ra-3H.-J. LieberW. JerusalemW. Stark    
 
MAX SCHELER
Probleme einer
Soziologie des Wissens

[2/2]

"Völlig abzulehnen haben wir alle Lehren, die nur die Thesen des utopischen Vernunftsozialismus des 18. Jahrhunderts in der  Schein form eines geschichtlichen  Evolutionismus  erneuert haben, wenn sie die Möglichkeit annehmen, daß sich jemals an irgendeiner zukünftigen Geschichtsstelle das Verhältnis zwischen Ideal- und Realfaktoren prinzipiell in sein  Gegenteil  verwandeln könnte, und zwar in dem Sinne verwandeln, daß jeweils der menschliche  Geist  und die Idealfaktoren die Realfaktoren nach einem  Plan positiv beherrschen  könnten. Was  Fichte, Hegel (Vernunftzeitalter) und ihnen folgend, nur an eine  zukünftige  Geschichtsstelle verschoben,  Karl Marx  in seiner Lehre vom  Sprung in die Freiheit  geträumt haben - in dieser Lehre ganz ein Schüler  Hegels  und seines  antiken  Vorurteils von der möglichen  Selbstmacht der Idee -, wird zu allen Zeiten ein bloßer Traum bleiben."

Zu diesem eben skizzierten Teil der Kultursoziologie gehört nun eng ein  zweiter  Teil, der sie  sozialen  Formen der geistigen  Kooperation,  der mehr oder weniger organisierten und unorganisierten, betrifft. Die drei obersten Hauptarten des Wissens erscheinen zunächst zu allen Zeiten in sozialen Formen, die ihrem obersten intentionalen Wissensziel wesensmäßig angemessen und je nach dem Sosein des Gegenstandes, der vorausgesetzt ist, in sich notwendig verschieden sind. Dasselbe gilt aber auch für alle Grundarten spezifisch geistiger, kultureller Betätigung. Es gibt für die vorwiegend religiöse Form des Heilswissens Gemeinden, Kirchen, Sekten, kaum organisierte "schwebende" mystische Verbände oder nur theologisch geeinte Denkrichtungen. Es gibt andererseits "Weisheitsschulen" und Bildungsgemeinschaften im antiken Sinne, die Lehre, Forschung, Lebenspraxis ihrer Glieder zu einer überlebensgemeinschaftlichen, oft auch übervölkischen Einheit verbinden und ein das Weltganz betreffendes "System" von Ideen und Werten gemeinsam anerkennen. Es gibt endlich die auf Gegenstandsscheidung und auf Arbeitsteilung beruhenden Lehr- und Forschungsorganisationen der positiven Wissenschaft, enger oder loser verbunden mit den Organisationen der Technik und Industrie, bzw. mit bestimmten Berufsverbänden, wie der Juristen, Ärzte, Beamten: die  "wissenschaftlichen Körperschaften",  wie wir sie generell nennen können. Ähnlich entwickeln die Künste ihre "Meister"schulen. Alle diese Formen entwickeln je nach ihrer Artung Dogmen, Prinzipien, Theorie in Formulierungen, die sich über die natürliche Sprache in die Sphäre der "Bildungssprache" erheben, bzw. in "künstlichen" Zeichensystemen ausgedrückt werden, nach Konventionen der Messung und einer "Axiomatik", die sie je gemeinsam anerkennen. Die Wissensorganisationen sind natürlich sämtlich zu scheiden von denjenigen Unterweisungsformen und "Schulen", in den Kinder verschiedener Altersstufen das Durchschnittswissen des jeweiligen Kulturstandes der umfassenden Lebensgemeinschaften (der Stämme, Völker, Staaten, Nationen, Kulturkreise) erst  erwerben,  in denen der durchschnittliche ja sozial allgemein notwendige Wissensstand von Generation zu Generation nur  übertragen  wird; jeweils selbst wieder verschieden nach Kasten, Ständen und Klassen. Im Verhältnis zu diesen  Lehr- und Erziehungs organisationen stellen jene erstgenannten Verbände einen Überbau dar, von dem aus das hier je neu erworbene Wissen sehr  langsam  hineinfließt in die Lehrerschaften dieser "Schuleinrichtungen" der Gemeinden, Städte, Staaten, Kirchen usw. Ferner sind die vorgenannten Wissensinhalte zu scheiden von den kraft Standes-, Berufs-, Klassen-, Parteizugehörigkeit den Menschen gemeinsamen Mischgebilden von kollektiven  Interessen  und (vermeintlichen Wissensinhalten, die wir unter den Gesamttitel der  "Vorurteile"  der Standes-, Berufs-, Klassen- und Parteivorurteile bringen wollen. Die Eigenart dieses  Schein wissens ist es, daß die kollektive Interessenwurzel dieses "Wissens" stets denen  unbewußt  bleibt, daß nur sie als Gruppe und nur vermöge dieser Zugehörigkeit zu einer dieser Gruppen dieses Wissen gemeinsam haben. Suchen sich diese Systeme von automatisch und unbewußt gewordenen "Vorurteilen" in einer bewußten Reflexion  hinter  einer Richtung des religiösen, metaphysischen oder positivwissenschaftlichen Denkens zu rechtfertigen, oder auch durch eine Heranziehung von Dogmen, Prinzipien, Theorien, die jenen höheren Wissensorganisationen entstammen, so entstehen die neuen Mischgebildet von  "Ideologien";  deren gewaltigstes Beispiel innerhalb der neueren Geschichte der Marxismus als eine Art der "Unterdrücktenideologien" ist. Den Gesetzen des Werdens der Ideologien das Werden  allen  Wissens unterzuordnen, ist eine spezifische These der ökonomischen Geschichtsauffassung. Ein gewisses Klärbecken für die Vorurteile und Ideologien bildet bereits die "öffentliche Meinung" (23), eine den "Gebildeten" einer Gruppe gemeinsame Haltung (24).

Die Kultursoziologie hat diese Formen der geistigen Kooperation idealtypologisch zu unterscheiden und zu definieren, und sie hat dann zu versuchen, Phasenordnungen im Ablauf dieser Formen innerhalb jeweils  eines  Kulturganzen zu suchen, Phasenordnungen auch in der Verschiebung der Machtverhältnisse dieser Organisationsformen des Wissens zueinander, zum Beispiel der Kirche zur Philosophie, bei der zur Wissenschaft usw. Immer ist hier auf das Verhältnis des  Inhalts  des Wissens, zum Beispiel der Glaubensinhalte, der dogmatisch oder nichtdogmatisch definierten, zu den Organisationsformen selbst Bedacht zu nehmen. So fordert beispielsweise schon der  Inhalt  der jüdischen JAHWE-Religion, daß sie eine nichtmissionierende auserwählte Volksreligion sei, ein "Volk" ihr Träger sei; so schließt der Inhalt aller poly- und henotheistischen Formen der Religion die Universalreligion (schon als  Anspruch)  aus; so fordert der Inhalt der Ideenlehre PLATOs weitgehend die Form und Organisation der platonischen Akademie. So ist die Organisation der protestantischen Kirchen und Sekten primär vom Glaubensinhalt selbst bestimmt, der eben  nur  in dieser und keiner anderen sozialen Form existieren kann. (25) Und so fordert der Gegenstand und die Methodik der positiven Wissenschaft notwendig die  internationale  Form der vertretbaren Kooperation und der Organisationen; der Inhalt und schon die Aufgabe einer Metaphysik dagegen die  kosmopolitische  Form der Kooperation des Zusammenwirkens von individual verschiedenen, unersetzlichen und unvertretbaren Volksgeistern, bzw. ihrer Repräsentanten. Die allgemeinsten und der Größenordnung nach primären Unterschiede der möglichen Organisationsformen des Wissens aber sind jene, die sich an die Arten knüpfen, in denen Kulturen die  Wesensformen  menschlicher Gruppierung überhaupt durchlaufen, nämlich die Formen der fluktuierenden Horden, der (im Sinne von TÖNNIES) dauernden Lebensgemeinschaft, der Gemeinschaft und der Form des personalistischen Solidaritätssystems selbständiger, selbst- und mitverantwortlicher Individuen (26). Denn diese Unterschiede gehen - wie sich im Folgenden zeigt - stets und notwendig mit Unterschieden der Denk- und Anschauungs formen  gemeinsam einher. Das Denken zum Beispiel in der  vorwiegenden  Lebensgemeinschaft einer historischen Gruppe muß  notwendig  vorwiegend sein:
    1. Ein traditional gegebenes Wissens- und Wahrheitskapital erhaltend und beweisend,  nicht  also forschend und findend; ihre  lebendige  Logik und "Denkart" wird eine "ars demonstrandi" [Wahrheitsbegründung - wp], nicht eine "ars inveniendi" [Wahrheitsfindung - wp] und "construendi" [Wahrheitskonstruktion - wp] sein.

    2. Ihre Methode  muß  vorwiegend ontologisch und dogmatisch sein, nicht erkenntnistheoretisch und kritisch.

    3. Ihre "Denkart" muß  begriffsrealistisch  sein, nicht nominalistisch wie in der Gesellschaft. Aber sie wird gleichwohl nicht mehr die  Worte  selbst als die  Eigenschaften und Kräfte  von Dingen fassen, wie die Menschen der primitiven Horde, wo nach  Levy-Bruhls  treffendem Wort  aller  Wissenserwerb auf einem "Gespräch" des Menschen mit Geistern und Dämonen beruth, die sich in den Erscheinungen der Natur ausdrücken und verlautbaren.

    4. Ihr Kategoriensystem muß vorwiegend  organologisch (d. h. am Organismus ideirt und dann auf alles generalisiert) sein, also auch die  Welt  für sie eine Art  "Lebewesen",  kein Mechanismus wie in der Gesellschaft.
Trotz des  in concreto  grundverschiedenen Ganges, den die Geschichte einer geistigen Kultur und ihrer Gebilde nehmen kann, sind ihr doch bestimmte  Phasen sehr formaler Art also soziologisch vorgezeichnet,  aus deren Spielräumen auch das eigentliche "Historische", das heißt Individuelle, Niewiederkehrende,  nicht  herauszufallen vermag. So ist etwa die mittelalterliche Universität (Paris, Prag, Heidelberg usw.) in ihrer historischen Faktizität und die neuzeitliche Universität des absoluten Staates in ihrer tiefgehenden Umgestaltung - zuerst durch die Reformation und den Humanismus, dann im Zeitalter des Absolutismus, endlich nach der französischen Revolution durch die liberale Ära - sicher ein Gegenstand, der sich in seiner innerhalb der verschiedenen werdenden Nationen sehr verschiedenen Entwicklung nur  historisch  schildern läßt. Daß aber diese Universität in ihrem Lehraufbau und -plan, der das Herrschaftsverhältnis von Theologie, Philosophie und Wissenschaft in der mittelalterlicher Gesellschaft und in den Ständen scharf widerspiegelt, nicht wesentlich ein Forschungsinstitut in lebendiger Sprache ist, sondern an erster Stelle ein Institut "gelehrter" Tradition und Überlieferung in einer toten Sprache, - das ist keine historische, sondern eine  soziologische  Tatsache. Wir können sie daher ebenso in bestimmten Phasen der arabischen, jüdischen und chinesischen Kulturgeschichte studieren, zum Beispiel in den Bildungseinrichtungen des alten China im Verhältnis zum China seit dem Sturz der Dynastie. Ebenso ist der Ablauf des sogenannten "Universalienstreits" in der mittelalterlichen Philosophie (27) eine nur historisch zu erkennende Tatsache. Daß aber die begriffsrealistische Denkart als lebendige Art zu "denken"  selbst - nicht als logische "Theorie" - im Mittelalter vorwog, in der Neuzeit aber die nominalistische Denkart, das ist wieder eine  soziologische  Tatsache. Daß die organologische kategoriale Struktur des mittelalterlichen Weltanschauungsgegenstandes sich in der Herrschaft des Platonismus und Aristotelismus darstellt, daß das mechanisch-technische Denken mit GILBERT, GALILEI, UBALDI, LEONARDO, DESCARTES, HOBBES, HUYGENS, DALTON, KEPLER, NEWTON einsetzt und sich emporbildet, das sind  historische  Tatsachen - nicht  aber die Ablösung eines Denkens, das alle Wirklichkeit, die tote und die geistige Welt, Denk- und Seinsformen unterordnet, die primär am  lebendigen Organismus  erschaut wurden ("Form" und "Stoff"), durch ein Denken, das in der "Bewegung toter Massen" und  ihren  Gesetzen Formen erschaut, denen, soweit sie funktionalisiert sind, nun auch die lebendige, soziale, ökonomische, geistige, politische Welt sukzessive untergeordnet wird oder doch werden "soll". Das ist eine  soziologische  Tatsache, untrennbar vom neuen Individualismus, untrennbar vom beginnenden Vorwiegen der Kraftmaschine vor dem manuellen Werkzeug, beginnender Auflösung von Gemeinschaft in Gesellschaft, Produktion für den freien Markt (Warenwirtschaft), Verschwinden des vital gebundenen Solidaritätsprinzips zugunsten einer ausschließlichen Selbstverantwortung, und einem Aufkommen des  Konkurrenzprinzips  im Ethos und Wollen der abendländischen Gesellschaft. Daß in einem wesensmäßig  unendlichen  Prozeß - eine Idee, die Aristoteles und dem Mittelalter ganz fremd war - durch methodische, von den Personen und bestimmten technischen Aufgaben abgelöste "Forschung" Wissen über die Natur auf  Vorrat  zu beliebiger Verwendung aufgestapelt wird und diese neue "positive" Wissenschaft sich von Theologie und Philosophie, die erst zu Beginn der Neuzeit in personal gebundenen  geschlossenen  Systemen erscheint, schärfer und schärfer  scheidet,  dies alles ist  nicht  möglich ohne die gleichzeitige Zerbrechung der mittelalterlichen Bedarfswirtschaft und ohne das Aufkommen des neuen Geistes prinzipiell unendlichen Erwerbens (eingeschränkt nur durch die gegenseitige Konkurrenz) in der Wirtschaft: nicht möglich ohne die neue Pleonexie [Mehrhaben - wp] der absolutistischen-merkantilistischen Staaten, die, im scharfen Gegensatz zum "christlichen Abendland" unter Papst und Kaiser, das durch das Prinzip der "balance of power" zusammengehaltene "europäische Konzert" bilden.

Eine weitere Aufgabe der allgemeinen Kultursoziologie ist nun ferner das Problem, welchen essentiellen  Bewegungsformen  die Kulturgebiete, respektive bestimmte Bestandteile der Kulturgebiete, zum Beispiel  Stil  der Kunst und Kunst technik,  unterworfen sind, welchen Bewegungen des Aufblühens, Reifens, Vergehens. Die Bewegungsformen der Wissensarten sind nur ein spezieller Fall dieser großen umfassenden Frage der soziologischen Dynamik der Kultur. Es scheinen mir  mehrere große Fragenkomplexe  zu sein, in die dieses Gebiet zerfällt:

Nimmt, und wie weit nimmt die Geisteskultur an der  prinzipiellen Sterblichkeit  der noch vorwiegend biologischen Kollektiv- und Abstammungseinheiten teil, die ihre Träger und Produzenten waren und sind; bzw. in welchen Größenordnungen (nicht metrischen Größen) der  Dauerhauftigkeit  stehen die Gebiete der geistigen Kultur zueinander, zum Beispiel Religion zu Philosophie, Philosophie zu Wissenschaft usw.? Nennen wir dieses Problem das Problem vom  Grad  der  "Überlebensfähigkeit der Kultur"  über die Existenz der sie produzierenden Gruppen. In welchen Gebieten ist ferner Kultur nur ein  einmaliger,  niewiederholbarer Lebens- und  Seelenausdruck (SPENGLER sagt "Physiognomik", er dehnt  diese  Form der Bewegung irrtümlich auf alle Kultur aus) der Kollektivseele der biologischen Kollektiva, die Kultur tragen, so daß sie mit deren kollektiv biologischer Totalexistenz, zum Beispiel den Erbrassen, den Völkern und Stämmen, den zugehörigen soziologischen Realfaktoren und deren Zuständlichkeiten  notwendig  verschwinden? In welchen Wert- und Sachgebieten ist zweitens jene besondere Art des "Wachsens" der Kultur vorwiegend, die - beruhend auf einem  nur  geistigen Übernehmunen von Volk zu Volk in der Zeit (Tradition und Rezeption) - zugleich ein  Bewahren  des einmal gewonnenen Kulturinhalts und ein Überwinden und Überhöhen des Gewonnenen in einer neuen, lebendigen Kultursynthese ist, - ein "Aufheben" im Doppelsinn HEGELs - so aber, daß
    a) kein lebendiger Kultursinn einer abgelaufenen Periode hierdurch entwertet wird,

    b) zwar nicht Gültigkeit und Sinngehalt der Kulturinhalte, wohl aber ihr  Ursprung  in prinzipiell unersetzlicher und unvertretbarer Weise bestimmten  individuellen  Kultursubjekten in der Abfolge der Zeiten und in einem Nebeneinander zugeordnet bleibt?
In  dieser  Bewegungsform könnte man nicht nur, man  müßte  vielmehr von einer überbiologischen, also mithin von der blutsmäßigen, politischen und ökonomischen Existenz der Völker unabhängigen  Kooperation  der Kultursignale sprechen, zum Beispiel des "Geistes" der antiken Kultur, des "Geistes" der konfuzianischen Ethik oder buddhistischen Kunst im Werden einer "Welt" - und Universalkultur reden, - eine Kooperation, die auf einem  einmaligen  Bestimmtsein eines individuellen Kultursubjekts (Zeitalter oder Kulturkreis) für einen nur durch dieses Subjekt erwirkbaren, individuell-spezifischen "Kultur beruf"  beruth. Es ist leicht ersichtlich, daß sich in der speziellen Sphäre des "Wissens" nur solches Wissen in  dieser  Bewegungsform befinden kann, das erstens vom Quantum induktiver Erfahrung unabhängig ist, also  Wesens wissen ist; zweitens sich in Kategorialstrukturen funktionalisiert hat, drittens nur  einer  bestimmten Phase und  einem  bestimmten konkreten Subjekt der universalen Geschichtsentwicklung "zugänglich" ist. Ich nenne diese Bewegungsform  "Kulturwachstum  durch Verflechtung und Aufnahme der vorhandenen Geistesstrukturen in eine neue Struktur", und vermeide den von ERNST TROELTSCH, MANNHEIM und anderen gebrauchten hegelschen Ausdruck "dialektisches Wachstum", obgleich ich zugebe, daß HEGEL diese Form des Wachstums als Form geschaut hat, so völlig unzureichend auch seine geschichtsphilosophische  Anwendung  dieser Kategorie schon vermöge seines bis zur äußersten Naivität europäistisch eingeengten Horizontes war. Daß HEGEL sie schaute, das bezeugt sowohl seine Lehre von einer  Entwicklung  der Kategorien, im Gegensatz zur kantischen Stabilitätslehre der Vernunft, im scharfen Unterschied auch zum bloßen Fortschritt ihrer Anwendung auf quantitativ wachsende Erfahrungsmaterialien, wie seine Lehre, daß erst der überzeitliche, aber in der historischen Zeit sich sukzessiv enthüllende Sinnzusammenhäng  aller  historischen Kulturen den Totalsinn der Weltgeschichte ausmache, und nicht irgendein zeitliches  Fernziel,  ein sogenannter "Endzustand" kontinuierlichen "Fortschritts" wie innerhalb der positivistischen Systeme, zum Beispiel COMTEs und SPENCERs. Die tiefe Wahrheit LEOPOLD von RANKEs, es sei jede Phase der Kultur "gleichunmittelbar zu Gott", es habe jedes Zeitalter und Volk sein "eigenes Selbst", an dessen idealem Wesen es zu messen sei, es gäbe keine "Mediatisierung der Epochen durch die Folgeepochen", ist ein Teilelement  dieser  Idee vom "Wachstum", wenn auch nur ein Teilelement. Freilich ist bisher der Gedanke möglicher  Monopole  uns sozusagen Vorrechte der Früh- und Jugendperioden einzelner Kulturen ebenso für gewisse Leistungen und Hervorbringungen als für gewisse unersetzliche Wissensarten, sowie der jüngeren Menschheit überhaupt gegenüber der je reiferen, (z. B. besonders Erlösungs- und Bildungswissen) noch viel zu wenig erwogen worden. (28) Erst die dritte Bewegungsform ist diejenige, die wir als  kumulativen Fortschritt (bzw. Rückschritt) in der Zeitfolge bezeichnen, als "internationale" Kooperation in der Gleichzeitigkeit. Während Religion, Kunst, Philosophie in ihrem übertechnischen Kern vor allem der  zweiten  Bewegungsform angehören, sind die exakten Wissenschaften, sofern sie auf Zählung und Messung beruhen, sind ferner die positive Technik der Naturbeherrschung und der sozialen Organisation (im Unterschied zu den Formen der Staatskunst), in der Medizin alles, was im Unterschied von der "ärztlichen Kunst" auf dem Fortschritt der medizinischen Wissenschaft und Technik beruth (z. B. an erster Stelle die Chirurgie), Hauptsubstrate eines möglichen kumulativen Fortschritts. Der Unterschied dieser Bewegungsform von der zweiten ist offensichtlich. Handelt es sich doch hier nur um  Güter,  die sich kumulativ und  ohne  notwendige Veränderung der Denkart, des Ethos, der Geistesstrukturen selbst aufeinanderschichten, so daß jede Generation einfach auf den Schultern der Resultate der vorangegangenen steht; ferner um Wertgüter, die kontinuierlich von Zeitalter zu Zeitalter, von Volk zu Volk  übertragbar  und  rezipierbar  sind und in deren Erwerb oder Förderung, sind einmal die "Methoden" gefunden und entdeckt, - welche Auffindung und Entdeckung selbst freilich nur die Folge einer  besonderen  historisch-individualistischen Geistesstruktur sein kann, zum Beispiel für unsere positive Wissenschaft und Technik die einmalige Struktur des spätabendländischen Kulturzusammenhangs - sich die Mitglieder aller Kulturtotalitäten prinzipiell  ersetzen  und  beliebig vertreten  können. Diese Bewegungsform ist kontinuierlich weiterschreitend, auch über alle möglichen Völkeruntergänge hinweg, wenn ich so sagen darf, und auch natürlich über ihr  seelisches Ausdrucksgefüge  hinweg. Und nicht weniger schreitet sie durch die Bewegungsphasen und Synthesen der  zweiten  Art sozusagen reibungslos hindurch. Die Reihenform der Zeit, in der dieser "Zivilisationskosmos" (wie ihn ALFRED WEBER genannt hat) fortschreitet, ist zwar hier ebenso vorhanden wie im Falle des Kulturwachstums. Aber das, was im "Fortschritt" die Stelle der Zeitreihe erfüllt, ist hier ausschließlich an das  Quantum  der wachsenden  zufälligen  Erfahrung der Menschheit, an die Größe der jeweils vorgefundenen Leistung gebunden, nicht aber an einen positiv-individuellen  "Kulturberuf", nicht an eine inhaltlich-qualitative geistige Kulturbestimmung der konkreten Kultursubjekte. Darum, und nur darum ist hier im scharfen Unterschied zur zweiten Bewegungsform jeweils eine  Entwertung  des älteren Stadiums mit dem "Fortschritt" des folgenden  notwendig  verbunden; und darum gibt es hier nichts Ähnliches wie einen  überzeit haften Sinnzusammenhang der Kulturinhalte, "kosmopolitische" Kooperation in immer neuen Kultursystemen, sondern einen einheitlichen, stetigen, potentiell unbegrenzten Fortschritt auf ein  Endziel  hin:
    a) auf ein Weltbild, dessen Elemente, ausgesondert nach dem Herrschaftswert und Herrschaftswillen eines geistigen Vitalsubjekts über die Natur (die seelische, gesellschaftliche, tote), den Inbegriff aller Gesetze der raumzeitlichen Koinzidenzien [Zusammentreffen - wp] der Erscheinungen enthalten, also unabhängig ist ebensowohl von der psychovitalen Natur wie von der geistpersonhaften  Individualität  der Kulturträger, das aber gestattet, Natur zu beliebigen Zwecken zu lenken;

    b) auf den Inbegriff der zu dieser Lenkung notwendigen Vorrichtungen (Technik) hin.
So sehr diese  dritte  Bewegungsform allen anderen überlegen ist an Einheit, Kontinuität, Voraussagbarkeit der Stadien der Bewegung, Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit, ferner auch an positiver Werterhöhung, d. h. Fortschrittscharakter (gegenüber einem Rückschritt), ferner an Sicherheit und Gradlinigkeit, an prinzipieller Unbegrenztheit, so ist ihre Sinngebung und Bewertung selbst jedoch wieder ganz bedingt durch den Gehalt des  metaphysischen  Wissens, unter dessen Typen die Bewegung des ganzen Sachgebietes nur  einem  ganz bestimmten Typus entspricht.

Die bisher angedeuteten Probleme betreffen nur gesetzmäßige Werdensbedingungen, die zwischen den Produkten des Geistes selbst obwalten. Aber die tiefsten und fruchtbarsten Fragen der Kultursoziologie liegen in einem Problemkreis anderer Art beschlossen. Er ist begrenzt durch die Frage, in welcher  gesetzmäßigen Ordnung  die den Triebstrukturen der führenden Eliten jeweils objektiv entsprechenden  realen Institutionen  auf die Produktion, Erhaltung, Förderung oder Hemmung jener idealen Sinnwelt einwirken, die zu jedem Zeitpunkt der realen Begebenheits- und Zustandsgeschichte diese Geschichte der  Wirklichkeiten  überschwebt, ferner aber auch immer der möglichen Geschichte der Zukunft als Projekt, Erwartung, Glaube, Programm vorschwebt. Es ist ja eine  nur  der Menschengeschichte eigene, jeglicher Naturerkenntnis und sogenannter Naturgeschichte völlig fehlende Erkenntnismöglichkeit, daß wir in der Menschengeschichte nicht nur Werdensprozesse aus festen Gewordenheiten erschließen und gleichsam interpolieren können, sondern vielmehr  das Werden  des Gewordenen selbst kraft unseres  Nacherlebens  der Interessen, der Bestrebungen, der Planungen, der Programme und Projekte, der mißglückten "Versuche" mitzuverfolgen vermögen, aus denen diese und jene geschichtliche Wirklichkeit allererst herausquillt - stets herausquillt als ein nur  minimaler  Teil aus diesen den je gegebenen Wirklichkeiten vorausschreitenden Ideen und Wollungen, Projekten und Plänen, stets auch  prinzipiell anders  beschaffen, als irgendeine Gruppe oder irgendjemand überhaupt, der eine geschichtliche Rolle spielte, gewollt, gewußt und erwartet hat. Diese immer ungeheure quantitative und qualitative  Verschiedenheit  der geistig möglichen, d. h. der zu jedem Zeitpunkt  potentiellen  und  werdenden  Geschichte von  der  Geschichte, die Begebenheit, Werk und wirklicher Zustand  geworden  ist, können wir kraft der  doppelten  Erkenntnisquelle des Nacherlebens der Pläne, Projekte, Ideen einerseits und all dessen, was dann als wirklich geschehen erkannt wird, selbst noch klar  erkennen.  Diese stets und konstant vorhandene  Differenz  zwischen dem Werdenden und Gewordenen bezeichnet nun aber  die  Stelle, wo die Wirksamkeit der Realfaktoren in die Geschichte des Geistes und seiner idealen Werke eingreift und das  sinnlogisch  zu Erwartende bald von aller Verwirklichung ausschließt, bald seine "Sinnkontinuität" zerreißt und sprengt, bald fördert und "verbreitet". Es ist der grundsätzliche Fehler  aller  naturalistischen Geschichtserklärungen, daß sie den Realfaktoren, die sie als die sogenannten ausschlaggebenden Machtverhältnisse oder Verhältnisse der ökonomischen Produktion, die Rolle zuschreiben, diese ideale Sinnwelt, wie wir sie in den Werken des Geistes verkörpert finden und an ihnen uns zum Verständnis bringen,  eindeutig  zu determinieren; mit einem Wort, daß sie diese ideale Welt aus der realen Geschichtswelt sogar "erklären" zu können meinen. Es ist aber der mindestens gleichgroße Irrtum aller ideologischen, spiritualistischen und personalistischen Geschichtsauffassungen, daß sie umgekehrt vermeinen, die Geschichte der realen Begebenheiten, der Institutionen und der Zustände der Massen direkt oder auf einem Umweg als eine geradlinige Fortsetzung der Geschichte des  Geistes  begreifen zu können. Wir hingegen sagen: Nur  Leitung  und  Lenkung (29) einer festgeordneten Phasenabfolge eigengesetzlicher, automatisch eintretender, vom "Willen" der Menschen unabhängiger und geistwert blinder  Geschehnisse und Zustände vermag der menschliche Geist und Wille gegenüber dem Gang der Realgeschichte zu leisten. Er vermag kein bißchen mehr! Wo Ideen keinerlei Kräfte, Interessen, Leidenschaften, Triebe und deren in Institutionen verobjektivierte "Betriebe" finden, da sind sie - was immer ihr geistiger Eigenwert ist -  realgeschichtlich  völlig bedeutungslos. Es gibt auch  nichts,  das "List der Idee" (HEGEL) heißen könnte, durch die eine Idee gleichsam von hinten herum sich der Interessen und Affekte "bedienen" und sie also meistern könnte. Die Zustände und Ereignisse kümmern sich keinen Deut um solche vermeintliche "Listen". Was HEGEL die "List der Idee" nannte, ist nur die Übertragung des liberalen und statischen Harmoniesystems des 18. Jahrhunderts auf die  Dynamik  der Abfolge historischer Stadien. Die Abfolge der Realgeschichte ist insofern  vollendet gleichgültig  gegen die  sinn logischen Forderungen der geistigen Produktion! Aber ebensowenig bestimmen die realgeschichtlichen Abfolgen den Sinn- und Wertgehalt der geistigen Kultur in eindeutiger Weisen (30). Sie enthemmen, beschränken oder hemmen nur die Art und das Maß der  Auswirkung  der geistigen Potenzen. Das, was sich auswirkt, wenn es sich auszuwirken vermag, ist immer unvergleichlich mannigfaltiger und reicher, als es einer "eindeutigen" Bestimmung durch die realen Faktoren entspräche. Das besagt aber: Es ist immer nur die  Differenz  des nach Sinngesetzen potentiell  möglichen  Werkes und des  wirklichen  Werkes, was die Geschichte der realen Zustände und Begebenheiten am Fortgang der Geistesgeschichte zu "erklären" vermag. Die "fatalité modifiable" [veränderbares Schicksal - wp] der Realgeschichte bestimmt also keineswegs den positiven  Sinngehalt  der Werke des Geistes, wohl aber hindert sie, enthemmt sie, verzögert oder beschleunigt sie das Werk- und Wirklich werden  dieses Sinngehalts. Um ein Bild zu gebrauchen: Sie öffnet und schließt in bestimmter Art und Ordnung die  Schleusen  des geistigen Stromes (31).

Wenn trotz dieser souveränen  Gleich gültigkeit der Realgeschichte der Institutionen, Begebenheiten, Zustände gegen die Geistesgeschichte und gegen die Forderungen  ihrer  Sinnlogik, dennoch die jeweilige Gestaltung der Wirtschaft, der politischen Machtverhältnisse, der Bevölkerungsverhältnisse nach Quantität und Qualität, nach Rassenmischung und -scheidung mit der  Gestaltung  der gleichzeitigen Geisteskultur gewisse ohne Zweifel bestehende  Gleichartigkeiten des Gesamtstiles  aufweist, wenn auch die Massen (die "große Zahl") und die führenden Eliten (die "kleine Zahl") stets seltsam  zusammenpassen,  so besteht dieser Sachverhalt keineswegs deswegen, weil die eine dieser Serien die andere nach sich gestaltet, wie die jeweils ideologisch-personalistischen oder die naturalistisch-kollektivistischen Geschichtslehren annehmen. Diese "Übereinstimmungen" rühren vielmehr daher, daß die obersten Geistesstrukturen einer Epoche und Gruppe, nach denen die Realgeschichte jeweils  "geleitet und gelenkt"  wird und nach denen im vollständig verschiedenen Bereich der Geistesgeschichte die Produktion der  Werke  erfolgt, jeweils  ein und dieselben  Strukturen sind. Daß die Größenordnung des Einflusses der Leitung und Lenkung auf die Serien der realen Geschichte im Ablauf eines relativ geschlossenen, zusammenhängenden Kulturprozesses keineswegs zu allen Zeiten dieselbe ist, sei hier nur nebenher erwähnt. In den drei Hauptphasen, der aufstrebenden Jugendphase einer Kultur, ihrer Blüte und Reife, und der Phase ihres Verfalles, nehmen die Größenordnungen der Leitbarkeit und Lenkbarkeit deutlich ab; das kollektivistische Fatalitätsmoment, damit auch das Determinationsgefühl der Menschen,  wächst  in diesem Ablauf; und damit wächst auch die Unleitbarkeit und Unlenkbarkeit des realen Geschichtsprozesses. Jede Endphase eines solchen Prozesses ist die  Vermassung des Lebens.  Andererseits lösen sich aber die geistig idealen Kulturgehalte, lösen sich ihre persönlichen Trägerschaften in dieser Endphase auch in immer stärkerem Maß los von dem "Dienst" der Leitung und Lenkung der Realgeschichte, um ihrer selbst wegen da zu sein und zu leben. Was früher ein Kausalfaktor - oder  auch  ein Kausalfaktor - für die reale Geschichte war (wenn auch nur im Dienst der Leitung und Lenkung), wird zunehmend Selbstzweck und Selbstwert. Das "l'art pour l'art" [Kunst um der Kunst willen - wp], "science pour la science" usw. sind die Schlagworte solcher Spätepochen; der ganz sich selbst und  seiner  Bildung lebende Individualist ist eine ihrer ausgeprägtesten Erscheinungen, zum Beispiel im "Dandysmus".

Für die Kultursoziologie besteht nun noch die zentrale Frage:  Gibt  es in der Geschichtsdauer der Menschengeschichte eine konstante oder eine mit der Phasenordnung der Abläufe relativ geschlossener Kulturkörper  gesetzlich  wechselnde Ordnung, nach der' die Realfaktoren jenes Schleusenöffnen und Schleusenschließen vollziehen, das wir als die Grundart ihres möglichen Einflusses auf die Geistesgeschichte erkannten? Hier ist der Punkt berührt, an dem sich jene drei großen Hauptrichtungen des geschichtlichen und soziologischen Denkens, die man als  Rassennativismus, Politismus  und  Ökonomismus  bezeichnen kann und deren langjähriger Streit und Gegensatz an erster Stelle die  Real soziologie betrifft, sich auch auf die Geschichte und Soziologie der geistigen Kultur äußern muß. GUMPLOWICZ, GOBINEAU hier, die Rankeaner und Neurankeaner dort, schließlich der Ökonomismus von KARL MARX, stellen einseitige Denkrichtungen in dieser Hinsicht dar. Alle drei Richtungen werden  gemeinsam  zu einem irrigen "Naturalismus", wenn sie anstelle des Schleusenöffnens und -schließens eine  eindeutige  Inhaltsbestimmung der geistien Kulturgehalte setzen; als solchen "Naturalismus" haben wir sie bereits abgelehnt. Aber ihr innerer Gegensatz bleibt natürlich auch bestehen, wenn wir unsere allgemeine Abhängigkeitsregel einführen und fragen:  Welche  von den Realfaktoren in ihren jeweiligen Ausgestaltungen schließen und öffnen  primär, sekundär  oder  tertiär  die "Schleusen" für die Auswirkung der geistigen Potenzen?

Auf diese Frage kann ich an dieser Stelle nur eine Reihe von Thesen vorlegen, deren volle Begründung an anderer Stelle gegeben wird (32):

Eine, meist heimlich und unbewußt vollzogene, Voraussetzung der oben bezeichneten soziologischen Richtungen des Streites scheint mir vor allem die Annahme, daß die unabhängig Variable unter den drei Faktoren Blut, politische Herrschaftsverhältnisse, Wirtschaft für den ganzen Geschichtsprozeß immer  ein und dieselbe  ist, oder daß - wie rein empiristische Opportunisten der Methode annehmen - hier überhaupt keinerlei feste  Ordnung  der geschichtsbildenden Kräfte besteht, es eben bald so, bald anders ist. Die frühesten Breschen in die Position dieser  gemeinsam  falschen Voraussetzung der streitenden Teile wurden durch die  Ethnologen  gelegt, die immer klarer und deutlicher eine reiche Formenwelt  vorstaatlicher  und  vorpolitischer  "Gesellschaften" aufdeckten, nämlich ein gewaltiges Zeitalter der vorherrschenden  Geschlechterverbände,  und die das unter Historikern und Philosophen leider noch sehr verbreitete antike und christliche  Vorurteil  zerbrachen, es sei der "Staat" eine  Wesens bestimmtheit der menschlichen Natur. Eine solche Wesensbestimmtheit ist nun ohne Zweifel das gesellschaftliche Leben überhaupt, ferner das formale Gesetz einer "großen Zahl" von Gefolgschaft und einer "kleinen Zahl" der Führer. Ja, dieses Gesetz umfaßt selbst die tierischen Gesellschaften. Daß auch die Frühzeitalter der Kulturvölker, nicht nur der Halb- und Ganznaturvölker, je tiefer wir in sie eindringen, in einem  vorwiegenden  Geschlechterverbrand enden, und daß überall erst ein Jahrhunderte währender  Kampf  des beginnenden "Staates", das heißt zuerst einer dauernd werdenden Kriegshäuptlingsschaft und ihrer Jungmännergefolgschaft  gegen und wider  die Ordnung der Geschlechterverbände und gegen ihre so vielfachen Organisations- und Rechtsformen,  gegen  ihre Heiligtümer,  gegen  ihre Sitten, Bräuche, Zeremonien, Riten,  gegen  ihr Weltbild und ihre Mentalität, diese  vor politische Welt der Menschheit zerschlagen und versinken ließ - diese Welt, die in jeder Hinsicht auf dem  Primat  und der Ordnung der Blutsverhältnisse und des Alters und  ihrer  sozialisierenden und geschichtsbildenden Kräfte beruhte -, ist heute als eines der sichersten Ergebnisse der Erforschung primitiver Gesellschaften anzusehen (33). Die zweite Bresche in jenes gemeinsame Vorurteil ist auf einem völlig anderen Boden gelegt worden, dem  Boden der abendländischen Geschichte.  Soweit meine Kenntnis reicht, ist es WERNER SOMBARTs spezifisches geschichtssoziologisches Verdienst, im Laufe des Prozesses seiner Auseinandersetzung mit KARL MARX, dessen Anschauungen er in seiner Jugend nahestand, zuerst gesehen und hervorgehoben zu haben, daß die vorkapitalistische Welt Europas sicher  nicht  durch das Primat ökonomischer Faktoren bestimmt ist, sondern durch ein  anderes  Gesetz von geschichtsgenetischen Prozessen, die zwischen Staat und Wirtschaft, Politik und Ökonomie, Machtstellung und Reichtum der Gruppen bestehen;  anders  als die kapitalistische Welt in der Artung, wie sie sich seit dem Frühkapitalismus in bestimmten Phasen immer mächtiger ausladet und auswirkt. Daß also der Ökonomismus zwar entfernt nicht (so, wie MARX es meinte) für die  ganze  Geschichte des Abendlandes oder gar die ganze Menschheitsgeschichte gilt, oder doch bis zum Termin jenes mystischen "Sprunges in die Freiheit" der allen Klassenkampf aufhebenden sozialistischen Zukunftsgesellschaft, daß er aber - wenn außerdem befreit von seinem "naturalistischen" Allgemeincharakter, der ihn überhaupt erst zum eigentlichen ökonomischen "Materialismus" macht, demgemäß nämlich die ökonomischen Verhältnisse den  Gehalt  der geistigen Natur eindeutig erklären sollen -  relativ  für eine engumgrenzte Epoche der spätabendländischen Geschichte,' und  nur  der abendländischen Geschichte, annähernd in der Tat Geltung besitzt. Nachdem ich selbst zur Schärfung dieser Einsicht einiges beigetragen hatte (34), hat SOMBART, besonders in der zweiten Auflage seines großen Werkes im Kapitel, das den Titel "Machtreichtum und Reichtumsmacht" trägt, diesen Gedanken im großen Stil durchgeführt. Ein Ergebnis beider Einsichten scheint mir Folgendes: Es gibt im Ablauf der Geschichte  keine  konstante unabhängige Variable unter den drei obersten Hauptgruppen von Realfaktoren, Blut, Macht, Wirtschaft; aber es gibt gleichwohl  Ordnungsgesetze  des jeweiligen  Primates  ihrer für die Geistesgeschichte hemmenden und enthemmenden Wirksamkeit, das heißt es gibt je ein  verschiedenes  Ordnungsgesetz für bestimmte  Phasen  des Geschichtsablaufs einer Kultur. Der bei Historikern vielfach herrschende empirisch-methodische Opportunismus der Geschichte ist durch dieses Ergebnis ebenso hinfällig wie die  gemeinsam  falsche Voraussetzung der genannten drei Denkrichtungen vom konstanten Primat  eines  der Faktoren.

Ich habe ich jahrelanger Arbeit an den Problemen der soziologischen Dynamik, an erster Stelle der realen Geschichte selbst, nicht also ihre Einwirkung auf die Geschichte des Geistes - die  hier  allein zur Verhandlung steht -, obigen Gedanken nach mehreren Richtungen zu unterbauen gesucht. Insbesondere suchte ich ihn in einer Lehre von der  Entwicklungsordnung der menschlichen Triebe  tiefer zu fundieren (35). Das Resultat dieser Bemühungen ist eben jenes  Ordnungsgesetz,  von dem ich sprach. Sein Inhalt lautet: In jedem zusammenhängenden Ablauf eines relativ räumlich und zeitlich geschlossenen Kulturprozesses sind  drei  große Phasen zu scheiden. Es wird hierbei nicht etwa bestritten, sondern vorausgesetzt, daß es einen solchen zusammenhängenden Ablauf an ein und demselben biologisch  einheitlichen  Völkermaterial eigentlich  de facto  nicht und nirgends gibt. Aber es wird versucht, kraft der abstrahierenden resolutiven und vergleichenden Methode, die wirklichen Ursachenfaktoren des Geschichtsablaufs so zu scheiden, daß man die  inneren  autochthonen [eingessenen - wp] und die von  außen  eintretenden, mehr oder weniger "katastrophalen" Ursachen der Entwicklung (Kriege, Wanderungen, Naturkatastrophen usw.) zumindest in Form von Gedankenexperimenten scheidet. Unter dieser idealen Voraussetzung bestehen nun für den nur durch innere Ursachen bedingten und zu erwartenden Ablauf die folgenden Phasen:
    1. eine Phase, da die  Blutsverhältnisse  aller und jeder Art und die sie rational regelnden Institutionen (Vaterrecht, Mutterrecht, Eheformen, Exogamie und Endogamie, Geschlechterverbände, Erbrassenmischung und -scheidung samt den ihnen gesetzlich oder durch Sitte gegebenen "Schranken") die  unabhängig  Variable des Geschehens bilden, auch die Gruppierungsform der Gruppen zumindest primär bestimmen, das heißt die  Spielräume  bestimmen für das, was aus anderen Ursachen realer Art, z. B. politischen und ökonomischen, jeweils geschehen  kann. 

    2. Eine Phase, in der dieses Wirkprimat - das Wort im gleichen eingeschränkten Sinn der Spielraumsetzung verstanden - auf die  politischen  Machtfaktoren, an erster Stelle auf die Wirksamkeit des  Staates,  übergeht.

    3. Eine Phase, da die  Wirtschaft  das Wirkprimat erhält und die "ökonomischen Faktoren" es sind, die an erster Stelle für das Realgeschehen bestimmend werden, für die Geistesgeschichte aber "schleusenöffnend" und "-schließend" werden.
Der alte Streit der Geschichtsauffassungen und -erklärungen würde auf diese Weise selber  geschichtlich relativiert.  Er würde ferner mit allen anderen Phasenordnungen zum Beispiel den Phasenordnungen vorwiegend personalistisch und vorwiegend kollektiv bedingter Geschichtsabläufe wie den auf die allgemeinsten Formgesetze der Gruppierung bezüglichen (Horde, Lebensgemeinschaft, Gesellschaft, personsolidarische Verknüpfungsform unvertrebarer Individuen in  einer  "Gesamtperson"), schließlich auch den  inneren Konstruktionsprinzipien der Weltbilder Gruppen  in diesen Phasen in einen  inneren  Zusammenhang gebracht.

Was die erste Phase betrifft, so scheint sich für das Werden aller Hochkultur schon jetzt mit großer Allgemeinheit die Regel aufstellen zu lassen, daß sie Kultur mischungen  nicht additiver Art von vorwiegend bodendständigen, mutterrechtlichen, animistischen Kulturen und von vorwiegend vaterrechtlichen, auf eine weiträumige Verbreitung angelegten, Fernhandel mitsichbringenden, aktiven Persönlichkeitskulturen darstellen; daß ferner diejenigen unter ihnen, die das reichste und mannigfaltigste Geschichtsleben aufweisen, auch  rassemäßig meist geschichtet sind, und daß aus dieser Doppelschichtung heraus sich eines der mächtigsten Motive für das Werden aller höheren Kultur mit ihrer Scheidung von Kasten, Ständen, Klassen, Arbeitsteilung erklärt (36) Erst in diesen Mischungen und Schichtungen werden die dynamischen  Gegen sätze und Spannungen der Geschlechter, die Rassenkämpfe, und der zunehmende Ausgleich dieser Kämpfe durch die eben  in der steigenden Nivellierung  dieser Gegensätz sich mächtig aufarbeitende politische "Staatsgewalt" sind die wichtigsten Werdefaktoren der Hochkulturen. Daß die  ersten  Ursachen auch der Kasten-, Stände- und Klassenscheidungen keineswegs in der Differenzierung ökonomischer Besitzklassen gelegen sind, wie die Marxisten und u. a. BÜCHER meinten, indem sie eine Gesetzmäßigkeit der dritten Spätphase schon in die erste Phase hinübertragen, ebensowenig aber in erblich werdender Berufsscheidung gelegen sind, wie GUSTAV SCHMOLLER (37) anzunehmen neigte, sondern in der Schichtung der  Rassen  aufgrund ihrer eingeborenen dynamischen Kräfte, der  Maße  vor allem ihres Herrschafts- und Unterwerfungstriebes, - dies klar gesehen zu haben scheint mir das eminente Verdienst von GUMPLOWICZ umd die Realsoziologie zu sein. Solange und wo immer auch die Ansichten über das religiöse und metaphysische Schicksal der Ober- und Unterklassen, ferner der Männer und Weiber verschieden artige  sind, etwa in Bezug auf Sterblichkeit und Unsterblichkeit oder doch auf die Art und Weise des Fortlebens nach dem Tode (38), wo ferner die religiöse und metaphysische Wissensverteilung selbst eine  kastenhaft  geordnete ist (den Sudras in Indien z. B. sind die die "heiligen Bücher" vorenthalten), ist eben hierin auch eine kulturelle Auswirkung dieser rassensoziologischen Tatsachen zu sehen. Die  religiös-metaphysische  Demokratie ist in aller Geschichte die  oberste  Voraussetzung  jeder  anderen Art von Demokratie und ihres Forschrittes gewesen, ebensowohl der politischen wie der sozialen und ökonomischen. Es ist aber stets die blutbändigende  politische  Gewalt (gemeinhin in Form der Monarchie), die fast überall mit Hilfe der relativ "unteren" Schichten jene Nivellierung der Bluts-, Rassen- und Geschlechtergegensätze herbeiführt, die jene  metaphysisch  demokratische Anschauung vorbereitet - eine Denkart, die für die gesamte abendländische Entwicklung, soweit wir sie überblicken, im Gegensatz zu Asien, im Wesentlichen bereits die oberste  Voraussetzung und ihr Ausgangspunkt  gewesen ist. Von Rußland abgesehen, dessen ganze Geschichte ja durch den Wechsel der Fremdherrenvölker (Tartaren, Schweden, Polen, Germanen, Juden) bestimmt ist, die über das unterwerfungslustige Rassenkonglomerat herrschen, ist die abendländische Stände- und Klassengeschichte freilich von Anfang an schon durch vorwiegend  politische  Ursachen bestimmt, sodaß das primäre Gesetz der Bildung von sozialen Schichten durch diesen Geschichtszug allein mehr verhüllt als erleuchtet wird. Nur im Übergang der späten Antike in die Phase der Geschichte der "germanoromanischen Völker" (RANKE) tritt das Primäre der Blutsfaktoren wieder in Erscheinung, freilich in Verbindung mit so vielen anderen inneren "Ursachen des Untergangs" der spätantiken Zivilisation, daß man es auch hier, so wie es MAX WEBER in seiner römischen Agrargeschichte getan hat, in Frage stellen konnte. Das politische Machtprinzip, das an zweiter Stelle zur Klassenbildung führt, aber bleibt seinerseits die Sprungfeder und der Keim aller Klassengliederung und zugleich der Regulator für die Spielräume  möglicher  Wirtschaftsgestaltung bis zum Ende des absolutistischen und merkantilistischen Zeitalters. Denn auch der "Kapitalismus" ist bis zu diesem Zeitpunkt an erster Stelle das  Instrument  von Mächten  politischer  Provenienz [Herkunft - wp], von Mächten, die keineswegs in ökonomischen Ursachen begründet sind, wie sehr die ökonomischen gleichzeitigen Entwicklungsabläufe ihnen auch zu Hilfe kommen. Erst im Zeitalter aber des Hochkapitalismus (der Kohle) setzt langsam die Epoche ein, die als relativ  vorwiegend  "ökonomistisch" bezeichnet werden kann, und deren besondere Bewegungsgesetze MARX nicht nur naturalistisch zum "Geschichtsmaterialismus" übersteigerte, sondern auch fälschlich auf die  ganze  Universalgeschichte verallgemeinerte. Nur so konnte ihm "alle" bisherige Geschichte zu einer Abfolge ökonomischer Klassenkämpfe werden. (39)

Unser Gesetz der drei Phasen je vorwiegender Primärkausalität der Realfaktoren darf jedoch nicht so aufgefaßt werden, als solle es für drei Phasen einer einzigen zusammenhängenden Universalgeschichte gelten. Geltung besitzt es - unter obiger Restriktion eines empirisch nie stattfindenden,  nur  inneren Ablaufs der zusammenhängenden Geschichtsprozesse - auch nur  relativ  für die jeweils kleinere Gruppeneinheit, nicht für die jeweils größere Gruppeneinheit unter den Gruppeneinheiten, die in  einen  schicksalssolidarischen Geschichtsprozeß schon hineingeflochten sind. Was damit gesagt sein soll, kann durch Beispiele erläutert werden. In der Bildung der großen "nationalen", politisch geeinten Körper ging überall die politische Gewalt der ökonomischen Einung vorher. Liberalismus und Freihandel  folgen  dem Staatskapitalismus der absolutistisch-merkantilistischen Epoche. Auch der deutsche Zollverein ist durch und durch politischen Ursprungs und ein politisches Instrument (40). Ist aber für die Einheit "Nation" auf diese Weise die ökonomische Wirtscahfts- und Verkehrseinheit angebahnt, so tritt innerhalb dieser Einheit, aber auch nur innerhalb ihrer, noch keineswegs im Verhältnis der europäischen Nationen zueinander, das  Primat  des  Ökonomischen  bezüglich aller  intra nationen Verhältnisse langsam hervor. Dagegen bleibt innerhalb der umfassenden Einheit "Europa" trotz aller sich anbahnenden sogenannten "Welt"wirtschaft - faktisch nur einer Durchflechtung von Nationalwirtschaften - das  Primat  der  politischen  Gewalt bestehen. Die wechselnden ökonomischen Motive der europäischen Bündnispolitik vor dem Weltkrieg, der Kampf insbesondere um außereuropäische Absatzzonen für die ungeheurlich an Zahl wachsende, immer stärker industrialisierte europäische Gesellschaft durfte nicht übersehen lassen, daß sowohl die obersten  Macht positionen wie auch die von diesen Motiven scharf unterschiedenen  Ziele  dieser Politikmethode  keineswegs  ökonomischen Ursprungs waren, sondern stehengebliebene Reste aus dem machtpolitischen Zeitalter Europas überhaupt. Ganz vorzüglich erscheint mir in dieser Frage das, was SCHUMPETER in seiner tiefgründigen Studie über die "Soziologie des Imperialismus" ausgeführt hat. Der ökonomische Expansivismus und Imperialismus der europäischen Großstaaten hätte  niemals  zum Weltkrieg führen können, hätten nicht politische und militärische Machtkomplexe bestanden, deren Realität, Wesen und Geist aus dem machtpolitischen und vorkapitalistischen Zeitalter Europas stammen, ja bis ins Zeitalter der feudalen Periode zurückreichen. Es ist aber eine nur sehr künstliche Rettung, die SCHUMPETER dann mit dem Ökonomismus vornimmt, wenn er nach seiner vorzüglichen Widerlegung der populär marxistischen These, der "Weltkapitalismus" sei die oberste Ursache des Weltkrieges (41) gewesen, bemerkt, der jeweils politische Überbau der ökonomischen Produktionsverhältnisse könne eben einer weit  älteren  ökonomischen Phase als der je gegenwärtigen entsprechen. Ein seltsames Quidproquo! [dieses für jenes - wp] Haben die ökonomischen Produktionsverhältnisse im Laufe so erheblicher Zeiträume wie seit dem Ursprung der kapitalistischen, der "dynamischen" Wirtschaft im Sinne SCHUMPETERs nicht die Kraft besessen, die politischen und rechtlichen Überbauten nach sich umzugestalten, sollte dann nicht der ganze ökonomistische Ansatz falsch sein?

Ich habe, was ich hier nur andeuten, nicht des Näheren ausführen kann, das ebengenannte, in dieser Weise eingeschränkte "Gesetz der Ordnung der Kausalfaktoren" in den drei Phasen zusammenhängender Geschichtsabläufe nicht nur induktiv zu verifizieren versucht, sondern auch versucht, es  deduktiv  verständlich zu machen aus einer  "Ursprungslehre der menschlichen Triebe",  die ich aller Realsoziologie analog zugrunde lege wie die Geistlehre der Kultursoziologie, und gleichzeitig aus den Gesetzen des vitalpsychischen  Alterns,  nach denen bestimmte Urtriebe des Menschen in den wichtigsten Altersphasen die  Vor herrschaft über die anderen Urtriebe erhalten. Ich verstehe dabei unter Urtriebe diejenigen Triebsysteme, aus denen  alle  spezielleren Triebe, teils durch Prozesse vitalpsychischer Differenzierung selbst, teils durch eine Verknüpfung der Triebimpulse mit geistiger Verarbeitung hervorgehen. Die wesentlich artdienlichen Sexual- und Fortpflanzungstriebe, die singular- und kollektivdienlich  gemischten  Machttriebe, und die wesentlich auf die Erhaltung des Einzelwesens gerichteten Nahrungstriebe (die in den Institutionen der realsoziologischen Wirklichkeit nur objektiviert und zugleich in Formen des Rechts in jeweils verschiedener Weise gehemmt und enthemmt erscheinen) zeigen nämlich eine  Umbildung  ihrer dynamischen Beziehungen zueinander nach Triebvorherrschaft und Triebunterordnung, die uns vielleicht in nicht allzu ferner Zeit das Phasengesetz von der Ordnung und Umordnung der realen Geschichtskausalfaktoren in den drei Phasen als ein einfaches Gesetz des  Alterns der die Kulturen tragenden  und ihnen  zugrunde liegende Völkermaterialien  durchschauen lassen; d. h. als das Gesetz eines Prozesses, der die prinzipiell  "unsterblichen"  idealen Kulturgehalte in keiner Weise bestimmt und betrifft, sondern nur sekundäre beührt; der wohl aber  alle  Realfaktoren und Realinstitutionen gleich ursprünglich erfaßt. (42)

Völlig abzulehnen haben wir alle Lehren, die nur die Thesen des utopischen Vernunftsozialismus des 18. Jahrhunderts in der  Schein form eines geschichtlichen "Evolutionismus" erneuert haben, wenn sie die Möglichkeit annehmen, daß an irgendeiner zukünftigen Geschichtsstelle das Verhältnis zwischen Ideal- und Realfaktoren - wie wir es früher in der zweifachen Form, nämlich als Hemmung und Entbindung geistiger Potenzen durch die Realfaktoren und als "Leitung und Lenkung" der Realgeschichte durch die geistig-persönliche Kausalität der Eliten festlegten - sich prinzipiell in sein  Gegenteil  jemals verwandeln könnte, und zwar in dem Sinne verwandeln, daß jeweils der menschliche  Geist  und die Idealfaktoren die Realfaktoren nach einem  Plan positiv beherrschen  könnten. Was FICHTE, HEGEL ("Vernunftzeitalter") und ihnen folgend, nur an eine  zukünftige  Geschichtsstelle verschoben, KARL MARX in seiner Lehre vom "Sprung in die Freiheit" geträumt haben - in dieser Lehre ganz ein Schüler HEGELs und seines  antiken  Vorurteils von der möglichen "Selbst macht  der Idee" -, wird zu allen Zeiten ein bloßer Traum bleiben. Es ist wohl zu beachten, daß erst auf dem  Hintergrund  dieser Lehre von der Möglichkeit einer positien "Herrschaft der Vernunft" über die Realgeschichte - anstatt bloßer Leitung und Lenkung eines ansich  fatalen zeit geordneten Prozesses - das Zerrbild einer im Kern  nur  anklägerisch angeschauten Geschichte der  Vergangenheit  der Menschheit erstehen konnte, wie es der Marxismus gezeichnet hat, ebenso auch die durchaus "messianistische" Lehre vom welthistorischen "Beruf" des Proletariats zur Beendigung aller Klassenkämpfe überhaupt, und damit des  Aufhörens  der ökonomisch determinierten Welt der historischen Idealbildungen. Es steht also nach unserer Ansicht genau umgekehrt, wie KARL MARX meinte:  Es gibt keine Konstanz im Wirkprimat der Realfaktoren; gerade hierin besteht geordnete Variabilität.  Wohl aber besteht ein Grundverhältnis der Idealfaktoren zu den Realfaktoren überhaupt (wie wir es oben bestimmt haben), das  strengste  Konstanz in aller Geschichte des Menschen besitzt und eine Umkehrung oder auch nur eine Veränderung in keiner Weise zuläßt. (43)

Die  Art  aber schließlich, in der die jeweils in verschiedener Ordnung innerhalb ihrer Phasen wirkenden drei Realfaktoren auf die eigengesetzmäßig ablaufenden Reiche der Idealfaktoren wirken, bedeutet für uns einen zweifellosen "Fortschritt der Entwicklung", freilich nur in dem beschränkten Sinn, daß die  Ausladung der geistigen Potenzen  in den drei Phasen des Blutes, der politischen Machtdetermination und der Ökonomie immer  reicher und mannigfaltiger  wird. Aber dieser Fortschritt betrifft nur die ansich gegensatz- und wertfreie  Fülle  der Ausladung der geistigen Potenzen, keineswegs betrifft sie die geistigen Potenzen, sofern sie an irgendwelchen Wertgegensätzen - "wahr und falsch", "gut und böse", "schön und häßlich" usw. - gemessen werden. Die geistigen Potenzen der Gruppen werden bezüglich ihrer möglichen Auswirkung ja stets von den Zuständen der Institutionen  aller  drei Arten von Realfaktoren teils gehemmt, teils entbunden. Aber diese Hemmung und Entbindung ist nicht ein und dieselbe an Größe und Macht in den drei Phasen des verschiedenartigen Kausalprimats. Die Hemmung und Selektion, welche die geistigen Potenzen durch die Realfaktoren erfahren, ist in vorwiegend  ökonomisch- determinierten Zeitaltern und den ihnen zugehörigen Gruppen die  kleinste,  die Entbindung der Potenzenfülle aber die  größte.  Sowohl für die geistige Produktion innerhalb der idealen Reihe der Werke als für die Leitung und Lenkung der realen Reihe der Geschichte vermag sich umso mehr und umso reichere geistige Potenz zu aktualisieren, als  nur  noch  ökonomische  Hemmungen, d. h. solche, die in den Produktions- und Besitzverhältnissen und in der Gestaltung der Arbeit gelegen sind, die  erste  "Auswahl" im Wirksamwerden der Potenzen vollziehen. Wo dagegen schon die Blutszugehörigkeit, ferner die Geschlechts- und Alterszugehörigkeit einer Gruppe direkt oder indirekt die  mögliche  Ausladung ihrer geistigen Potenzen entscheidet, da ist auch die Hemmungsgröße der geistigen Potenzen die  größte,  ihre Entbindungsmöglichkeit die kleinste. Die spezifisch machtpolitischen Zeitalter stehen in der  Mitte.  Gerade in ihren höchsten Altersstufen, wo immer entscheidender das Maß der  Arbeit  und des  Besitzes  die mögliche Ausladung vorhandener Geistespotenzen  primär  bestimmt, ist daher die geistige Kultur keineswegs notwendig die positiv "wertvollste", wohl aber stets die  reichste, differenzierteste, bunteste,  am meisten geschichtete. Und ferner ist überhaupt dem Menschengeist so engbegrenzt verliehene  Tatkraft  auf den Gang der, ihrer  Ordnung  nach  fatalen  Realverhältnisse in Leitung und Lenkung hier die größt mögliche.  Der romantische Affekt und das romantische Denken nur, das zu einem so erheblichen Teil, mehr als er selbst wußte, auch KARL MARX übernommen hat, besonders deutlich überall, wo die Romantik die Geldwirtschaft und den "Liberalismus" ihrer bittersten Kritik unterzog, wird vergebens die "Seele" gegen den "Geist", "Leben und Blut" gegen "Geld und Geist" (SPENGLER) sentimental ausspielen und diesen unzerreißbaren Zusammenhang von Ökonomismus und maximaler Freiheit und Ausladung des Geistes zu zerreißen suchen. Denn das ist die tragische und meiner Meinung nach im  metaphysischen  Bereich selbst endgültig verwurzelte Tatsache, daß das "Stirb und Werde" aller Entwicklungen für die Entfaltung der  realen  Geschichts- und Sozialverhältnisse ein grundsätzlich  anderes  ist als für die Entfaltung der Fülle des  idealen  Reiches menschlicher Kultur. (44)
LITERATUR: Max Scheler, Die Wissensformen und die Gesellschaft, Leipzig 1926
    Anmerkungen
    23) Vgl. das ausgezeichnete Werk von FERDINAND TÖNNIES, "Die öffentliche Meinung".
    24) Über Wesen und Ursprung nationaler Ideologien vergleiche "Zur Soziologie und Weltanschauungslehre", Bd. 2, "Nation", ferner meine Studie über den "cant" im Anhang meines Buches "Der Genius des Krieges".
    25) Vgl. hierzu ERNST TROELTSCH, "Soziallehren der christlichen Kirchen", wo diese Inhaltsbeziehungen trefflich dargestellt sind.
    26) Eine scharfe Charakteristik dieser Wesensformen menschlicher Verbände gab ich bereits in meiner "Ethik". Weitergeführt wurden die hier angeführten Scheidungen von EDITH STEIN, "Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung", Bd. 5, in  Beiträge zur philosophischen Begründung der Psychologie in den Geisteswissenschaften. Ähnliche Ziele setzte sich THEODOR LITT in seinem Werk "Individuum und Gemeinschaft", zweite Auflage.
    27) Über den genauen Ablauf dieses Streites siehe auch heute noch CARL PRANTL, Geschichte der Logik im Abendland.
    28) Siehe hierzu das Schlußkapitel meiner Arbeit "Probleme der Religion", in "Vom Ewigen im Menschen, Bd. I, zweiter Halbband, zweite Auflage, Leipzig 1923. In einer sehr einseitigen Weise nehmen solche Monopole und Vorrechte der Jugendperioden für metaphysisches Wissen an BACHOFEN, dessen Methoden eben BERNOULLI in seinem großen Werk über BACHOFEN sehr lehrreich auseinandersetzt, noch radikaler LUDWIG KLAGES (vgl. auch dazu BERNOULLI) in "Mensch und Erde", "Wesen des Bewußtseins" und "Vom kosmogonischen Eros". Die gesamte Wissensgeschichte der Menschheit wird in dieser von der Romantik (SAVIGNY) ausgegangenen Lehre ebenso einseitig eine fortlaufende "Dekadenz", wie sie nach dem Positivismus ein steter Fortschritt ist.
    29) "Leitung" ist die primäre, "Lenkung" die sekundäre Funktion des Geistes. Leitung ist ein Vorhalten einer wertbetonten  Idee,  Lenkung ist Hemmung und Enthemmung der triebhaften Impulse, deren zugeordnete  Bewegungen  die Idee realisieren. Die Leitung bestimmt die Art der Lenkung.
    30) So wie es z. B. die ökonomische Geschichtsauffassung annimmt.
    31) Ich glaube an anderer Stelle zeigen zu können, daß in diesem fundamentalen Punkt des Grundverhältnisses der Geistesgeschichte zur Realgeschichte überhaupt die sonst weit untereinander abweichenden Forscher WILHELM DILTHEY (siehe "Über die Einbildungskraft des Dichters"), ERNST TROELTSCH (siehe seine Einleitung zu den "Soziallehren"), MAX WEBER (siehe Einleitendes zur Religionssoziologie) im  Wesentlichen  mit dem Obigen übereinstimmen.
    32) Dies geschieht in meiner "Philosophischen Anthropologie", im Verein mit dem 4. und 5. Band meiner Schriftenreihe "Zur Soziologie und Weltanschauungslehre": "Probleme der Geschichtsphilosophie".
    33) Vgl. hierzu WUNDT, Völkerpsychologie, Bd. III, "Die politische Gesellschaft"; durchaus treffend auch neuerdings FRANZ OPPENHEIMER, Soziologie, Bd. 1; Kritisches zu dieser Frage gibt ferner auch ALFRED VIERKANDT, Gesellschaftslehre, 1923, Seite 320f. Doch können wir uns der Ansicht VIERKANDTs, der Staat könne "auch" rein genossenschaftlich entstanden sein, nicht nur als Herrschaftsorganisation, nicht anschließen.
    34) Vgl. meine Abhandlungen über Kapitalismus im zweiten Band des Werkes "Der Umsturz der Werte", wo ich die Bedeutung des Gegensatzes des machtgeborenen Reichtums und der reichtumsgeborenen politischen Macht zuerst scharf herausstellte.
    35) Die Lehre dieser Entwicklungsordnung der Triebe selbst bildet einen wichtigen Teil meiner demnächst erscheinenden Anthropologie.
    36) Vgl. hierzu FRITZ GRAEBNIER, "Das Weltbild der Primitiven", München 1924, ein Buch das in überaus einleuchtender Weise den die ganze Weltanschauung, Technik und Rechtscharakter berührenden Gegensatz von Vaterrechts- und Mutterrechtskultur herausstellt, ferner den Gedanken, daß die Hochkulturen  Mischungen  dieser beiden Kulturen darstellen und stets die Neigung haben, diesen inneren Gegensatz durch eine  politische  Monarchie mehr oder weniger despotischer Form auszugleichen, vortrefflich ausführt.
    37) Vgl. GUSTAV SCHMOLLER, Die soziale Frage, Bd. 1, München 1918
    38) Siehe die angegebene Beispiele bei GRAEBNER, a. a. O., Setie 48f
    39) Eine gute historische Entstehungslehre der Klassenkampftheorie gibt SOMBART in seinm Aufsatz "Die Idee des Klassenkampfes", Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 21, Heft 1, 1925.
    40) Vgl. MAX WEBERs Wirtschaftssoziologie, wo WEBER die politische Natur des Zollvereins und seinen Antagonismus zu den ökonomisch determinierten Tendenzen der rheinisch-westfälischen, schlesischen Industrie und der ostpreußischen Landwirtschaft trefflich nachweist.
    41) Es handelt sich hier nicht um die Kriegsursachen in einem  historischen  Sinne einmaliger Kausalität mit Einschluß der freien Willensakte der regierenden Personen, sondern nur um die soziologische Ursache der  Spannungen,  die der Krieg voraussetzte; also um die Ursache der Kriegs "möglichkeit".  Zwischen Frankreich, dem treibendsten Faktor für das Zustandekommen der den Mittelmächten feindlichen Mächtekoalition, und den Mittelmächten bestanden überhaupt  keine  nennenswerten Spannungen  ökonomischer  Art. Die "Schuld"frage, die nur die geistig persönlichen Hemmungen und Enthemmungen der gegebenen  Spannkräfte  berührt, besteht dabei auf alle Fälle weiter; sie wird überhaupt durch keinerlei  soziologische  Erklärung der Kriegs möglichkeit  berührt. Nehmen wir aber nun an, es würde bei der endgültigen Neugestaltung Europas die Wirtschaft und  ihre  Interessenverflechtungen den Sieg über die Machtpolitik und ihren Geist davontragen, so würde gleichwohl zwischen diesem  neuen  Europa, in dem die Wirtschaft als geschichtsbildender Faktor ihren Vollsieg über die Machtpolitik der Staaten allererst gewonnen hätte, und der  außereuropäischen  Welt, ja, schon Rußland, das wesentlich und primär  macht politische Verhältnis zu  bestehen fortfahren.  Ja, in einem dritten Fall, bei einer möglichen gewalttätigen Machtauseinandersetzung der (die japanische Expansion seiner fruchtbaren Bevölkerung sperrenden) Länder Amerikas und Australiens mit Japan, würde sogar der  Rassen- und Blutsgegensatz  und der in  seiner  Tiefe gegründete Kulturgegegensatz zwischen den  Weißen  und den  Gelben  alle anderen Gegensätze sonstiger Art überschatten, und ein Sieg Japans als des "Pioniers" der großen ostasiatischen Zivilisationen gegen die Vereinigten Staaten, den  neuen  "Pionier" der abendländischen Zivilisation, würde sogar das  älteste  Motiv für das Werden der politischen Machtgestaltungen, würden  Rassenkampf  wieder zum primären Kausalfaktor der Geschichte erheben.
    42) Ich muß zum Beweis des Gesagten auf meine philosophische Anthropologie verweisen, und zwar auf die Abschnitte "Über Trieblehre" und "Theorie des Alterns und des Todes". Zur Ursprungsordnung der Grundtriebe vergleiche einstweilen PAUL SCHILDERs "Medizinische Psychologie", die über die Trieblehre noch das relativ Beste enthält, was wir in deutscher Sprache besitzen.
    43) Daß an diesen Punkt die Metahistorie oder die Metaphysik der Geschichte anzuknüpfen hat, kann hier nicht näher gezeigt werden.
    44) Daß uns keineswegs bange zu sein braucht um die geistige Kultur im herannahenden ausgeprägten und rein ökonomischen Zeitalter; daß ferner der industrielle Reichtum der Kreise, die die Urproduktion und Energiebelieferung der ganzen Wirtschaft in Händen haben, den bisherigen Staat und das, was  er  für die geistige Kultur getan hat, weitgehendst ersetzen können, und zwar ohne im gleichen Maß, wie es der Staat machtpolitischer Provenienz gepflogen hat, die geistige Kultur in den Dienst der Interessen politischer Herschaftsklassen zu rücken, - dafür ist nach meiner Ansicht Nordamerika schon jetzt ein großes Beispiel; nicht nur bei sich selbst, sondern auch zum Beispiel in dem, was die Amerikaner außerhalb ihres Landes (in China) geschaffen haben; ein großes Vorbild auch für unsere europäische, in dieser Hinsicht noch sehr wenig erleuchtete Industrie. In dieser Hinsicht sind die Nachteile des Industrialismus und Kapitalismus gewiß nur vorübergehende Erscheinungen gewesen und gerade der ausgeprägte Ökonomismus wird diese beseitigen.