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KARL SCHEFFLER
Idealisten
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"In dem Maße, wie die Kirche an Selbständigkeit verliert, muß sie zum Instrument des Staates werden, während eine wahrhaft lebendige Kirche überhaupt nicht Dienerin des Staatsgedankes sein kann. Denn die kirchliche Macht wird stets auch die weltliche suchen und die weltliche Macht die kirchliche."

Die Religiösen

Jede Interessengemeinschaft, beziehe sie sich auf Materielles oder Geistiges, muß eine schweigende Verständigung vorausgehen, wie Welt und Leben zu begreifen sind, eine Gefühlskonvention, die grundlegend wird für alles Soziale. Nur wo sich Menschen über das Ewige verständigt haben, können sie es dauernd auch über das Endliche tun. Die erbitterten Kriege, die des Glaubens wegen geführt, die entsetzlichen Leiden, die um religiöser Überzeugungen willen ertragen worden sind, beweisen, daß die Religion die wirklichste, weil die am hartnäckigsten verteidigte aller Gemeinschaftsmächte ist. In ihr spricht sich der Selbsterhaltungstrieb am klarsten und gewaltigsten aus. Die Steine unserer Häuser, das Fleisch unseres Körpers sind nicht realer als religiöse Empfindungen es sind. Die Religionsgeschichte lehrt, wie mit einer einzigen großen Geste, daß dem auf die Gemeinschaft mit seinesgleichen angewiesenen Menschen der äußere Zusammenschluß nur gelingt, wenn er sich mit seinen Volksgenossen darüber einigen kann, was von Gott und Unsterblichkeit, vom Pflichtgesetz und vom Endziel allen Strebens zu halten ist. Von solchen Überzeugungen hängt es ab, wie jeder Einzelne die Imperative des Sittlichen und Moralischen begreift, ob er die Pflichten des Gehorsams, die Gebote von Treu und Glauben anerkennt, kurz: ob er ein nützlicher Staatsbürger zu sein vermag oder ob er als Feind der Gemeinschaft zu betrachten ist. Es kommt nicht in erster Linie darauf an, wie die religiösen Glaubenssätze im Einzelnen beschaffen sind und ob sie mehr optimistisch oder pessimistisch klingen; das Wichtigere ist vielmehr, daß allgemeingültige religiöse Überzeugungen überhaupt vorhanden sind. Denn praktisch wirkt auch eine Religion noch bejahend, die theoretisch die Lebensverneinung predigt, bloß weil es Religion ist. Geschichtlich rückblickend kann man mit LESSING sagen: "alle Religionen sind gleich wahr und gleich falsch". Aber alle sind sie auch zu ihrer Zeit, an ihrem Ort gleich notwendig gewesen, als Grundlagen sozialer Lebensbildung. Die Völker führen die Religionskriege in Wahrheit nicht äußerlicher Dogmenfragen wegen, sondern nur wenn sie fühlen, daß größere Teile der Volksgenossen von den bisher geltenden Religionskonventionen abzufallen beginnen und daß dadurch alle anderen Konventionen sozialer Sitte, daß dadurch der Bestand der Gemeinschaft gefährdet wird. Dann suchen sie die Abtrünnigen mit Gewalt im einmal geschlossenen Verband festzuhalten, wohl fühlend, daß die praktischen Konsequenzen einer sich metamorphosierenden Religiosität gar nicht abzusehen sind. Andererseits findet ein solcher Massenabfall nur statt, wenn die geltenden religiösen Konventionen inhaltslos und starr zu werden beginnen, wenn sie nicht mehr die Kraft haben, das soziale Getriebe den neu hervortretenden Bedürfnissen entsprechend jeden Tag aufs Neue sittlich und geistig zu regulieren. Es stellt sich also jeder Religionskampf in gewisser Weise als ein sozialpolitischer, ja zum Teil als ein wirtschaftlicher Kampf dar.

So betrachtet könnte es nun freilich scheinen, als wäre die Religion nichts als ein Notgewächs des sozialen Rationalismus. In Wahrheit verliert das Religiöse aber nichts von seiner Ehrwürdigkeit, weil es den profanen Gewalten des Staates eng verbunden ist. Es ist einer der weisesten Kunstgriffe der Natur, daß sie das Ideale unmittelbar immer dem Materiellen verknüpft. Wenn alle Religiosität im Erhaltungsinstinkt der Einzelnen und der Gemeinschaften wurzelt, so spricht sich darin doch auch der Wille aus, die göttliche Bestimmung des Lebens im menschlichen Bewußtsein nachzuschaffen und als ein Wollen das vor sich hinzustellen, was die Natur uns ungefragt als ihr unumstößliches Sollen diktiert. Wo jeder Mensch zu verstehen oder doch zu ahnen anfängt, wie das Leben es mit ihm als Gattung und Persönlichkeit gemeint hat, da ist schon Religiosität. Sie beginnt mit einem tiefen Wundern darüber, daß die Welt, das Leben, das Ich überhaupt da sind. Religiös ist das Gefühl, nur ein winzig kleines Teilchen zu sein und doch ein Ganzes, eine Determination in Allem und dann doch wieder der Inbegriff der ganzen Welt. Aus der Tragik, die darin besteht, daß etwas als unendlich Empfundenes: das Seelische, an den allen Zufällen der Endlichkeit preisgegebenen Körper gefesselt ist, daß jeder Mensch zur Einsamkeit hinter den Gittern seiner Leiblichkeit verdammt ist, während er sich Gott und der Menschheit doch verwandt weiß, woraus sich dann eine fortdauernde peinliche Divergenz von innerem Totalitätsgefühl ergibt, geht die Unsterblichkeitsidee hervor. Sie schlägt zwischen Ewigkeit und Zeitlichkeit eine Brücke, worauf die religiösen Gedanken herüber und hinüber wandeln. Andererseits ist es das Glück, das "Ewigkeit will", das nach nie endender Dauer verlangende Glück des Daseins, woran sich die Unsterblichkeitsidee jeher entzündet hat. Jeder Mensch ahnt Unsterblichkeit und ewige Bestimmung, auch wenn der Verstand Alles abweist, was die Logik der Sinne nicht bewältigen kann. Die Lust am Guten, der nie rastende Vervollkommnungstrieb, die Empfindungen der Liebe, oder das Schamgefühl, das sich äußert, wenn der Instinkt unserer tierischen Herkunft mit unserer göttlichen Bestimmung dissonierend zusammentrifft: Alles beweist, wie sehr jenes Ahnen der Unendlichkeit, ohne das es kein Verantwortungsgefühl und keinen Gehormsam gäbe, die Menschheit beherrscht. Es ist, als stände hinter jedem Individuum eine Stimme, die ihm Gewißheit zuzuflüstern sucht und die ihm leiser oder lauter ein "Du sollst" zuraunt. Wie der Mensch über diese Stimme auch philosophisch denken mag, ob er sie Gott, Gewissen, Erhaltungstrieb, übersinnliches Ich oder gar Selbstsucht nennt: immer sieht er sich doch genötigt ihr zu folgen. Und eben aus dem Drang zu diesem Gehorsam geht die Religion hervor. Sie ist eine Mischung von Demut und Stolz, ist die "tragische Freude zu dienen" und die edelste Form jenes Selbstgefühls, das sich entzündet, wenn man frei zu wollen sich entschließt, was zu müssen man nicht umhin kann. An sinnliche Wunder glauben, heißt nicht religiös zu fühlen. Jede allgemeine Religion bedarf der Symbole; aber die sind nichts, wenn sie nicht von jedem Individuum immer wieder in ihrer ursprünglichen Bedeutung begriffen werden. Man ist nur religiös, wenn man es in jedem Augenblick ist, wenn die Religionsidee in ihrem ganzen Umfang im Herzen wie etwas Einmaliges und Ursprüngliches geboren wird. Religion muß in neuen Menschen immer wieder als ein Neues da sein, mit neuen Zielen und verbunden den neuen Wirklichkeiten. Sie braucht Wirklichkeit, weil sie ein Drang zur Vervollkommnung ist und weil diese durchaus der Werktätigkeit bedarf. Wenn die letzten Religionsideale auch stets im Übersinnlichen liegen, so hoch, daß sie immer erstrebt und nie erreicht werden, wodurch es dann geschieht, daß die Religion "immer wird und niemals ist", so muß doch alles lebendige transzendente Wollen immer den Weg über die Realitäten des Lebens nehmen. Woher es dann kommt, daß religiöse Ideale unendlich variabel sind. Und eben diese Variabilität einer schlechterdings allen Menschen gemeinsamen Ewigkeitsidee macht die Religion zum großen Erziehungsmittel der Menschheit sich selbst gegenüber.

Es kann mit bedeutendem Erfolg für die Kultur freilich nur dann angewandt werden, wenn dem religiösen Gefühl eine feste Organisation, eine Kirche gelingt. Kommt sie aber als ein lebendig Notwendiges zustande, so wird sie zur absolut beherrschenden Großmacht. Wo sie grundlegenden abstrakten Lebensideen sinnlich faßbare Symbole, unaussprechlichen Gefühlen anschaulich überlieferbare Gleichnisse verschafft, wo sie imstande ist, eine gemeinverständliche Sprache für das zu bilden, was als wortlose Sehnsucht in jeder Seele drängt und anbetet, wo aus sozial denkendem Religionsgefühl, aus religiös empfindendem Sozialismus das große Kunstwerk der Kirche ersteht, da ist stets auch der Grund zu großer Kultur gelegt.

Von einer solchen Kirche ist unsere Zeit weiter entfernt als jemals zuvor. Was bei uns kirchlich organisiert ist, das ist nicht mehr eine wahrhaft lebendige religiöse Kraft; was heute abe wirklich religiös genannt werden darf, das tritt uns nirgendwo schon organisiert entgegen. Und dieser Gegensatz von Sein und Schein wirkt geradezu kulturzerstörend und sozial zersetzend. Man darf, streng genommen, kaum sagen, eine Zeit hätte weniger Religion als die andere; denn die Summe des Guten und Bösen, der Kraft und Schwäche bleibt in einer von altersher schon gefügten Gesamtheit immer wohl dieselbe. Was sich aber stetig ändert, das ist die Art der Kräfteverteilung, der Organisation. Nur selten wird die gegebenne Summe so angelegt, daß sie höchsten Ertrag bringt, nur selten ist das mannigfaltige Energiespiel so organisiert, daß ein Wille dem anderen nicht schadet, sondern nützt, daß jeder Kraft im Verhältnis ihrer Wichtigkeit der Platz angewiesen wird. Unsere Zeit ist so religiöse und sittlich wie irgendeine. Aber die religiösen und sittlichen Idealkräfte sind so schlecht, so falsch organisiert, sie sind so wenig imstande, von den Fehlern eines brutalen Materialismus zurückzuhalten, daß sie zur Passivität verurteilt scheinen und daß es aussieht, als sei das Geschlecht unserer Epoche absolut ohne höhere sittliche und religiöse Idealität. Was bei uns Kirche heißt, das vertritt Ideale, die einmal vor Hunderten von Jahren lebendig waren; professionsmäßig werden tote Formalien durch die gewandelten Zeiten geschleppt und es stehen die starren Überbleibsel einer einst großen und mächtigen Konvention der Bildung einer neuen, zeitgemäßen, unübersteigbar im Weg. Zu den alten Kirchengebäuden bekommen wir täglich noch neue, haben ein Heer von Geistlichen, sehen allsonntäglich ein schwarzes Gewimmel von Kirchengängern und nennen einen noch vollständig ausgebildeten Kultapparat unser eigen; eine lebendige Religion aber haben wir nicht. Das religiöse Ideal, das sich monumental einst in dieser Kirche verkörpert hat, hat sich in lauter Teilwerk aufgelöst. Wo es einst mächtig herrschte, da ist es nun zur Dienerin anderer Idealkräfte geworden. Wir finden, was an Religiosität im Volk vorhanden ist, nicht mehr in der Kirche, sondern sehen es, zum Beispiel, als Mystik oder Weltanschauungsidee in der Kunst sein Wesen treiben, wo es das Ästhetische dann beständig über den Rahmen künstlerischer Wirkungsmöglichkeiten hinauslockt. Wir sind in der Kunst in diesen religionslosen Jahrzehnten wie Katholiken geworden. Unser Geniekult sieht aufs Haar der katholischen Heiligenverehrung ähnlich; die großen Künstler sind uns sozusagen Vermittler der Gnade geworden, wie werden uns jeden Tag noch zu Reformatoren des Lebensgefühls und in ihren Werken wird das Wunder unbefleckter geistiger Empfängnis verehrt. Aus früheren großen Zeiten religiöser Kultur nennt die Geschichte Namen bedeutender Idealisten fast nur innerhalb der Kirche; in der Kunst gab es damals namenlose Handwerker. Heute ist es umgekehrt: die Kunst ist das eigentliche Gebiet der ethisch wollenden Persönlichkeit, während fast Alles, was zur Kirche gehört, der Namenlosigkeit verfällt. Dadurch, daß die Kunst auf diese Weise Arbeit der Religion übernimmt, ist sie, seit einigen Jahrhunderten schon, und am meisten in unserem Zeitalter, düster, grüblerisch, problematisch, faustisch und zu einem Gefäß metaphysisch schweifender Leidenschaftlichkeit geworden. Sie sehnt sich über sich selbst hinaus und zerstört dabei nicht selten die schöne Form. Sodann finden wir das Religiöse heute in der Wissenschaft als Wahrheitsliebe und Erkenntnissehnsucht - man betrachte zum Beispiel, wie das, was die Heutigen Darwinismus nennen, mit fast mythologischer Phantasie begriffen wird -; oder wir finden es in einer streng geforderten und geübten Gerechtigkeit und in einem weitverbreiteten sozialen Mitleid. Das Resultat ist dann aber eine sentimentale Gesetzgebung, die den Schwachen besser schützt als den Tüchtigen und eine Tagesmoral, die sich in Selbstgerechtigkeit und Materialismus erschöpft. Die zehn Gebote werden heute nicht weniger streng gehalten als früher; aber die Gebote zu befolgen ist ja keine schöpferische Religion. Ist nicht einmal Tugend; denn man kann auch als korrekter Diener des Katechismus ein Lump und kalter Glücksjäger sein. Niemals ist vielleicht im Allgemeinen und Besonderen so viel Gutes getan worden wie heute; aber diese religiös empfindende Menschenliebe ist nicht kulturfördernd, weil sie mehr den Charakter eines sentimentalen Wiedergutmachens hat als den einer weltbeherrschenden, organisationsfähigen Gefühlskraft. Zeiten mit starkem religiösen Gefühl sind nie, wie wir es tun, furchtsam Kriegen und Konflikten ausgewichen; sie haben die Staatsgedanken immer ganz unsentimental begriffen und harten Gesetzen ist schonungslos Gehorsam erzwungen worden. Das eben ist der Segen selbständiger, kirchlich organisierter Religiosität: sie befreit von aller Wehleidigkeit, stabilisiert das ethische Gesetz und erleichtert dem Einzelnen die schwere Last der Lebensverantwortung und Zweifel, so daß er sich besser rühren und sein eigenes Wesen handelnd entfalten kann. Nur die Unsicherheit des Empfindens, wie sie unsere Zeit charakterisiert, vermag zugleich schonungslos und weichlich zu sein. Es ist auch kein Nutzen für die Nation, daß sich das Religiöse in die philosophischen Systeme geflüchtet hat, die vor dem Bürger dieser Zeit zur Wahl ausgebreitet vorliegen.

Seit SPINOZA geht neben der christlichen Religion die Philosophie einher, immer im Gegensatz zur Staatskirche und zuweilen selbst wie der Anfang einer neuen Religion. Dennoch haben die christlichen Religionsformen bisher den wissenschaftlichen Systemen der KANT, SCHELLING, SCHOPENHAUER und HEGEL standgehalten; aus den weisen philosophischen Weltgedanken ist ein allumfassendes neues Weltgefühl, das dem Klügsten wie dem im Geiste Armen genugtun könnte, noch nicht hervorgegangen. Alle unsere großen Philosophen sind zu Trägern religionsartiger Ideale geworden; aber das ganze Volk haben sie aber niemals mit ihren bewunderungswürdigen Schlußfolgerungen sättigen können. Und darum eben kann auch der Einzelne die letzte Befriedigung nicht aus dieser Philosophie gewinnen. Was die Kirche andererseits unter Assistenz des Staates als Ideal darbietet, das ist nur das Petrefakt [Versteinerung - wp] eines Ideals. Dieses schleppen nun die Teile der Nation, die sich nicht ungeduldig davon befreit und das Nichts der Lüge vorgezogen haben, mit sich umher. Zu den falschen Idealismen des Materialismus kommt noch dieses rudimente Religionsideal. Was einst heilig war, was vielleicht sogar noch wieder heilig werden könnte, das steht als ein wahrhaft monumentaler Mißbrauch vor uns, wie er folgenschwer nur aus etwas einst Erhabenem hervorgehen konnte.

Diese Erstarrung hat, wie gesagt, bereits vor einigen hundert Jahren begonnen; in unseren Jahrzehnten aber ist der Gegensatz von lebendiger Religiosität und Dogma erst ganz schroff zum Ausdruck gekommen. Weder der Katholizismus noch der Protestantismus haben es zur Genüge verstanden, die naturwissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnisse, die in den letzten Jahrhunderten errungen worden sind, ins Christentum hinüberzuleiten. Anstatt mit den Aufgaben der Zeiten fortzuschreiten, nie aufzuhören im Wachsen und Werden und den Sehnsüchten der Lebenden immer neue Wege und Ziele zu lebendiger religiöser Idealität zu zeigen, hat die Kirche ihre Dogmen zu sehr ls etwas Absolutes genommen und sich dem Neuen feindlich entgegengestemmt. Nun sind aber, infolge der allgemeinen Bildung, die Ergebnisse des philosophischen Denkens und Dichtens, die Resultate einer unendlich regen und ausgedehnten Naturforschung in diesen Jahrzehnten erst Gemeingut Aller geworden. Und darum sehen wir jetzt den Gegensatz von Weltwissen und Kirchenglauben erst zu einer nationalen Katastrophe werden, zu der größten Jugendsorge unserer Zeit, zu einem Drama, dessen Verwicklungen in jede Familie fast hineinführen, eine so von allen guten Geistern des Lebens verlassene Kirche konnte dem Kritikbedürfnis der neuen Zeit unmöglich standhalten. Umso weniger, als die Zweifelsucht sich nicht nur gegen das Christentum, sondern gegen alle Religion überhaupt gewandt hat. Wenn das tiefe Erstaunen über das Dasein der Welt und des Ichs der Anfang aller Religion ist, wie kann dann ein religiöses Gefühl in einer Epoche sein, wo sich jeder Mensch im Hochgefühl seiner Bildung schämt, über irgendetwas noch zu erstaunen! Man hat ja längst gelernt, alle Erscheinungen des Lebens kausal auszumessen. Umso mehr, als es dem "Aufgeklärten" von der Kirche gar so leicht gemacht wird, sein kritisches Werkzeug zu benutzen. "Wer nur irgend sich etwas umsieht" sagt FRIEDRICH THEODOR VISCHER,
    "Handwerker, Arbeiter, Kaufmann, wer immer von Physik und Geschichte auch nur einigen Lichtstrahl empfängt, ist rein fertig mit Allem, was übersinnliche Figur, was Regierung des Universums von außen, was Wunder heißt. Sie zurückzuführen in den Glauben daran, ist unmöglich; wer seinen Widerstreit mit Natur- und Denkgesetzen erkannt hat, kann nie und nimmer in ihn zurück. Nun sind aber alle diese hilflos ins Leere geworfen. Die gefärbte Religion sind sie los, zur reinen reicht es bei ihnen nicht und wenn es reicht, wer reicht sie ihnen? Niemand ... Die alte Ehrfurcht sind sie los, für eine neue können sie die Begründung nicht finden. Moral ruht schlechterdings auf Religion und da sie mit der bunten Religion die reine wegwerfen, so werden sie Lumpenhunde, lassen sich in den Wirbel der Hetzjagd mitreißen, die jetzt los ist, der Hetzjagd nach dem Glück, das keines ist. Ihnen sagt Niemand, zeigt Niemand einfach aus dem inneren Wesen der Seele und aus dem Verhältnis der Einzelseele zur Menschheit, daß und warum es keinem Menschen wohl wird, außer im Guten."
Ein Gott, dessen Unmöglichkeit sich mathematisch beweisen läßt, kann keine ethischen Gesetze diktieren; ein Gott, an den man glauben soll, muß jenseits aller Beweise stehen und doch auch zugleich im Mittelpunkt jedes einzelnen Beweises vom Wesen der Natur. In ihm muß alles Logische, Mathematische und Kausale Platz haben; darüber hinaus aber muß der Gedanke an ihn zu tausend transzendenten und ewigen Ideen anregen. Der Naturforscher muß an diesen Gott glauben können und der Arme im Geiste, der Fürst und der Bettler, der Astronom, Geologe und Philosoph so gut wie der Priester, der Freudige und Leidvolle, der Freie und Gefesselte. Wäre das Christentum Schritt für Schritt zu einem höheren Gottbegriff emporgestiegen, anstatt im finsteren Aberglauben oder in Wortorthodoxie zu verfallen, hätte es die großen alten Symbole stetig erneuert, anstatt sie dogmatisch erstarren zu lassen, so herrschte jetzt nicht dieser schreckliche Skeptizismus, der sogar alle einst möglichen Gottideen im Voraus schon blaguiert [geprahlt - wp] und jeden Versuch, einer neuen Divinisierung [Vergöttlichung - wp] der Welt mit seinen klugen Hohnreden im Keim erstick. Man hat gelernt, die Geschichte objektiv zu betrachten, und nun will dem Lebenden selbst die Religion der Zukunft relativ erscheinen. Die religiöse Phantasie ist erstickt. Jede neue Erfahrung dient zu einem Beweis gegen das Dasein Gottes; und wer dem Glauben an Ewigkeit, an Sittengesetz und Unsterblichkeit entwachsen zu sein meint, den erfüllt sein Atheismus entweder mit kalter Verzweiflung oder er gebärdet sich wie der Schüler, der des Lehrers ledig ist. Er wird in dieser Selbstgefälligkeit auch nur bestärkt, wenn er sieht, welcher Art die sind, die sich mit selbstgerechten Moralistengebärden oder mit dumpfer Gleichgültigkeit um das rudimente Ideal des Christentums scharen, wie sie sich gefallen in ihrer feigen Weisheit, in ihrem subalternen Gehorsam und sich für bessere Staatsbürger halten, weil sie der Landeskirche angehören; wenn er sieht, wie materialistischer Streberwille oder ein ruchloser kapitalistischer Optimismus die Autorität der Staatsreligion zu selbstischem Vorteil benutzt und das, womit das größte aller Menschenherzen die am Leben Leidenden einst trösten wollte, so versteht, wie es dem Egoismus dienlich scheint. Gewiß: das Christentum konnte nicht bleiben, was es in den Gemeinden Urchristen war. Es hat im Laufe der Jahrtausende viele Zeitideale und nationalen Eigenheiten in sich aufgenommen; aber dadurch erst hat es sich groß und fruchtbar entwickelt. Es kann griechisch, römisch, germanisch und amerikanisch sein, mit Buddhistischem und Antikem vermischt werden und kann doch immer eine groß führende Religion sein. Es kann nicht nur, sondern es muß alles Wollen und Erkennen, alles Sehnen und Ahnen der Zeiten lebendig in sich aufnehmen. Mögen die christlichen Priester immerhin, entgegen den Ideen des Urchristentums, unsere Waffen des Krieges segnen; wenn sie sonst nur rechte Verkünder eines neuen, all unser Wissen überflügelnden Evangeliums wären.

In dem Maße, wie die Kirche an Selbständigkeit verliert, muß sie zum Instrument des Staates werden, während eine wahrhaft lebendige Kirche überhaupt nicht Dienerin des Staatsgedankes sein kann. Denn die kirchliche Macht wird stets auch die weltliche suchen und die weltliche Macht die kirchliche. Heute aber drängt die alte Frage besonders heftig wieder zur Beantwortung. Und von der Entscheidung wird viel deutsche Zukunft abhängen; es wird sich zeigen müssen, ob wir echter und großer Ideale noch fähig sind und ob Staatsgenie genug vorhanden ist, das Notwendige im großen Stil zu vollbringen. Die Formulierung des Entweder-Oder ist einfach genug. Denn es frägt sich vor allem, ob sich der neue deutsche Staat länger noch mit erstarrten Religionsidealen umherschleppen soll oder ob er mit entschlossenem Schnitt hemmende Religionsformen von sich abtrennen soll.

Die Aufgabe des Staates besteht darin, für Alle und auf Wunsch Aller zu tun, was der Einzelne infolge seiner Gebundenheit und Isoliertheit unmöglich tun kann. Dieses ist der Zweck des Staates und innerhalb dieser Aufgabe liegt darum auch sein Pflichtgebiet. Er hat zu leisten, was nur in der Organisation aller Volksteile geleistet werden kann, sei das Ziel des Zusammenschlusses nun materieller oder geistiger Art. Auch das Religiöse hat der Staat also die Pflicht zu organisieren. Aber nur dann, wenn das herrschende religiöse Ideal in der Tat dem ganzen Volk lebendig zu eigen gehört, wenn es wirklich Allen wünschenswert und erstrebenswert erscheint. Zeigt es sich, daß dieses Ideal nicht allgemein ist, stehen ihm anders gerichtete Ideale gegenüber, ist die Nation über Geist und Form seiner Religiosität uneins, so hat sich der Staat, der eine unparteiische Macht sein soll, zurückzuhalten und abzuwarten, bis der geistige Kampf entschieden ist. Begünstigt er von den streitenden Religionsparteien die eine und erhebt er deren Dogma zur Staatskirche, so wird er selbst Partei und muß es dulden, daß er als Partei bekämpft wird. Er verletzt seine Pflicht, weil er als Partei nicht Allen gleichmäßig gerecht werden kann. Erhebt der Staat aber gleich mehrere Bekenntnisse zugleich zur Staatskirche, so beweist er, daß ihm die Volksidealität nur ein Werkzeug der Regierungstechnik ist und daß er sich nicht verpflichtet glaubt, etwas Geistiges geistig, etwas Sittliches sittlich zu vertreten. Vergleicht man den Staat einem Individuum, so ist er im ersten Fall wie eine befangener, vorurteilsvoller Mensch, der nicht das Zeug hat, ein gerechter Schiedsrichter und Verwalter zu sein; im zweiten Fall gleicht er einem sittlich indifferenten und darum unproduktiven Menschen.

Diesen beiden Kompromißformen, denen wir in der neueren Geschichte freilich überall begegnen, steht ein anderes mögliches Verhältnis von Staat und Kirche gegenüber, das immer noch, wenn es Wirklichkeit wurde, einen Höhepunkt menschlichern Kultur bezeichnet. Es ist der Zustand, der eintritt, wenn es einem Volk in mächtigem geistigem Aufschwung gelingt, sich über seine religiösen Ideale vollständig zu einigen, so daß der Staat zum Vertreter und Organisator einer einzigen, die ganze Nation umfassenden Gottesidee werden kann. Werden muß. Denn bei dieser Lage der Dinge identifiziert sich der Staat, während er, als Anwalt der Volksgemeinde, zur Bildung einer großen, alles umschließenden Volkskirche schreitet, unmerklich so sehr mit den religiösen Grundgedanken, mit dem Geist der Kirche, daß sein Wille davon bald nicht mehr zu unterscheiden ist. Wird in jenen beiden zuerst genannten Fällen die Kirche zum Staatswerkzeug, zum Mittel materieller Endziele degradiert, so wird in diesem Fall umgekehrt der ganze Staat, mit all seinen Materialismen und Rationalitäten zur Kirche erhoben. Er wird ganz von der Religion durchdrungen, von ihr sozusagen noch einmal neu aufgebaut und damit in erhabener Weise vergeistigt. Der Staatsbürger gehört dem Gesellschaftsverband dann nicht nur äußerlich an, als ein den Gesetzen Unterworfener, sondern auch innerlich als ein sich am religiösen Gesetz freiwillig Begeisternder. Dadurch wird er im eigentlichen Sinn zum Kind des Staates, wo er sonst nur dessen Angehöriger ist; der Staat wird zum Familienverband und aus dieser höheren Einigkeit erhebt sich die Form einer bleibenden Kultur. Das Religionsgefühl wird zum Staatsgefühl. Der Verbrecher gegen die Staatsgewalt wird dann zugleich zum Verbrecher gegen die Kirche und es wird die Kirchenstrafe schwerer empfunden als die Polizeistrafe; jeder Krieg wird mehr oder weniger zu einem heiligen Krieg, zu einer Art von Kreuzzug und es kommt das soziale Leben bei einer solchen allgemeinen Durchgeistigung der Vollkommenheit so nahe, als es überhaupt menschlicher Gebrechlichkeit möglich ist. Es fehlt alle Sentimentalität und Weichlichkeit, denn streng herrscht das Pflichtgesetz; es erhebt sich der Wille zu großen Taten und es beginnen die Künste zu blühen, weil Alle im gleichen Rhythmus empfinden und wollen. Freilich vermag ein dergestalt zur Kirche gewordener Staat nicht dauernd zu bestehen. Es kommt immer bald ein Zeitpunkt, wo die materiellen Interessen der Herrschaft des nicht immer ganz einigen Geistes entschlüpfen und wo sich der alte Dualismus von Staat und Kirche wieder herstellt. Nichtsdestoweniger muß ein solcher Zustand der Synthese das Ziel jedes reinen und großen Strebens bleiben. Denn alles Bessere liegt eigentlich nur an der Straße zu diesem Ziel. "Nur auf dem Weg zum ewigen Leben liegt ein Vaterland."

LITERATUR: Karl Scheffler, Idealisten, Berlin 1909