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WILHELM LUTHER
Der Beitrag der Sprachphilosophie
zur geistigen Grundlagenbildung

"Wenn wir aus den bisherigen Ergebnissen der heutigen sprachphilosophischen Forschung die notwendigen und möglichen pädagogischen Folgerungen ziehen, drängt sich vor allem die Forderung auf, den gesamten Unterricht an unseren höheren Schulen und Hochschulen..."

Alle Formen der Bildung und Ausbildung setzen Sprache voraus und vollziehen sich durch das Medium einer geschichtlich entstandenen und gewachsenen Muttersprache. Geistige Bildung ist immer zugleich sprachliche Bildung, und zwar nicht nur deshalb, weil auch sprachliche Bestandteile im Bildungsvorgang mitgegeben sind, sondern weil alle Bildungsinhalte, die von Familie, Schule, Universität, Berufsausbildung oder sonstwoher der heranwachsenden Jugend vermittelt werden, weitgehend sprachgebunden sind. Die enge Zusammengehörigkeit von Sprache und Bildung läßt sich vom Neuhumanismus an bis in die Gegenwart auch an fast allen Definitionen des Begriffes Bildung erkennen.

Ob man die geistige Aneignung des Kulturerbes auf den Gebieten der Historie, Philosophie, Philologie, Dichtung und der Künste in den Vordergrund stellt oder, wie heute, die Natur- und Sozialwissenschaften, in keinem Falle geht es ohne Sprache. Sprachbeherrschung als Fähigkeit zum Zuhören und Aufnehmen des zugesprochenen oder zugeschriebenen Wortes, als Begabung zum Gespräch, zur Verständigung mit anderen in Frage und Antwort, Rede und Gegenrede, auch zum Zwiegespräch mit sich selbst, das bezweckt, sich über eigene und andere Probleme klar zu werden, all dies gehört zu der Grundstruktur der Bildung sowohl im Sinne sogenannter zweckfreier Menschenbildung als auch der pragmatischen Bildung oder Berufsausbildung, die sich gegenseitig fordern und durchdringen sollten.

Die heutige Gymnasialpädagogik ist sich darin ziemlich einig, daß eine ihrer Hauptaufgaben in der Erziehung zu verantwortlichen Gebrauch der Muttersprache besteht. Es geht dabei nicht nur um stete Unterweisung in sachgemäßem, grammatisch richtigem Sprechen und Reden, sondern auch um eine gewisse Immunisierung der Jugend gegen die vielfältigen Möglichkeiten des Sprachmißbrauchs. Dieser besteht vor allem in den Formen des leeren, phrasenhaften Geredes und der uferlosen Geschwätzigkeit, in unsachlicher Übertreibung und Großsprecherei, in Schlag- und Modewörtern, dem Slogan, sowie im nachlässigen Absinken in die Niederungen des Jargon. Zu seinen Erscheinungsweisen gehören auch das unnatürliche, manierierte Sprechen und der standardisierte Stil gewisser Zeitschriften und Illustrierten.

Die Universalität der Sprache bekundet sich auch in der Möglichkeit, sie als Instrument zur Erreichung aller möglichen Ziele und Zwecke einzusetzen. Da sie der Mensch seinem Willen zur Macht unterwerfen und als Mittel zur Beeinflussung, Meinungssteuerung, Menschenführung, ja zur Gängelung und Beherrschung in Wirtschaft und Politik gebrauchen und zugleich mißbrauchen kann, könnte der Problemkreis Sprache in Werbung und Propaganda auch für die politische Erziehung wichtig sein. Was hier pädagogisch nottut, ist weniger eine moralisierende Kulturkritik als eine Erziehung zu nüchterner und sachlicher Beurteilung eines Instrumentes, das zum Guten wie zum Bösen benutzt werden kann. Unsere Gymnasiasten und Studenten bedürfen der Aufklärung, weshalb Werbung und Propaganda in Wort, Schrift und Bild, in persönlicher Anrede wie auch mittels der Massenmedien erforderlich sind.

Sie müssen aber auch auf die Gefahren hingewiesen werden, die drohen, wenn man die Sprache als Signalsystem benutzt und nach dem behavioristischen Verhaltensschema  Reiz-Reaktion  mißbraucht. Da, wo Werbefachleute und Propagandisten die Menschen nicht als mündige Personen mit dem Ziel, sie zu überzeugen, ansprechen, sondern alle möglichen Methoden der Suggestion, Motivstimulation und Faszination anwenden, um ihren Kaufentschluß oder Beitritt zu einer Partei, weltanschaulichen Gruppe usw. auszulösen oder ihre Stimme bei einer Wahl zu gewinnen oder das Image eines Politikers bei den Wählern aufzubauen, greifen sie bedenkenlos in ihre Personalsphäre ein. Der Mitmensch wird als bloßes Mittel zum Zweck gewertet und mißbraucht. Seine persönliche Freiheit wird angetastet.

Hier gibt es nur ein Gegenmittel: rechtzeitige Aufklärung, Unterweisung in kritischer Sprachanalyse und Erziehung zur Wachsamkeit. Nur so kann man die Jugend vor unredlichen Versuchen der Überredung, Manipulation und Verführung bis zu einem gewissen Grade schützen. Da solche Methoden des Sprachmißbrauchs nicht nur in Diktaturen und autoritären Systemen, sondern auch in den westlichen Demokratien zu beobachten sind, sollte ihre kritische Durchleuchtung eines der Hauptthemen im sprachlichen und politischen Unterricht sein. Es handelt sich hier um Fragen der Sprachpsychologie und Sprachsoziologie.

In diesem Zusammenhang wären noch folgende Themenkreise zu behandeln: das Verhältnis zwischen Sprache und Gesellschaft, Sprache und Individuum, Sprache und Volk, Sprache und Sprachgemeinschaft, zwischen Alltagssprache und Hochsprache, Gemeinsprache und regionaler Mundart usw. Nicht alle können schon im Gymnasium besprochen werden. Einige gehören in den Aufgabenbereich der Universität, vor allem in den Rahmen eines richtig verstandenen und entsprechend durchzuführenden Studium Generale Petraeus.


Der Problemkomplex Sprache und vorgegebenes Weltverständnis

Für eine systematische Behandlung bietet sich der umfangreiche Problemkomplex  Sprache und vorgegebenes Weltverständnis  an. In diesem Rahmen kann man auch den möglichen Beitrag der Sprachphilosophie zur geistigen Grundlagenbildung deutlich machen. Dabei wird man von WILHELM von HUMBOLDTs Entdeckung auszugehen haben, nach der in jeder Nationalsprache eine jeweils besondere und von anderen abweichende  Weltansicht  vorgegeben ist. Sie beeinflußt das Wahrnehmen, Denken, Erkennen, Fühlen, Wollen und Handeln jedes einzelnen Sprachteilhabers maßgeblich, jedoch ohne ihn völlig zu determinieren.

Der HUMBOLDTsche Gedanke ist zunächst im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert ziemlich unbeachtet geblieben, dann aber nach dem Ersten Weltkrieg in der deutschen Allgemeinen Sprachwissenschaft aufgegriffen und weiter ausgebaut worden. Während ihn die angelsächsische und marxistische Sprachwissenschaft in der von LEO WEISGERBER vorgelegten Form als Sprachidealismus, Geistmetaphysik oder Neoromantik zunächst überwiegend abgelehnt hat, ist es dem amerikanischen Ingenieur, Kulturanthropologen und Linguisten BENJAMIN LEE WHORF (1897 - 1941) gelungen, ihm durch sein beim Studium der Hopi-Sprache entwickeltes  linguistisches Relativitätsprinzip  hohe Aktualität zu verschaffen.

Im Anschluß an sein postum erschienenes Buch  Language, Thought and Reality  (New York 1956), das seit 1963 auch in deutscher Übersetzung vorliegt, ist es zu einer lebhaften Diskussion über dieses Thema gekommen, an der sich neben Sprachwissenschaftlern auch Philosophen, Ethnologen, Psychologen, ja selbst Naturwissenschaftler und Mediziner beteiligen. Nach WHORF hat kein Mensch die Freiheit, die Natur völlig unvoreingenommen wahrzunehmen, zu erkennen und zu beschreiben. Vielmehr ist er ganz von der in seiner Muttersprache vorgegebenen Interpretationsweise abhängig. Obwohl WHORFs Darstellung sehr geeignet ist, junge Menschen für diesen Gedanken zu begeistern, empfiehlt sich das von ihm aus der Hopisprache angebotene Material weniger, weil wir es nicht wissenschaftlich exakt beurteilen können. Außerdem sind seine Einsichten in die Struktur dieser Sprache, vor allem seine interessanten Behauptungen über die Zeit- und Raumauffassung der Hopis in der amerikanischen Fachwelt nicht unbestritten geblieben, wie die Akten des im März 1953 von Wissenschaftlern vieler Sparten besuchten Chicagoer Kongresses  Language in Culture  erkennen lassen. Zuverlässiger und pädagogisch sinnvoller sind für uns die Ergebnisse vergleichender Betrachtung von Wortfeldern aus den alten und neueren europäischen Sprachen. Schon die Unterklassen des Gymnasiums sind in der Lage zu verstehen, daß derselbe Wirklichkeitsbereich in verschiedenen Sprachen verschieden klassifiziert, gegliedert und geordnet wird.

Wenn wir aus den bisherigen Ergebnissen der heutigen sprachphilosophischen Forschung die notwendigen und möglichen pädagogischen Folgerungen ziehen, drängt sich vor allem die Forderung auf, den gesamten Sprachunterricht an unseren höheren Schulen und Hochschulen im HUMBOLDTschen Sinne vergleichender Sprachbetrachtung zu vertiefen. Da die Sprache eine umfassende Lebensform darstellt, in der bestimmte Möglichkeiten der Welterfahrung und Selbstverwirklichung vorgezeichnet sind, erweist sich das Erlernen fremder Sprachen als sehr wesentlich für eine Bereicherung der Welterfahrung und für die Erschließung neuer Möglichkeiten, sich zu einem vollen und ganzen Menschen zu entfalten.

Dieser Unterricht kann sich aber nicht auf das Ziel eines grammatisch korrekten, sach- und situationsgemäßen Sprechenkönnens beschränken, sondern muß auch anstreben, etwas von dem in jeder Sprache vorgegebenen Weltverständnis bzw. von der Vielheit der in ihr bewahrten Perspektiven der Sprachgemeinschaft bewußt zu machen. Der muttersprachliche Unterricht hat es in dieser Hinsicht mit seiner fachimmanenten Methode schwerer als der fremdsprachliche, der sich sprachvergleichender Verfahrensweisen bedienen kann. Als wichtige neue Aufgabe müssen die Lehrer der alten und neueren Sprachen versuchen, die Gymnasiasten während ihrer neunjährigen Schulzeit an didaktisch geeigneten Stellen des Sprachunterrichts auch in die Besonderheiten unseres muttersprachlichen Verständnishorizontes einzuführen, aber nicht mit der verhängnisvollen nationalen Tendenz der RICHERTschen Reform von 1925. Sie setzte als Ziel, zu einem vertieften Verständnis der deutschen Volkseigenart und zur Weckung des nationalen Bewußtseins beizutragen, und verfolgte damit eine Tendenz, die in den nationalsozialistischen Lehrplänen von 1938 und vor allem in der Unterrichtspraxis ins Nationalistische und Völkische übersteigert wurde.

Es gilt vielmehr klarzumachen, daß unser muttersprachliches Weltverständnis nicht mit einem geschlossenen, systematisch gegliederten Weltbild verwechselt werden darf, sondern aus einer lockeren Ordnung von Sprachgewohnheiten und Antizipationen besteht, die keine homogene und widerspruchsfreie Einheit bilden. Außerdem lassen alle Versuche vergleichender Linguistik erkennen, wie fragmentarisch, einseitig und idiogen die in der Muttersprache vorgegebenen Weisen der Weltauslegung sind, daß in ihr Formen der Welterschließung, Gliederungsmöglichkeiten und Kategorien fehlen, die wir in anderen Sprachen kennenlernen können. Insofern bringt die Aneignung fremder Sprachen auch stets einen Weltgewinn, denn "die Grenzen meiner Sprache bedeuten" nach LUDWIG WITTGENSTEIN "die Grenzen meiner Welt", jedoch nicht im Sinne einer  geschlossenen Lebensform  oder eines  Sprachkreises , wie ihn die monadologische Sprachauffassung im  Tractatus  nahelegt. Mit der Anreicherung der Welterfahrung ist aber in der Regel auch ein Fortschritt in der Selbstverwirklichung verbunden, da beide Phänomene durch die Sprache vermittelt werden und sich dialektisch bedingen. Das Durchschauen fremder sprachlicher Strukturen führt in jedem Falle über die Stückwerkhaftigkeit und Einseitigkeit der muttersprachlichen Weltauslegung hinaus. Die Gymnasiasten werden zu einem Standpunkt nationaler Bescheidenheit und Bescheidung angehalten und zugleich zu einer sprachkritischen Einstellung erzogen. Sie sollten verstehen lernen, daß die Muttersprache die Gegebenheiten der Wirklichkeit nicht nur enthüllt, sondern auch verhüllt, ja, daß sie in bestimmten Fällen mit ihrem mitunter einseitigen Vorverständnis Sprecher und Zuhörer sogar irreführen kann. Was uns die eine vorwissenschaftliche Interpretation bewahrende Muttersprache in den Sternnamen  Morgenstern  und  Abendstern  als ein Verschiedenes anbietet, hat die Wissenschaft der Astronomie als identisch, nämlich als den Planeten Venus erwiesen.

Sprachliche Bildung schließt also auch die Fähigkeit zur Sprachkritik ein. Doch dürfen wir in diesem Zusammenhang die Mahnung ADOLF PORTMANNs in seiner Schrift  Welterleben und Weltwissen  (1964) nicht überhören, nach der auch die in unserer Muttersprache niedergelegte vorwissenschaftliche Weltsicht ihren Wahrheitswert und ihre Berechtigung hat, daß sie zugleich eine wesentliche Komponente unserer Lebensführung ist und bleiben muß. Man kann dem durchschnittlichen Sprecher keinen Vorwurf machen, wenn er einen Stern, den er am Morgen- und am Abendhimmel, also unter verschiedenen Bedingungen und an verschiedenen Stellen, als ein sehr auffallendes Phänomen beobachtet, auch verschieden benennt, ohne die Identität im astronomischen System zu kennen oder zu berücksichtigen.

In einer Zeit, in der die Naturwissenschaften immer tiefer in Mikrokosmos und Makrokosmos vorstoßen, um mit Hilfe der mathematischen Denkform die Dinge und Vorgänge in diesen Bereichen zu erkennen und zu beherrschen, darf das primäre Welterleben nicht verkümmern, weil ohne es Dichtung und Kunst bis zur Wesenlosigkeit und Unverständlichkeit abstrahiert werden müßten und ein erfülltes Menschendasein unter diesen Bedingungen nicht mehr möglich wäre. Die völlige Aufgabe des ursprünglichen Weltverständnisses würde auch dazu führen, daß der Mensch seine Weltoffenheit und Geborgenheit im  Mediokosmos  verlöre. PORTMANN empfiehlt daher eine Synthese und gegenseitige Ergänzung von primärem und sekundärem Welterfahren. Heute sei es nötig, in Elternhaus und Schule das primäre Welterleben bewußt zu pflegen und die unentbehrlichen Ergebnisse der Wissenschaften sinnvoll in dieses vorwissenschaftliche Weltverständnis einzubauen.

Wenn wir auch WHORFs  linguistisches Relativitätsprinzip  als überspitzt und zu einseitig abgelehnt haben, so verdient doch sein Hinweis Beachtung, daß derjenige in seiner wissenschaftlichen Forschung dem unbewußten Zwang sprachlicher Verstehensmuster am wenigsten ausgesetzt ist, der sich mit möglichst vielen und verschiedenartigen Sprachen vertraut gemacht hat und mit Hilfe der Methoden einer kontrastiven Linguistik die Antizipationen der Muttersprache in ihrer Besonderheit und Einseitigkeit zu durchschauen vermag. Ihre Bewußtmachung schützt ihn vor den Gefahren, die sich aus ihrem unbemerkten Einschleichen in sein fachwissenschaftliches Denken und Erkennen ergeben können.

Sprachkritik in diesem Sinne ist auch eine unentbehrliche Voraussetzung für jede Philosophie, die sich als strenge Wissenschaft versteht. Nehmen wir alle diese Gesichtspunkte zusammen, dann erhalten die vergleichende Sprachforschung und die Sprachphilosophie geradezu eine Schlüsselfunktion bei der Klärung der Grundlagenprobleme der verschiedenen Wissenschaften und sonstigen Wissensformen. Zugleich zeigt sich in hellem Lichte, wie Wesentliches sie zur geistigen Grundlagenbildung am Gymnasium und im  Studium Generale Petraeus  der Universität beizutragen vermögen.

LITERATUR - Wilhelm Luther, Der Beitrag der Sprachphilosophie zur geistigen Grundlagenbildung in Hans-Georg Gadamer (Hrsg), Das Problem Sprache, Achter Deutscher Kongress für Philosophie, München 1967
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