ra-2SHIZUTERU UEDATOSHIHIKO IZUTSU    
 
THOMAS ACHELIS
Zur buddhistischen Psychologie

"Du bist von der Geburt bis zum Tod nicht derselbe, sondern heute ein anderer als gestern und wirst morgen ein anderer sein als heute. Diese Theorie scheut sich selbst nicht, die Konsequenen dieses Satzes zu ziehen und die moralische Verantwortlichkeit eines Menschen für frühere Verbrechen zu bestreiten. Der Mörder z. B., welcher in diesem Jahr hingerichtet wird, weil er im vorigen jemanden erschlagen hat, ist ihr nicht mehr dasselbe Wesen, das er war, als er diesen Mord beging."

Selbst für den skeptischen Standpunkt, der vielfach in neuerer Zeit jedes positive Ergebnis der philosophischen Forschung in Frage stellt (mit drastischem Ausdruck bezeichnet z. B. RÉE den Geschichtsschreiber der Philosophie als ihren Totengräber), hat es doch noch einen gewissen psychologischen Reiz, die verschiedenen Probleme, welche je auf Erden menschliches Denken bewegt haben, nach ihren betreffenden Abweichungen und Übereinstimmungen einander gegenüber zu stellen. Die Einheit des menschlichen Geistes, die Notwendigkeit einer bestimmten Weltanschauung, die sich weit über jede individuelle Willkür erhebt, die Gesetzmäßigkeit unserer Erkenntnis - ganz abgesehen noch von der etwaigen Wahrheit des Vorgestellten -, wenn man gewisse maßgebende Voraussetzungen gelten läßt, tut sich abermals unwiderleglich kund und beweist, daß auch diese Gebiete, die anscheinend ganz und gar das Werk individueller Eingebung und Stimmung sind, der Wirksamkeit allgemeiner, über alle Schranken geschichtlicher und ethnographischer Besonderung hinausgreifender Gesetze unterstehen. Von diesem  sozialpsychologischen  Standpunkt aus, wie er sich neuerdings durch den segensreichen Einfluß der Ethnologie noch in anderen, bislang meist einseitig historisch behandelten Disziplinen einbürgert, möchte es sich vielleicht verlohnen, einen Blick auf die so entlegende Welt der buddhistischen Psychologie zu werfen; wir werden uns überzeugen, daß inmitten all des phantastischen Aufputzes einer fessellosen Spekulation sich gewisse grundlegende Momente finden, die auch die Geschichte der abendländischen Philosophie nicht unerheblich beeinflußt haben. Dieses psychologische Verständnis der Wachstumsgesetze der psychischen Prozesse (um einen Ausdruck BASTIANs anzuwenden) ist schließlich doch der beste Gewinn, den das Studium philosophischer Probleme wenigstens in erster Linie zeigen kann. Daß wir uns bei dieser Skizze auf einige wesentliche Züge beschränken müssen, versteht sich schon deshalb von selbst, weil sich sonst die Untersuchung in zu geringfügige Kleinigkeiten zersplittern würde. Zunächst aber bedarf es einer kurzen Orientierung über den eigentlichen Charakter und die hauptsächlichsten Voraussetzungen der buddhistischen Psychologie.

Bekanntlich zerfällt der Buddhismus in drei große Abteilungen:
    1) Dharma oder auch Sutras genannt, eigentlich Aussprüche, d. h. Lehre und Offenbarung, als etwa allgemein Grundlegung der Weltanschauung,

    2) Vinaya, Disziplin und Moral, wohinein auch die Asketik und der hierarchische Aufbau gehört und endlich

    3) Abhidarma oder Metaphysik
Aber man würde völlig irren, wenn man diese Erkenntnislehre als einen streng abgeschlossenen, lediglich auf eigenen Prinzipien ruhende Organismus auffaßte: vielmehr ist sie ganz und gar beherrscht von ethischen Rücksichten. Die ganze so äußerst komplizierte Zergliederung unseres körperlichen und seelischen Lebens ist bedingt durch den Fundamentalsatz der buddhistischen Doktrin vom Leiden und der Aufhebung desselben; auf diesen praktischen Hedonismus, auf die endliche Erlösung des Menschen oder, mehr buddhistisch gefaßt, auf das Eingehen in das Nirvana zielen alle Erörterungen des indischen Weisen über das Wesen der Dinge hin. Eine Metaphysik ohne diesen ethischen Hintergrund wäre für jeden echten Anhänger des Königssohnes von Kapilavastu ein Unding und deshalb möge man nicht mit uns rechten, wenn wir notgedrungen gelegentlich auch sittliche Beziehungen mit in unsere Untersuchung hinein verflechten.

Die Quintessenz der buddhistischen Weltanschauung liegt in den folgenden Sätzen beschlossen, die überall den Kausalnexus des Entstehens des Leidens mit denselben Textworten zum Ausdruck bringen: Aus dem Nichtwissen (avidya) entstehen Gestaltungen (sankhara), aus den Gestaltungen entsteht das Bewußtsein (vinnana), aus dem Bewußtsein entsteht Name und Körperlichkeit, aus Namen und Körperlichkeit entstehen die sechs Gebiete, aus den sechs Gebieten entsteht Berührung (zwischen den Sinnen und ihren Objekten), aus der Berührung entsteht Empfindung, aus der Empfindung entsteht Durst (oder Begierde), aus dem Durst entsteht Werden (bhava), aus dem Werden entsteht Geburt, aus der Geburt entsteht Alte und Tod, Schmerz und Klagen, Leid, Kümmernis und Verzweiflung. Dieses ist die Entstehung des ganzen Reiches des Leidens. Wird aber das Nichtwissen aufgehoben unter gänzlicher Vernichtung des Begehrens, so bewirkt dies die Aufhebung der Gestaltungen; durch die Aufhebung der Gestaltungen wird das Bewußtsein aufgehoben; durch die Aufhebung des Bewußtseins wird Name und Körperlichkeit aufgehoben; durch die Aufhebung von Namen und Körperlichkeit werden die sechs Gebiete aufgehoben, usw. bis durch die Aufhebung der Geburt Alter und Tod, Schmerz und Klagen, Leid, Kümmernis und Verzweiflung aufgehoben werden. Dies ist die Aufhebung des ganzen Reiches des Leidens (vgl. OLDENBERG, Buddha, Seite 230 und HARDY, Der Buddhismus nach älteren Pali-Werken, Seite 51).

Der Ausgangspunkt der ganzen Konstruktion, überhaupt aber allen Geschehens ist die verhängnisvolle Unwissenheit, nicht im HARTMANNschen Sinn als kosmische Weltpotenz, bzw. -Attribut gefaßt oder brahmanisch als Maya, ein Spiegel der Täuschung für den armen Staubgeborenen, sondern ganz schlicht als konkreter Begriff der Unkenntnis der bekannten vier heiligen Wahrheiten, deren Besitz dem Buddhisten aller Zeitalter als höchster Besitz erscheint (vom Leiden, vom Ursprung desselben, von der Aufhebung des Leidens und vom Weg zur Aufhebung desselben). Freilich fließt damit von selbst die erkenntnistheoretische Bedeutung jenes Ausdruckes insofern zusammen, als dieser Mangel an Intelligenz das wahre Wesen der Welt, nämlich ihren pessimistischen Charakter, völlig verkennen läßt. Wem fiele hierbei nicht die Analogie des athenischen Weisen ein, obschon hier vollends jede metaphysische Beziehung fehlt (die erst PLATO zur Entwicklung bringt) und der ganze Nachdruck auf das praktische Leben, auf die Konstruktion eines der gewöhnlichen Volksmeinung gegenüber haltbaren ethischen Ideals gelegt wird? Aber insofern trifft doch die Parallele zu, als auch hier das Fehlen einer ausreichenden Kritik und damit einer rationell begründeten Lebensanschauung die beklagenswerte Tatsache erklärt, daß der gewöhnliche Durchschnittsmensch sich zu keiner selbständigen, wissenschaftlich beweisbaren Überzeugung aufzuschwingen vermag. Doch ist es immerhin beachtenswert, daß mit der Aufstellung dieses grundlegenden Prinzips nur eine erkenntnistheoretische Forderung begründet ist, der durchaus keine  kosmogonische  Konsequenz innewohnt; GAUTAMA hat, wie die verschiedensten Erzählungen dartun, jederzeit der Versuchung widerstaden, mittels glänzender Spekulationen über die sinnlich wahrnehmbare Welt sich bis zu einem sogenannten Anfang der Dinge vorzuwagen, in der richtigen Erkenntnis, daß das nur für einen theologischen Dogmatismus ein geeignetes Objekt bilden könne (Vgl. BASTIAN, Der Buddhismus als religionsphilosophiches System, Seite 18f).

Aus dem Nichtwissen entstehen nach der oben erwähnten Kausalitätsformel die Samsaras, die Gestaltungen, eigentlich Handlungen, wie KÖPPEN vorschlägt, am passendsten mit Gebilde wieder zu geben (KÖPPEN, Religion des Buddha I, Seite 603). Samsara bemerkt er, würde man brahmanisch sagen, ist die Maja, die Täuschung, wie sie sich im Inneren des lebendigen Einzelwesens abspiegelt und ausprägt, Samsara, könnte man mit HEGEL definieren, ist die in sich selbst unterschiedene und reflektierte Individualität; kurz der ganze gemütliche, ethische, leidenschaftliche Inhalt des Individuums, namentlich insofern derselbe als Antrieb und Bestimmung des Willens gilt, bildet den Komplex der Samsaras. Ähnlich BASTIAN, der diesen Begriff als die ganze subjektive Vorstellungswelt des Menschen faßt, je nach dem System der ethnischen Weltanschauungen (a. a. O. Seite 20). Hervorzuheben ist hierbei der für den ganzen Buddhismus maßgebende Umstand des Karma, d. h. des Komplexes aller Taten, die das Schicksal des Individuums mit unentrinnbarer Notwendigkeit entscheiden, so daß schließlich für das Volksbewußtsein hier der Gedanke der sittlichen Vergeltung Platz greift. Diesen organischen Zusammenhang hat OLDENBERG scharf betont: Was wir sind, ist die Frucht von dem, was wir getan haben. Schon als einen Besitz der vorbuddhistischen Spekulation fanden wir den Satz: Welche Tat er tut, zu einem solchen Dasein gelangt er. Und der Buddhismus lehrt: Meine Tat ist mein Besitz, meine Tat ist mein Erbteil, meine Tat der Mutterleib, der mich gebiert. Meine Tat ist das Geschlecht, dem ich verwandt bin, meine Tat ist meine Zuflucht. Was dem Menschen als sein Körper erscheint, ist in Wahrheit die Tat seiner Vergangenheit, die da zur Gestaltung geworden, durch sein Trachten verwirklicht, fühlbarer Existenz teilhaftig geworden ist. Das Gesetz der Kausalität, von der buddhistischen Spekulation wesentlich als ein Naturgesetz gedacht, nimmt hier die Gestalt einer sittlichen Weltpotenz an. Seinem Wirken kann niemand entgehen (Seite 48) (1). Diese Samsaras sind endlich insofern dogmatisch von großer Bedeutung, als durch sie die jeweilige Wiedergeburt bedingt wird; diese geschieht nämlich in derjenigen Existenzform, auf die sich hier die meisten Gedanken und Wünsche richten.

Als drittes Glied erscheint in dieser Verkettung das Bewußtsein (Vijnana), und hier zeigt sich freilich der Buddhismus in einer für unser Empfinden höchst eigentümlichen Beleuchtung. Wie wir später sehen werden, existiert nach dieser Anschauung ebensowenig eine Seele, ein substanzielles Ich oder Selbst, noch auch eine materielle Selbständigkeit des Individuums; alles ist uns ein Konglomerat von bestimmten Bestandteilen (einige buddhistische Schulen, wie die Jainas, kommen folgerecht auf einen atomistischen Aufbau), die sich wieder lösen und zusammenfinden, je nach dem alles beherrschenden Gesetz der Kausalität, das für die organischen Wesen und insbesondere für die Menschen die Form der Seelenwanderung, wie wir uns nicht ganz zutreffend ausdrücken, angenommen hat. Dieser furchtbare Kreislauf hört eben erst auf, wenn der Weise die Hinfälligkeit und Nichtigkeit jedes individuellen Daseins durchschaut hat und damit seine Erlösung im Nirvana findet. Im übrigen aber ist das Bewußtsein selbst nur eines der Elemente (dhatus), aus denen alles Sinnfällige besteht, nämlich Erde, Wasser, Feuer, Luft, Äther, nur ein unendlich feineres als die übrigen. Als solches Element ist es selbstredend nicht der Vergänglichkeit unterworfen, die alles übrige organische Leben bedroht; somit verbindet sich im Augenblick des Todes jenes mit einem neuen Wesen, an dem es dann in die körperliche Erscheinung tritt oder wie die gewöhnliche Darstellung lautet: Im Mutterleib sucht und findet dieser Bewußtseinskeim die materiellen Stoffe, aus denen es ein neues, in Namen und Körperlichkeit ausgeprägtes Dasein bildet. Das Denken manifestiert sich im Chuti-Chitr, der natürlich in unmittelbarer Abhängigkeit von der Außenwelt (den Aromanas) steht, so daß BASTIAN ihn sogar mit der von SCHELLING durchgeführten Identität des Subjekts und Objekts vergleicht und den vom Mystiker JAKOB BÖHME gebrauchten Ausdruck des Denkens im Verhältnis zu seinem Gegenwurf zitiert (Der Buddhismus als religionsphilosophisches System, Seite 22).

Die Kausalitätsformel führt dann als viertes Moment in der Reihe der Nidanas auf Nama-Rupa, d. h. Name und Körperlichkeit, welche alsdann die sechs Gebiete, wie es heißt, d. h. die sechs Sinne hervorbringen: Auge, Ohr, Nase, Zunge, Leib (als Organ für die Tastempfindungen) und der Verstand (mano), denen gleichfalls sechs Gebiete der objektiven Welt entsprechen und nun entsteht aus der Wechselwirkung (Berührung heißt der eigentliche Ausdruck) zwischen den Sinnen und ihren Gegenständen die ganze buntschillernde Welt der Empfindungen. Und zwar wird dieser Prozeß im Genaueren so gedacht, daß er auf Veranlassung des Bewußtseins als des Zentralorgans erfolgt. Dies setzt, wie Oldenberg bemerkt, das Sinnesorgan in Tätigkeit, erteilt ihm den Befehl, mit dem Objekt in Verbindung zu treten. Und wenn dann diese Verbindung erfolgt, ist bei derselben außer den beiden zunächst beteiligten Elementen, dem Sinnesorgan und dem Objekt, auch als drittes das Bewußtsein, der Veranlasser und Zuschauer bei jener Verbindung, mit im Spiel (a. a. O. Seite 231). Diese Auffassung stimmt in auffälliger Weise mit der von LOTZE vertretenen Ansicht überein, wo er die Empfindung ganz und gar der Seele zuweist, während die Nerven dabei nur eine Vermittlerrolle spielen. Es versteht sich freilich von selbst, daß erkenntnistheoretisch die Situation völlig unvergleichbar ist (für den atomistischen Buddhismus hat eine substantielle Seele gar keine Bedeutung), aber für uns ist hier nur der psychologische Gesichtspunkt maßgebend. Dieser Passus lautet, mit Fortlassung jedes minder wichtigen Details, so: "Durch den äußeren Sinnesreiz wird in einem ersten Nervenelement der physische Zustand  r  und in Folge davon in demselben Element der Empfindungszustand  e  hervorgebracht; durch diese Änderung wird es dann genötigt, auch in einem zweiten, seinem Nachbarn, denselben Zustand  r  und infolge davon auch die Empfindung  e  zu bezwecken; so würde sich, durch die physischen Anstöße, welche die Elemente einander geben, auch die Erzeugung der ihnen angehörigen Empfindungen fortpflanzen. Aber wo würde das enden? Wo und wie auch diese Kette von Atomen und ihren inneren Erregungen zuletzt an die Seele anschließen mag, die Empfindung dieser, unsere Empfindung, würde aus dem inneren unserer Seele ebenso nur durch die Einwirkung des letzten  r  entstehen, mit welchem das letzte Nervenatom sie erregt, wie sie in der Kette selbst so von Glied zu Glied erzeugt wurde. Derjenige Dienst daher, welcher von den Nerven zum Zweck der Begründung unserer Empfindung geleistet werden kann, wird ebenso gut geleistet, wenn durch ihn hindurch nur ein physischer Vorgang geleitet wird, als wenn jedes einzelne Atom selbst in den seelischen Zustand geriete, der am Ende des letzten Vorgangs in uns entstehen soll; eine Nachricht, die brieflich durch eine Reihe von Boten von Hand zu Hand geht, kommt ihrem Empfänger nicht sicherer zu und wird von ihm nicht besser verstanden, wenn jede jener Mittelspersonen sie zu eigener Kenntnis und zu gemütlichem Anteil nimmt (System der Philosophie 2, Seite 505f).

Wie schon wiederholt erwähnt, kennt der streng atomistische Aufbau der buddhistischen Psychologie keine Seelensubstanz, sondern nur Elemente und ebensowenig gleich den spekulativen Brahmanenschulen ein Ich, ein Selbst; es existiert vielmehr nur ein Bündelt von jenen Khandas oder Elementen, ein Ausdruck, der sich wörtlich und sachlich genau mit der von HUME (2) öfter angewandten Bezeichnung: bundle deckt. Dieselbe Anschauung findet sich im Positivismus, wie z. B. MILL vom Ich als einen Faden der Vorstellungen oder TAINE (3) als einem Gewebe von Empfindungen spricht. Solange sich nun nicht durch philosophische Meditiation die vollständige Läuterung vollzogen hat, solange sich demnach noch im Upadana (dem Haften an der Existenz) die individuelle Erscheinung dokumentiert, - vermöge der als Fühlhörner vorgestreckten Sinnesorgane - kann von einer Erlösung aus diesem vergeblichen Kreislauf der Gestaltungen auch keine Rede sein. Im übrigen (rein psychologisch genommen) entspricht das Verhältnis der einzelnen Sinne (abgesehen natürlich vom sechsten, dem Verstand) zu ihren Objekten der bekannten Auffassung der modernen Psychologie, es ist die Beziehung des Makrokosmos zum Mikrokosmos, wie BASTIAN sagt, in platonischen Idealgestaltungen, aber stets nur momentan gestaltet, nach notwendigen Kraftwirkungen (Religionsphilosophische Probleme auf dem Feld buddhistischer Psychologie, Seite 36). Es handelt sich demnach weniger um ein ideales, ein für alle mal feststehendes Schema, das vor und außer den Dingen seine Geltung behauptete, sondern diese Wechselwirkung tritt erst im Augenblick des realen Kontaktes ins Leben. Auch die bekannte Hypothese von den spezifischen Energien der einzelnen Sinne fände hier ihr Gegenbild, ganz besonders für die im Manas wirksamen Chitr, die begreiflicherweise auch die Reihe der moralischen Affekte beherrschen, entweder in peiorem partem [bei ungünstiger Auslegung - wp] als Stolz, Hass, Angst usw. oder in sittlicher Vervollkommnung als Heiterkeit, Mitleid, Frömmigkeit usw.

Endlich bietet der Buddhismus auch nach der ganzen erkenntnistheoretischen Anlage (die spezifisch pessimistisch gefärbte Ethik kommt hier nicht weiter in Betracht) die bedeutsamsten Parallelen mit abendländischen Anschauungen. Man erinnere sich z. B. des viel verspotteten Anfangs der HEGELschen Logik, wo in der dialektischen Zersetzung der Begriffe des Seins und Nichtseins dem Werden, der Bewegung oder wie wir es nennen würden, der Entwicklung die positive Aufgabe der realen Gestaltung überwiesen wird. Ähnlich verflüchtigt sich im Schmelztiegel des indischen Skeptizismus das anscheinend feste und unveränderliche Sein in ein mehr oder minder rasch vorübergehendes Geschehen, allerdings unter dem Zauberbann der Kausalität. Von diesem Standppunkt aus trifft die Bemerkung OLDENBERGs völlig zu: "Die Welt ist der Weltprozeß und der Ausdruck dieses Weltprozesses oder wenigstens der Seite des Prozesses, mit welcher allein der in Leiden befangene, nach der Erlösung trachtende Mensch es zu tun hat, ist die Kausalitätsformel. Die Überzeugung von der in dieser Formel ausgesprochenen absoluten Gesetzmäßigkeit, die den Weltprozeß beherrscht, verdient als eines der wesentlichsten Elemente des buddhistischen Gedankenkreises hervorgehoben zu werden. Von Dingen oder von Substanzen, im Sinne eines in sich selbst ruhenden Daseins, wie wir ihn mit diesen Worten zu verbinden pflegen, kann für den Buddhismus nach dem allen nicht die Rede sein. Zur allgemeinsten Bezeichnung jener Wesenheiten, deren gegenseitige Beziehung die Kausalitätsformel ausdrückt, man könnte fast sagen, deren Sein eben das Stehen in jener gegenseitigen Beziehung (4) ist, besitzt die Sprache der Buddhisten zwei Ausdrücke: Dharma und Samsara, wir können etwa übersetzen: Ordnung und Gestaltung. Beide Beziehungen sind wesentlich synonym: beide schließen die Vorstellung ein, daß nicht sowohl ein Geordnetes, Gestaltetes, als vielmehr ein Sichordnen, ein Sichgestalten den Inhalt der Welt bildet; mit beiden ist für das Gefühl der Buddhisten unlösbar der Gedanke verbunden, daß jede Ordnung einer anderen Ordnung, jede Gestaltung anderen Gestaltungen Platz machen muß. Körperliche so gut wie geistige Entwicklungen, alle Empfindungen, Vorstellungen, alle Zustände, alles was ist, d. h. alles, was sich zuträgt, ist ein Dharma, ein Samsara (Seite 255). Diese grundlegende Perspektive, die gesamte Wirklichkeit in einen ewig flutenden Strom des Geschehens aufzulösen, hat sich, wie OLDENBERG ebenfalls treffend ausführt, der beiden Bilder, des Wassers und der sich selbst verzehrenden Flamme bedient.
    "Beide Anschauungen treten in den dunklen Sprüchen des großen Zeitgenossen BUDDHAs, der in seiner Auffassung vom Sein der Dinge ihm näher verwandt ist, als irgendein anderer unter den griechischen Denkern, des HERAKLIT, immer wieder in den Vordergrund: Alles fließt, das All ist ein ewig lebendes Feuer. Auch die Bildersprache des Buddhismus hat beides, den Strom und die Flamme, als Symbole der ruhelosen Bewegung in allem Dasein ergriffen. Darin aber unterscheidet sich das buddhistische Bild von dem des Ephesiers, daß der Buddhismus, jedem metaphysischen Interesse fremd, welches nicht in einem ethischen Interesse wurzelt, in den Anschauungen des Wassers und der Flamme nicht die bloße Bewegung, das nackte Werden allein, sondern vor allem die dem Menschenleben verhängnisvolle vernichtende Gewalt dieser Bewegung, dieses Werdens erfaßt. Die Wesen gleichen einer Flamme; ihr Dasein, ihr Wiedergeborenwerden ist ein flammendes Sichanheften, Sichhineinfressen in den Brennstoff, den die Welt der Vergänglichkeit bietet. Wie die Flamme, am Wind haftend, vom Wind getragen, auf Fernes entzündet, so dringt das flammengleiche Dasein der Wesen im Augenblick der Wiedergeburt in weite Fernen; hier legt das Wesen den alten Leib ab, dort bekleidet es sich mit einem neuen Leib. Wie der Wind die Flamme, so trägt der Durst, der am Dasein haftet, die Seele von einer Existenz zur anderen. Sein, können wir sagen, ist der vom Kausalitätsgesetz beherrschte Prozeß des in jedem Augenblick sich verzehrenden und neu erzeugenden Geschehens. Was wir ein beseeltes Wesen nennen, ist ein einzelnes Glied im Reich dieses Geschehens, eine Flamme in diesem Feuermeer. Wie sich im Verzehren immer frischen Brennstoffs die Flamme erhält, so erhält sich im Zuströmen und Hinschwinden immer neuer Elemente aus den Reich der Sinnenwelt jene Kontinuität des Wahrnehmens, Empfindens, Trachten, Leidens, die dem irrenden, durch den Schein ruhiger Sichselbstgleichheit getäuschten Blick sich als Wesen, als ein Subjekt darstellt." (a. a. O. Seite 265f)
Je mehr sich nun diese sinnliche Welt dem schärferen Blick als ein Trugbild herausstellt, ja überhaupt jede individuelle Existenz als ein Nefas erscheint, umso erklärlicher ist es, wenn in der Psychologie der ganze Nachdruck auf das eigene Erkennen gelegt wird, auf die Korrespondenz des Chitr mit dem zugehörigen Aromana, so daß man in dieser Hinsicht eine beachtenswerte Parallele mit CARTESIUS' berühmten Ausspruch, wie BASTIAN es nahelegt, finden könnte. Aber umso mehr darf nicht der Umstand übersehen werden, daß, während dort die Gedankenreihe einen Abschluß in der Fixierung der Idee Gottes als der vollkommensten findet, hier fehlt diese theistische Tendenz völlig, so daß also "weder der Mensch denkt, noch Gott in ihm, sondern es denkt" (Religionsphilosophische Probleme, Seite 17). Jedenfalls ist diese Betonung der strengen Gesetzmäßigkeit aller psychischen Prozesse ganz besonders geeignet, uns in jenen, im Detail natürlich häufig höchst phantastischen, bzw. wenigstens mangelhaft induktiv begründeten Erörterungen einen unserer modernen Anschauung verwandten Geist empfinden zu lassen. Wenn man nun gar den streng psychologischen Rahmen verläßt und sich einen Exkurs auf das Gebiet der Metaphysik gestattet, so häufen sich die Analogien noch mehr. Im hin- und herwogenden Streit über das Ich und Nicht-Ich, der nach KÖPPENs zutreffender Bemerkung um zweitausend Jahre älter ist als die FICHTEsche Philosophie (I, Seite 605), wir, wie in der griechischen Sophistik, die Substanzialität eines schaffenden, geistigen Elements völlig bis zum nichts verflüchtigt; wie sich der Begriff des Wagens in seine einzelnen Komponenten zerlegt, aus denen er besteht, so der Begriff des Ich und der Seele. Es bleiben nur die bekannten Elemente übrig, die jeder Zeit eine neue Verbindung eingehen können, aber vom individuellen Menschen als solchem bleibt keine Spur als der leere Name. Ja, selbst die Identität der Persönlichkeit in den verschiedenen Perioden und Augenblicken des Daseins unterliegt den erheblichsten Zweifeln.
    "Du bist von der Geburt bis zum Tod nicht derselbe, sondern heute ein anderer als gestern und wirst morgen ein anderer sein als heute. Diese Theorie scheut sich selbst nicht, die Konsequenen dieses Satzes zu ziehen und die moralische Verantwortlichkeit eines Menschen für frühere Verbrechen zu bestreiten. Der Mörder z. B., welcher in diesem Jahr hingerichtet wird, weil er im vorigen jemanden erschlagen hat, ist ihr nicht mehr dasselbe Wesen, das er war, als er diesen Mord beging." (KÖPPEN I, Seite 608)
Die ganze Anschauung aber ist, wie wir oben schon sahen, beherrscht vom Kausalitätsgesetz, dem Verhältnis der einzelnen Nidanas zueinander, die alles Werden bedingen, mit dem Alter und Tod beginnen und mit der verhängnisvollen Unwissenheit schließen. Wir bedienen uns hier der Schilderung KÖPPENs:
    "Der Zirkel der aufeinander folgenden, in sich verschlungenen, sich gegenseitig begründenden und aufhebenden Ursachen der Existenz ist der äußerste, alles umspannende und haltende Ring in der Kette der buddhistischen Metaphysik; ja er ist eigentlich das unaufhörlich kreisende Rad des Weltenumschwungs selbst. Wer in ihn eingedrungen ist, wer ihn auf- und abzurollen weiß, der ermißt die Tiefe des Samsara und die Hindernisse des Nirvane, dem ist das Rätsel des Lebens, das Geheimnis des Werdens gelöst, für den gibt es nicht Schmerz und Alter, weder Geburt noch Tod. Selbst der BUDDHA kennt nichts Höheres, als jene Verkettung der letzten Gründe und die Hemmung derselben, wie denn ja schon die alte Glaubensformel die Summe seiner Lehre in den Worten zusammenfaßt: Die Ursachen (Nidanas) der Gesetze (oder Wesen), welche aus Ursachen hervorgehen, hat der Tathagata erklärt, und welches ihm Verhinderung ist, hat der große Cramana ebenfalls erklärt. Die Erkenntnisse derselben ist ihm in der Ekstase auf der Höhe des vierten Dhyana zur Zeit der Morgendämmerung in jener Nacht geworden, welche seinem Kampf mit dem Widersacher folgte und seiner Erhöhung voranging." (a. a. O. Seite 609)
Ist diese Erkenntnis zum Durchbruch gelangt, so tritt die Erlösung und Befreiung von den Schranken und Hemmungen ein, die das irdische Leben beengen; die ganze Individualität mit all ihren Konsequenzen (Zeit, Raum, Alter, Geburt usw.) zerfällt als eitel Blendwerk und der Weise geht ein in die Ruhe des Nirvana, über dessen esoterische, echt philosophische Bedeutung, wie wir früher gesehen haben, kein Zweifel mehr aufkommen kann.
LITERATUR Thomas Achelis, Zur buddhistischen Psychologie, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 18, Leipzig 1894
    Anmerkungen
    1) Manche theologische Spekulationen von der Gnosis an bis in die neuere Zeit fußen auf ähnlichen Gedanken, ohne daß freilich immer, wie hier, die äußersten Konsequenzen gezogen wären.
    2) Weshalb dann auch hier der Komplex aueinanderfolgender Vorstellungen, der den Begriff des Ich konstituiert, mit dem Tod auseinanderfällt.
    3) Vgl. HIPPOLYTE TAINE, De l'intelligence I, Seite 270f
    4) Nebenbei bemerkt, bekanntlich ein Ausdruck, den LOTZE mit Vorliebe für die Verdeutlichung des für ihn maßgebenden Begriffs der Wechselwirkung anwendete.