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ALF ROSS
Theorie der Rechtsquellen
[Ein Beitrag zur Theorie des positiven Rechts
auf Grundlage dogmengeschichtlicher Untersuchungen]

[3/3]

"(Seit Austin) wird allgemein anerkannt, daß der Richter neues Recht schaffen kann und schafft. ... Wenn ein Richter ungern offen eingestehen will, daß er neues Recht schafft, sondern es vorzieht, eine Fiktion aufrechtzuerhalten, daß er in allen Fällen bloß ein vorgefundendes Recht anwendet, so können hierfür verschiedene erklärende Gründen angeführt werden. Einmal kann diese Fiktion sich aus einem persönlichen Konservatismus, einer Angst, Veränderungen im Ererbten einzuführen, herschreiben. Wo doch die Umstände den Richter zwingen, das Recht zu erneuern, zieht er es deshalb vor, durch allerlei listige Kunstgriffe (an den Haaren herbeigezogene Auslegungen, kühne Analogien, Fiktionen und dergleichen) die neue Regel in die Kleider der alten zu stecken und ihr so das Aussehen zu geben, als wäre alles beim alten geblieben."


Kapitel Kapitel IV
Englische Doktrin (1)

1. Wer, mit kontinentalem Rechtsdenken vertraut, mit der angelsächsischen Jurisprudenz Bekanntschaft macht, wird sich wundern, eine Literatur zu finden, die in ihrem Wesen, ihren Traditionen und ihrer Methode von dem, was er gewohnt ist, grundverschieden erscheint. Er wird einen Gedankengang finden, der sich im Großen und Ganzen unter erstaunlich geringem Einfluß vom Kontinent entwickelt hat. Dies gilt besonders in England im engeren Sinne. In Schottland fand wohl das metaphysische Naturrecht am Ausgang des vorigen Jahrhunderts im Edinburgher Professor JAMES LORIMER einen gläubigen Anhänger; aber es ist charakteristisch, daß er von englischen Verfassern als ein isoliertes Phänomen und seine Lehre als Kuriosität behandelt wird, auf die man nicht näher eingeht. (2) In Amerika übte andererseits die deutsche historische Schule einen nicht geringen Einfluß aus (3). Vielleicht, wie WILLOUGHBY (4) annimmt, aus politischen Gründen. Der nordamerikanische Freistaat war durch eine Volkserhebung gegen eine "souveräne" Macht entstanden, und es war vielleicht deshalb natürlich, daß man eher zu einer Rechtstheorie neigte, die das Volk als rechtschaffene Macht betonte, als zu einer, die - wie die englische analytische Schule - lehrte, daß alles Recht vom "Souverän" ausgeht. Es kann auch erwähnt werden, daß in moderner Zeit die besonders von Frankreich ausgehende soziologisch orientierte Rechtswissenschaft in Amerika Verbreitung gefunden hat (5). In England selbst hat dagegen weder die naturrechtliche, noch die deutsche historische Schule einen Einfluß ausgeübt. Naturrechtliche Systeme finden sich überhaupt nicht in der englischen Literatur. HOLLAND (6) drückt sicher die allgemeine englische Auffassung aus, wenn er "Naturrecht" als "Jurisprudence in the air" charakterisiert. Auch die deutsche historische Schule war nicht imstande, eine nennenswerte Macht über die Gemüter zu gewinnen. Soweit man überhaupt etwas von ihr weiß, ist es Brauch SAVIGNY mit einer artigen Referenz (7) zu nennen und im Übrigen unangefochten einen Weg zu gehen, der den Dogmen der deutschen historischen Schule diametral entgegengesetzt ist. England hat seine eigene historische Schule, die von MAINE begründet wurde (8). Sie ist von der deutschen Schule so verschieden, wie die Umstände ihrer Entstehung von denen jener. Die deutsche historische Schule erwuchs als eine Reaktion gegen die naturrechtlichen Spekulationen, enthält aber eben deshalb einen gut Teil nicht überwundene naturrechtliche Rudimente; als Rechtstheorie betrachtet, ist sie ebenso naturrechtlich wie positiv. Die englische Schule dagegen entstand in Kontinuation der positiven, analytischen Schule (9). Sie will nicht revolutionieren, sondern supplieren [ergänzen - wp]. Ihr innerster Charakter ist deshalb auch positivistisch und nicht naturrechtlich. Die beiden Gesichtspunkte, der analytische und der historische, gehen dann auch in unserer Zeit oft Seite an Seite, ohne sich zu bekämpfen (10), indem jeder von ihnen am rechten Platz angewendet wird. Es ist deshalb oft unmöglich, zu sagen, ob man einen Verfasser wesentlich zur analytischen oder zur historischen Richtung rechnen soll. Die beiden sind in Wirklichkeit zu einem Strom geworden.

Auf der anderen Seite übte die englische, analytische Schule - bis in die allerneueste Zeit - so gut wie gar keinen Einfluß auf den Kontinent aus. AUSTINs Name blieb unbekannt.

Der gegenseitige Mangel an Kontakt zwischen englischen und kontinentalem Rechtsdenken spiegelt sich bei englischen Verfassern in der Unwissenheit, dem Sichfremdfühlen, der Unbereitwilligkeit wieder, die man gegenüber der kontinentalen, besonders der deutschen Rechtsphilosophie zeigt (11).
    "Wenn ein englischer Rechtsanwalt", sagt Professor Salmond, "sich in den Bereich kontinentaler Rechtsphilosophie wagt, findet er sich in einem fremden Land, wo die Leute in einer fremden Sprache zu ihm sprechen."
Fragt man nach dem Grund dieser Tatsache, so läßt sich sicher nicht leugnen, daß man, abgesehen von besonderen Gründen, die einen wirklichen Unterschied im Gedankengang ausdrücken, auch einfache Unwissenheit oder in jedem Fall einen Mangel an tieferer Kenntnis nennen muß (12). Das verrät sich z. B. in der Art und Weise, in der SALMOND kontinentale Rechtsphilosophie im Gegensatz zu englischer charakterisiert; für ihn bedeutet deutsch dasselbe wie ethisch-metaphysisch-naturrechtlich (13). Selbstverständlich liegt hierin eine große Verkennung der deutschen Literatur.

Wollte man eine generalisierte Charakteristik der englischen "Jurisprudenz" im Verhältnis zur kontinentalen Rechtsphilosophie versuchen, so werden besonders zwei Züge hervorzuheben sein. Erstens ihr unsystematischer, "praktisch-realistischer" Charakter (14), zugleich ihre Stärke und ihre Schwäche. Ihre Schwäche insofern, als keine bedeutsame Einsicht gewonnen werden kann, ohne daß man den Mut hat, über das unmittelbar Praktische und "Reale" hinauszublicken. Ihre Stärke, insofern als die englische Theorie, wenngleich sie weniger weitspannend und hochfliegend ist, stets einen inneren Kontakt mit der Rechtswirklichkeit bewahrt hat, die zu erklären sie berufen ist. Gegenüber einer einseitigen Betonung des englischen Sinns für das "Reale" (was vielleicht dänische Leser besonders begeistert) muß doch festgestellt werden, daß AUSTIN, der Begründer der englischen wissenschaftlichen Jurisprudenz, eine ausgeprägt "theoretische" Begabung war (15). Ironisch wandte er sich gegen Leute, die glaubten, etwas anderes gegen eine Theorie einwenden zu können, als daß sie unwahr ist. (Die bekannte Redensart: "das ist wohl in der Theorie richtig, taugt aber nichts in der Praxis) (16). Zugleich sah er ein, daß der Rechtsbegriff sich nicht empirisch-induktiv bestimmen läßt, was ja auch nicht ganz zu "gesunden realen Gesichtspunkten paßt.

Der andere Zug, der in der englischen Jurisprudenz besonders hervorzuheben ist, hängt mit dem ersten zusammen. Es ist die bewundernswerte Methodenreinheit, die seit AUSTINs Zeit - wenngleich bei seinen Nachfolgern in geringerem Grad, wie bei ihm selbst - in der Literatur geherrscht hat. Nicht ganz mit Unrecht stellt daher SALMOND die englische Theorie in einen Gegensatz zur kontinentalen und sieht in ihr eine Vermengung von Ethik und Politik. Wir haben oben gesehen, in wie hohem Maße das bei der französischen Theorie der Fall ist (GENY!). Unten soll gezeigt werden, daß der Entwicklungskampf in Deutschland im letzten Jahrhundert die Richtung genommen hat, daß er das positiv rechtliche Problem von dieser Verkettung mit Politik ausschließt. Es ist kein Zufall, daß das einzige Werk, welches Austin zu Lebzeiten herausgegeben hat, den Titel "Province of jurisprudence determined" hatte. Als Motto für AUSTINs unermüdliche Bemühung, die Positivität des Rechts auszudrücken, als Ausdruck für den Standard, den er damit dem künftigen englischen Rechtsdenken aufstellte, kann man folgende Worte AUSTINs anführen:
    "Die Existenz eines Gesetzes ist eine Sache; sein Vor- oder Nachteil eine andere. Ob es existiert oder nicht, ist eine Frage; ob es einem angenommenen Standard entspricht oder nicht, ist eine andere Frage. Ein Gesetz, das tatsächlich existiert, ist ein Gesetz, auch wenn es uns zufällig nicht gefällt oder auch wenn es vom Text abweicht, durch den wir unsere Zustimmung und Mißbilligung regeln. Diese Wahrheit ist, wenn sie formell als abstrakter Satz verkündet wird, so einfach und offensichtlich, daß es müßig erscheint, darauf zu beharren . Aber so einfach und grob es auch ist, würde, abstrakt ausgedrückt, die Aufzählung der Fälle, in denen es vergessen wurde, ganze Bände füllen." (17)
Was nun den Grund dafür angeht, daß die englische Jurisprudenz in so weit höherem Grad eine naturrechtliche Methodenverwirrung vermieden hat, so spielt hier sicher ein rein zufälliger Umstand, die rechtliche Nomenklatur, eine gewisse Rolle (18). Die kontinentalen Sprachen wenden nämlich für den Begriff objektives Recht eine Bezeichnung an - Recht, Ret, droit, diritto usw. - die eine doppelte Äquivokation enthält. Außer dem objektiven Recht wird mit diesen Worten einmal die in Bezug auf diese abgeleitete subjektive Befugnis, das subjektive Recht, bezeichnet, und dann ein ethischer Begriff: Recht als Rechtfertigkeit. Im Englischen dagegen wird ein Ausdruck angewendet - the law - der diese Äquivokationen vermeidet. Die Bedeutung dieses Umstandes ist sicher groß. Der kontinentale Sprachgebrauch gibt ganz unwillkürlich der Frage "was ist Recht" einen ethischen Beiklang und führt leicht dazu, diese Frage mit einer "höheren" Rechtfertigkeit in Verbindung zu setzen. Der englische Sprachgebrauch dagegen scheidet diese beiden Gesichtspunkte aus. Es fällt nicht schwer, auf Englisch zu sagen: "it is law, but it is not right." [Es ist Gesetz, aber es ist nicht Recht. - wp] Andererseits enthält die englische Sprache andere, nicht minder gefährliche Äquivokationen, die auch ihre Spur in der Theorie hinterlassen haben. Erstens kann das englische Wort "justice" sowohl Justiz (in Zusammensetzungen) wie Rechtfertigkeit bedeuten. So wird ein Gericht "court of justice" genannt. Dieses Wort enthält im Gegensatz zu den kontinentalen: Gericht, Gerichtshof, Tribunal, die Möglichkeit einer Verwechslung von Recht und Moral, eine Möglichkeit, die in SALMONDs Rechtsdefinition (siehe unten) Wirklichkeit geworden ist. Andererseits kommen englische Verfasser leicht in die Gefahr, a law (Gesetz) mit the law (Recht) zu verwechseln, was zur Folge hat, daß ihre Rechtsdefinition (z. B. die AUSTINs) in zu hohem Grad in Richtung des Begriffs des Gesetzes orientiert bleibt.

Der Unterschied zwischen englischer und kontinentaler Rechtstheorie ist so augenscheinlich genug. Indessen ist in neuerer Zeit eine gewisse Annäherung zwischen den beiden Systemen erfolgt. So hat AUSTIN einen sehr bedeutenden Einfluß auf den ungarischen Rechtstheoretiker FELIX SOMLÓ ausgeübt (Juristische Grundlehre, 1917) und durch ihn wieder auf andere, z. B. KARL WOLFF (Grundlehre des Sollens, 1924). Es wäre vielleicht zu hoffen, daß diese neuen deutschen Richtungen, die in ihrem Wesen mit AUSTINs Gedankengang eng verwandt sind, wieder einen Einfluß auf die englische Jurisprudenz üben können.

2. Die englische Jurisprudenz zerfällt in drei Phasen:
    a) die Theorie vor Austin,
    b) Austin
    c) Austins Nachfolger.
Unter c) befassen wir sowohl die mehr analytischen, wie die unter MAINEs Einfluß mehr historisch orientierten.

Die Rechtstheorie vor AUSTIN findet ihren typischen Ausdruck bei BLACKSTONE (19). Seine "Commentaries on the Laws of England", die im Jahr 1765 erschienen sind, sind naturrechtlich beeinflußt. BLACKSTONE beginnt "Section the second, On the laws in general" mit einer Scheidung zwischen Gottes Gesetzen, oder "the laws of nature" und den Gesetzen der Menschen. Und er stimmt in die allgemeine Huldigung vor dem Naturrecht, Gottes Gesetz, mit ein. Es heißt (20a), daß das Naturrecht auf dem ganzen Globus in allen Ländern und zu allen Zeiten bindend ist: "no human laws are of any validity, if contrary to this." [Kein menschliches Gesetz hat irgendeine Gültigkeit, sofern es im Gegensatz dazu steht. - wp] Daß dies indessen mehr Redensarten sind, die der Zeitgeist mit sich brachte, als Ausdruck für eine wirkliche Naturrechtsdoktrin, das geht aus BLACKSTONEs unmittelbar nachfolgender Definition des positiven Rechts, "The municipal law", hervor.
    "Das Kommunalrecht", sagt Blackstone (20a), "ist eine von der obersten Macht eines Staates ordnungsmäß vorgeschriebene Regel zivilen Verhaltens, die bestimmt, was richtig ist, und verbietet, was falsch ist."
In dieser Definition wird das positive Recht ohne irgendeine Art Beziehung auf das Gesetz Gottes bestimmt. Um es ganz deutlich zu machen, setzt BLACKSTONE ausdrücklich den Begriff "civil conduct" in einen Gegensatz zu "moral conduct" (20c). Da BLACKSTONE außerdem betont, daß die Rechtsregel von "the supreme power of a state" vorgeschrieben wird, muß man einräumen, daß diese Definition nicht die Spur naturrechtlich ist.

BLACKSTONEs Rechtsquellenlehre, wie sie in "Section the third, On the Laws of England", dargestellt wird, beruth auf der römisch-germanischen Scheidung zwischen lex scripta und lex non scripta, wie sie ursprünglich an einigen Quellenstellen bei JUSTINIAN vorgenommen und später von der deutschen historischen Schule entwickelt wurde. Lex scripta, das Gesetz, wird direkt vom Volk und ausdrücklich durch die gesetzgebenden Organe gegeben; leges non scripta, das Gewohnheitsrecht, beruhen dagegen auf der stillschweigenden Billigung des Volkes durch die Gewohnheit;
    "Ihre verbindliche Macht und die Kraft der Gesetze erhalten sie durch langen und unvordenklichen Gebrauch und durch ihre allgemeine Annahme im gesamten Königreich." (20d)
Daß dies wirklich BLACKSTONEs Gedankengang ist, geht weiter deutlich daraus hervor, daß er eben die berühmte Quellenstelle bei JUSTINIAN zitiert und sie als ein Beispiel für die Freiheit des englischen Volkes bezeichnet, daß seine Gesetze zu einem großen Teil - the common law - durch des Volkes eigene Billigung durch die Gewohnheit entstanden sind (20e).

Ist aber so die Grundlage auch die römisch-germanische, so ist es doch charakteristisch, daßß die Lehre in BLACKSTONEs Händen eine ganz andere Wendung erhält als sie üblich ist, und sie später von der deutschen historischen Schule ausgebildet wurde. BLACKSTONE unternimmt eine bedeutsame Scheidung zwischen den generellen und den partikulären Gewohnheiten, je nachdem, ob sie in "the whole realm" [im ganzen Reich - wp] befolgt werden, oder nur in "particular districts". Was nun die partikularen Gewohnheiten angeht, so macht BLACKSTONE auch mit der Theorie von ihrem volksgeschaffenen Charakter Ernst. Auf ähnliche Weise wie die deutsche historische Schule stellt er eine Reihe Bedingungen auf, wann "a good custom" [eine gute Gewohnheit - wp], für den Richter bindend, vorliegt (20a). Diese Bedingungen sind, daß die Gewohnheit "has been used so long that the memory of men runneth not to the contrary" [wird schon so lange in Gebrauch ist, daß sich niemand an was anderes erinnert - wp], daß sie "continued" [weitergeführt - wp] worden ist; daß sie "peacable", "reasonable", "certain", "compulsary" [friedlich, vernünftig, gewiß, zwingend - wp] ist, endlich müssen die Gewohnheiten "consistent with each other" [miteinander in Einklang - wp] sein. Hierbei machen wir besonders auf die Bedingung aufmerksam, daß die Gewohnheit "compulsary" sein soll, was augenscheinlich dasselbe ist, wie die römisch-germanische Forderung einer opinio necessitatis [Überzeugung der Zweckmäßigkeit - wp]. Was dagegen die generellen Gewohnheiten angeht, so führt BLACKSTONE - hier in entschiedenem Gegensatz zu PUCHTA - keine Bedingungen für ihre rechtlich verbindende Kraft an. Das beruth nicht auf einem Vergessen. Er erhebt selber die Frage:
    "Aber hier (d. h. in Bezug auf die generellen Gewohnheiten) stellt sich eine sehr natürliche und sehr materielle Frage: Wie sind diese Bräuche oder Maximen zu erkennen und von wem ist ihre Gültigkeit zu bestimmen?" (20g). "Die Antwort ist: von den Richtern der verschiedenen Gerichtshöfe. Sie sind die Verwahrer der Gesetze; die lebenden Orakel, die in allen Zweifelsfällen entscheiden müssen ..." (20h)
Es kommt so ausschließlich den Gerichten zu (21), zu entscheiden, welche Gewohnheiten das Volk gültig als Recht geschaffen hat. Auf der anderen Seite wird festgehalten, daß der Richter nicht Recht schafft, sondern nur das vorgefundene, volksgeschaffene anwendet. Es wird besonders betont, "daß der Richter geschworen hat, nicht nach seinem eigenen Urteil zu entscheiden, sondern nach den bekannten Gesetzen und Gebräuchen des Landes". (20i) Der Richter wird nicht zum Schöpfer, sondern nur zu einem Orakel gemacht. Das Urteil wird zu wiederholtenmalen als "evidence" (20k) bezeichnet - wenn auch als einzig autoritativ, so doch als evidence [Beweismittel - wp] - für das, was common law ist.

Die Quintessenz von BLACKSTONEs Lehre läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Auf das praktische Postulat gegründet, daß der Richter nicht Recht schaffen kann, sondern nur bereits existierendes anwenden, das zu finden seine Aufgabe ist, gelangt BLACKSTONE dazu, die römisch-germanische Scheidung zwischen Gesetz und Gewohnheit anzunehmen. Aber diese Scheidung nimmt doch in ihrer näheren Ausgestaltung einen ganz besonderen Charakter an, der von der Lehre der späteren deutschen Schule verschieden ist, und auf die spätere englische Doktrin hindeutet. Er gibt nämlich - im Gegensatz zu PUCHTA - keine Bedingungen dafür an, wann eine generelle Gewohnheit verpflichtend ist. Er legt alles in die Hände des Richters, macht ihn zum einzigen lebenden autoritativen Orakel dafür, was das Volk als Recht geschaffen hat. Hiermit ist in Wirklichkeit die Rede von der rechtschaffenden Macht des Volkes recht illusorisch geworden; hiermit ist faktisch dem Gewohnheitsrecht sein extrajudizieller Charakter genommen, und es ist nur noch ein kleiner Schritt zu AUSTINs Lehre vom Gewohnheitsrecht als judge-made law [richtergemachtes Recht - wp].

3. Die Rechtswissenschaft als eine Normwissenschaft bestimmt zu haben, den Entwurf für eine allgemeine, formale Normlehre gegeben zu haben, weiter die Kriterien angegeben zu haben, die die verschiedenen Normarten differenzieren, und damit die rechtlichen Normen von den ethischen und konventionellen geschieden und so eine erkenntnistheoretische Grundlage für die Lehre von der Positivität des Rechts gegeben zu haben - diese Großtat, die eines KANT würdig gewesen wäre, und die faktisch auch in allerneuester Zeit auf anderen Gebieten als immanente Frucht seines Denkens zutage getreten ist, wurde von dem Engländer JOHN AUSTIN in einer Reihe Vorlesungen der Jahre 1828 - 1832, die nur wenige Menschen hörten, vollbracht, und wurde bald - für eine lange Zeit - vergessen.

Von AUSTINs Leben soll nur erwähnt werden, daß seine produktiv-wissenschaftliche Tätigkeit sich nur über die vier Jahre 1828 - 1832 erstreckt. Zu der Zeit war er Professor am neu gegründeten University College in London. Da mit dieser Stellung aber kein anderes Honorar verbunden war, als was durch die Vorlesungsgebühren der Studenten hereinkam, und da er nur sehr wenige Hörer hatte (22), so zwangen seine pekuniären Rücksichten ihn, seine Dozententätigkeit aufzugeben. Die einzige juristische Arbeit, die er zu Lebzeiten herausgab, waren seine ersten "lectures", die, auf sechs zusammengedrängt, im Jahre 1832 unter dem Titel "Province of Jurisprudence determined" herauskamen. Aber wenngleich sich unter seinen Hörern Männer von hervorragender Begabung befanden, die später auf den verschiedensten Gebieten leitende Stellungen einnahmen, und wenngleich mehrere von diesen - z. B. JOHN STUART MILL - von dem starken Eindruck erzählt haben, den AUSTIN auf sie machte, so wirkten seine Gedanken doch nicht befruhtend auf das juristische Denken der Zeit. Sein Buch blieb einsam, ohne Kritik oder Nachfolge zu finden. Die übrigen Vorlesungen gelangten zu seinen Lebzeiten niemals zur Veröffentlichung. Als er im Jahre 1859 starb, war er ein vergessener Mann. Nicht einmal die juristischen Zeitschriften erwähnten seinen Tod. Auch auf dem Kontinent blieb er unbekannt. Sein Name findet sich nicht in einem Werk wie HOLTZENDORFFs "Rechtslexikon", das doch Notizen über jeden obskuren mittelalterlichen Juristen bringt.

Aber gerade um die Zeit seines Todesjahres begann ein Umschlag. In den Jahren 1861-1863 gab seine Witwe SARAH AUSTIN mit bewundernswerten Fleiß eine neue Ausgabe der "Province of Jurisprudence determined" heraus, denen die übrigen unveröffentlichten Vorlesungen beigegeben waren, soweit es sich machen ließ; das Ganze gesammelt unter dem Titel "Lectures on Jurisprudence or the Philosophy of positive Law". (Wer an AUSTINs "Lectures" Kritik üben will, darf nicht vergessen, daß sie nur in Form vorläufiger Entwürfe, als Fragmente vorliegen, die er selber niemals der Herausgabe für würdig befunden hat.) Im Jahre 1863 schrieb JOHN STUART MILL einen Artikel in der "Edinborgh Review", der zum erstenmal mit Autorität der englischen juristischen Welt erzählte, daß sie in JOHN AUSTIN einen großen Juristen verloren hatte. Last but not least hielt MAINE gerade in diesen Jahren seine Vorlesungen, in denen er mit großer Kraft darauf aufmerksam machte, was England, ja die ganze Welt AUSTIN verdankt.
    "Bentham und in noch höherem Maße Austin verdankt die Welt den einzigen existierenden Versuch, ein System der Rechtsprechung durch einen streng wissenschaftlichen Prozess aufzubauen ..." (23)
MAINE hat es augenscheinlich verstanden, Interesse und Verständnis für AUSTIN zu wecken. Im Jahre 1869 folgt die dritte Auflage der "Lectures", denen im Jahre 1879 die vierte und 1885 die fünfte Auflage folgte. Ein halbes Jahrhundert nachdem AUSTIN seine Vorlesungen gehalten hatte, sind sie den Juristen bekannt geworden, von da ab nimmt das Interesse ständig zu. Im Jahre 1871 eröffnet MARKBY mit "Elements of Law" die Reihe bedeutender Werke, die man die englische analytische Schule nennen kann und die alle in direkter Verbindung mit AUSTINs "Lectures" stehen. Von da an werden Analysen, Kommentare und Einführungen (24) zu AUSTIN geschrieben. Endlich wird er in Deutschland bekannt und übt durch SOMLÓ und WOLFF einen entscheidenden Einfluß auf die moderne Rechtstheorie aus (25). AUSTIN lebte im 19. Jahrhundert, er schrieb aber für das zwanzigste.

Eine der Ursachen dafür, daß AUSTINs Gedanken so langsam und schwer vordrangen, kann vielleicht - außer dem allgemeinen Mangel an theoretischem Interesse - der schwer zugänglichen Form zugeschrieben werden, in der seine "Lectures" vorliegen. Einerseits sind sie, wie gesagt, nur ein vorläufiger Entwurf, andererseits macht ihre sprachliche Form sie nicht anziehend. Eine bis zum äußersten getriebene, bedenkliche Ängstlichkeit, kein Problem fahren zu lassen, solange es nicht bis zum letzten Punkt geklärt und analysiert ist, hat ermüdende Wiederholungen und einen schleppenden Stil zur Folge, der nicht vom Fleck kommt. Lange Ausführungen über die englische Utilitätsmoral, dazu in ihrer langweiligsten Form, die quantitativ einen großen Teil von AUSTINs Werk füllen, wenngleich ohne organische Verbindung mit seiner Rechtstheorie, trugen sicher auch dazu bei, eine Abneigung gegen ihn auf dem Kontinent zu wecken. Aber wie ermüdend AUSTINs Stil auch sein mag, er zeugt - im Gegensatz zu so vieler journalistischer Schönrederei - von ausdauernder wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit bis zum Letzten. Außer KANT hat niemand ein schöneres Bild intellektueller Redlichkeit geboten, will mir scheinen.

AUSTIN selbst war sich nicht klar darüber, daß er eine neue Wissenschaft begründete, nämlich die juristische Grundlehre. Auch über das wahre Wesen und den Umfang seiner Untersuchungen war er sich nicht klar. Er bezeichnete sein Werk als "general jurisprudence", ohne die prinzipiell wichtige Scheidelinie zu bemerken, die die formalen und notwendigen Begriffe der juristischen Grundlehre von den materialen und positiv bedingten Rechtsinhalten scheidet, die durch weitgehende Generalisation von einem oder mehreren Rechtssystemen gewonnen wird. AUSTINs Werk behandelt dann auch nebeneinander einerseits notwendige und formale Begriffe, wie Rechtsnorm, Rechtspflicht, Rechtsquelle, Staat und dgl., andererseits bloß bedingte Begriffe, wie dingliche Rechte, res publicae [öffentliche Angelegenheiten - wp], quasi-servitutes [Als-ob-Dienstbarkeiten - wp], emphyteusis [Leihverhältnis an Grundstücken - wp] u. a. m., die alle zu mehr oder weniger allgemeinen Teilen eines oder mehrerer positiven Rechtssystemen gehören. Auf der anderen Seite zeigt sich, daß diese Scheidung AUSTIN vorgeschwebt hat, ohne daß er doch zur Klarheit gelangt wäre. Einzelne losgelöste Sätze können völlig korrekt klingen (26). Im dem besonderen Abschnitt "On the Study of Jurisprudence" unternimmt er eine Scheidung zwischen notwendigen und nicht notwendigen Begriffen (27). Aber einerseits wird die Trennlinie falsch gezogen, da er viel bloß rechtsinhaltsmäßige Begriffe unter die notwendigen reiht, andererseits legt er der Scheidung nicht ihre rechte methodische Bedeutung als Grundlage für die Scheidung zwischen juristischer Grundlehre und allgemeiner Rechtslehre bei. Das hängt damit zusammen, daß er bei Notwendigkeit mehr an praktische als an theoretische Notwendigkeit denkt, mehr an die, die aus dem Einfluß äußerer Lebensverhältnisse entspringt, als an die, die aus einer formalen Normlogik stammt.

AUSTIN ist nicht ohne Vorgänger. HOBBES und nicht minder JEREMY BENTHAM haben einen bedeutenden Einfluß auf ihn ausgeübt. Vielleicht kann man sogar von diesen eine Linie bis BODIN (28) zurückziehen. BENTHAMs Einfluß spürt man besonders bei AUSTINs ethischen Theorien. Sein oberflächlicher und platter Utilitarismus ist ganz nach BENTHAMs Maß zugeschnitten. AUSTINs eigentlicher Einsatz dagegen, seine stringente Scheidung zwischen Recht und Moral, ist sein Eigentum. Da es gerade die Pointe in AUSTINs Lehre ist, daß die ethischen Prinzipien rechtswissenschaftlich irrelevant sind, so soll der Einfluß der Moralphilosophen deshalb nicht weiter verfolgt werden.

4. AUSTINs Methode zur Bestimmung des Rechtsbegriffs ist apriorisch und deduktiv nicht empirisch und induktiv. "Province of Jurisprudence determined" beginnt folgendermaßen:
    "Die korrekten Gesetze, bzw. ordnungsgemäß genannten Gesetze sind Gebote; Gesetze, die keine Gebote sind, wie die nicht ordnungsgemäßen Gesetze genannt werden. Gesetze im eigentlichen Sinne sowie Gesetze mit falscher Bezeichnung können treffend in die folgenden vier Arten unterteilt werden.

      1. Die göttlichen Gesetze oder die Gesetze Gottes: das heißt die Gesetze, die Gott seinen menschlichen Geschöpfen auferlegt.

      2. Positive Gesetze: das heißt Gesetze, die einfach und streng so genannt werden und den entsprechenden Gegenstand der allgemeinen und besonderen Rechtsprechung bilden.

      3. Positive Moral, Regeln positiver Moral oder positive moralische Regeln.

      4. Gesetze metaphorischer oder bildlicher Natur oder lediglich metaphorischer oder bildlicher Natur.

    Die göttlichen Gesetze und positiven Gesetze werden korrekterweise so genannt. (29a)
Hier wird also gleich auf der ersten Seite ohne Verweisung auf eine Erfahrung festgestellt, daß Recht eine Art von "zutreffend so genanntem Gesetz" oder Befehlen (commands) ist. Da nun die Methode, den Begriff des Rechts näher zu bestimmen, darauf ausgeht - ebenfalls ohne Hinweis auf eine Erfahrung - zu analysieren, was im Begriff Befehl liegt und danach die besonderen Kriterien festzustellen, die die rechtlichen Gesetze von anderen (ob nun Gesetze im strengen Sinn oder nicht) unterscheiden, so wird man sehen, daß es richtig ist, AUSTINs Methode als apriorisch und deduktiv zu charakterisieren. Apriorisch ist ein relativer Begriff, hier wird apriorisch im Verhältnis zu etwas, das als Rechtserfahrung ausgegeben wird, gemeint.

AUSTINs Methode kann von mehreren Gesichtspunkten aus folgendermaßen interpretiert werden. Der Kern in dem oben angeführten Zitat ist, daß "laws properly so called" von "laws improperly so called" geschieden werden, d. h. daß ein Begriff für echte Normen aufgestellt wird. Wenn dann diese als "commands" bezeichnet werden und dieser Begriff näher analysiert wird (siehe unten), so bedeutet das ein Entwurf zu einer formalen Norm-Grundlehre. Wenn endlich die besonderen Kriterien angegeben werden, die die rechtlichen Normen von anderen scheiden, so ist dies dasselbe wie ein Versuch einer speziellen, rechtlichen, formalen Normlehre.

Der Begriff "command" [Befehl - wp] wird näher so bestimmt:
    "Wenn Sie einen Wunsch äußern oder andeuten, dass ich eine Handlung tun oder unterlassen soll, und wenn Sie mich mit einem Übel heimsuchen, falls ich Ihrem Wunsch nicht nachkomme, ist der Ausdruck oder die Andeutung Ihres Wunsches ein Befehl." (29b)
Weiter muß der Befehlende auch Macht haben, im Falle daß sein Wunsch nicht erfüllt wird, das angedrohte Böse zu realisieren. Rein formal werden sodann von hieraus die Begriffe Pflicht und Sanktion konstruiert.
    "Da ich einem von Ihnen verursachten Übel ausgesetzt bin, wenn ich einem Wunsch, den Sie geäußert haben, nicht nachkomme, bin ich an Ihren Befehl gebunden bzw. verpflichtet, d. h. ich habe die Pflicht, ihm zu gehorchen. Wenn ich trotz des bevorstehenden Übels dem Wunsch, der geäußert wird, dem Befehl nicht gehorche, so verletze ich darin auferlegte Pflicht."

    "Das Übel, das wahrscheinlich entsteht, wenn einem Befehl nicht Folge geleistet wird oder (um einen äquivalenten Ausdruck zu verwenden) wenn eine Pflicht gebrochen wird, wird häufig als Sanktion oder Erzwingung des Gehorsams bezeichnet." (29c)
Da die Begriffe Pflicht und Sanktion vom Begriff Befehl aus konstruiert sind, so ist klar,
    "daß Befehl, Pflicht und Sanktion untrennbar miteinander verbundene Begriffe sind: daß jeder die gleichen Ideen wie der andere umfaßt, obwohl jeder diese Ideen in einer bestimmten Ordnung, bzw. Reihenfolge bezeichnet." (29d)
Endlich wird der Begriff superiority [Überlegenheit - wp] auf dieselbe formale Weise bestimmt. Es war für den Begriff Befehl erforderlich, daß der Befehlende auch Macht hatte, eventuell die Sanktion zu realisieren. Diese Machtstellung wird als superiority bezeichnet. Es heißt, daß der Befehl von einem superior [Überlegenen - wp] ausgeht und den inferior [Unterlegenen - wp] verpflichtet. Diese Lehre soll später kritisiert werden (30). Hier wollen wir nur darauf aufmerksam machen, eine wie weitreichende Bedeutung diese formal koordinierten Definitionen der Begriffe Norm (command), Pflicht und Sanktion haben. Erstens ist es z. B. von großer Bedeutung, daß der Begriff Pflicht rein formal, korrelativ zu jeder Norm definiert wird - ob nun von ethischen Normen die Rede ist oder nicht. Damit wird dem Pflichtbegriff der ethische Beiklang genommen, den er im vulgären Sprachgebrauch hat, und der in Deutschland eins der wesentlichen Hindernisse war, die Frage richtig zu stellen und zu lösen, wann eine Rechtsregel rechtlich verpflichtend ist, d. h. das Problem der Positivität des Rechts. AUSTIN schafft hier einen reinen Pflichtbegriff und ermöglicht damit einen reinen Rechtsbegriff. Ein anderer Beweis dafür, wie folgenreich diese Normenlehre ist, liegt darin, daß es nach ihr sanktionslose Normen nicht gibt, denn auch Sanktion und Norm sind korrelative Begriffe. Folge: ein kategorischer Imperativ ist eine sinnlose Konstruktion.

Die Trennung zwischen den einzelnen Normarten erfolgt, da Befehl einen Befehlenden voraussetzt, von dem Gesichtspunkt aus, wer sie gesetzt hat. Nimmt man weiter die unechten Normen mit, die, die nicht Befehle sind, so erhält man folgende Gruppen (31):
    1. "laws of God", d. h. Befehle, die von Gott den Menschen gesetzt werden, sind bei Austin nur eine andere Konstruktion für die ethischen Normen.

    2. "laws set by men to men", menschliche Gesetze (human laws) zerfallen wieder in zwei Abteilungen:
      a) "Regeln, die von Menschen für Menschen aufgestellt und von politischen Machthabern festgelegt werden"

    Diese beiden ersten Gruppen sind echte Normen (Befehle).

    3. uneigentliche Gesetze, die aufgrund enger Analogie so genannt werden, nämlich Regeln, die durch bloße Meinung festgelegt und durchgesetzt werden (Ehrenregeln, Mode, Konvention)

    4. Gesetze, die nur metaphorisch so genannt werden, z. B. Naturgesetze
Man sieht, daß von diesen Gruppen die Gruppe 1 die ethischen, Gruppe 2a) die rechtlichen Normen enthält. Gruppe 2b) und 3 werden zusammen von AUSTIN positive morality genannt. Gruppe 4 sind Naturgesetze.

AUSTIN geht dann dazu über, jede dieser Gruppen genauer zu charakterisieren, um auf ihrer Grundlage "the province of jurisprudence" abzugrenzen. Es ist zu bedauern, daß er deshalb soviel Kraft und Raum verschwendet, um näher den Begriff "the laws of God" zu bestimmen. Diese langwierigen Ausführungen über den englischen Utilitarismus, die Lecture 2-4 füllen, sind für einen modernen Leser völlig ohne Interesse. Durch einen naiven und augenscheinlichen Zirkel - indem er das Utilitätsprinzip als Gottes Willen postuliert, weil Gott gut ist - gelingt es ihm, die ethischen Normen als "laws of God" zu konstruieren.

Die Regeln der positiven Moralität unterscheiden sich von den rechtlichen dadurch, daß sie (abgesehen von der weniger bedeutungsvollen Gruppe 2b) "sind Gesetze, die durch die allgemeine Meinung festgelegt oder auferlegt werden, das heißt durch die allgemeine Meinung einer Klasse oder einer Gruppe von Personen" (32) Die rechtlichen Normen dagegen werden von "politischen Machthabern" gesetzt oder, wie es auch ausgedrückt wird, von einem Souverän, oder einem souveränen Kreis von Personen. Hiermit sind wir zum Kernpunkt in AUSTINs Lehre gekommen: dem Souveränitätsbegriff. Dies wird genauer so bestimmt:
    "Die Überlegenheit, die als Souveränität bezeichnet wird, und die unabhängige politische Gesellschaft, die Souveränität impliziert, unterscheidet sich von einer anderen Macht und von anderen Gesellschaften durch die folgenden Kennzeichen oder Merkmale. -

    1. Die Masse der gegebenen Gesellschaft hat die Gewohnheit sich einem bestimmten gemeinsamen Machthaber zu unterwerfen und ihm gehorsam zu sein: Dieser allgemeine Machthaber kann eine bestimmte Einzelperson oder eine bestimmte Körperschaft oder Ansammlung einzelner Personen sein.

    2. Bestimmte Individuen oder eine bestimmte Gruppe von Individuen haben nicht die Angewohnheit, irgendwelchen Vorgesetzten zu gehorchen. ... Daraus folgt, daß man es mit einer verkürzten Ausdrucksform zu tun hat, wenn man eine Gesellschaft als unabhängig bezeichnet. Die wirklich unabhängige Partei ist nicht die Gesellschaft, sondern der souveräne Teil der Gesellschaft." (33) (In Übereinstimmung hiermit gebraucht Austin das Wort Staat synonym mit the sovereign.)
Es wird dieser Begriffsbestimmung nicht ausdrücklich etwas darüber gesagt, weshalb der größte Teil eines Gemeinwesens regelmäßig den Befehlen gewisser Einzelner folgt. Aber es liegt implizit darin. Die Souveränität ist eine Art von "superiority" und "superiority signifies might." [Überlegenheit bedeutet Macht. - wp] Macht, überlegene Macht, ist das Kriterium, das eine einzelne Person oder einem bestimmten Kreis von Personen als souverän determiniert. Sein oder ihr Befehl ist Recht. AUSTINs Theorie involviert mit anderen Worten, daß es in jedem Gemeinwesen möglich ist, seine Mitglieder in zwei Gruppen zu teilen: eine kleine bestimmte Gruppe, die die faktische höchste Macht besitzt, the rulers, die als souverän bezeichnet werden, und deren Befehle Recht sind, und eine große unbestimmte Gruppe, the ruled, deren große Mehrzahl (bulk) regelmäßig (habit) den Befehlen der souveränen Macht gehorcht.

Der Souveränitätsbegriff ist der Kern in AUSTINs Rechtsbegriff. Das Leitmotiv durch alle seine Untersuchungen ist das Bestreben, einen reinen Rechtsbegriff zu bilden, der Ausdruck für eine Rechtswirklichkeit ist.
    "Die Existenz (34) des Gesetzes ist eine Sache, sein Wert oder seine Fehler eine andere. Ob es existiert oder nicht, ist eine Frage, ob es einem beabsichtigten Standard entspricht oder nicht, ist eine andere Frage."
Dieses Bestreben, eine Rechtswirklichkeit festzustellen, mündet bei AUSTIN darin, daß er das Recht als reale Befehle einer souveränen Person (oder eines souveränen Kreises von Personen), d. h. bestimmt nachweisbarer, realer Personen bestimmt. Es ist AUSTINs großes Verdienst, eine positive Rechtsbetrachtung konsequent durchgeführt und damit zuerst von allen die Grundlage für eine positive Rechtsquellentheorie gelegt zu haben.

5. Für AUSTIN bedeutet die Quelle einer Norm (eines Befehls) dasselbe wie der Befehlsgeber. Von AUSTINs Standpunkt aus ist das konsequent. Er hat damit richtig eingesehen und durchgeführt, daß der Quellenbegriff in Übereinstimmung mit dem Normbegriff und den Kriterien, nach denen die verschiedenen Normarten geschieden werden, bestimmt werden muß. Denn hiermit wird die Quelle als Erkenntnisgrund Ausdruck für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Normart. Wird deshalb eine Norm als ein Befehl bestimmt, und wird das entscheidende spezifizierende Kriterium formalerweise in den Befehlserteiler gesetzt, muß auch der Quellenbegriff formal sein und auf die erwähnten Verhältnisse abzielen. AUSTIN vermied hiermit einen Fehler, dem seine Nachfolger verfielen. Dieser besteht darin, daß man außer einem formalen Quellenbegriff, der für die Form des Rechts, seine Autorität entscheidend ist, einen anderen materiellen aufstellt, der für den Inhalt der Rechtsregel entscheidend ist. Man übersieht hierbei, daß Form und Inhalt nicht zwei verschiedene Existenzen haben, vielmehr nur durch Abstraktion von ein und derselben Existenz geschieden werden können. Hat man deshalb die formale Quelle des Rechts - z. B. den Souverän als Befehlenden angegeben, so hat man damit auch zugleich, so gewiß Form nicht ohne Inhalt existieren kann, den Inhalt des Rechts, nämlich, was der Souverän befiehlt, angegeben. Umgekehrt ist es unmöglich, nach der Quelle für den Inhalt des Rechts, abgesehen von seiner Form oder Autorität, zu fragen. Denn abgesehen von dieser Form kann der Inhalt als solcher überhaupt nicht als Recht erkannt werden. Um zu wissen, daß überhaupt eine Rechtsregel vorliegt und nicht bloß eine Regel irgendeiner anderen Art muß man ihre Form erkennen; und damit ist ihr Charakter als Recht erschöpfend bezeichnet. Ein materieller Quellenbegriff, der einem formalen zur Seite gestellt wird, ist deshalb eine Sinnlosigkeit. In Wahrheit liegt hier eine methodische Vermengung ganz verschiedener Probleme vor. Bei den materiellen Quellen des Rechts denkt man an die soziologischen Ursachen, nach denen ein gegebenes Recht existiert. Dieses soziologische Problem wird mit der theoretischen Frage nach dem Erkenntnisgrund dafür, daß etwas als Recht angesehen wird, vermengt.

AUSTIN gestaltet die Quellenlehre folgendermaßen näher aus (35). Da alle Rechtsregeln letzten Endes Befehle vom Souverän sind, ist dieser insofern die einzige Rechtsquelle. Aber nicht alle Rechtsregeln sind unmittelbar vom Souverän als Befehle ausgegangen. Einige sind unmittelbar von anderen, wenngleich mittelbar vom Souverän ausgegangen. Wenn man das Verhältnis kennt, das zwischen dem Souverän und dem unmittelbaren Befehlenden besteht, wird es deshalb für die Kennzeichnung des Rechtscharakters einer Regel genügen, anzugeben, wer sie unmittelbar befohlen hat. Es lohnt sich deshalb, einen neuen Rechtsquellenbegriff, den "unmittelbaren Befehlserteiler", einzuführen. Je nachdem ob der "unmittelbare Befehlserteiler" einer Rechtsregel der Souverän selbst ist oder ein anderer, so daß der Souverän nur mittelbarer Befehlserteiler ist, kann man zwischen unmittelbarem und mittelbarem Recht unterscheiden.
    "Gesetze werden hinsichtlich ihrer Quellen oder ihrer direkten unmittelbaren Urheber in Gesetze unterschieden, die direkt und unmittelbar von der obersten gesetzgebenden Körperschaft erlassen werden, und Gesetze, die nicht direkt und unmittelbar von der obersten gesetzgebenden Körperschaft erlassen werden, obwohl sie ihre Gültigkeit und ausdrückliche oder stillschweigende Autorität daraus ableiten." (36)
Unabhängig von dieser Scheidung nimmt AUSTIN eine andere vor, je nachdem das Recht direkt oder indirekt (obliquely) entstanden ist.
    "Die Unterscheidung zwischen direkt begründetem Recht und indirekt geltendem Recht beruht nicht auf einem Unterschied in den Quellen, aus denen das Gesetz hervorgeht, sondern auf einem Unterschied in der Art und Weise, wie es entsteht. Wenn das Gesetz oder die Regel direkt aufgestellt wird, besteht der eigentliche Zweck des oder der unmittelbaren Urheber darin, ein Gesetz oder eine Regel zu erlassen. Wenn das Gesetz oder die Regel indirekt eingeführt wird, besteht der eigentliche Zweck des unmittelbaren Autors bzw. der unmittelbaren Autoren darin, einen bestimmten Fall oder einen bestimmten Punkt oder eine bestimmte Frage zu entscheiden." (37)
Diese beiden voneinander unabhängigen Scheidungen: unmittelbar - unmittelbar gesetztes Recht und indirekt - direkt entstandenes Recht können nun zu vier Gruppen zusammen kombiniert werden, von denen AUSTIN Beispiele gibt (38).
    1. Unmittelbar gesetztes, direkt entstandenes Recht. Beispiel: Recht, das durch die allgemeine Gesetzgebungstätigkeit unter seinen verschiedenen Namen: Parlamentsakt, leges plebiscita, senatus-consulta usw. entstanden ist.

    2. Unmittelbar gesetztes, indirekt entstandenes Recht. Diese Gruppe spielt eine unbedeutende Rolle, da sie nur gedacht werden kann soweit die souveräne Macht urteilend auftritt, was - jedenfalls heutzutage - nicht der Fall zu sein pflegt. Austin nennt keine Beispiele.

    3. Mittelbar gesetztes, direkt entstandenes Recht. Hierunter fällt alle delegierte subordinierte Gesetzgebung. Austin nennt die regulae praxis der englischen Gerichtshöfe, die arrêts der französischen Parlamente und die Edikte der römischen Prätoren.

    4. Mittelbar gesetztes, indirekt entstandenes Recht: Recht, das durch die urteilende Tätigkeit der Gerichte entstanden ist, judicary law; (siehe hierüber im Folgenden)
Von diesen vier Gruppen spielt, praktisch genommen nur die Nr. 1 und 4 eine Rolle.

6. Das Zentrale in AUSTINs Quellenlehre liegt in dem, was man die volle Bewahrung der Positivität nennen kann. Das für den Rechtsbegriff einmal angenommene formale Kriterium - Ursprung vom Souverän - wird konsequent für alle Arten von Rechtsquellen festgehalten. Hiermit wird die Positivität des Rechts bewahrt, da (wie oben erwähnt) jeder andere Quellenbegriff zur Annahme anderer Rechtskriterien und damit zur Sprengung des Rechtsbegriffs oder zur Vermengung von Recht mit anderen Normarten führen würde. Etwas anderes ist es, daß man mit AUSTIN in der Bestimmung des Rechtsbegriffs uneinig sein kann. Aber man muß in jedem Fall konsequent sein. Soweit man, was die gewöhnliche Annahme ist - das Gesetz als Rechtsquelle von dem Gesichtspunkt aus anerkennt, daß sie von einem Souverän (einer "kompetenten Behörde", der Staatsmacht, oder wie man das nun in den verschiedenen Varianten ausdrückt) herrührt, muß man auch bei den anderen Rechtsquellen diesen selben Gesichtspunkt durchführen.

AUSTIN sucht dann auch zu beweisen, daß die vier Formen des Rechts, die er angegeben hat, imstande sind, auch die gewöhnlich angeführten und als von der souveränen Macht unabhängig angenommenen Rechtsquellen zu umfassen. Diese Rechtsquellen sind besonders drei: Gewohnheit, die Meinung und Praxis privater Juristen und die Natur der Sache, die Vernunft oder dergleichen. Die drei Arten Recht, denen gewöhnlich eine Existenz unabhängig von der souveränen Macht beigelegt wird, sind entsprechend: Gewohnheitsrecht, Recht, das sich auf private Autorität gründet und Naturrecht. AUSTIN zeigt nun, daß sie alle als Recht der vierten Form, judiciary law, richterschaffendes Recht, aufgefaßt werden müssen. Hier soll besonders das Gewohnheitsrecht besprochen werden, da AUSTIN von ihm ausging, als er sich polemisch gegen BLACKSTONE wandte, und da über dieses später Streit unter seinen Nachfolgern entstand. Aber was hier vom Gewohnheitsrecht gesagt wird, gilt im Übrigen entsprechend vom Naturrecht und dem Recht, das sich auf private Doktrin, "Wissenschaft" oder dgl. gründet.

AUSTIN geht davon aus, daß eine Gewohnheitsregel als solche, d. h. abgesehen von eventueller Autorität, die ihr von einem Souverän beigelegt wird, unter die Normart fällt, die er als positive Moralität charakterisiert hat.
    "Unabhängig von der Position oder von der Institutionalisierung, die sie vom Souverän erhält, bezieht die Regel, die die Gewohnheit impliziert (oder in deren Befolgung eine Gewohnheit besteht), ihre gesamte verbindliche Kraft aus den übereinstimmenden Gefühlen, die als öffentliche Meinung bezeichnet werden. Unabhängig von der Position oder Institutionalisierung, die sie vom Souverän erhält, handelt es sich um eine bloße moralisch sanktionierte Regel, bzw. um eine Regel positiver (d. h. tatsächlicher) Moral." (39)
Aber eine solche Regel kann in eine Rechtsregel übergehen.
    "Nun kann eine bloß moralische oder eine bloß gewohnheitsmäßige Regel auf zwei Arten die Qualität einer Rechtsregel annehmen: - Sie kann von einer souveränen oder untergeordneten gesetzgebenden Körperschaft angenommen und im direkten Modus in ein Gesetz umgewandelt werden; oder sie kann als Grundlage einer gerichtlichen Entscheidung herangezogen werden, die später als Präzedenzfall gilt; und in diesem Fall wird sie nach richterlicher Art in ein Gesetz umgewandelt."
Auf welche Weise das nun auch geschieht, es geht die Rechtsregel, in welche sie transformiert ist, vom Souverän aus und erlangt eben dadurch ihren formalen Charakter als Recht. Im ersten dieser Fälle, wenn die Gewohnheitsregel zur Gesetzesform erhöht ist, wird niemand darauf kommen, vom besonderen Gewohnheitsrecht zu sprechen, obgleich der Inhalt der Gesetzesregel von einer prä-existierenden Gewohnheit geholt ist. Anders dagegen in den Fällen, wo die Gewohnheitsregel in die Form richtergeschaffenen Rechts übergegangen ist.
    "Obwohl es sich beim durch Richter geschaffenes Recht nicht um weniger positives Recht handelt, als es bei Gesetzen der Fall ist, werden Gesetze, die sich aus der Gewohnheit ergeben or jus moribus constitutum [auf Sitte basiertes Recht - wp] oft so angesehen." (40)
AUSTINs Standpunkt läßt sich kurz so wiedergeben: Ansich ist die Regel, die die Gewohnheit impliziert, nicht Recht; sie wird es nur, wenn und in dem Umfang wie die Regel bei den Gerichten Anwendung findet (oder mehr ausnahmsweise von der Gesetzgebungsmacht adoptiert wird). AUSTIN zeigt, daß eine Verkennung dieser Tatsache zur Folge hat, daß positives Recht und positive Moralität vermengt werden. Er zeigt, daß es auch nicht angängig ist, die Gewohnheit eine Rechtsquelle in der Bedeutung zu nennen, daß sie Ursache zu einer Rechtsregel gewesen ist, die nach ihr gemodelt ist, denn auf diese Weise wird es nicht möglich sein, der Gewohnheit mehr Bedeutung beizulegen, als den zahllosen, unbestimmbaren anderen Ursachen, die bei ihr mitgewirkt haben, oder bei der Entstehung irgendeiner anderen Rechtsregel.
    "Nimmt man den Begriff Quelle in einer lockeren Bedeutung, so kann die Gewohnheit als Rechtsquelle bezeichnet werden. Denn das Bestehen einer Sitte, die von der allgemeinen Meinung befürwortet wird, ist die Ursache oder der Anlaß, bzw. einer der Gründe oder Anlässe für die darauf basierende Rechtsnorm. Nimmt man den Begriff Quelle jedoch in der gleichen lockeren Bedeutung, sind die Gründe des Brauchtums, aus dem das Gesetz hervorgeht, auch eine Quelle des Gesetzes selbst: Allgemein gilt, daß jede Begründung eines Gesetzes einer Quelle zugeordnet werden können muß." (41)
Unter den "Quellen" zum Römischen Recht z. B. kann in dieser losen Bedeutung die Gewohnheit nicht mit größerer Berechtigung genannt werden, als "the blandishments of Justinians wife." [die Art, wie Justinian seiner Frau schmeichelt - wp] (42)

AUSTINs Lehre von der Gewohnheit - und den anderen vermeintlich selbständigen Rechtsquellen - bezeichnet einen entscheidenden Wendepunkt in der englischen Quellentheorie. Es ist hier zum erstenmal ausgesprochen, daß der Richter, in seiner Eigenschaft als Organ des Souveräns, Recht schaffen kann und Recht schafft. Was BLACKSTONE hinderte, dies einzusehen, sagt AUSTIN:
    "war die kindische Fiktion unserer Richter, daß die Judikative oder das Gewohnheitsrecht nicht von ihnen gemacht werden, sondern etwas Wundersames ist, das von niemandem geschaffen wurde, das wohl wahrscheinlich seit Ewigkeiten existiert und lediglich von Zeit zu Zeit von den Richtern erklärt wird." (43)
Mit dieser "kindlichen Fiktion" ist es von nun an in der englischen Jurisprudenz vorbei. Es wird allgemein anerkannt, daß der Richter neues Recht schaffen kann und schafft. Etwas anderes ist es, daß diese Fiktion wie so viele andere insofern praktische Bedeutung haben kann, als sie eine Wahrheit verhüllt, die man aus dem einen oder anderen Grund seinen Mitmenschen - oder sich selbst - nicht gern eingestehen will. Wenn ein Richter ungern offen eingestehen will, daß er neues Recht schafft, sondern es vorzieht, die Fiktion aufrechtzuerhalten, daß er in allen Fällen bloß ein vorgefundendes Recht anwendet, so können hierfür verschiedene erklärende Gründen angeführt werden (44). Einmal kann diese Fiktion sich aus einem persönlichen Konservatismus, einer Angst, Veränderungen im Ererbten einzuführen, herschreiben. Wo doch die Umstände den Richter zwingen, das Recht zu erneuern, zieht er es deshalb vor, durch allerlei listige Kunstgriffe (an den Haaren herbeigezogene Auslegungen, kühne Analogien, Fiktionen und dergleichen) die neue Regel in die Kleider der alten zu stecken und ihr so das Aussehen zu geben, als wäre alles beim alten geblieben. Andererseits und vielleicht in noch höherem Grad hat diese Fiktion eine mehr objektive Ursache. Es stärkt die Autorität des Gerichts gegenüber den Parteien und dem Volk, wenn die Fiktion aufrechterhalten wird, als schaffe das Gericht nicht Recht, sondern wende es nur an. Es stärkt die Macht und das Ansehen des Richters (bülow) bei den streitenden Parteien, wenn diese glauben, daß der Richter zur Entscheidung ihres Streites Recht anwenden will, das sowohl für ihn, wie für sie existiert, und das der Richter nur zu finden hat. Es wird dagegen die Autorität des Richters schwächen, wenn er offen einräumt, daß er erst jetzt, - ex post facto - die Rechtsregel schaffen soll, nach der der Rechtshandel gelöst wird. Aber diese praktischen Kunstgriffe berühren natürlich die theoretische Rechtswissenschaft nicht, deren einzige Aufgabe es ist, festzustellen und zu verstehen, wie die rechtlichen Phänomene faktisch verlaufen. (Dieser Ausdruck, der hier vorläufig angewendet wird, ist mehr bildlich als exakt.)

AUSTINs Kritik der Theorie BLACKSTONEs gilt in noch höherem Grad der Lehre der historischen Schule. Diese hebt nämlich noch stärker als BLACKSTONE den extrajudiziellen Charakter des Gewohnheitsrechts hervor. Sie geht sogar so weit, dem Gewohnheitsrecht ein gewisses mystisches erhöhtes Gepräge zu geben, als sei es heimlich aus einer gewissen mystischen Volksseele erwachsen. Diese feierliche Rede beeinflußt AUSTINs unbarmherzig ehrlichen und unromantischen Gedankengang nicht.
    "Trotz der hochtrabenden Reden, mit denen es gepriesen und verdunkelt wird, hat das Gewohnheitsrecht also nichts Großartiges oder Geheimnisvolles an sich. Es handelt sich lediglich um eine Art Justizrecht." (45)
Endlich kritisiert AUSTIN (46) auch die allgemeine Vorstellung, daß das Gewohnheitsrecht, als dem Volk entsprungen (eventuell sogar dem Willen der Ausübenden), ein Ausdruck für die Interessen und die Freiheit dieses (dieser) sein sollte. Wenn z. B. wenige Starke gewohnheitsmäßig große Teile eines stumpfen und schwachen Volkes in Knechtschaft oder Sklaverei halten, dann wird dieses Verhältnis durch Gewohnheit in ein Gewohnheitsrecht übergehen. Man kann deshalb nicht sagen, daß Gewohnheit ein Ausdruck für die Interessen der Handelnden zu sein braucht. Die Befolgung der Gewohnheit braucht nämlich nicht freiwillig zu sein, wenn auch der Zwang nicht rechtlichen Charakters ist. Die Gewohnheit wird weit leichter Ausdruck für die natürliche Lage der Stärkeverhältnisse, d. h. Ausdruck für die Interessen der Stärkeren werden.

Was hier von der Gewohnheit als Rechtsquelle gesagt ist, gilt entsprechend von der Wissenschaft, der "Natur", oder was man sonst für "inhaltsmäßige" Quellen aufstellen mag. Sie sind nur Teile eines richtergeschaffenen Rechts. Recht sind sie nur, wenn und in dem Umfang wie sie vor Gericht Anwendung finden.

AUSTINs Rechtsquellenlehre hängt intim mit seiner allgemeinen Rechtstheorie zusammen. Die Pointe ist in beiden dieselbe. Seine Rechtsquellenlehre ist, wie aus dem Vorhergehenden sich wohl ergibt, eine konsequente Durchführung und Aufrechterhaltung des reinen positiven Rechtsbegriffs, der den Gegenstand für seine Rechtstheorie bildet. Und das Ziel ist bei beiden, die Erkenntnis einer reinen Rechtswirklichkeit zu ermöglichen.

7. AUSTINs Werk wurde für alle nachfolgende englische Rechtstheorie entscheidend. Besonders in zwei Punkten. Erstens hatte er eine theoretische Grundlage für die Erkenntnis einer reinen Rechtswirklichkeit geschaffen, d. h. er hatte das Recht aus seiner Vermengung mit Ethik und positiver Moralität herausgelöst. Die englische Literatur hat dadurch zu einem großen Teil die methodischen Verwirrungen naturrechtlicher Art vermieden, die die Folge einer solchen Vermengung sind, und die in hohem Grad in den Literaturen des Kontinents Verheerungen angerichtet haben und noch anrichten. Die englische Theorie hat mehr als irgendeine andere ein positives, methodenreines Gepräge bewahrt. Hiernach wird es verständlich, daß englische Juristen sich oft im Gegensatz zu kontinentaler Rechtsphilosophie fühlen, die für sie - wenngleich in unrichtiger Verallgemeinerung - als ethisch und metaphysisch geprägt erscheint. Englische Juristen (47) haben dann auch zu wiederholtenmalen es als AUSTINs großes Verdienst hervorgehoben, daß er eine Rechtstheorie geschaffen hat, die von allen ethischen Spekulationen unabhängig ist - und die von einem Hindu, einem Mohammedaner, und einem Christen, einem absoluten Monarchisten und einem Revolutionärem in gleicher Weise angenommen werden kann.
    "Austin hat der Rechtswissenschaft", sagt z. B. Dillon, "vielleicht keinen größeren Dienst erwiesen als in den ausführlichen Kapiteln über die «Province of Jurisprudence Determined», in denen er die Grenzen der Rechtswissenschaft definierte und sie vom Bereich der Ethik und Moral trennte." (48)
Zweitens (und das ist eine Folge des Ersten) hat AUSTIN ein für allemal in der englischen Literatur mit der "kindlichen Fiktion" aufgeräumt, daß der Richter nicht Recht schafft, sondern nur ein von vornherein existierendes, von ihm bloß gefundenes Recht anwendet. Die Lehre von "the judge-made law" ist opinio communis [allgemeine Ansicht - wp] unter den englischen Juristen geworden. "Kein intelligenter Anwalt würde heutzutage behaupten, dass die Entscheidungen der Gerichte das Gesetz nicht ergänzen oder ändern", hat POLLOCK gesagt. (49) Die übliche kontinentale Scheidung zwischen Gesetz und Gewohnheit ist in der englischen Literatur verdrängt von der Scheidung zwischen Gesetz und judiciary law oder (weniger korrekt aber leichter) judge-made law.

AUSTINs Werk wurde für alle spätere englische Jurisprudenz entscheidend. Andererseits ist nach seiner Zeit auch nichts wesentlich Neues geschaffen worden. Man hat AUSTIN nicht verlassen oder überwunden, ist aber auch nicht über ihn hinaus gelangt. Man hat hier und da geflickt, ihn im einen oder anderen Punkt kritisiert. Aber das Grundfundament für AUSTINs Lehrgebäude - die Etablierung der Rechtswirklichkeit in einem machtvollen Willen - wurde niemals klar ausgearbeitet und einer durchgreifenden Kritik unterworfen. Nicht einmal MAINE und die historische Schule lieferten etwas wesentlich Neues für das Verständnis des Wesens des Rechts.

Was noch schlimmer ist, seit AUSTINs Zeit ist ein entschiedener Rückgang erfolgt. Viel von dem, was AUSTIN aufgebaut hatte, ist wieder zusammengestürzt oder in Vergessenheit geraten. Wo er mit seiner stringenten Analyse Klarheit gebracht hatte, hat sich seitdem Unklarheit und Verwirrung eingeschlichen. Das gilt von beiden erwähnten Hauptpunkten: dem Rechtsbegriff und der Rechtsquellenlehre. Nicht einmal in Bezug auf diesen zentralen Punkt selber, den positiven Charakter des Rechtsbegriffs, die Scheidung des Rechts von einer "höheren" ethischen Rechtfertigkeit, glückte es AUSTINs Nachfolgern, seinen Standard zu halten. Es schwebte immer den Geistern vor, daß irgendeine Verbindung zwischen Recht und Ethik bestehen müßte. Der Drang, bloß ein kleines Stückchen der immer so verführerischen höheren Rechtfertigkeit einzubeziehen, wurde zu groß. In mehr oder weniger bildlichen Ausdrücken suchte man aufs Neue etwas Rechtfertigkeit in die "Province of Jurisprudence" einzuschmuggeln. (siehe hierüber Näheres im Exkursus A) Da auch (wie im Folgenden ausführlicher gezeigt werden soll) AUSTINs Rechtsquellenlehre verfiel, und seine Lehre von den vier Formen allen Rechts ganz in der Literatur vergessen wurde, da ferner der Begriff einer formalen, juristischen Grundlehre, der AUSTIN vorgeschwebt hatte, in der späteren Literatur vollständig zugunsten des Begriffs "general jurisprudence" verschwindet, kann man im Großen und Ganzen sagen, daß das theoretische Lehrgebäude, das AUSTIN aufgeführt hatte, mehr und mehr in den Händen seiner englischen Nachfolger dahinschwindet. Dem ungarischen Rechtslehrer FELIX SOMLÓ blieb es vorbehalten, AUSTINs Gedanken und sein System wiederaufzunehmen und ihm ein neues Leben zu geben, indem er auf ihrem Grund eine juristische Grundlehre aufbaute.

Wenn auch die Rechtsquellenlehre bei AUSTINs Nachfolgern mehr und mehr verschwand, so lag das vielleicht an einem gewissen Mangel bei AUSTIN selber. Wohl hatte AUSTIN einen Quellenbegriff angenommen, der die methodischen Forderungen erfüllte, die man an diesen Begriff stellen mußte, nämlich Konformität mit dem Rechtsbegriff. Wohl hatte er auch aus diesem Grund es abgelehnt, anders bestimmte Quellenbegriffe gelten zu lassen, nämlich den sogenannten materiellen, oder inhaltsdeterminierenden Quellenbegriff. Aber er hatte nicht hinreichend die Gründe klargemacht, die dazu führen, daß der Quellenbegriff auf diese Weise bestimmt werden muß, und damit hat er die formale Bedeutung des Quellenbegriffs nicht hinreichend festgelegt. Der Grundfehler bei seinen Nachfolgern ist gerade, daß sie so gut wie ohne Ausnahme kein Verständnis für die formale Bedeutung des Quellenbegriffs haben und mit einer Reihe verschiedener, methodisch disparater Quellenbegriffe arbeiten, die das tiefere, zusammenhängende Verständnis des Quellenproblems ausschließen. Die innere Verwirrung spiegelt sich auch in dem äußeren Umstand, daß das, was zur Bestimmung des Begriffs Rechtsquelle gesagt wird, nicht bei zwei Verfassern übereinstimmt.

Der am meisten in die Augen fallende Fehler, der, in verschiedener Formulierung, bei ihnen allen wiederkehrt, ist, daß man statt eines Einheitsquellenbegriffs zwei verschiedene, voneinander unabhängige, einen formalen und einen materialen, wie sie in der Regel genannt werden, annimmt.
    "Eine formale Quelle ist diejenige, aus der die Herrschaft des Rechts ihre Kraft und Gültigkeit bezieht. Daraus ergibt sich die Autorität der Gesetze. Die materiellen Quellen hingegen sind diejenigen, aus denen der jeweilige Rechtsgegenstand abgeleitet ist, nicht die Gültigkeit der Gesetze."
So bestimmt SALMOND (50) die Doppelheit und kann in dieser Hinsicht als Muster für sie alle dienen. (51) Die erste Frage, woher die Rechtsregeln ihre bindende Kraft erlangen, wird in Übereinstimmung mit AUSTIN so beantwortet, daß man sagt, da diese von der obersten, souveränen Macht herrührt, oder, wie man sich jetzt in der Regel ausdrückt, vom Staat (52). Hiermit ist die formale Quelle angegeben. Was dagegen die materiellen Quellen angeht, so herrscht eine bunte Verwirrung; hierunter werden pêle-mêle [durcheinander - wp] eine Reihe verschiedener Dinge angegeben, die nach vulgären Gesichtspunkten wohl natürlich Rechtsquelle genannt werden können. Der Umstand, daß nicht zwei Verfasser in ihrer Angabe der materialen Quellen übereinstimmen, dürfte ein Zeichen dafür sein, wie haltlos und unmöglich dieser Begriff ist. MARKBY (53) nennt legislation, judiciary law (darunter interpretation und custom) und commentaries. SALMOND (54) unterscheidet innerhalb der materialen Quellen zwischen den historischen und den legalen (d. h. denen, die vom Recht selbst anerkannt sind) und nennt unter diesen letzteren: legislation, precedent, custum und agreement. GRAY nennt als materiale Quellen: statutes, judicial precedents, opinions of experts und custom (55). GOADBY: legislation, custom, natural law und equity (56). HOLLAND endlich arbeitet mit nicht weniger als vier Quellenbegriffen. Außer dem gewöhnlichen formalen Begriff nimmt er einen an, der angibt,, wo wir unser Wissen, was Recht ist, holen könen, ein anderer, der die bewegenden Gründe (remote causes) angibt, die die Rechtsregeln zur Existenz gebracht haben, und ein dritter, der die Organe angibt, durch die der Staat neues Recht schafft. Unter diesen drei Gruppen werden, ohne Angabe ihres wechselseitigen Zusammenhangs oder Zusammenhangs mit den formalen Quellen, folgende Quellen genannt: statute-book, reports, esteamed treatises (ad 1), custom, religion, scientific discussion (ad 2), adjudication, equitiy und legislation (ad 3) (57).

Der Grund zu dieser radikalen Verwirrung liegt darin, daß die Scheidung selbst zwischen formaler und materialer Rechtsquelle unmöglich ist, so gewiß, wie Form und Inhalt nicht als zwei, sondern nur als abstrakte Seiten ein und derselben Existenz angesehen werden können. Hat man den souveränen Willen als formale Quelle des Rechts angegeben, so ist damit auch seine materiale Quelle bestimmt, nämlich als Inhalt dieses Willens. Das Rechtsquellenproblem besteht in diesem Fall darin, zu zeigen, wie der souverände Wille - als Form des Rechts wenn man will - seinen Inhalt in einer Reihe determinierender Akte entfaltet. Materiale Quellen ohne Verbindung mit dem souveränen Willen aufzustellen, hat dagegen keinen Sinn (natürlich stets von der Voraussetzung aus, daß darüber Einigkeit herrscht, daß der souveräne Wille die "formale" Quelle des Rechts ist). Man kann hier höchstens an die Ursachen (kausal-naturwissenschaftlich) denken, weshalb der Souverän eine Regel von diesem oder jenem Inhalt als Recht gesetzt hat. Aber dieses soziologisch-kausale Problem kann natürlich nicht neben oder im Gegensatz zum "formalen" Quellenproblem gesetzt werden. Die beiden Fragen sind absolut inkommensurabel. Die Haupteinteilung, auf der später die englische Quellentheorie beruth, ist deshalb eine methodische Unmöglichkeit, die in höchstem Grad geeignet ist, Mißverständnisse zu erzeugen. So muß zuerst und vor allem jede rationale Einteilung der Quellen unmöglich gemacht werden. Es ist in dieser Hinsicht charakteristisch, daß die Einteilung AUSTINs allen Rechts in vier Gruppen (siehe oben) in den Werken der Epigonen ganz verschwindet, um einer zufälligen und oberflächlichen Einteilung Platz zu machen, die sich meist von einer Ableierung nicht unterscheidet. Sodann muß die Falschheit der Grundeinteilung Anlaß zu falschen Gegensätzen geben. Wenn z. B. die Gewohnheit als materiale, "precedent" als formale Quelle angesehen wird, muß das zu der Auffassung Veranlassung geben, daß das Gewohnheitsrecht kein richtergeschaffenes Recht ist, eine Auffassung, die die meisten Verfasser sonst bekämpfen.

8. Während so die Beiträge zur allgemeinen Theorie der Rechtsquellen gering waren und mehr dazu dienten, AUSTINs Theorien zu verwässern, als sie zu fördern, sammelte sich die Diskussion mit umso größerer Kraft um einen einzelnen Punkt in AUSTINs Quellenlehre, nämlich seine Theorie vom Gewohnheitsrecht als vom Richter geschaffenen Recht, wenn und in dem Umfang wie dieser durch ein Urteil den Stempel der staatlichen Anerkennung auf eine bereits existierende, aber nur unter "positive morality" gehörende Gewohnheitsregel drückt. AUSTIN hatte sich kritisch gegen die Fiktion BLACKSTONEs gewandt, daß der Richter Recht nicht schaffen, sondern nur anwenden kann. In diesem negativ-kritischen Teil, der die positive Behauptung involviert, daß der Richter Recht schaffen kann und faktisch schafft, gewann AUSTIN in der späteren englischen Doktrin allgemeine Zustimmung. In der englischen Literatur im engeren Sinn hat sich nicht eine einzige Stimme mit Autorität (58) in diesem Punkt gegen AUSTIN erhoben. In Amerika, das stets stärker von der deutschen historischen Schule beeinflußt war, haben dagegen verschiedene Verfasser (59) vom Standpunkt dieser Schule aus die Selbständigkeit des Gewohnheitsrechts behauptet. Zuletzt und mit stärkstem Nachdruck CARTER in einer Rede (60), die er vor der American Bar Association gehalten hat, und dann in einem größeren Werk "Law, its Origin, Growth and Function". CARTER bestreitet im Anschluß an BLACKSTONE und die historische Schule, daß der Richter Recht schaffen kann. Er stützt seine Behauptung besonders auf zwei Argumente. Erstens auf eine psychologische Untersuchung darüber, wie der Richter selbst seine Richterfunktion auffaßt (61). CARTER schildert, wie dieser niemals selber den Anspruch erhebt, rechtschaffend aufzutreten. Wenn eine Sache vorliegt, wird erst das Gesetz und ein Präzendenzfall befragt. Aber in den meisten Fällen wird man dabei keine vollbefriedigende Antwort finden.
    "Hier liegt die interessante und entscheidende Probe der Frage, wie das Gesetz entsteht. Daß der Richter das Gesetz nicht machen kann, wird von Anfang an akzeptiert. ... Man ist sich einig, daß die wahre Regel irgendwie gefunden werden muß. Richter und Anwälte beteiligen sich gemeinsam an der Suche. Es werden Fälle angeführt, die mehr oder weniger annähernd dem Streitpunkt nahe kommen. Es wird auf Analogien verwiesen. An Bräuche und Gewohnheiten der Menschen wird appelliert. Prinzipien, die bereits als grundlegend gelten, werden beschworen und entfalten ihre Konsequenzen; und schließlich wird eine Regel abgeleitet, die als diejenige erklärt wird, deren Anwendung das bestehende Recht auf den Fall vorschreibt." (62)
Dieses Räsonnement [Argument - wp] ist aus mehreren Gründen falsch. Erstens ist des Richters Meinung über seine eigene Funktion nicht entscheidend dafür, wie diese in Wirklichkeit ist. Es lassen sich, wie erwähnt, mehrere gute Gründe dafür anführen, daß der Richter für sich und andere die Jllusion aufrecht erhält, daß er nicht Recht schafft. Sodann beruth das Räsonnement auf einem unrichtigen ("materiellen") Quellenbegriff. Selbst wenn der Richter die Sache im Hinblick auf einen bereits existierenden Standard entscheidet, ist es nicht sicher, daß dieser Standard als Rechtsquelle existiert. Es ist möglich, daß die Regel weder neu noch richtergeschaffen ist, das Recht aber beides (63). Ferner stützt CARTER seine Kritik AUSTINs darauf, daß, wenn wirklich ein judge-made law existiert, dieses ex post factum sein müßte, was zur Folge haben würde,
    "daß jemand für die Verletzung eines Gesetzes bestraft wird, die begangen wurde, bevor das Gesetz erlassen wurde. Keine Rechtstheorie kann Bestand haben, die eine solche Konsequenz mit sich bringt." (64)
Als Ausdruck für eine ethisch-politische Mißbilligung kann dieses Argument indessen niemals für eine Entscheidung in Betracht kommen, wie die Verhältnisse wirklich sind. Es ist ein Faktum, daß auch Gesetze bisweilen mit "rückwirkender Kraft" gegeben werden. Im Übrigen kann man CARTER etwas damit beruhigen, daß das Einzige, was man aus der Existenz des "judge-made law" schließen kann, ist, daß das Recht als solches ex post factum ist, während die Regel, nach der jemand verurteilt wird, oft vorher unter der Form einer Gewohnheitsregel, Moralregel, Konventionsregel oder dgl. existiert haben wird (65).

Im Ganzen kann man also sagen, daß AUSTINs Kritik an BLACKSTONE unbedingte Anerkennung bei seinen Nachfolgern gefunden hat. Anders dagegen war es mit seiner positiven Lehre, daß das Gewohnheitsrecht vom Richter geschaffen wird, wenn und in dem Umfang wie eine Gewohnheit als Voraussetzung für eine Urteilsbildung Anwendung findet. Die Diskussion hierüber wurde dadurch veranlaßt, daß man glaubte, die Konsequenz der Theorie AUSTINs nicht akzeptieren zu können, daß die Gewohnheiten nicht Recht sind, bevor sie bei einem Gericht Anwendung finden. Man behauptete dem gegenüber, daß die Gewohnheitsregeln, ebenso gut wie das Recht, das aus dem Gesetz stammt, als Gesetz des Landes gelten kann, auch bevor es bei einem Urteil Anwendung gefunden hat. Man führte verschiedene Argumente dafür an (65a). Zuerst und vor allem, daß der Richter ebenso gut gebunden und verpflichtet ist, gewisse Gewohnheiten zu respektieren, wie das Gesetz, es steht nicht in seinem Belieben, ob er gewisse Gewohnheitsregeln anwenden will oder nicht, und von diesem muß man daher sagen, daß sie auch vor der Anwendung Recht sind. Weiter wurde angeführt, daß die Anerkennung einer Gewohnheitsregel durch den Richter retrospektiv wirkt (66). Die Handlungen, die vor dem Augenblick der Urteilsfällung liegen, werden nach der Gewohnheitsregel beurteilt, die daher schon im Augenblick der Handlung Recht sein muß. Ganz richtig hat BROWN repliziert, daß dieses Argument nicht entscheidend ist, da die retrospektive Anerkennung der Gewohnheitsregel nicht von dem Fall wesensverschieden ist, daß ein Gesetz mit "rückwirkender Kraft" gegeben wird. Als Recht existiert es erst jetzt, es findet aber doch Anwendung auf frühere Tatsachen. Drittens hat man den Spruch und die Auffassung des Richters angeführt, die darauf hinausgeht, daß mit der Rechtsregel bereits geltendes Recht angewendet wird. Die Unhaltbarkeit dieses Arguments ist schon im Vorhergehenden nachgewiesen; was ein Richter bekennt oder zu tun glaubt, und was er wirklich tut, ist keineswegs immer dasselbe. Für eine nähere Betrachtung bleibt von den drei Argumenten daher nur das erste. Es geht darauf aus, daß der Richter verpflichtet ist, gewisse Gewohnheiten anzuwenden, gerade so wie er verpflichtet ist, das Gesetz anzuwenden. Wie man darüber nun auch denken mag, es könnte scheinen, als ob die Behauptung, daß Gewohnheitsregeln Recht vor der Richteranwendung sind, diese Verfasser in innere Widersprüche verwickeln müßte. Auf der einen Seite stimmen sie AUSTIN zu, daß die Gewohnheitsregel als solche nicht rechtlichen Charakters ist, sondern nur zu dem gehört, was AUSTIN "positive morality" nannte; andererseits behaupten sie doch, daß die Regel, die ansich nicht Recht ist, vor der Anerkennung durch den Richter Recht ist und den Richter rechtlich bindet. KISS (67) hat dann auch in einem Artikel über englische Rechtsquellentheorie diesen vermeintlichen Widerspruch als Achillesferse der Theorie, als ihre nie aufgelöste Antinomie bezeichnet, die er von den neuesten Ergebnissen der kontinentalen Quellentheorie aus zu lösen sucht. Überflüssig, dann man kann nicht mit Recht behaupten, daß diese scheinbare Antinomie von englischen Juristen ungelöst gelassen wäre (67a). Man muß endlich zugeben, daß die Lösung, die sie selbst gegeben haben, erheblich besser ist, als die, die KISS zum Ersatz heranführt. Die Antinomie ist nämlich nur scheinbar. Auf der einen Seite heißt es, daß die Gewohnheitsregel nicht als Gewohnheitsregel verbindend ist, auf der anderen Seite, daß gewisse Gewohnheiten doch rechtlich vor ihrer ersten konkreten Anwendung als Grundlage für ein Urteil binden. Hieraus kann man schließen, daß es in einem solchen Fall nicht die konkrete Richteranwendung ist, die der Gewohnheitsregel ihren Rechtscharakter gegeben hat, wie AUSTIN lehrte. Aber zeigt man, daß die Gewohnheitsregel auf andere Weise vor der konkreten Anwendung vom bloß Moralischen zum Rechtlichen transformiert wurde, dann verschwindet damit jeder Schein von Widerspruch. So sagt HOLLAND:
    "Wir können nur sagen, daß die Regel, daß ein Gericht bestimmten Arten von Bräuchen verbindliche Kraft verleihen soll, ebenso gut etabliert ist wie Hunderte andere Rechtsnormen und auf die gleiche Weise aufgestellt wurde. Die als Beauftragte des Staates handelnden Richter haben diesen Punkt wie viele andere schon vor langer Zeit gesetzlich geregelt." (68)
HOLLAND betont noch einmal, daß die verbindende Kraft der Gewohnheit auf einer Staatsanerkennung beruth.
    "Der rechtliche Charakter vernünftiger alter Bräuche ist nicht auf die bloße Tatsache zurückzuführen, daß es sich um vernünftige alte Bräuche handelt, sondern auf die Existenz eines ausdrücklichen oder stillschweigenden Gesetzes des Staates, das diesen Bräuchen die Wirkung von Gesetzen verleiht." (69)
Die Abweichung von AUSTIN besteht also darin, daß betont wird, daß die Anerkennung durch den Staat nicht bloß nachfolgend (singuläre Anerkennung), sondern auch im Voraus (en-bloc Anerkennung) erfolgen kann. Es existiert eine Rechtsregel, die von vornherein en-bloc [im Ganzen - wp] die Gewohnheiten anerkennt, die gewisse Bedingungen erfüllen; es liegt also vor, was wir in einer Normlig; nachfolgend (singuläre Anerkennung), sondern auch im Voraus (en-bloc Anerkennung) erfolgen kann. Es existiert eine Rechtsregel, die von vornherein en-bloc [im Ganzen - wp] die Gewohnheiten anerkennt, die gewisse Bedingungen erfüllen; es liegt also vor, was wir in einer Normgrundlehre eine generelle Rezeption gewisser Normen eines anderen Normsystems (der positiven Moralität) nennen würden. Diese rezipierende Rechtsregel faßt HOLLAND als judge-made law auf, das in alter Zeit vom Richter selbst festgelegt wurde. Die Einwendung von KISS, daß eine Verpflichtung für die Gerichte nicht vom Richter selbst ausgehen kann, gilt nicht, soweit es sich um das Verhältnis der untergeordneten Gerichte zu den übergeordneten handelt; und soweit es richtig ist, daß das höchste Gericht nicht sich selbst verpflichten kann, wird hiermit sicher die formale Grenze für den Umfang angegeben, in dem Gewohnheitsregeln für verpflichtend erklärt werden können; eine Grenze, die man nur durch kunstvolle Konstruktionen, wie die von KISS, aufheben kann (siehe unten). Denselben Standpunkt, wie HOLLAND, nimmt BROWN (70) in seinen ausführlichen Untersuchungen über das Gewohnheitsrecht ein, wenngleich er sich vielleicht weniger klar ausdrückt. Weiter muß daran erinnert werden, daß die erwähnte Schwierigkeit überhaupt nur bei den Verfassern vorkommt, die AUSTINs Lehre, daß das Gewohnheitsrecht erst durch konkrete judizielle Anwendung entsteht, bestreiten. Es gibt nämlich auch Verfasser (71), die unverändert an AUSTINs Lösung festhalten und leugnen, daß die Gewohnheit Recht vor seiner konkreten Anwendung schafft. Ob der eine oder der andere Standpunkt richtig ist, das soll hier nicht entschieden werden.

Im Gegensatz zu diesen englischen Lösungen bei BROWN und HOLLAND versucht KISS, die rezipierende Rechtsregel in das Gesetz hineinzupressen. Wenn sich jetzt in einem Rechtssystem eine ausdrückliche Gesetzesregel dieses Inhalts findet, ist die Sache klar (72), wenn sich eine solche - wie z. B. im englischen Recht - nicht findet, will KISS die rezipierende Rechtsregel auf "ein im Gesetz zwar nicht ausgesprochenes, ihm doch innewohnendes Grundprinzip: das aequm et bonum [Angemessenes und Gutes - wp], d. h. das Prinzip der aequitas, in der englischen Rechtssprache Equity genannt" gründen (73). Hieraus will nämlich KISS ableiten,
    "daß die Richter verpflichtet sind, sich den individuellen Eigentümlichkeiten der Rechtsfälle anzupassen, daß sie nicht am Wortlaut des Gesetzes haften dürfen, sondern durch die Verwertung der wahren Absicht des Gesetzes, also durch eine Berücksichtigung der Auffassung des Verkehrslebens, der Verkehrssitte eine lebensfähige und schöpferische Jurisprudenz treiben müssen." -
Daraus folgt nun die verbindliche Kraft der "usages", der "popular customs", schließt dann KISS (74). Das Künstliche und Fiktive dieser Konstruktion leuchtet ein. Es wird hier Gesetzeskraft einem unausgesprochenen, aber doch dem Gesetz innewohnenden Prinzip beigelegt; man sieht aber nicht, woher dieses Prinzip, eben als unausgesprochen, die objektive Erkennbarkeit hat, die seinen Charakter als Gesetz bedingen. Derart vage, objektiv nicht erkennbare Prinzipien sind bequeme - aber wertlose - Mittel, in das Gesetz gerade das hineinzulegen, was man wünscht. Der Gesetzesbegriff verliert hiermit allen rechtstheoretischen Wert. Daß bei KISS in Wirklichkeit eine fehlerhafte Anwendung des englischen Begriffs equity vorliegt, wird unten (Exkursus B) gezeigt. Endlich - aber nicht zum mindesten - läßt sich gegen die Theorie von KISS geltend machen, daß sie es nicht ermöglicht, gewisse Rechtsphänomene zu verstehen; z. B. wie es möglich ist, daß verschiedene Regeln dafür gelten, wann generelle und partikulare Gewohnheiten verbindend sind. Während die ersten, praktisch genommen, dem Gutdünken des Richters überlassen werden, stellt das englische Recht für die partikularen Gewohnheiten eine Reihe genauer Bedingungen auf. Sind diese 7-8 Bedingungen von dem allgemeinen dem Gesetz innewohnenden Prinzip deduziert; und in diesem Fall, weshalb gelten sie dann nicht auch für die generellen Gewohnheiten? Diese ganze unwirkliche und fiktive Theorie hat nur einen einzigen Grund für ihre Existenz: der Verfasser ist in dem verbreiteten kontinentalen Glaubenssatz befangen, daß das Gesetz die einzige, letzte und solide Basis für eine Rechtsregel ist, eine Grundlage, die so selbstverständlich ist, daß sie nicht mehr die Frage "weshalb?" zuläßt. Von diesem Dogma geführt, wird KISS gezwungen, eine künstliche und wirklichkeitsfremde Theorie für Verhältnisse anzunehmen, die sich viel einfacher auf andere Weise verstehen lassen.

Wir sind ausführlich auf die Theorie von KISS eingegangen, weil sie an einem interessanten Punkt den Unterschied zwischen kontinentaler und englischer Rechtstheorie veranschaulicht, zugleich an einem Punkt, wo KISS der englischen Jurisprudenz mit den "neuesten Resultaten unserer kontinentalen Rechtswissenschaft" zu Hilfe kommen will.

Die Gewohnheitstheorie der späteren englischen Literatur läßt sich kurz folgendermaßen resumieren: Abgesehen von ganz vereinzelten Verfassern, die unter dem Einfluß der deutschen historischen Schule standen, gewann AUSTINs Kritik der Lehre BLACKSTONEs unbedingte Anerkennung und es wurde die allgemeine Ansicht, daß Richter Recht schaffen können und schaffen, wie auch, daß das Gewohnheitsrecht eben eine Art richtergeschaffenes Recht ist. Einige Verfasser stimmten auch der positiven Behauptung AUSTINs zu, daß das Gewohnheitsrecht vom Richter geschaffen wird, wenn und in dem Umfang, wie die Regel, die eine Gewohnheit impliziert, einer Entscheidung zugrunde gelegt wird. Andere Verfasser nahmen dagegen an, daß die Gewohnheitsregel bereits vor ihrer konkreten Anwendung Recht ist; sie begründeten dies damit, daß der Richter verpflichtet ist, gewisse Gewohnheitsregeln anzuwenden, und sie erklärten es damit, daß durch eine richtergeschaffene Rechtsregel eine antizipierte, bedingte en-bloc Rezeption von Gewohnheitsregeln erfolgt ist.
LITERATUR Alf Ross, Theorie der Rechtsquellen, Wiener Staats- und Rechtswissenschaftliche Studien, Bd. XIII, Leipzig 1929
    Anmerkungen
    1) A: vor Austin: Hale, History of the Common Law of England, 1713; Blackstones Commentairies, 1765; Stephen, New Commentairies 1841; B: Austin und Nachfolger: Austin, Lectures on Jurisprudence 1832, 1861-1863; Amos, Science of Jurisprudence 1872; Markby, Elements of Law 1871; Holland, Jurisprudence 1880; Salmond, Jurisprudence 1900; Brown, The Austinian Theory 1906; Gray, Nature and Sources of Law 1909; Hearn, Theory of Legal Duties and Rights 1883; (Harrison, On Jurisprudence 1919; Goadby, Introduction to the Study of Law, 1921; Lightwood, Nature of Positive Law 1883; Rattigan, Science of Jurisprudence 1888; Willoughby, Nature of the State 1896; Clark, Practical Jurisprudence 1883.) Die in Klammern stehenden Autoren stehen zugleich mehr oder weniger unter Maines Einfluß. C: Maine und seine Nachfolger: Maine, Ancient Law 1861 und Early History of Institutions 1875; Bryce, Studies in History and Jurisprudence 1901; Vinogradoff, Historical Jurisprudence 1923; Pulszky, Theory of Law and Civil Society 1888 (aus dem Ungarischen übersetzt); ferner die unter B in Klammern aufgeführten.
    2) Pollock gibt seinen Eindruck von Lorimers Buch so wieder: "As I came to the last page I said to myself with an mental gasp and shiver, Ugh Ugh, now I know, what Naturrecht is." [Als ich auf der letzten Seite angelangt war sagte ich zu mir selbst mit einem geistigen Keuchen und Zittern, Uff Uff, jetzt weiß ich, was Naturrecht ist." - wp] (Essays 20)
    3) In der neueren amerikanischen Literatur ist dieser Einfluß besonders bei Carter zu spüren; die ältere Literatur habe ich nicht direkt kennengelernt; ich stütze mich in dieser Hinsicht besonders auf Willoughby, Nature of State, Seite 165.
    4) siehe Anmerkung 3.
    5) Besonders Pound, der in Pierre Lapaulle einen französischen Schüler gefunden hat.
    6) Holland, Jurisprudence, Seite VIII.
    7) Zum Beispiel Austin, Lectures, 15; Pollock, First Book, Seite VII; Holland, Jurisprudence, Seite 8; Salmond, Jurisprudence, Seite 12f
    8) Maine, Ancient Law; Early History.
    9) Es ist in dieser Hinsicht bemerkenswert, daß Maine, der Begründer der historischen Schule, zugleich der ist, der zuerst Austin recht bekannt gemacht hat (vgl. Anmerkung 3)
    10) siehe Anmerkung 1.
    11) Eine charakteristische Äußerung bei Holland; er hatte erwartet, bei der Ausarbeitung seiner "Jurisprudence" in der Literatur des Kontinents Hilfe zu finden; er wurde aber sehr enttäuscht "und nach einer allgemeinen Untersuchung der Angelegenheit entschied der Autor, sich eine eigene Meinung zu bilden". (Jurisprudence, Seite VII, VIII)
    12) Die Kenntnis der englischen Verfasser von der kontinentalen Literatur ist durchgehend gering. Salmond - einer der am besten orientierten - führt in seinem Verzeichnis von Verfassern folgende deutsche Verfasser an: Arndts, Berolzheimer, Bierling, Bruns, Dernburg, Gareis, Gierke, Jhering, Jellinek, Kohler, Merkel, Puchta, Savigny, Windscheid. Lightwood, der in seiner "Nature of Positive Law" ein besonderes Kapitel über "the Modern German School of Jurisprudence" gibt, zeigt nur geringes Verständnis dafür (Seite 262f). Hastie gab im Jahre 1887 unter dem Titel "Outline of Jurisprudence" eine so ungeschickt wie nur möglich gemachte Auswahl in Übersetzung heraus: Puchta, Friedländer, Falck und Ahrends "Enzyklopädie", dagegen nichts von seinem Meisterwerk "Das Gewohnheitsrecht".
    13) Salmond, Jurisprudence, Seite 10-11.
    14) Das hängt mit dem ausgeprägt praktischen Charakter der juristischen Ausbildung zusammen. Diese erfolgt hauptsächlich bei den Gerichten, the Inns of Court. Universitätsausbildung spielt keine oder nur eine geringe Rolle und geht historisch nicht weiter zurück, als bis ins 19. Jahrhundert. Das erste englische Professorat für Prozeßrecht wurde 1884 in Edinburgh errichtet, vgl. Jesper Simonsen, Dommeruddanelse i England und Coldstream, The teaching of law. Ausführliche und interessante Aufklärungen über die Geschichte der "Inns of Courts" findet man bei Dillon, Laws and Jurisprudence, besonders Seite 34f und 81.
    15) Austin sagte ironisch von sich selber, daß er "eher ein Schullehrer im 12. Jahrhundert oder ein deutscher Professor sein sollte". Aus Sarah Austins Vorwort zu Austins "Lectures". Lectures, Seite 13.
    16) Lectures, Seite 118-119.
    17) Lectures, Seite 220.
    18) Zum Teil hat bereits Austin, Lectures, Seite 293, Anmerkung und Salmond, Jurisprudence, Seite 9-10, darauf aufmerksam gemacht.
    19) siehe auch früher: Hale, History of the Common Law of England 173 und später Stephen, New Commentaries, der als ein teilweiser Nachdruck von Blackstone mit supplierenden Bemerkungen erscheint. Die Grundgesichtspunkte sind die von Blackstone. Stephen besonders "New Commentaries", Seite 46-47.
    20a) Blackstone, a. a. O., Seite 41
    20b) Blackstone, a. a. O., Seite 44
    20c) Blackstone, a. a. O., Seite 45, 46
    20d) Blackstone, a. a. O., Seite 64
    20e) Blackstone, a. a. O., Seite 73-74
    20f) Blackstone, a. a. O., Seite 76-78
    20g) Blackstone, a. a. O., Seite 69
    20h) Blackstone, a. a. O., Seite 69
    20i) Blackstone, a. a. O., Seite 69
    20k) Blackstone, a. a. O., Seite 69, 71.
    21) Vgl. auch Blackstones Definition des allgemeinen Gewohnheitsrechts: "allgemeine Sitten oder Gewohnheitsrecht ... dies ist das Gesetz, nach dem Verfahren und Entscheidungen in den ordentlichen Gerichtshöfen des Königs geleitet und geleitet werden". (Stephens, Commentaries, Seite 68)
    22) Die Anzahl der Hörer ging auf fünf zurück. Über Austins Leben siehe Sarah Austins hübsche Schilderungen in der Einleitung zu den "Lectures"; ferner John Macdonell in Stephens "Dictionary of National Biography", London 1885; Markby in "Encyclopedia Britannica" (1911); John Stuart Mill, Austins intimer Freund, in "Edinburgh Review", Oktober 1863. Mrs. Janet Ross - die Tochtertochter Austins - in "Atlantic Monthly" 1892 und "The fourth Generation" London 1912, passim. Die folgenden Ausführungen sind diesen Quellen entnommen.
    23) Maine, Early History, Seite 343.
    24) Campbell, "An Analysis of Austins Lectures on Jurisprudence, London 1877; Brown, The Austinian Theory of Law; Eastwood, Introduction to Austins Theory.
    25) Endlich kann auch erwähnt werden, daß ein umfassendes französich-schweizerisches Werk, Ernest Roguin, "La science juridique pure", Paris-Lausanne 1923, auf Austins Bedeutung aufmerksam gemacht (Vorwort Seite XIX) und eine Darstellung seiner Theorie gegeben hat (Bd. 1, Seite 1-53). Es ist nur bedauerlich, daß Roguin so wenig von den großen Linien in Austins Werk erfaßt hat, so daß diese Darstellung eher wie eine Verzerrung, als wie eine Wiedergabe wirkt.
    26) Lectures, Seite 33: "Sie (allgemeine Rechtsprechung) befaßt sich direkt mit Grundsätzen und Unterscheidungen, die verschiedenen Systemen des Partikularrechts und des positiven Rechts gemeinsam sind; und was jedes dieser verschiedenen Systeme unweigerlich (von mir hervorgehoben) mit sich bringt ...“
    27) a. a. O., Seite 1108, 1109.
    28) siehe hierüber Harrison, On Jurisprudence, Seite 10
    29a) Austin, a. a. O., Seite 81
    29b) Austin, a. a. O., Seite 91
    29c) Austin, a. a. O., Seite 91-92
    29d) Austin, a. a. O., Seite 94
    29e) Austin, a. a. O., Seite 99
    30) unten XIV, 2.
    31) Lectures, Seite 88-89
    32) a. a. O., Seite 187.
    33) a. a. O. Seite 226-227
    34) von mir hervorgehoben.
    35) Lectures, Seite 525f.
    36) a. a. O., Seite 530
    37) a. a. O., Seite 547. Die Scheidung muß aber korrekt nicht in Bezug auf das subjektive Ziel, sondern nach dem objektiven Auftreten der Regel geschehen; entweder ist die Regel direkt ausgedrückt, oder sie muß erst indirekt durch einen Schluß als Voraussetzung für eine (oder mehrere) Einzelentscheidung(en) gewonnen werden.
    38) a. a. O. Seite 530, 538, 539.
    39) a. a. O., Seite 553.
    40) a. a. O., Seite 353 - 354.
    41) a. a. O., Seite 554
    42) a. a. O., Seite 561
    43) a. a. O., Seite 655
    44) vgl. Brown, Seite 291 und 42.
    45) Lectures, Seite 560
    46) a. a. O., Seite 558-559
    47) Außerdem, wie unten erwähnt, Dillon, siehe auch Markby, Elements of Law, Seite 5 und Harrison, On Jurisprudence, Seite 14-15.
    48) Laws and Jurisprudence, Seite 6
    49) In einer Anmerkung zu seiner Ausgabe von Maine, Ancient Law, Seite 46.
    50) "Jurisprudence", Seite 164
    51) vgl. Markby, Elements of Law, Seite 37; Holland, Jurisprudence, Seite 55; Goadby, Introduction, Seite 55; Gray, "Nature and Sources of Law" bestimmt den Quellenbegriff nicht genauer, aber die Scheidung folgt aus seinem System. Für ihn ist alles Recht richtergeschaffen, auch das Gesetz (Seite 125). Die einzige "formale" Quelle ist deshalb der Richterbeschluß. Alle anderen Quellen sind "materiale" Quellen zum Inhalt des Richterbeschlusses (Seite 123-125); Hearn, "Legal Duties and Rights", Seite 37f. Nur Amos, "Jurisprudence", Seite 52, definiert ganz gut die Rechtsquelle als "die unmittelbare Gruppe von Umständen, durch die eine Rechtsnorm ihren wesentlichen Charakter als solche erhält."
    52) Vgl. Exkursus A. Goadby, Seite 85, gibt indessen an, daß Gewohnheit und Religion in früheren Zeiten die "formale" Quelle des Rechts gewesen sind und in einigen Ländern noch sind; das hängt damit zusammen, daß er fehlerhaft den Rechtsbegriff in Übereinstimmung mit dem bestimmt, was die populäre Anschauung bei einem gegebenen Volk für den verpflichtenden Grund des Rechts ansieht (Seite 46f). Was sich wohl die Eskimos unter Recht denken?
    53) "Elements of Law", Seite 37, 41, 45, 65.
    54) Jurisprudence, Seite 164f.
    55) Nature and Sources, Seite 152f, 198f, 260f, 282f.
    56) Introduction, Seite 89.
    57) Jurisprudence, Seite 55f.
    58) Clark, Practical Jurisprudence, Seite 152 und 332, schließt sich in Bezug auf das Gewohnheitsrecht Savigny an und meint, daß Gewohnheit Recht schafft aufgrund eines "common feeling of obligation" [allgemeines Gefühl der Verpflichtung - wp] (Seite 333), Rattigan, Science of Jurisprudence, gibt einige vollständig sich widersprechende Ausführungen, Seite 76 heißt es: "Courts of Justice do not make law; their province is to ascertain and declare what the law is," [Gerichte machen keine Gesetze; ihre Aufgabe ist es, festzustellen und zu erklären, Recht ist - wp] womit er sich zu Blackstones Fiktion bekennt; im vollen Widerspruch hierzu spricht er auf der nächsten Seite (Seite 77) vom judge-made law als indirekter Gesetzgebung und sagt von den Richtern,, daß, wenn weder Gesetz, noch Gewohnheit eine Regel bietet "they are obliged to invent a rule" [sind sie verpflichtet, eine Regel zu erfinden - wp].
    59) Außer Carter, siehe auch Hammond in den Anmerkungen zu seiner Ausgabe von Blackstones "Commentaries und Wharton, "Commentaries on American Law"; diese beiden Verfasser sind mir nur indirekt bekannt durch Gray (119, 222) bzw. Willoughby (343, 170-171).
    60) "The Ideal and Actual in Law".
    61) "Law", Seite 183 und "Ideal and Actual", Seite 758-759.
    62) "Ideal and Actual", Seite 758.
    63) vgl. Brown, Austinian Theory, Seite 289.
    64) "Law", Seite 186.
    65) Im Übrigen erinnert Carters Rechtsquellenlehre sehr an die der historischen Schule. Er betrachtet die Gewohnheit als die letzte Quelle allen Rechts, vermengt hiermit aber eine soziologische Kausalerklärung, weshalb ein gewisses Recht existiert und befolgt wird, mit der analytisch-rechtstheoretischenn Frage, wie sich erkennen läßt, daß eine Rechtsregel als Recht existiert. Die Gleichheit der Lehre Carters mit der Savignys ist sicher zufällig, ist aber darin begründet, daß er, ebenso wie jener, sich gegen eine Kodifikation in praktischer Agitatioin erhoben hat. Von Carter sagt Gray (Seite 233): "Herr Carter war zu einem früheren Zeitpunkt seines Lebens ein energischer Gegner der Annahme des Zivilgesetzbuchs von Herrn David Dudley Fields durch den Staat New York. Mit seiner Opposition hatte er Erfolg. ... Die Erinnerung an diesen großen Kampf war immer in seinem Kopf und war, da bin ich mir sicher, der raison d'être [Rechtfertigungsgrund - wp] seines Aufsatzes und seines Buches und hat seinen gesamten Standpunkt beeinflußt." Wenn ein Code - womit eine willkürliche Veränderung im bestehenden Rechtszustand beabsichtigt wird - unter Debatte steht, wird die Lehre, daß der Wille des Souveräns oder sein Befehl der Erkenntnisgrund des Rechts ist, leicht die mißverstandene Form annehmen, daß das Recht ohne andere Ursache als den freien und willkürlichen Willen des Souveräns geschaffen wird. Der Erkenntnisgrund des Rechts wird mit den Ursachen verwechselt, aus denen ein Recht dieses Inhalts existiert. Widersacher eines Code gelangen da unwillkürlich dazu zu betonen, daß das Recht nicht durch den launenhaften Willen eines Souveräns geschaffen wird, sondern tiefere Ursachen zu seiner Existenz hat. Es ist eigentümlich, daß das Verbum, das die Code-Gegner in Bezug auf das Verhältnis des Rechts zum Souverän anwenden, auf Deutsch und Englisch dasselbe ist: machen und to make; es wird behauptet, daß das Recht nicht vom Herrscher "gemacht" oder "made" ist. So richtig das alles auch ist, so führt es doch zu einer methodischen Verfälschung des Quellenproblems.
    65a) Holland, Jurisprudence, Seite 60f; Brown, Austinian Theory, Seite 288f; Salmond, Jurisprudence, dritte Auflage, London 1910, Seite 156f; Greer, Custom in Common Law, Seite 158; Cardozo, Nature of Judicial Process, Seite 131-132.
    66) Besonders Holland, siehe Anmerkung 65a.
    67) Theorie der Rechtsquellen, Seite 283.
    67a) Die einzige, sehr schwache Grundlage, die Kiss für seine Charakteristik anführen kann, sind einige Ausführungen bei Salmond, Jurisprudence, a. a. O., Seite 156f, die indessen in der letzten Ausgabe abgeschliffen sind; Greer, Custom in Common Law, Seite 199. Jedenfalls kann der Mangel nicht auf dieser Grundlage der englischen Rechtswissenschaft als Ganzem zugeschrieben werden.
    68) Jurisprudence, Seite 61.
    69) Jurisprudence, Seite 62
    70) Brown, Austinian Theory, Seite 329. "Auf die Frage, warum Gewohnheit Gesetz ist, kann keine bessere Antwort gegeben werden, als daß die Richter sie als solches behandeln. Die Sitte des Volkes ist Gesetz, soweit sie kraft der Gewohnheit der Gerichte Gesetz ist."
    71) So Dillon, Laws and Jurisprudence, Seite 5 und besonders Willoughby, Nature of the State, Seite 175, der behauptet, daß man offen zugeben soll, daß die Gesetzgebung ex post facto vorliegt.
    72) Diese kann doch nur als Referat von Kiß verstanden werden.
    73) Theorie der Rechtsquellen, Seite 287
    74) a. a. O., Seite 293.