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Idealisten [4/7]
Die Gebildeten Halbbildung führt zum Selbstmord. Dieses Schicksal ist mir immer ein wenig symbolisch erschienen. Zu Ähnlichem werden heute Viele getrieben, weil sie der Halbbildung gar nicht ausweichen können, weil auf den Geist selbst der Schwächsten die tote Last eines die Lebensfreude erdrückenden Wissens gelegt wird. Freilich ist es, sogar in diesen Jahren schrecklicher Schülerselbstmorde selten, daß Jünglinge sich in der durch das Mißverhältnis von Wissen und Verstehen, von Lernen und Begreifen, von Idee und Wirklichkeit erzeugten Verwirrung zum Sterben so leichtherzig anschicken, als ginge es zum Schlaf einer Nacht. Dafür aber grassiert umso stärker der geistige Selbstmord, der die Seele tötet und, anstelle frohen Lebensgefühls, gemeinen Materialismus, korrekte Selbstzufriedenheit oder eitle Selbsttäuschung setzt. Es ist die offizielle Halbbildung, die der Staat heute von seinen vornehmsten Bürgern fordert, womit ein großes, reiches, arbeitsames und im Kern gutes Volk gegen sich selbst wütet. Was heute die Schule, die Gesellschaft, der Beruf an äußeren Kenntnissen fordern, ist, in all seiner abstrakten Einseitigkeit, so unnatürlich vielfältig, daß nur die Stärksten und Klügsten den Anforderungen ohne dauernden Schaden genügen können. Und selbst sie werden nutzlos verwirrt, verlieren kostbare Jugendkraft und brauchen lange Zeit, um kritisch zu überwinden und wieder abzustoßen, was ihrer jugendlichen Empfänglichkeit und Unerfahrenheit gewaltsam aufoktroyiert worden ist. Der normal Veranlagte sieht sich durch die Bildungsforderungen in der Entwicklung gerade dessen gehemmt, das für ihn und für die Allgemeinheit den meisten Wert hat: in der Ausbildung einer freien Anschauungs- und Beurteilungskraft; seine Seele verkrüppelt, er macht einmal mehr aus der Not eine Tugend, preist als Reichtum, was pure Armut, als Freiheit, was niedrigste Dienstbarkeit ist und wird so, ohne es zu wissen, zum Apostel schädlicher Zeitlügen. Geradezu gebrochen wird aber der geistig Schwache. Im besten Fall zeigen sich bei ihm die Wirkungen des lächerlichen Bildungsdrills als eine Art partiellen Wahnsinns; oder er weist die an ihn gestellten Zumutungen brutal zurück und wird zu einem Hasser aller Bildung überhaupt. Da alle Bürger dieser Zeit, alle Stände und Berufe mehr oder weniger vom modernen Bildungswahn infiziert sind, sehen wir überall toten Schematismus, sich spreizende Selbstgerechtigkeit, falschen Idealismus, eigensinnige Prinzipienreiterei, kurz, den seelischen Tod, trotz aller intellektuellen Akrobatenkunst. Noch bis vor wenigen Jahrzehnten wurde das Kind unmerklich und darum nur umso nachdrücklicher zu dem Grad von Bildung hingeleitet, dessen es in seinem Stand, für einen bestimmten Beruf bedarf. Eine traditionell anerkannte soziale Organisation sorgte dafür, daß Standeskonventionen, Berufsüberlieferungen und Familienkultur zu den wichtigsten aller Erziehungsfaktoren wurden. Der junge Adelige lernte das Beste seiner Lebensbildung nicht auf der Schulbank, sondern es flog ihm in der Atmosphäre der Kinderstube von selbst zu; ihm brauchte die Bildung und Gesinnung, die ihm als Soldaten oder Staatsmann nötig war, nicht eingedrillt zu werden, denn er atmete sie ein mit der Luft des Elternhauses. Ebenso bildete ein im Haus des Kaufmanns alles erfüllender Berufsgeist von früh an die Söhne und Töchter zu einer großbürgerlichen Gesittung; es determinierte ein selbstsicherer Handwerkssinn das Denken, Wissen und Meinen der Kinder im Haus des Handwerkers; und der Bauer übertrug, ohne alles pädagogische Bewußtsein, nur durch die Kraft seiner lebendigen Lebensform, auf seine ganze Umgebung den tiefen Sinn seiner Existenz und die soziale Stimmung seiner Berufsideen. Die Menschen lernten damals, was keine Schule lehren kann; sie waren gebildeter im rechten Wortsinn, weil sie fest in einem begrenzten Kreis wurzelten und zur Tüchtigkeit in Einem streng angehalten wurden. Wer aber Eines ganz beherrscht, der hält immer auch einen zuverlässigen Maßstab für das Ganze in Händen; zu seiner Tätigkeit drängt sich, wie zu einem Symbol, alles Leben. "Eines recht wissen und ausüben gibt höhere Bildung, als Halbheit in Hundertfältigem." Besser als heute verstanden einander die Stände und Berufe, weil jeder das Selbstgefühl hatte, das eine produktiv machende Bildung gibt, sei sie noch so eng umzirkelt; und im gegenseitigen Geltenlassen erst reifte der Geist sozialer Kultur. Es gab mehr Analphabeten und viel weniger Kenntnisse als heute; aber es gab trotzdem mehr Bildung. Denn was heißt gebildet sein? Doch gewiß nicht, eine Summe wohlsortierter Kenntnisse aufspeichern und sich eitel mit den neuesten Erkenntnissen drapieren. Die werden die Enkel schon in der Fibel finden. Was das schöne Wort Bildung umschreibt, kann man nicht auswendig lernen; man muß hineinwachsen. Sich bilden heißt, die leicht ins Grenzenlose zerfließenden Instinkte und Gedanken in eine Form des Bewußtseins zwingen, heißt lebendig wachsen "nach dem Gesetz, wonach du angetreten", nach der Naturbestimmung, der man nicht entfliehen kann und dem höheren Drang genug tun, den die Natur in jeden gelegt hat. Rechte Bildung macht, während sie erworben wird oder doch bald danach, Schritt um Schritt produktiv; sie ist ein Sammeln von Bestätigungen für vorhandene Ahnungen, ein frohes Jasagen bei jeder neuen Erkenntnis, als hätte man diese längst schon im Gefühl getragen. Gute Erziehung kann nichts anderes tun als auf das hinweisen, wonach der Schüler leise oder laut fragt, wofür er innerlich reif und bereit ist; sie ist nicht ein gewaltsames Vollstopfen mit Lehrsätzen, Tatsachen und Worten. Wer sich bildet, der denkt und erfährt noch einmal die in der Geschichte niedergelegte Menschheitserfahrung. Wie der Embryo im Zeitraum vom Tag der Empfängnis bis zur Stunde der Geburt die Phasen gewissermaßen symbolisch repetiert, die der menschliche Organismus in hundertausenden von Jahren durchmachen mußte, bis er wurde, was er ist, so geht jeder Menschengeist, während er sich zur Selbständigkeit entfaltet, zur Hälfte unbewußt, durch viele Phasen der Menschheitsempirie. Und das Fazit dieses Abwandelns der Welterfahrung, dieser Bewältigung und Unterwerfung der Vergangenheit: das ist die eigentliche Bildung. Ihre Aufgabe ist es, die Persönlichkeit bei jedem Schritt mit sich selbst bekannt zu machen und dadurch die Leistungsfähigkeit zu steigern; sie macht sehend, weil sie das Individuum zwingt, die innere und die äußere Welt fortwährend miteinander zu vergleichen. Niemals darf Bildung Selbstzweck sein, immer nur Stufe und Mittel zur Selbständigkeit; niemals darf sie des Schmuckes oder des Besitzes wegen gesucht werden, sondern nur als Nahrung. Was der Jüngling sammelt, das sei dem Mann Baumaterial. Das höchste Ziel aller echten Erziehung ist: Ehrfurcht zu wecken, aus dem Menschen ein Organ des Lebens zu machen, alle Schrankenlosigkeit zu zügeln, aber stets auch zur höchsten Leistung anzuspornen. Bildung erwerben heißt, sich selbst sozial empfinden; sie ist das Bewußtsein vom Zusammenhang der Menschen untereinander und mit der ewigen Natur. Wenig kommt ihr auf das Was an, alles auf das Wie. "Die größte Menge von Kenntnissen ist, wenn nicht eigenes Denken sie durchgearbeitet hat, viel weniger wert, als eine weit geringere, die aber vielfältig durchdacht wurde. Denn erst durch das allseitige Kombinieren dessen, was man weiß, durch das Vergleichen jeder Wahrheit mit jeder anderen, eignet man sich sein eigenes eigenes Wissen vollständig an und bekommt es in seine Gewalt." Der Autodidakt kann gebildeter sein als ein paar Doktoren aller Fakultäten, wenn er Herr der Qualität ist, wo jene nichts besitzen als Quantität. Die Deutschen waren ein Volk von Bildungshungrigen. Ihre Weltbürgersehnsucht, ihre philosophischen Anlagen machten sie auf ein Weltwissen begierig, das sie so leicht genial erscheinen ließ wie problematisch. Kein anderes Volk besaß in seiner Dichtkunst als ein dominierendes Werk solch ein hohes Lied der Selbsterziehung, wie "Faust" es ist. Und nirgend sonstwo hätte der Bildungsroman so konsequent zu einer eigenen Kunstgattung gemacht werden können, wie in Deutschland. Der größte Deutsche der neuen Zeit, GOETHE, hat während seines unendlich reichen Lebens nichts getan, als sich selbst immer wieder erzogen, sich selbst gebildet. Er war nicht Dichter oder Gelehrter des Dichtens und Wissens wegen; Poet, Naturforscher, Minister, Berghauptmann, Theaterdirektor, Architekt und Maler war er, weil er sich des Wirklichen von allen Seiten bemächtigen wollte. Und indem er es mit so fromm heiterer Gründlichkeit tat, wie wenige vor ihm, wurde er immer aufs neue produktiv, verwandelte sich ihm die Erfahrung gleich in ein ursprünglich Neues. In Wilhelm Meister hat er sich uns selbst dargestellt und zugleich den Deutschen, wie er sein soll und wie er in den glücklichsten Augenblicken ist. Was dieser WILHELM MEISTER will, denkt und handelt, läuft immer darauf hinaus, durch Erlebnisse Erfahrung zu erkaufen, sei es durch Glück oder Leid, sich selbst zu suchen, während er sich hingegeben mit den Dingen beschäftigt, keinen Umweg zu scheuen, niemals vorurteilsvoll festgelegten Zielen zu folgen, sondern vom Irrtum selbst die Blume der Lebensweisheit zu pflücken, den Fehler zu nützen, daß er zur Wohltat wird und den materiellen Vorteil immer für den idealen fahren zu lassen. Heute will nun dieselbe Nation, deren innerstes Wesen in dieser Gestalt symbolisiert worden ist und trotzdem sie eben jetzt den Namen GOETHEs so laut im Munde führt, von solcher Art Bildung nichts mehr wissen. Nie war der Deutsche vielleicht mehr auf Kenntnisse versessen als heute. Aber es ist keine produktive Bildung, die er meint, sondern eine äußerliche, die sich selber Zweck ist und darum über eine gefährliche Halbheit nur selten hinauskommt. Die Ursachen dieses Zustandes, der zu einer nationalen Gefahr geworden ist, sind in einer ansich edlen Anstrengung zu suchen, schädliche aber unausweichliche Zeitverhältnisse zu überwinden; Verhältnisse, wodurch die natürlichen Bildungsquellen verstopft worden sind, so daß die Lebenden gezwungen sind, sich nach künstlichen Brunnen umzusehen. Mit der Aufhebung vieler sozialer Grenzbestimmungen, mit der Erschütterung der Standeskonventionen und Arbeitstraditionen ist die Möglichkeit fast geschwunden, einen lebendige Bildung innerhalb eines Gesellschafts- oder Berufskreises zu erringen. Es gibt kein Bürgertum mehr in dem Sinne wie früher, kein Handwerk, und kaum noch einen Adel; keine Zunftgedanken, keine innere Standeszusammengehörigkeit, weder unumstrittene ethische Berufsgesetze noch einen wohltätig wirkenden gesellschaftlichen Zwang. In unserer Ära einer allgemeinen "Freiheit", unter der Herrschaft des alleinseligmachenden Kapitals, ist das Lebensfeld ohne Ausnahme allen zum Wettkampf freigegeben worden; die mißgestaltete Idee von der physischen Gleichheit hat die Herrschaft erlangt und die letzten Schranken einer sozialer denkenden Vergangenheit werden mit dem Eifer des schlechten weggeräumt. Aus den dunkelsten Niederungen der jäh vergrößerten, durcheinander flutenden Nation sind in wenigen Jahrzehnten eine riesige Menge heterogener Volkselemente emporgestiegen, die mit unverbrauchter Kraft und rohem Begehren viel Bestimmungsrecht an sich gerissen haben. Die Demokratisierungsidee der Zeit ist bisher nur materialistisch begriffen worden. Wo sich sonst der Familiensinn durch Generationen bei geregelterer Zuchtwahl entwickelte und eine Lebenskultur, eine geistige Atmosphäre schuf, da sehen wir heute aus Zufallsbegegnungen sich geistig, sozial und sogar national Fernstehender die Familie hervorgehen, sehen willensstarke Barbaren aus dem Dunkel des Demos auftauchen, Reichtum und Macht an sich reißen und Sippen gründen, die in den Söhnen und Enkeln dann schon wieder degenerieren. Überall ist ein planloses Kommen und Gehen, ein Drängen und Kämpfen, ein Emporstreben und Herabstürzen; und nirgendwo findet sich im Übergang die Ruhe und Sicherheit, die die Kulturpflanze Bildung zum Gedeihen braucht. In diesem Wirrwarr hat sich die moderne Gesellschaft nach einem Mittel umgesehen, um die Würdigkeit und Fähigkeit des Einzelnen wenigstens äußerlich beurteilen zu können. Da der angeborene und anerzogene Traditionsadel - jener Adel selbst im Handwerk, im Bauern- oder Arbeiterstand - kaum noch zu finden ist, so fordert man, im richtigen Instinkt, daß ein Volk, das nichts mehr auf soziale Gradwerte gibt, aufhört eines zu sein, ein anderes, deutlich nachweisbares Diplom. Und man glaubt es gefunden zu haben mit der Frage nach einer kontrollierbaren Bildung. Die Summe des akademischen Wissens, der durch Schule und Examen bestätigten Kenntnisse ist es nun, was die verloren gegangene Persönlichkeits-, Standes-, Berufs- und Familienbildung ersetzen soll. Allgemeine Bildung heißt nun das Wappen, das Jeder tragen muß, der gewisse Grenzen auf dem Weg nach oben passieren will; sie ist die Standarte, die über den Zinnen des demokratischen Kapitalismus flattert. Die Frage lautet nicht mehr: was bist du innerhalb deines Kreises als produktive Kraft? sondern: kannst du mit äußerer Bildung deiner wenn auch usurpierten gesellschaftlichen Stellung den Schein der Legitimität verleihen? Zur Stärkung dieser Tendenz kommt hinzu, daß sich die Bildungsmöglichkeiten in unserem Jahrhundert außerordentlich vermehrt haben. Die Forschung hat unendlich viele Tatsachen angehäuft, Schulen, Zeitungen und Bücher haben sie in diesem Lesejahrhundert, wo die Lektüre das geistige Handeln ersetzen muß, verbreitet, der Weltverkehr hat das Fernste zum bequemen Besitz jedes Einzelnen und die allgemeine Demokratisierung hat alles Wissen publik gemacht. In demselben Maße wie die Gefühlskraft darniederliegt, bemächtigt sich der Intellekt mit regem Eifer all dessen, was der mit Hilfe einer allzu konsequenten Spezialisierung zusammenscharrende Weltfleiß an Wissensdaten aufhäuft. Man glaubt schon zu besiten, was man nur weiß und verwechselt dieses Sammeln von Kenntnissen mit ihrem Erleben. Betrachtet man, was heute von Lehrern und Schülern, Gelehrten und Kaufleuten, Künstlern und Politikern, Armen und Reichen, Müßigen und Fleißigen gewußt werden muß, um die Existenz zu sichern, die Karriere zu fördern und was unverändert weiterzugeben Tausenden der Lebensberuf ist, so kommt man zu dem erschreckenden Schluß, daß drei Viertel davon als Halbbildung bezeichnet werden müssen. Als Halbbildung, trotz einer oft erstaunlichen Gehirnleistung. Denn Halbbildung ist schließlich alles Wissen, das nicht schöpferisch zu neuen Taten, zu edlerer Kultur benutzt werden kann und seiner selbst wegen gepflegt wird. Und schon spüren wir auch die schrecklichen Folgen. Wie viele unserer "Gebildeten" - ein Wort, das seinem heutigen Sinn nach nur in dieser Zeit einen Kurswert erhalten konnte - haben sich denn noch Ursprünglichkeit bewahren können! Sind doch gerade unsere Vielwisser in der Regel mehr Larven als lebendige Seelen, Menschen ohne Phantasie und Anschauungslust, ohne wahre Ehrfurcht und vor allem ohne Liebe. Der wirklich Gebildete, die charaktervolle Persönlichkeit lebt boykottiert und verfemt abseits von der Majorität der gut Gedrillten; er steht zu ihr in demselben problematischen Verhältnis, in dem der rechte Künstler zur akademischen Berufskunst steht. Aus einem Instinkt der Selbsterhaltung, um den barbarischen Materialismus dieser Zeit zu kaschieren, wird diese ungeheure Bildungslüge wie nach allgemeiner Übereinkunft aufrechterhalten. Anders wenigstens ist es nicht zu erklären, daß ein mündiges Volk, das eine ruhmvolle Geschichte hinter sich und unendliche Möglichkeiten vor sich hat, die Herrschaft des toten Wissens duldet und das lebendige Volksgenie vom Schulbegriff ersticken läßt, daß es nicht mehr den Ehrgeiz hat, "aus der Kenntnis der Sachen das Wort für die Sachen zu finden, sondern den Irrtum begeht, durch die Kenntnis des Wortes das Verständnis der Sachen einzubüßen". Wo man glaubt, schlechterdings alles lehren zu können, muß der Schule ein unnatürlich großer Einfluß eingeräumt werden, muß der Lehrer als einer der wichtigsten Staatsbürger erscheinen. Darum wird auch heute dem Schulmeister ein Respekt entgegengebracht, der sich seltsam genug mit der leisen Geringschätzung verträgt, der der Berufspädagoge nie ganz ausweichen konnte und die ihn dem Volk von jeher ein wenig zur komischen Figur gemacht hat. Instinkt, der dieser letzten Empfindung zugrunde liegt, ist natürlicher als jenes Respektsgefühl. Denn die Überschätzung des Lehrers und seiner Tätigkeit ist auch schon ein Bildungsprodukt. Der deutsche Schulmeister, von dem noch immer gerühmt wird, er hätte die letzten großen Kriege gewonnen, ist heute durchaus als eine Gefahr für den lebendigen Kulturgedanken zu betrachten; und umso mehr, je heftiger er sich seinen pädagogischen Leidenschaften hingibt. Den Begriff "Schulmeister" im weitesten Sinn genommen. Denn er ist heute nicht nur in der Schule zu finden, sondern ist über das ganze Land verbreitet, über alle Berufe und Gesellschaftskreise. Jeder Deutsche hat in dieser bildungswütigen Zeit fast etwas von veinem Schulmeister an sich. Das ist eine Reaktionserscheinung jener Weltbürgersehnsucht, jenes Philosophentriebes: in einer Zeit, wo der aufs Ganze gerichtete Drang sich nicht produktiv genug tun kann, will er wenigstens wissen, was er nicht leben kann, sein Universaltrieb verwandelt sich in ein kosmopolitisch gerichtetes Begriffsleben, in eine moralisch pädagogische Leidenschaft. Die Lust am Gesetzmäßigen und Synthetischen schrumpft zur Freude am Systematischen, die Ehrfurcht vor der Notwendigkeit wandelt sich zum Interesse am Regelrechten. Nichts tut der pädagogisch eifernde Geist nun lieber, als sich in fremden Vollkommenheiten zu spiegeln, allgemeingültige Prinzipien aufzustellen, zu organisieren und zu disziplinieren; und er glaubt selbst ein Muster zu sein, wenn er theoretisch Muster aufstellt. Eben jetzt triumphiert der Schulmeister über das ganze deutsche Volk. Er weiß alles und ist durch keinen Einwand in Verlegenheit zu setzen, denn er hat durchaus studiert mit heißem Bemühen. Er kommt dem faustischen Peer Gynt sogar bei den Pyramiden als Dr. Begriffenfeldt entgegen; er ist überall da, wo man ihn nicht braucht, mit seiner Logik, mit seinen Definitionen, Methoden und "einschlägigen Kenntnissen". Wie erscheint er in aller Glorie erst auf seinem eigensten Gebiet, in der Schule, als ein Selbstherrscher über die Jugend! Und führt doch eigentlich ein mitleiderweckendes, erbärmliches Leben. Jahr für Jahr dasselbe Pensum, Schritt für Schritt denselben Weg immer noch einmal. Er setzt bestenfalls sein eigenes Leben dafür ein, damit andere es zu etwas bringen; das heißt: er verzichtet für sich selbst darauf, ein Handelnder und sich lebendig hinauf Entwickelnder zu sein. Nur für die anderen ist er da; aber weit entfernt, damit dem Idealen ein Opfer zu bringen, verdient er sich eben dadurch den leisen Spott aller Tätigen. Denn gerade sein Mangel an Aktivität macht ihn auch als Erzieher ungeeignet. Wahrhaft belebend und belehrend wirkt nicht das Wort des Resignierten, des im Willen Kastrierten, sondern das Beispiel des sich selbst kräftig Entwickelnden. Lehren und Erziehen: das ist eine herrliche Aufgabe. Der Trieb sich mitzuteilen, vom Wissen, von der Erfahrung der Jugend abzugeben, ist dem Menschen angeboren. Aber es ist so grausam wie dumm, die Arbeitsteilung zu weit zu treiben und zu fordern, der Lehrende solle sich selbst vollständig aufgeben und nur für andere da sein. Wer von früh bis spät nichts tut als unterrichten, muß notwendig geistig und seelisch verkrüppeln. Man sorgt nie besser für das Allgemeine, als wenn man für das eigene wohlverstandene Interesse sorgt. Eine fruchtbare Lehre findet der Schüler nur, wenn er der Lehrling eines Mannes ist, der nach irgendeiner Richtung produktiv wirkt und nebenbei von seinen Kenntnisse abgibt. Jeder Schüler sollte im wesentlichen ein Lehrling, jeder Lehrer, bis zu einem gewissen Grad wenigstens, ein Handelnder und lebendig Mitwirkender sein. Berufsschulen wären darum unendlich wertvoller als unsere Gymnasien und Realschulen mit ihrer abstrakten, automatischen Allerweltsbildung. Gelehrtenschulen, Soldatenschulen (die wir bereits haben, da der Soldatenstand noch der einzige ist, der sich in seiner wohltätigen Umgrenztheit dem Bildungsidealismus hat entziehen können), Handwerkerschulen, Kaufmannsschulen, Industrieschulen, Landwirtschaftsschulen, Kunstschulen usw., die vom zehnten oder zwölften Jahr an die Erziehung eines Knaben übernehmen und in der Berufsbildung eine allgemeine Bildung geben: sie nur könnten die verderblichen Fehler unserer Drillanstalten vermeiden und die gefährliche Macht des Schulmeisters brechen, der achtungswert ist durch seinen Fleiß, Pflichteifer und seine Bedürfnislosigkeit, schädlich aber durch sein trockenes Philistertum und durch die Verhinderung seines ganzen Wesens. Der Staatsbürger ist heute gehalten, seine Kinder dem dürren, selbstherrlichen Bürokratismus des Schulmeisters und dessen Systemen auszuliefern; ingrimmig muß er tatenlos zusehen, wie die lieben jungen Seelen verbogen und verbildet werden. Er muß es dulden, daß die zarten Geister in die Maschinerie hineingezogen werden, die wir Schule nennen, worin alles unendlich kunstvoll gefügt ist, die von Jahr zu Jahr schneller und komplizierter läuft, aber eigentlich nur um ihrer selbst willen da ist und kaum eine Mühle der lebendigen Kultur zu treiben vermag. Zu wandelnden Enzyklopädien macht die Schule ihre Zöglinge ohne Unterschied. Knaben, die einst Techniker werden wollen, müssen sich vorbereiten, als sollten sie Philologie studiren, künftige Naturforscher werden mit Religion, angehende Künstler mit Mathematik und junge Kaufleute mit Griechisch und Latein gefüttert. Das gleiche Wissensmaß ist Vorschrift für alle. Das Examen ist der Endzweck aller Anstrengung, darüber hinaus wagt man kaum zu blicken. Der Unterricht basiert im wesentlichen auf einem "Auswendiglernen"; ein prächtiges Wort, das seine Kritik in sich selbst trägt. Vokabeln, Geschichtszahlen, die Größe der Länder nach Quadratkilometern, chemische Zeichenverbindungen, algebraische Formeln, Regeln der Grammatik: so geht es fort durch alle Fächer, bis der Zögling das Examen bestanden hat, das er als Sprungbrett zu einer bürgerlichen Karriere braucht. Dann geht er davon und vergißt so schnell wie möglich die Hälfte seiner Kenntnisse, die er nun nicht mehr braucht. Die Eltern, denen an einer "sicheren Versorgung" ihrer Kinder liegt - o, diese feigherzige "sichere Versorgung", die die ganze Nation bürokratisiert und zu einer Schar blaßer Lebensfürchter macht! - werden ganz von selbst in den Dienst des Schulsystems gezwungen. Der krankhafte Schulehrgeiz wird ins Haus verpflanzt. Es herrscht eine Nervosität, die den Frieden des Heims fortwährend gefährdet; Eltern und Lehrer reizen sich gegenseitig zu immer größerer Härte. Aus jeder kleinen Verfehlung wird ein Drama gemacht, aus der Unfähigkeit ein verzweifeltes Unglück und das Kind wird systematisch um das Recht seiner Jugend betrogen. Alles im Namen der Zukunft und der Bildung. Eltern und Lehrer wollen natürlich nur das Beste; aber welch lächerliche Pedanterie, welche stumpfsinnige Grausamkeit erfährt das Kind nicht vom ersten Schultag an! Trotz ihrer profunden humanistischen Bildung stehen Oberlehrer als Psychologen sehr oft auf dem Niveau von Unteroffizieren, bei denen sich Spuren von Cäsarenwahn zeigen. Oft kommen die Kinder mit Ideen, Vorschriften, Strafen und Zensuren nach Hause, daß ein verständiger Vater nicht weiß, ob er lachen oder fluchen soll und dem Kind mühsam verbergen muß, welche Verachtung ihm, dem Tätigen, dieser muffige Schulirrsinn einflößt. Der subaltern denkende, autoritätsgläubige Vater aber sinkt andachtsvoll vor Schulmeisters Lebensmoral nieder. Er schimpft seinen Sprößling, wenn der Lehrer schon getadelt hat, und prügelt ihn, wenn die Schule schon gestraft hat. Wie? dieser Junge, der soviel Geld kostet, der das Abitur machen und, ungefragt, Marineoffizier oder sonst etwas sozial Angesehenes werden soll, um einen Schimmer auch auf das kleinbürgerliche Dasein des Herrn Rechnungsrat MICHEL zu werfen, will die Fürsorge nicht einsehen! Den Stock her! Erkenntnis, verstehende Liebe, Psychologie, wahrhaft fördernde Strenge: wo gäbe es dergleichen noch in der Familie oder in der Schule! Eltern und Lehrer: die einen sind in der Regel ebenso große Esel wie die andern. Bleiben es trotz all ihrer Modernität, trotz ihrer gemeinsamen "Unterrichtsreformen". Es klingt ja sehr gut: "Zusammenarbeit von Schule und Haus", "Erziehung durch die Kunst", oder gar "Individuelle Behandlung". Die "Zusammenarbeit besteht darin, daß die Schule für das Geld, das sie empfängt, ihre Arbeit nur halb leistet und teure Nachhilfestunden fordert, um ihr Programm - man höre: Programm! - durchführen zu können. "Erziehung zur Kunst", oder "durch die Kunst" sollte besser Erziehung zum Dilettantismus auch in der Kunst heißen, zur künstlerischen Halbheit, zur Ehrfurchtslosigkeit, zu noch mehr Bildung. Und was die "individuelle Behandlung" betrifft, so wäre ein Lehrer, dem sie bei fünfzig Schülern in einer Klasse gelingt, als Psychologe mehr als ein IBSEN oder DOSTOJEWSKI. Der Schulmeister ist der Allerletzte, der psychologisch individuell urteilen könnte. Dazu fehlte es seinem Stubenwissen allein schon an lebendiger Erfahrung. "Im allgemeinen sind alle Lehrerurteile über ein Individuum falsch und voreilig." Sind es von jeher gewesen. Zudem ist aber diese ganze liberale Rederei von der individuellen Behandlung, während die verschieden Begabtenn doch nach wie vor dasselbe Pensum absolvieren müssen, Unsinn. In der Schule kann und soll nur die Regel herrschen, der sich jeder Schüler zu fügen hat. Es kommt nur darauf an, wie diese Regel beschaffen ist, so daß jedes Kind gewinnt, indem es sich ihrem Zwang fügen lernt. Wo ist ein großer und schöpferischer Mensch in dieser Zeit, der seiner Schulzeit nicht fluchen würde? Rechten Vorteil vom Schuldrill haben nur die kalten Naturen, die ihre Lehre mit den dargebotenen Kenntnissen anfüllen. Auf sie, die Mittelmäßigen, ist das System eigentlich zugeschnitten, "also auf die, deren Früchte nicht sehr in Betracht kommen, wenn sie reif werden", wie NIETZSCHE sagt. "Ihnen werden die höheren Geister und Gemüter zum Opfer gebracht, auf deren Reifwerden und Früchtetragen eigentlich alles ankommt. Auch darin zeigen wir uns als einer Zeit angehörig, deren Kultur an den Mitteln der Kultur zugrunde geht." Der Jüngling entdeckt heute so spät erst seinen wahren Beruf, er verfällt so oft dem folgenschweren Irrtum einer falschen Berufswahl, weil seine natürlichen Neigungen und Interessen von der Wucht der allgemeinen Bildung bis zum zwanzigsten, ja dreißigsten Jahr oft niedergedrückt werden. Ganze Scharen junger Männer verbluten an den grausamen Bildungsidealen der Zeit. Sicher gibt es schöne, unvergeßliche Stunden auch in der Schule. Es kommt sogar vor, daß sich der Genius der Begeisterung sogar in die öden Klassenräume verirrt, daß dem Lehrer warm ums Herz wird, wenn er die hundert fragenden, zukunftsahnenden Augen auf sich gerichtet sieht, und daß er Worte des Lebens findet. Aber diese Augenblicke müssen naturgemäß selten sein; sie lassen umso härter nur die Marter des Systems empfinden. Was die Schule beginnt, setzt das Leben konsequent fort. Mit dem Drang nach lebendiger Schönheit, mit schöpferischen Trieben betritt der Jüngling die ihm heiligen Hallen der Kunstschule; und verbildet, ohne wahre Ehrfurcht und im Besitz handwerksmäßiger Äußerlichkeiten verläßt er sie, wenn ein guter Instinkt ihn nicht vorher fliehen heißt. Als Ziel aller Mühe wird ihm ein Bildungsideal gezeigt. Was dem Gymnasiasten das Griechische und Lateinische, das ist dem Kunstjünger die antike Kunst. Was erst den Mann, der das Leben der Erscheinungen durchaus kennt, beschäftigen sollte, um es dann gleich in neue Anschauungen zu verwandeln: das tief verborgene mystische Leben in hellenischer Kunst, das wird in der Akademie als Übungsaufgabe dargeboten. Wie die Schule sich erdreistet, Charaktere bilden zu wollen, was nur das Leben kann, so erkühnt sich die Akademie, zu dekretieren, wie der Kunstlehrling das Schöne zu empfinden und zu begreifen habe. Auch sie überschreitet ihre Kompetenz; und indem sie das tut, bricht sie die Phantasie, Selbständigkeit und Energie des Strebenden. Sie gibt ein System anstatt lebendiger Handwerkserfahrung und Dogmen statt der Mittel zur Freiheit. Als Ideal wird das jungfernhafte, theatralische Griechentum des Gymnasiums gezeigt. Die Renaissancemenschen wußten aus den Lehren der Antike etwas Kolossales zu machen, und selbst unsere Großeltern noch konnten sich aus griechischen Überlieferungen ein Kunstgewand zu lebendigem Bedarf zurechtschneiden; das Geschlecht unserer Tage aber hat sich mit seiner langweiligen Griechomanie geradezu geistig kastriert. Und mit der Antike hat es noch nicht einmal sein Bewenden. Wir sind so gebildet, daß wir schlechterdings alle historischen Stile kennen und so ideal, daß wir nichts Höheres wissen, als sie alle zu imitieren. Wohin diese armselige Bildungsprotzerei in der Kunst, dieses Prunken mit äußerlichen Kenntnissen führt, zeigt ein Gang durch die Straßen einer Großstadt. Ein Steinbaukasten, der die Formen aller historischen Stile enthält: das ist unsere Baukunst. Sie hat das musikalische Kunstgefühl verlernt, weil ihr das Wissen immer ins Empfinden hineinkommt. Darum gelingt den akademisch gebildeten Architekten unserer Zeit kein wirklich schönes Gebäude, wo doch Maurer- und Zimmermeister um 1820 noch wahrhaft künstlerisch, in schönen, reinen Verhältnissen zu bauen verstanden. Wie die Schule für die Mittelmäßigen, so ist die Akademie für die fleißigen Berufsdilettanten da. Nichts haßt und fürchtet der Kunstschulmeister mehr als das ursprüngliche Genie. Auf eine Bürokratisierung der Kunst zielt das akademische System ab, dessen kräftigste Stützen der Professor, der Kunstgeheimrat, der Baubeamte und Kunstgelehrte sind und dessen Produkt der Brotkünstler ist, der sich willig dem Kommando der Gesellschaft unterwirft. Lehrer und Schüler treiben mit heiterster Unbefangenheit eine schändliche Hurerei mit der Allerweltsdirne, die sich frech als Göttin der Schönheit vorstellt, ohne daß man sie gleich immer entlarven könnte. Der Erfolg von Künstlern dieser Art gründet sich zum großen Teil auf den Stolz, den der Betrachter empfindet, wenn er sich schauernd seiner Kenntnisse, seiner Bildung bewußt wird. Der Historien- und Allegorienmaler setzt beim Publikum bestimmte historische Kenntnisse voraus, der Architekt wendet sich an das Stilwissen des Betrachters, und der Bildhauer verläßt sich auf die Schulerinnerungen seines Publikums, wenn er seinen gräzisierten [vergriechten - wp] Fadaisen [Albernheiten - wp] eine allegorische Bedeutung verleiht. Auch in den Wissenschaften, die nicht unmittelbar für wirtschaftliche Interessen tätig sind, sieht es nicht viel besser aus. Es ist eine seltsame Zeit! So stark, phrasenlos und unternehmend in allem Materiellen; und zugleich so bereit, sich im nicht unmittelbar Nützlichen, in den unwägbaren Dingen des Lebens mit Redensarten abspeisen zu lassen! Die Ursache ist, daß die Deutschen der letzten Jahrzehnte zu glücklich in ihren wirtschaftlichen Unternehmungen gewesen sind. Was das neue Reich jetzt eigentlich politisch regiert und wirtschaftlich organisiert, ist nicht die höhere Staatsidee, sondern die materielle Arbeitstüchtigkeit des Volkes. Es können im Ideellen die gefährlichsten Fehler begangen werden: die für sich selbst sprechenden Erfolge in allem, was wägbar, meßbar, kontrollierbar und unmittelbar zweckvoll ist, haben jeden Irrtum bisher wieder wettgemacht. Das wird aber nicht mehr lange geschehen; die Zeit ist nicht fern, wo die steile Aufwärtsbewegung nachlassen, die "Kurve des Erfolges" wieder sinken und die Untüchtigkeit in allem Ideellen sich dann rächen wird. Auch in den Wissenschaften, die nicht, wie die Chemie, die Elektrotechnik oder die Ingenieurwissenschaften, dem Wirtschaftlichen dienen und in dessen Organisationen hineingezogen worden sind, wird es sich dann zeigen, wieviele schädliche Ursachen, deren Wirkungen noch ausstehen, aus falschem Bildungsidealismus in dieser Zeit aufgehäuft worden sind. Welche Opfer fordert doch das Bewußtsein des Wissens im ärztlichen Beruf! So selten wie der selbständige talentvolle Künstler ist heute der Arzt aus innerem Beruf, der zum Studium der Medizin aus der schönen Leidenschaft zu heilen gelangt und der seine Praxis weder kaufmännisch noch mit albernen Mandarinengebärden übt. Gar zu gering wird in dieser Zeit, die den "Gebildeten" gehört, das geachtet, was erst den großen Arzt macht: das Genie, als Diagnostiker kausale Zusammenhänge richtig zu erkennen oder doch zu ahnen, und die Fähigkeit, aus Erfahrungen erst das Entscheidende zu lernen. Den meisten Ärzten genügt es, auf Stempelpapier den Nachweis vorzeigen zu können, daß ihre Kenntnisse zum Medizinieren ausreichen. Das gut bestandene Examen scheint ihnen Beweis genug. Bleiben sie dann gar mit Hilfe der Literatur auf der "Höhe der Wissenschaft", so wüßten sie nicht, was ihnen noch zu tun übrig bleiben könnte. Sie sind als Rezepteschreiber, Operateure und Diagnostiker immer Herren der letzten Erfahrungen und werden vom Publikum ihrer Titel und Würden, ihrer Bildungsmacht wegen nach Gebühr bestaunt. Auch der moderne Jurist ist als Staatsanwalt, Rechtsanwalt und oft leider auch schon als Richter nur wenig mehr als ein kalter Paragrapenjongleur, der im Stolz auf seine Kenntnis aller einschlägigen Gesetze gar zu leicht vergißt, daß angstvolle Menschenschicksale seinem Bildungsidealismus schutzlos ausgeliefert sind. Nirgendwo tötet die akademische Korrektheit alles liebende Verstehen des Allzumenschlichen und die Gedanken einer gesunden Strenge, die freie Erkenntnis der Zeitenergien und der lebendig schaffenden Bedürfnisse so sehr wie in der Juristerei. Gerade heute, wo das Recht in gewandelter Zeit einer gründlichen Erneuerung harrt und sich mit vielen erstarrten Formen behelfen muß, wo es also mehr denn je lebendig empfindender, klar sehender Männer bedürfte, wird das leere Wissen besonders schädlich empfunden. Über die sich drängenden Probleme setzt sich der Bildungsjurist aber mit dem Springstock des Wortes hinweg. Er wird Artist des Wortes, ein Dialektiker, ein Rabulist, ein Virtuose darin, eine Sache immer von verschiedenen Seiten zu betrachten, je nach dem Standpunkt, auf den ihn die Karriere gestellt hat; und in der Freude an seiner Geschicklickeit geht das höhere, das dienende Interesse unter. Man bräuchte nur eine lange Reihe von rechtskräftig gewordenen Urteilen, die wie Witze anmuten, zu zitieren, um zu beweisen, wie sehr die Freude am juristischen Doktrinarismus das Leben heute mißversteht, wie sehr in weltfremder Begriffseitelkeit der Sinn für rechte Objektivität, die Fähigkeit psychologischen Erkennens und somit natürlich auch die wahre Gerechtigkeit verloren geht. Denn überall ist es ja das Charakteristikum des Bildungsidealismus, daß er das Individuum zurückhält, bis zur Tiefe der Berufsgedanken vorzudringen. So kommt auch der Philosoph, der es als Professionist und Universitätsprofessor ist, fast nie zur Philosophie durch die Übermacht jenes tiefen religiösen Erstaunens vor den Wundern der Natur, vor dem bloßen Dasein von Welt und Leben, das jedem Menschen bis zu gewissen Graden eingeboren ist, sondern durch das Studium der alten Philosophen. Alles schon Gedachte zu kennen, aus vorhandenen Lehrsätzen zu kompilieren, eklektizistisch daraus ein scheinbar Neues zusammenzubauen und ein Ragout aus allen Garküchen der Philosophie für höhere und neue Wahrheiten zu halten: das ist der Ehrgeiz des philosophischen Bildungsidealisten. Ihm ist das Philosophieren nicht eine bestimmte Form des Willens, sondern ein Wissen um das, was wahrhaft große Geister gedacht haben. Niemals wird es dem Theologen, der ein wahrer Gottesmann ist, einfallen, mit seinem Wissen zu prunken und Kenntnisse für etwas anderes als Mittel zum Zweck zu halten. Alle äußere Bildung wird ihm klein erscheinen im Verhältnis zur Idee, die er vertritt. Wo aber gibt es diesen Gottesmann noch in unserer protestantischen Kirche als in den vergessenen Winkeln des Landes? Wie macht sich der Bildungsidealismus doch gerade auf der Kanzel breit, und umso mehr, je aufgeklärter der Pfarrer ist. Der Kanzelredner hat den Ehrgeiz des Virtuosen und des Gesellschaftsmenschen. Fürs gemeine Volk ist der Talentlose gut. Der literarisch gewandte Schönredner, der geistreiche Kauseur, der Charakterspieler allein erklettert die Kanzeln der Hofkirchen. Da kann er die Raketen seiner Bildung steigen lassen, vergessend, daß er im Hause Gottes aus Eitelkeit die ärgste aller Sünden, die wider den Heiligen Geist, begeht. Wie der Theologe seinen Witz an Textvergleichungen und gelehrten Deutungen verschwendet, so ergötzt sich der Philologe, indem er dicke Bücher über den Sinn gleichgültiger Urkunden schreibt, oder indem er in jahrelanger Mühe ein paar Daten richtigstellt, die für das lebendige Begreifen der Geschichte unwesentlich sind. Auch sein Fleiß ist Diebstahl am Leben, weil die geleistete Arbeit als vergeudet gelten muß. Dennoch dünkt sich dieser moderne Alexandriner besser als Tausende von ehrlich sachlichen Arbeitern, die mit geringerem Wissen dem Ganzen zu dienen bestrebt sind. Immerhin sitzt er unbeachtet am Schreibtisch. Sein Studiengenosse aber, der Lehrer, tritt anmaßend in das Leben als ein Bildner der Jugend, seinen toten Bildungsdünkel weitergebend und ihn über das ganze Land verbreitend, wie eine ansteckende Krankheit. LITERATUR: Karl Scheffler, Idealisten, Berlin 1909 |