der regierenden Personen, sondern nur um die soziologische Ursache der Spannungen, die der Krieg voraussetzte; also um die Ursache der Kriegs "möglichkeit". Zwischen Frankreich, dem treibendsten Faktor für das Zustandekommen der den Mittelmächten feindlichen Mächtekoalition, und den Mittelmächten bestanden überhaupt keine nennenswerten Spannungen ökonomischer Art. Die "Schuld"frage, die nur die geistig persönlichen Hemmungen und Enthemmungen der gegebenen Spannkräfte berührt, besteht dabei auf alle Fälle weiter; sie wird überhaupt durch keinerlei soziologische Erklärung der Kriegs möglichkeit berührt. Nehmen wir aber nun an, es würde bei der endgültigen Neugestaltung Europas die Wirtschaft und ihre Interessenverflechtungen den Sieg über die Machtpolitik und ihren Geist davontragen, so würde gleichwohl zwischen diesem neuen Europa, in dem die Wirtschaft als geschichtsbildender Faktor ihren Vollsieg über die Machtpolitik der Staaten allererst gewonnen hätte, und der außereuropäischen Welt, ja, schon Rußland, das wesentlich und primär macht politische Verhältnis zu bestehen fortfahren. Ja, in einem dritten Fall, bei einer möglichen gewalttätigen Machtauseinandersetzung der (die japanische Expansion seiner fruchtbaren Bevölkerung sperrenden) Länder Amerikas und Australiens mit Japan, würde sogar der Rassen- und Blutsgegensatz und der in seiner Tiefe gegründete Kulturgegegensatz zwischen den Weißen und den Gelben alle anderen Gegensätze sonstiger Art überschatten, und ein Sieg Japans als des "Pioniers" der großen ostasiatischen Zivilisationen gegen die Vereinigten Staaten, den neuen "Pionier" der abendländischen Zivilisation, würde sogar das älteste Motiv für das Werden der politischen Machtgestaltungen, würden Rassenkampf wieder zum primären Kausalfaktor der Geschichte erheben. 42) Ich muß zum Beweis des Gesagten auf meine philosophische Anthropologie verweisen, und zwar auf die Abschnitte "Über Trieblehre" und "Theorie des Alterns und des Todes". Zur Ursprungsordnung der Grundtriebe vergleiche einstweilen PAUL SCHILDERs "Medizinische Psychologie", die über die Trieblehre noch das relativ Beste enthält, was wir in deutscher Sprache besitzen. 43) Daß an diesen Punkt die Metahistorie oder die Metaphysik der Geschichte anzuknüpfen hat, kann hier nicht näher gezeigt werden. 44) Daß uns keineswegs bange zu sein braucht um die geistige Kultur im herannahenden ausgeprägten und rein ökonomischen Zeitalter; daß ferner der industrielle Reichtum der Kreise, die die Urproduktion und Energiebelieferung der ganzen Wirtschaft in Händen haben, den bisherigen Staat und das, was er für die geistige Kultur getan hat, weitgehendst ersetzen können, und zwar ohne im gleichen Maß, wie es der Staat machtpolitischer Provenienz gepflogen hat, die geistige Kultur in den Dienst der Interessen politischer Herschaftsklassen zu rücken, - dafür ist nach meiner Ansicht Nordamerika schon jetzt ein großes Beispiel; nicht nur bei sich selbst, sondern auch zum Beispiel in dem, was die Amerikaner außerhalb ihres Landes (in China) geschaffen haben; ein großes Vorbild auch für unsere europäische, in dieser Hinsicht noch sehr wenig erleuchtete Industrie. In dieser Hinsicht sind die Nachteile des Industrialismus und Kapitalismus gewiß nur vorübergehende Erscheinungen gewesen und gerade der ausgeprägte Ökonomismus wird diese beseitigen. |