ra-1Materialismus und IdealismusGeschichte des Teufels    
 
ADAM WEISHAUPT
(1748 - 1830)
Höhere Mysterien Zweiter Klasse

"... da mit der Abänderung der Empfindungen sich auch die abstrakten Begriffe, alles, was darauf sich gründet, nach Abänderung seines Grundes sich ändern muß ..."

Schwer ist es, mit Menschen von Gegenständen zu sprechen, für welche unsere Sprachen noch keine Worte haben; wo unsere ganze Sprache auf das Gegenteil eingerichtet ist; wo die Eindrücke der Sinnen uns von Jugend auf unaufhörlich das Gegenteil versichern, und darauf unsere abstrakte Begriffe, Verstand, Logik und Vernunft gebaut sind; wo unser ganzes Gedankensystem, selbst unser inneres Bewußtsein im Grunde erschüttert wird; wo alle unsere Empfindungen, Gedanken, Urteile, Wissenschaften, unsere allererste Grundsätze als zweifelhaft, als Täuschungen erscheinen sollen, wo es Raserei scheint, das Gegenteil gegen eine ganze Welt, gegen sein inneres und äusseres Gefühl zu behaupten. Doch, mit dem Allen wollen wir es wagen, unsere Gedanken vorzulegen, und mit Menschenzungen Dinge vorzutragen, die wir durch unsere höchste Vernunft uns in der Ferne kaum vermuten, aber in dieser Gestalt niemals vollständig und deutlich entwickeln werden; Wir wollen sehen, wer dabei stark genug ist, sich aus dieser allgemeinen Täuschung heraus zu arbeiten, sich auf eine Zeit vom Körper und den Sinnen los zu machen, sich zu verklären, und in eine andere Welt hinein zu denken.

Kein Mensch hat angeborene Begriffe. Alle unsere Begriffe erhalten wir erst durch die Sinne, in dem Maße als solche besser oder schlechter, deren mehrere oder weniger sind. Diese sind anfangs blosse Empfindungen. Allgemeine und abstrakte Begriffe entstehen erst aus wiederholten Empfindungen; sind nichts als Empfindungen der Ähnlichkeiten, können also ohne vorhergehende einzelne Empfindungen, und folglich ohne vorhergehenden Gebrauch der Sinne, gar nicht gedacht werden; unser ganzer Verstand und Vernunft sind darauf gebauet als auf ihren einzigen Grund, oder hätte wohl ein, von Geburt aus blinder und tauber Mensch Verstand, Vernunft? Nach diesen Sinnen allein richten sich unsere dermaligen Begriffe von der Welt und ihren Teilen; mit andern Sinnen würden sich auch unsere Vorstellungen, Empfindungen ändern; wenn der Bau unseres Auges mikroskopisch wäre: so würden wir eine neue, ganz andere Welt sehen, eine andere Sprache und Philosophie haben.

Wenn wir nun keinen einzigen angeborenen Begriff haben; alle Begriffe bloß allein vermittelst der Sinne haben; diese Sinne einer Erniedrigung und Erhöhung, einer Verminderung und Vermehrung fähig sind: wenn noch anbei die Erfahrung zeigt, daß mit jeder Veränderung oder Modifikation uns die Welt samt ihren Teilen anders erscheint, wir folglich mit anderen Sinnen von der Welt und ihren Teilen ganz andere Vorstellungen haben müssen; da mit der Abänderung der Empfindungen sich auch die abstrakten Begriffe, alles, was darauf sich gründet, nach Abänderung seines Grundes sich ändern muß: so haben wir alle Ursache mit der größten Zuversicht zu behaupten, daß diese Erde so wohl, als alle übrigen Teile der Welt, das nicht an und vor sich seien, was sie uns erscheinen; daß aber mit dem allen all unser Wissen auf dieses schwankende Suppositum gebauet sei; daß alles diese unsere darauf gebaute Begriffe und Abstraktionen nicht in das Innere der Sache selbst führen; daß eben daher das Unauflösliche der meisten dahin einschlagenden Aufgaben komme; daß es also der Philosophien so viele und mancherlei gebe, als verschiedene organisierte Wesen zur Wirklichkeit gelangen; daß die uns bekannte fünf Sinne ohne Grund als die einzige und letzte angenommen werden, aus welchen man sich die Welt vorstellen kann.

Wenn diese Voraussetzungen richtig sind, so muß sich auch jeder gefallen lassen, nachstehende Folgen als wahr, als unbezweifelt anzunehmen, wenn sich auch sein ganzes inneres Gefühl dagegen empören sollte, denn sie sind bloß unmittelbare Schlüsse und Folgen aus dem vorhergehenden, und das sich innerlich empörende Gefühl beweist bloß allein, daß diese vorige Art zu denken zu sehr mit unserer Natur, sozusagen auf das Innigste vereinigt sei, als daß man glauben könnte, daß gegenwärtiger Vortrag viele Anhänger und Bekenner finden sollte; es würde auch lächerlich sein, wenn Menschen danach reden und handeln wollten; indem solches auch die eifrigsten Bekenner nicht notwendig finden, und solche Lehren bloß für diejenigen sind, welche sich den höchsten Betrachtungen der Natur und ihres Wesens widmen, welche bis an die Grenzen der menschlichen Vernunft vorzurücken gedenken. Es soll bloß allein dienen, den Stolz und Vorwitz des Menschen zu demütigen, sie auf das, was ihnen nahe liegt, zu ihrer Glückseligkeit wesentlich ist, zurückführen, den Spekulationsgeist vertreiben und zum Handeln auffordern, zeigen, was sie nicht wissen, auch niemals erforschen werden, das Ungereimte der bisherigen Systeme aufdecken, Menschen vor Irrwegen bewahren, den Materialismus und seine vermeinte Stärke entlarven; für die so stark angefochtene, und sonst beinahe nicht zu erweisende Fortdauer unsers Ichs neue Gründe erfinden, und eine so konsolate, beinahe gänzlich verlachte Lehre in einem neuen Gesichtspunkte darzustellen, alten, abgenutzten Dingen neuen Reiz zu verschaffen und die Herrlichkeit Gottes und seiner Werke, auf eine neue, unerwartete, unwiderlegliche Art vor Augen zu legen; zu beweisen, daß der, auf seine Vernunft so stolze, aufgeblasene Mensch manches Unbegreifliche ohne Ursache verlache, daß vielleicht Unmöglichkeiten möglich sind.

Wenn dann diese oben angeführte Grundsätze richtig sind: so folgt unvermeidlich daraus:

1. daß es uns unmöglich sei, in das Innere der Wesen einzudringen, die Entstehung der Welt und ihrer Grundteile zu entdecken.

2. daß jede Empfindung bei diesem oder bei jenem, gleich oder verschiedentlich organisierten Wesen, im Grunde nichts weiter seien, als die Wirkung äusserer Gegenstände, auf so, und nicht auf eine andere Art organisierterter Wesen.

3. daß mit jeder noch so unbemerkbaren Abänderung dieser Organisation auch notwendig eine wahre, ihrer Ursache proportionierte Veränderung in der Vorstellung des vorstellenden und empfindenden Wesens vorgehen müsse.

4. daß jeder Mensch, Kraft seiner natürlichen oder künstlichen, erhöhten oder geschwächten Sinne, alle Zeit Recht habe; daß keiner mit aller, auch noch so grossen Verschiedenheit im Empfinden hintergangen werde, wenn er gleich anders, wie alle übrige Menschen empfindet, denn er sieht die Gegenstände so, wie es seine Organisation leidet, und andere sehen sie auch nicht anders.

5. Daß wir andere nur deswegen eines Mangels und Irrtums im Empfinden beschuldigen, weil ihre Art zu sehen und zu empfinden nicht die unsrige, nicht die Allgemeine ist, so, wie es auch ihre Organisation nicht ist.

6. Daß es zwar Wesen und Kräfte ausser uns gebe, die uns aber in sich unbekannt, nur durch ihre Wirkungen erscheinen, und nach Verschiedenheit der Rezeptivität als empfindende Subjekte, verschiedentlich sich offenbaren; daß also die Gegenstände ausser uns unsere bloße Gedanken sind, und daß also insofern dieses System von dem Idealismus der Alten und Neuern gänzlich verschieden sei.

7. Daß aber doch Körper, Materie, Ausdehnung, als solche betrachtet, nur Erscheinungen, Phenomena seien, unter welchen uns die unbekannten Kräfte fühlbar werden; daß man nach diesen Grundsätzen die Wahrheit derjenigen Lehre prüfen könne welche die Materie als tod, formlos, als dem Ursprung des Übels, den Körper als den Kerker der Seele betrachtet, die wegen dem Urheber der Materie in Verlegenheit ist.

8. Daß Scheinursachen auch Scheinwirkungen hervorbringen, so, wie die von Allen anerkannte Illusion und Wichtigkeit der Farben nicht hindert, daß sich nicht ganze Künste und Wissenschaften, als die Färberkunst, Chemie, Malerei damit beschäftigen, Farben hervorzubringen, und die gemachten gehörig zu verteilen und anzuwenden.

9. Daß selbst unser Körper, so wie unsere Organisation, als solche, auch nur Erscheinungen seien; daß diese Wörter und Redensarten, an und vor sich, nichts weiter bedeuten, als die uns eben so unbekannte Rezeptivität unserer Vorstellungskraft, die Fähigkeit, die Wirkungen dieser auf uns wirkenden unbekannten Kräfte uns so, und nicht anders vorzustellen.

10. daß wir uns vielleicht eine ungeheure Menge dieser auf uns wirkenden Kräfte verworren hiermit unter einem einigen sinnlichen Bilde vorstellen.

11. Daß der nämliche Gegenstand, wenn er auf tausend verschiedene Gegenstände wirkt, wenn er gleich nur allein unter dieser Gestalt erscheint, doch für die übrigen in tausendfacher Gestalt erscheinen müsse; für Wesen ganz verschiedener Art und Sinnen auch als Etwas erscheinen müsse, wovon wir dermalen noch gar keinen Begriff haben; daß der Baum nicht für alle Wesen ein Baum seie; daß also jeder Gegenstand die Anlage habe, auch tausenderlei Art zu erscheinen, so, wie unser Angesicht in einem Convexen-, Plan- oder Hohlspiegel bald ordentlich, bald lang, bald breit, bald groß, bald klein erscheint. Diese verschiedene Organisationen sind im figürlichen Ausdruck diese Plan- Hohl- oder Konvexspiegel.

12. daß dasjenige, was beständig und allgemein, allen oder den meisten Menschen so erscheinet, ob es im Grunde gleich nur Erscheinung ist, für uns eben so viel als wirklich seie; daß aber diese Verschiedenheit der uns bekannten Organisationen dazu diene, die ontologische Wahrheit zu finden, das heißt, diejenige, welche nicht durch eine, sondern mehr uns bekannte Organisation bestätigt wird.

13. daß also all unser Wissen und Sprache sich auf das Suppositum gründe, daß diese Welt samt ihren Theilen das wirklich in sich selbst seie, was sie uns erscheinen; daß hiermit der Sprachgebrauch hier gar nichts entscheide; daß alle unsere Philosophie Philosophie der Erscheinungen sei; daß diese Lehre nothwendig dem entsetzlichsten und lächerlichsten Mißverständnisse ausgesetzt bleiben, so lange die Sprache nicht dazu eingerichtet ist.

14. Daß es also auch für jedes Wesen verschiedener Organisation oder Rezeptivität eine eigene Physik, Philosophie, Moral, Legislation, vielleicht für gewisse Wesen nichts von dem Allen, und anstatt derer, andere, uns unbekannte, unserer neuen Organisation angemessene Wissenschaften gebe, wenn anders Wissenschaften sich nicht bloß für Menschen und auf keine Art für solche Organisationen schicken.

15. Daß also jede Organisation ihre, nur ihr allein eigene Wahrheit habe, die darum nicht Falschheit ist, weil sich solche in andern Organisationen nicht ebenfalls bestätigt; daß alle unsere gemeine Wahrheit, nur auf diese, von unsern Sinnen abgezogne Prämissen sich gründe, und in so ferne Wahrheit sei. - Ändert aber die Organisation, so sind die Erfahrungen und Prämissen geändert: Und dann nichts mehr von dem allen: - Eine andere Welt, andere Gegenstände, ein anderes System, eine andere Wahrheit - für uns in dieser Gestalt nur nicht gedenkbar, begreiflich - vielleicht Unmöglichkeiten möglich - vielleicht gar nicht von dem Allen, was wir wissen, was wir jezt sind - dermalen unfähig, Erfahrungen darüber zu machen - Mangel an Worten und Sprache, oder, was nutzen Worte wo Begriffe fehlen, wo die Worte nur ausdrücken, was wir jezt sind und erfahren, also auf das gar nicht können angewendet werden, was wir erst unter andern Gestallten erfahren sollen. Sagt dem Blinden nicht, daß es eine Sonne gebe, und er hat sodann auch keinen Begriff davon. Aber öffnet ihm so dann auf einmal und das Erstemal die Augen, welche neue erstaunliche Szene betäubt ihn sodann! Ob es nicht auch bei uns noch eine ähnliche Art von Blindheit gibt, die, wenn sie uns aus Mangel weiterer Aussichten unmerkbar ist, vielleicht von andern Wesen nicht unbemerkt bleibt? Ob uns der Tod nicht dereinst den Star sticht, um in eine neue, uns noch unbekannte Welt zu schauen? Ob das, was uns in dieser Gestalt Fäulnis des Körpers scheint, nicht dieses Schauen selbst ist? Ob der für uns tote blasse Körper selbst, für uns, obgleich unmerkbares höheres Leben ist?

16. Also mit jedem neuen Organ der Vorhang hinweggenommen, der bisher undurchdringliche Schleier aufgehoben, zugleich damit eine neue Welt - so zu sagen, in einer einzigen Welt tausend und tausend Welten für tausend und tausend verschiedene Zuschauer - eins - und doch dabei tausend und tausend - und in jeder dieser tausend Welten, deren jede beinahe unendlich ist, neue, vollkommenste, größte Ordnung und Harmonie - Gott in neuer Herrlichkeit, die Natur in neuer Pracht, die erstaunlichste Mannigfaltigkeit in der entsetzlichsten Einheit: also

17. In sich keine Sonne, Mond, Sterne, Erden, Menschen, Tiere, Feuer, Luft, Wasser - nur für uns, all dies, und nur für uns, so lange als wir so organisiert sind. Auch alle mathematische Wahrheiten haben nur in so lang und in so fern Gewißheit und Dauer, weil Grösse und Ausdehnungen Erscheinungen sind.

18. Selbst alle bisher unauflösliche Schwierigkeiten über Zeit und Raum, über die Teilbarkeit der Materie, über Kohäsion der Körper, über Bewegung und leeren Raum, über die Unendlichkeit des Raumes, über das Einfache und Zusammengesetzte sind Streitigkeiten über Erscheinungen. - In und an sich selbst ist nichts einfach, nichts zusammengesetzt. Nur in dieser Gestalt und nach unserer darauf gebauten dermaligen Logik gibt es hierin keine Mittel.

19. Eben so steht es mit dem Streit von der Ewigkeit und Anfang, so wie auch mit der unendlichen Ausdehnung oder Schranken der Welt. - Diese Welt, als solche ist Erscheinung, hat also in dieser Gestalt, mit dieser unserer Organisation angefangen; mit dieser Rezeptivität gewisser Wesen; aber diese Kräfte waren unendlich länger vorher gewesen, ehe sie unter dem Phänomen "Welt", erschienen sind. Um eine Sonne zu sehen, mußte es zuvor Wesen mit Augen geben; und ein Wesen mit Etwas mehr, als Augen, sieht in dem, was wir Sonne nennen, Etwas, das wir nicht sagen können, weil wir keine Sinne haben, um solches zu empfinden - Kurz, mit unserer dermaligen Rezeptivität ist zugleich diese Gestalt der Erde und der Welt entstanden.

20. Vielleicht könnte in so ferne Offenbarung antizipierte, avancierte Erkenntnis gewisser, erst unter anderer Gestalt begreiflicher, denkbarer Wahrheiten sein; so, wie einem Blindgeborenen Nachricht von der Wirklichkeit einer Sonne Offenbarung ist, um Menschen gegen ihre dermalige Erkenntnis mißtrauisch zu machen, um ihren Forschungsgeist zu reizen, um das Geoffenbarte mit dem wirklich Erkannten zu vergleichen, zu vereinigen; die Unmöglichkeit einer Vereinigung einzusehen, und sie eben darum Wahrheiten einer andern höheren Art vermuten zu lassen, um den Zusammenhang zwischen dieser neuen künftigen und gegenwärtigen Welt zu gründen und schon hienieden anzufangen. Vielleicht auch für die künftige Organisation neue eigene Offenbarungen.

21. Welche trostreiche Aussichten für die Fortdauer unsers Ichs! Sterben heißt, hier aufhören so zu sehen, zu erkennen, Menschen, Tiere, Bäume zu sehen; Aber Sterben heißt hier nicht, gänzlich aufhören, ohne Vorstellung zu sein. Es heißt vielmehr, eine andere Organisation erhalten; seine Rezeptivität verändern, diese nämliche Gegenstände auf eine andere Art sehen, erkennen, hier die Raupenhaut abstreifen; dem, was ausser uns ist die Maske abzunehmen; näher in das Innere der Kräfte, obwohl auch dann noch sehr unvollkommen, eindringen. Sterben heißt geboren werden, und geboren werden heißt sterben, unter einer Gestalt aufhören, um unter einer andern zu wirken, zu erscheinen. Nach dem Tode wird also der Mensch freilich nicht mehr denken - denn Denken ist nur für das Phänomen Mensch, aber darum wird er nicht ganz aufhören; der Geist, das Ich wird eine neuere, höhere Modifikation erhalten, die da mit seinem neuen Zustande eben so wesentlich verbunden ist, als das Denken mit der Organisation war. Es wird diese Modifikation kein Denken sein; aber im Mangel der Erfahrung und Worte, haben wir keinen andern Ausdruck, wir werden also aufhören, uns die Welt auf diese Art vorzustellen, wir werden nicht aufhören, auf eine andere, ganz verschiedene Art, tätig zu sein. Der Tod ist der Übergang von einer Art, die Gegenstände zu sehen, zu einer andern; das stufenweise Fortschreiten zur Einsicht in das innere Wesen; dieser Tod, der uns erwartet, wird vielleicht nicht der einzige sein.

22. Auch die verstorbene vorausgegangene Freude, ihr uns so wertes Ich ist für uns nicht verloren, so, wie wir des dermalen für sie nicht sind. Ihr Ich bleibt allezeit noch ein Teil des Weltalls, das ausser uns ist, und wirkt, obwohl diesen Sinnen nicht fühlbar, auf uns.

Wir erscheinen ihnen zwar nicht auf diese Art, unter dieser, doch auf eine, ihrer nun eigenen Organisation eigene Gestalt. Sie erinnern sich unserer nicht, den Erinnern ist nur für Menschen; aber, obwohl wir nicht wissen, wie, und was der Actus ist, wodurch Verstorbene diejenige sich vorstellen, die, in dieser Hülle von uns so organisierte Wesen, Menschen genannt werden: so sind wir doch allzeit ein Gegenstand ihrer Vorstellungen. Tausend verschiedentlich organisierte Wesen werden mich, der ich nun allen, die um mich sind, so und nicht anders erscheine, unter tausendfacher Form und Gestalt erkennen, warum sollte also in Rücksicht auf die Verstorbenen eine Ausnahme sein?

23. Erscheint uns seiner Zeit, nach der, allem bevorstehenden grossen Metamorphose, wo die gegenwärtige Welt verschwindet, die neue Weltform, dieses neue, unbekannte, bisher nur vermutete Land, werden wir die, dieser neuen Weltform eigene Organisation unserer vorausgegangenen Freunde ebenfalls erhalten, warum sollten wir sie sodann nicht wiederfinden, da wir selbst in dieser Mittelzeit nicht für sie verloren waren?

24. Wenn das, was wir unter dieser Gestalt, von den Wesen ausser uns, von den Phänomenen Erde und Welt erfahren haben, aller Täuschung und Erscheinung ungeachtet, schon so vortrefflich ordentlich und harmonisch war, in der entsetzlichsten Mannigfaltigkeit ordentlich und harmonisch war, wieviel Ursache haben wir nicht, uns auf den Tod, auf diese neue, vermutlich noch weit vollkommnere Einsicht im Innern einer noch viel besseren Welt zu freuen! Wird hier nicht selbst der Tod zum Eingang in neues Leben, zum Triumph der Natur? Wie groß muß diese Szene sein, wenn Geistern, die an so viel Vollkommenheit, Ordnung, Schönheit schon hienieden gewöhnt sind, selbst beinahe unmöglich wird, nicht etwas Größeres zu denken? und, wie unendlich groß muß derjenige sein, der seinen Geschöpfen solche Seeligkeit bestimmt hat? Sollte man nicht glauben, daß die Vorsicht eben darum dem Menschen seinen zukünftigen Zustand verborgen, weil die Gewißheit einer solchen uns erwartenden Herrlichkeit uns dieses Leben unerträglich machen, und den Tod beschleunigen würde, um dieses seeligen Zustandes um so früher teilhaftig zu werden? Und sollte nicht auf diese Art (wir sollten es glauben!) die so trostreiche Lehre von der Unsterblichkeit unsers Ichs mit allen Rechten und für geübte, geprüfte, moralische Menschen in den Mysterien zuversichtlicher bewiesen werden?

25. Wenn denn, wie bisher erwiesen worden, in dieser einzigen Welt tausend und tausend andere Welten enthalten sind, für tausend und tausend verschiedene Zuschauer. Wenn aber nun weiter, jedes Wesen bloß allein Zuschauer seiner ihm angemessenen Welt war, nicht das nämliche Subjekt durch das Ändern seiner Organisation, Zuschauer einer weitern Welt, sich in höhern Sphären hinaufarbeiten, seine dermalige Form überleben, nicht von einer Weltform in die andere schauen, Zeuge von dieser Verbindung mehrerer, auseinander entstehender, ineinander sich gründenden Formen sein könnte, wozu wäre alsdann dieser entsetzliche Vorrat und Reichtum von Welten? Wozu nur auf dieser Erde so viele Weltteile, reiche Länder, Städte und Dörfer, wenn jeder bestimmt wäre, nicht über seinen Flecken hinauszuschreiten; wenn ein Dorf, eine Stadt, ein Reich, ein Weltteil allein seinen Bewohnern bekannt, allen übrigen unbekannt sein soll? Was wären Menschen, was wäre die Erde, wenn keiner die Fähigkeit hätte, ihre verschiedenen Teile zu bereisen, um übersehen, zu vergleichen? Das weit größere, sonst unangemessene daraus entstehende Vergnügen, zu geniessen, zu empfinden. Sonst wäre die Welt ein grosser ungeheuerer Palast, von tausend verschiedentlichen und den prächtigsten Gemächern, die jeder nur einen einzigen Bewohner hat, von welchen keiner weder die übrigen Gemächer und Bewohner kennt und vermutet, noch weniger die Zusammenordnung der Teile, die darin angebrachte Kunst, Symmetrie und Verzierung während seiner ganzen Dauer erkennen soll? Für wen wäre also das größte aller Vergnügen, das Vergnügen den Zusammenhang mehrerer Teile einzusehen?

Wenn teilweise Einsicht schon so grosses Vergnügen gewähret so fehlt der Ordnung, diesem herrlichen Weltall das Grösseste es fehlt ihm ein Zuschauer; ein Wesen für welches das Ganze der Zusammenhang ist. Der grösseste Gegenstand der Erkenntiß, ohne Subjekt, das ihn erkennen soll; das grösseste Vergnügen existiert, ohne genossen zu werden; das größte Kunststück ohne Kenner, die es bewundern, und dadurch auf die Grösse des Urhebers schliessen; der größte Maler hat das kunstreichste Gemälde für ewig Blinde gezeichnet; die schönsten köstlichsten Früchte reifen für keinen Gaumen! Wozu der schönste Garten, den niemand genießt; das schönste gemächlichste Haus, ohne Bewohner? Wozu die größte Harmonie, die kein Ohr höre? Wozu so grosse herrliche Eigenschaften, für welche wir keine Sinne haben?

Wozu hilft uns dieses Vermuten noch grösserer Szenen, noch herrlicherer Welten? Das hieße Durst erwecken, uns an die Quelle führen und den Durst nicht stillen; das hieße das Land der Ruhe in der Ferne zeigen, es unmöglich machen, dahin zu gelangen; das hieße Füße haben, um nicht zu gehen, und Augen, um nicht zu sehen; was hilft die reichste Saat, wenn niemand ernten darf? Eine Ordnung, Vollkommenheit, die von niemand zu keiner Zeit erkannt wird, ist eben so viel, als ob sie gar nicht existiere - und doch geht diese Ordnung, diese Entwicklung, dieser Zusammenhang ewig fort. Es wäre toll, zu glauben, daß Millionen der künstlichsten Werke vorhanden wären, daß die grössesten Wesen in Bewegung gesetzt würden, um uns transitorischen Wesen den kleinsten unbedeutendsten Theil nur auf einen Tag wie einen Traum erscheinen zu lassen; das hieße den Ozean bewegen um eine Mücke zu ersäufen; das hieße dem Fixstern eine Laufbahn von mehreren Jahrtausenden vorzuzeichnen, um dem Wanderer bei Nacht zu einer unzulänglichen Leuchte zu dienen. Wo ist hier die Sparsamkeit der Natur, dieses in der ganzen Schöpfung so allgemein sichtbare Gesetz? Warum in dieser Gestalt sich zu einer solchen Geisteshöhe hinaufzuarbeiten, um sodann auf Einmal nichts weiter, als der Schatten eines Körpers zu sein, der wieder zu nichts weiter dienen soll, als zu seiner Zeit ebenfalls einen andern, eben so vergänglichen ins Licht zu setzen? Wozu denn dieses ewige so zweckmässige, so harmonische auf- und untergehen, dieses Aufkeimen und Verblühen der Wesen? Soll denn gar nichts Bleibendes sein? Ich könnte das werden, was ich gegenwärtig bin, könnte mehr vermuten, erwarten, als ich bin, und nun auf einmal folgte nicht Stillstehen allein, durch den widernatürlichsten entsetzlichsten Prunk bräche die entsetzlichste ewige Nacht herein? Licht würde zu Finsternis, und der hellste Mittag zur ewigen zur dunkelsten Mitternacht! Wir hätten gelernt um zu vergessen? Gott und die Natur hätten gebaut wie Kinder, ein Kartenhaus gebauet, um das herrlichste Gebäude ohne Zweck, nach ihrer Laune zu zerstören! O Nein! Das Alles kann nicht sein: alles ruft uns deutlich zu, daß unser Ich noch dauern werde, obgleich unter andern Gestalten, daß für uns noch tausend und tausend große Szenen bereit sind; daß wir zwar sterblich sind, in so fern wir diese Gestalt diese Keime und diese damit verbundene Art, die Welt zu sehen verlieren, daß wir aber darinn nicht gänzlich aufhören, daß Wir anfangen, wieder in neuer Gestallt, mit neuer Modifikation, eine neue Welt zu sehen, die mit der vorigen verbunden ist, weil alles verbunden ist; daß zwischen sein und Nichtsein ein Mittel sei, nämlich anders zu sein: und dieses Anderssein beweise die Veränderlichkeit unserer Organisation und die damit notwendig verbundene Veränderlichkeit der Welt und ihrer Gestalt.

26. Wenn also die eine in einander enthaltene Weltform, diese unsere verschiedene, sich auseinander nach und nach entwickelnde Organisationen, dieses dazu führende, wechselweise auf einander folgende Leben und Sterben auch unter sich selbst verbunden sein müssen, weil alles verbunden ist, ja, vielmehr erst später dieses Gemeinschaftliche Abzwecken, ihren Wert erhalten, wenn dieses Abzwecken erkannt, diese Welten-Reihe kann überschauet werden: so mag dann gar wohl die grosse Pythagorische Reise bestehen. Es wäre hier möglich, sogar notwendig, daß, wenn jedes neuen Weltlebens, die Resultate unserer Erfahrungen und Beobachtungen durch den stärkeren Eindruck des neuen Lebens verdunkelt würden, solche nur schlummern, aber, nachdem diese Reise durch eine bestimmte Weltenzahl beschlossen worden, daß sodann alle Ressorts und Behältnisse der gesammelten Welterfahrungen auf einmal losspringen, und sich vor unsern denkenden Ich darstellen. Diese Reise wäre sodann nicht von einem Gestirn zum andern, von einer bekannten Gestalt und Organisation in eine andere uns ebenso bekannte, von Tieren in Menschen, von Menschen in Tiere. Sie wäre noch allgemeiner und erstaunlicher; sie ginge von einem Universum und Weltall zu einem andern von den vorhergehenden gänzlich verschiedenen; von einer bekannten zu einer andern ganz verschiedenen Organisation, für welche unser Verstand dermalen keinen Begriff hat, und unsere Sprache keine Ausdrücke.

27. Durch eben diesen starken Eindruck des neuen Lebens würde auch begreiflich, warum wir uns dermalen, unsers, vor diesem unserm gegenwärtigen Menschenleben vorausgegangenen Zustandes gar nicht erinnern, ob wir gleich dadurch so viel gewönnen, daß wir durch den dadurch erhaltenen Gebrauch unserer Vernunft, durch die erhaltene Fähigkeit, analogische Schlüsse zu machen, mit größter Zuversicht auf diesen vorausgegangenen Zustand schließen, ob uns gleich die Art und Weise, samt der nähern Beschaffenheit, durch die starke Wirkung des gegenwärtigen Lebens verdunkelt sind, bis sie dereinst durch immer was für eine Art wieder erwachen.

28. Wenn dann weiter alles was wir empfinden und erkennen nicht in das Innere der Sachen selbst führt, sondern bloßes Resultat der Einwirkung von Dingen ausser uns, auf so und nicht anders organisierte Wesen ist: so muß es notwendig eine zwiefache Wahrheit geben, Eine, welche anzeigt was an der Sache selbst ist, das objektive absolute der Wesen, der Kräfte außer uns; die andere, welche die Wirkung anzeigt, welche dieses innere Objektive in uns so organisierten Wesen, unserer Rezeptivität hervorbringt; und diese letztere ist nicht absolut, ist relativ, ändert sich mit ihrem Grunde, ist so verschieden, als es die Organisation und Empfänglichkeit der Wesen ist; führt nicht in das Innere der Sachen, ob sie gleich durch solches hervorgebracht wird; bestimmt nur, wie die Sache erscheint, wie sie, unter diesen Umständen, dieser Rezeptivität erscheinen muß; ist für uns so viel als Wirkichkeit Realität; auf sie sind all unsere Künste und Wissenschaften gegründet, und sind eben darum auch alle relativ; müssen mit ihrem Grunde, mit einer andern Organisation, Rezeptivität weichen; sind nur in so fern ewig, notwendig, unveränderlich, als es der Grund dafür ist. Für den Tauben ist keine Harmonie und Sprache; für den Blinden keine Farbe und Gemälde. Wären alle Menschen taub und blind geboren, was wären sodann unsere Wissenschaften Künste u. Philosophie? Was unsere Legislation? Jeder neue, mehrere Sinn ist Offenbarung der Natur, Mittel zu neuen Erfahrungen Kenntnissen, näherer Blick in das Innere der Wesen. Aber das Innere der Wesen selbst kann diese Kenntnisse nicht sein, weil sie durch andere Sinne anders erscheint, weil sich nicht durch alle uns bekannte Organisationen erkannt wird, weil es noch nicht ausgemacht ist, was durch andere noch weiter mögliche, uns bisher unbekannte Organisationen erkannt wird. Wenn die Voraussetzung angenommen wird, daß Raum, Materie, Ausdehnung und Körper etwas Reelles, an sich selbst Bestehendes sind; so freilich aus dieser Voraussetzung, als ihrem Grunde eine Menge von unmittelbaren und mittelbaren Schlüssen, ganze Systeme und Wissenschaften sind auch in so fern wahr und richtig, als sie Folgen dieser Voraussetzungen sind. So wie die Regeln des Schachspiels notwendige Folgen der, einmal jedem Steine willkürlich gegebenen Eigenschaften sind. Aber, so wie sich die Regeln ändern müssen, wenn die, den Steinen beigelegte Eigenschaften mit andern verändert werden, so muß sich auch die Wahrheit der durch unsere Sinne gemachten Erfahrungen, der daraus gefolgerten Sätze, mit unsern Sinnen und Prämissen verändern. Solche mögen sich auf was immer für eine Art ändern, so sind die dadurch gemachten Erfahrungen allzeit wahr und ausgemacht, weil es eben der Zweck und die Bestimmung dieser im Verborgenen wirkenden Kräfte ist, durch ihr Einwirken auf eine solche Organisation diese, durch ihre Einwirkung auf eine andere auch andere Schlüsse, Folgen und Gedanken zu veranlassen. Sie sind alle wahr, wenn nicht mehr gefolgert wird, als die Natur der Sachen und die Gesetze der Einwirkung erlauben; wenn nicht gefolgert wird, daß wir auch unter andern Umständen das Nämliche empfinden; daß hier, in dieser Gestalt gemachte Erfahrungen auch auf eine andere weitere übertragen werden, daß der Blinde eine Vorstellung von der Rose oder Farbe habe, daß Wesen, welchen der Sinn des Gesichts mangelt, auch Begriffe von Schönheit und Häßlichkeit der Gegenstände haben. Und so, wenn gleich Krankheit, als solche, nur blosse Erscheinung ist, so suche ich darum doch nicht weniger Hülfe; denn, nebst dem daß darin auch wirklich etwas Sachliches ist, welches mich unter diesen Umständen affizieren muß, unter andern anders, vielleicht angenehm affizieren würde: so verlange ich doch, daß diese unangenehme Wirkung in mir durch Erscheinung gehoben werde, der Schmerz mag Illusion oder Realität sein. Solange wir so organisiert sind, bleibt seine Einwirkung unangenehm; solange unsere Natur dermalen so beschaffen ist, daß wir angenehme Zustände suchen, unangenehme fliehen und entfernen. Von aller relativen Wahrheit ist nichts wahr, als daß unsichtbare, ausser uns befindliche Kräfte, bei so organisierten Wesen, unter dieser Lage und Umständen so erscheinen, um bei einer andern anders zu erscheinen.

29. Wenn aber relative Wahrheit durch die Verschiedenheit der Organisation bestimmt wird: so muß sich diese auch nach der Anzahl derselben richten. Unter diesen ist eine für uns Menschen die allgemeine, natürliche, beständige. Unsere bisherige Logik nennt bloß allein wahr, was wir durch diese erfahren, nennt alles übrige Mangel, vielleicht aus dem nämlichen Grunde aus welchem im Lande der Hinkenden der Grade verlacht wird. Auf dieses sind alle unsere Kenntnisse, unsere Begriffe von Häßlichkeit und Schönheit, von Tugend und Laster gegründet. Die darinn gesammleten Begriffe tragen wir sogar in Welten, die wir vermuten, die von der unsrigen ganz heterogener Natur sind, ohne Unterschied hinüber; leihen sie Wesen von anderer Art, und, aus einem uns sehr natürlichen Stolze, aus Unvermögenheit, Etwas besseres zu denken, nennen Wir den Mangel unserer Ideen Unvollkommenheit, und wenn wir Wesen höherer Art unterscheiden wollen, so legen wir ihnen nur einen höhern Grad von unsern Vollkommenheiten bei, verfallen dabei in die ungereimtesten Widersprüche, indem wir Wesen, die wir uns unkörperlich denken, Willen und Verstand zueignen; glauben, der Baum müsse für jedes Wesen ein Baum sein, weil er es für uns ist; schreiben also verschiedenen Gründen die nämlichen Folgen zu. Sie ist es, die uns verführt, alles als unmöglich zu halten, was wir nicht weiter einsehen; zu glauben, daß Widerspruch hier auch Widerspruch dort sein müsse, wo doch die Prämissen samt allem geändert sind. Auf ihr beruhet zwar alle mögliche Erkenntnis. Durch sie erhalten wir die Idee von Raum, Zusammensetzung, Extension, Figur, Körper, Materie; diese gesammleten Ideen werden Prämissen, aus welchen wir folgern, auf welche wir ganze Systeme, Wissenschaften und Künste gründen und bauen; durch sie schreiben wir den Dingen ausser uns Geruch, Geschmack, Farben, Hitze, Kälte, Ruhe und Bewegung zu; durch sie erhalten wir die Begriffe von Grösse, Schönheit und Häßlichkeit. Ändert aber das Suppositum, die Fähigkeit, das alles zu empfinden, die Prämissen, die Erfahrungen, die Sinne, - und alles hört so dann auf, kalt oder warm, groß oder klein, schön oder häßlich, wahr oder falsch zu sein. Denn nebst dieser allgemeinen beständigen Organisation, gibt es noch gewisse andere natürliche oder künstliche; so, wie Ausnahmen von der Regel, welche uns diesen, allen Menschen so erscheinenden Gegenstand, auf einer andern Seite zeigen, welche besondere Empfindungen und eben dadurch die Entdeckung eigener neuer Wahrheiten veranlassen.

30. Diese neue, seltnere, eigene Organisation ist also die Quelle von einer zweiten relativen Wahrheit. Diese wird nicht durch die allgemeine Organisation der Menschen erkannt. Mikroskopische Augen, Gelbsucht und andere derlei Zustände führen dazu. Sie heißt bey dem grössern, anders organisierten Teil: Mangel, Gebrechen, Illusion, optischer Betrug, Krankheit. Sie ist für den größten Teil das, was die Erkenntnis eben dieses grössern Teiles für andere höher organisierte Wesen ist; denn für diese ist ebenfalls unsere allgemeine menschliche Art zu empfinden, Mangel. Aber, diese Art zu sehen, zu erkennen ist auf keine Art Falschheit, Irrtum, Täuschung. Das wäre Falschheit, mit dieser Struktur des Auges gelb zu sehen, mit welcher andere rot, oder grün sehen; aber mit gelbsüchtigen Augen gelb zu sehen, ist Natur, Wahrheit, Vollkommenheit. Jeder, der nach den wahren Empfindungen einer derlei sonderbaren und selteneren Organisation urteilt, hat Recht, sagt wahr, denn er urteilt wie er empfindet, und auch unsere Urteile entstehen durch unsere Empfindungen. Wenn alle Menschen so organisiert wären, der Bau der meisten Augen mikroskopisch wäre, so wäre diese Art zu sehen die allgemeine, die wahre, und unsere dermalige würde sodann die ungewöhnliche, die unregelmässige; und obwohl dieser Einzelne nach seiner Art zu sehen, eben so wahr und richtig empfindet und urteilt, als alle übrige nach ihrer Art zu sehen und zu urteilen, so ist es darum doch notwendig, daß ihm dieser sogenannte Mangel und Art zu sehen gehoben werde, nicht, weil er an sich ein Mangel ist, sondern weil dieser Mangel nicht allgemein ist; weil andere nach ihren, von den seinigen ganz verschiedenen Empfindungen ganz verschieden denken, urteilen und handeln; weil zu unserer Glückseeligkeit diese Form nothwendig ist, sich die Gegenstände so vorzustellen, wie sich solche der allgemeine Teil der Menschen vorstellt. - Wenn diese Anomalie, diese irregulären Arten zu empfinden nicht wären, so wäre es auch Menschen nicht möglich die höhere, ontologische, relative Wahrheit zu finden. Sie wüßten nicht, daß der nämliche Gegenstand andern Sinnen anders erscheinen muß; sie würden glauben, ihre Empfindung, ihre Art die Sachen zu erkennen führe in das Innere, sei dieses Innere selbst; auch dem geübtesten Denker wäre es sodann unmöglich, sich von dieser Täuschung los zu machen. Je mehr es aber solcher künstlichen oder natürlichen Organisationen gibt, die wir selbst zu erfahren im Stande sind, oder wenigstens die Erfahrungen wirklich damit behafteter Menschen hören, sehen und lesen, um so mehr Mittel erhalten wir, uns von diesem Irrtum los zu machen, neue, uns vorher unbekannte Eigenschaften, etwas Allgemeines, Reelles, näher zur Sache führendes zu entdecken; unsere bisher gemachten Erfahrungen auch unter andern Formen bestätigt oder verschwinden zu sehen, selbst zu erfahren, ob etwas mehr, als blosse Erscheinung für diese Sinne sei? ob dieses schöne Angesicht auch mit mikroskopischen Augen seine Reize behalten würde. Durch die Gelbsucht, durch das Teleskop, Mikroskop, durch jede eigene, natürliche oder künstliche Art zu empfinden, würden wir erst aufgelegt, die grosse und wichtige Entdeckung zu machen, daß unsere Sinne uns auf keine Art in das Innere der Sachen führen; daß sich mit unserer Rezeptivität auch die Vorstellung und Gestalt der Dinge außer uns verändern. Jedes Entstehen und Bekanntwerden einer derlei neuen, natürlichen oder künstlichen Art zu sehen, ist der wichtigste und schätzbarste Beitrag zu unserer dermaligen höhern Erkenntnis. Durch jedes Naturspiel verrät sich die Natur.

31. Daraus entsteht aber eine neue, dritte, relative Wahrheit, die uns Menschen mögliche, höchste Erkenntnis, die Möglichkeit, eine gemachte Erfahrung, eine Art zu sehen mit einer andern, in einer andern Organisation gemachten Erfahrung zu vergleiche, zu bestätigen; zu bestimmen, was an dem Dinge sachliches ist; was eigentlich nur für diese, nicht für andere Sinne ist. Ganz gewiß muß eine solche Wahrheit, welche nicht bloß allein durch die allgemeine Art zu sehen, sondern noch über das durch alle uns bekannte Organisationen, mittel- oder unmittelbar eben so erkannt wird, einen höhern Grad der Gewißheit und Zuverlässigkeit erhalten. Diese Art von Wahrheit ist diejenige, welche wir die ontologische nennen.

32. Diese ontologische Wahrheit ist diejenige, in welcher sowohl die allgemeinen, als besondere, natürliche oder künstliche Organisationen übereinkommen; die durch keine allgemeine und besondere Organisation, durch keine Gelbsucht, Teleskop, Mikroskop, durch keinen Plan- Hohl- oder Konvexspiegel anders erkannt wird. So hoch und gewiß sie aber in Rücksicht auf die beiden vorhergehenden relativen Wahrheiten ist, so bleibt sie doch mit dem Allen noch allezeit Relativ; ist noch lange nicht absolut; ist sehr möglich, daß manche und die meisten Sätze davon, durch Entdeckung einer ganz neuen Organisation nicht bestätigt werden, sondern als Illusion erscheinen. Ist nur so lange wahr, und höhere Wahrheit, als die Sachen und Erfahrungen in dem Stande bleiben, wie sie dermalen sind. Sie ist selbst noch menschliches Wissen, obgleich höheres Wissen des Menschen; der Tod allein kann und muß zeigen, wie viel davon die Probe halten wird; wie sich das alles gegen die neue, werdende Organisation verhalten wird; welche neue Eigenschaften der Dinge wir dadurch entdecken werden; und auch dieses wird sodann noch lange nicht das Letzte sein. Um viele, noch verborgene Eigenschaften der Wesen, um neue Manifestationen dieser unsichtbaren Kräfte zu erfahren, wird es nötig sein, oft zu sterben. Jedes Sterben ist Hervorspringen in neues Licht zum neuen Leben.

33. Diese ontologischen Wahrheiten sind die Grundlage unseres Wissens; das Rektifikatorium unserer Sinne und aller unserer Erscheinungen; das untrügliche Kennzeichen, ob etwas bloße Erscheinung sei; der Leitfaden, an welchem wir uns bei dieser Ungewißheit und Täuschung zu halten haben; der feste Grund, auf welchem wir stehen; der Ort, von dem wir ausgehen. Durch diese allein sind wir imstande, sogar in die Vorwelt, und etwas näher in die Zukunft zu blicken. Diese sind die Anfangsgründe unserer Erkenntnis.
LITERATUR, Adam Weishaupt, Höhere Mysterien Zweiter Klasse, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin