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Über die Aufgabe der Philosophie in der Gegenwart [Rede gehalten zum Antritt des öffentlichen Lehramtes der Philosophie an der Hochschule in Zürich am 31. Oktober 1874]
Hochgeehrte Versammlung! Dieser Zustand der Philosophie ist wahrlich kein ganz erfreulicher. Er trägt überall die Spuren des Unfertigen und der inneren Gährung an sich. Aber er ist auch kein ganz unerfreulicher. Das Interesse an der Philosophie ist in den weiteren Kreisen der wissenschaftlichen Welt, in denen es längere Zeit fast völlig darniederlag, wieder lebendig geworden. Aus der Mitte der Einzelwissenschaften heraus werden überall philosophische Fragen laut. Man wendet sich an die gangbaren Systeme um eine Antwort, oder, was noch öfter geschieht, man versucht es selbständig zu philosophieren, auf dem Boden, den nun einmal die Spezialwissenschaft oder das sonst im Gesichtskreis des einzelnen Forschers liegende Wissen darbietet. Die philosophische Bewegung, die so in den Einzelwissenschaften beginnt, ist vielleicht bedeutungsvoller als alles was sich gegenwärtig auf dem Gebiet der eigentlichen Fachphilosophie ereignet. Hier sehen wir die wissenschaftliche Theologie eifrig bemüht, nach einer Begründung des religiösen Gefühls zu suchen, die der Religion innerhalb, nicht außerhalb der philosophischen Weltanschauung ihre Stelle anweist. Dort ringen die Sozialwissenschaften immer mehr nach einer prinzipiellen, begriffsmäßigen Entscheidung der Probleme, welche die menschliche Gesellschaft bewegen. Die Geschichtsforschung sucht den tieferen Natur- und Kulturbedingungen des historischen Geschehens nachzugehen und so die innere Notwendigkeit desselben zu erfassen. Aus der Philologie entwickelt sich die vergleichende Sprachkunde, eine Wissenschaft, die sich notwendig zu den Fragen über Wesen, Ursprung und Entwicklung der Sprache geführt sieht, Fragen, die, wie sie unmittelbar auf die Psychologie zurückweisen, so zugleich die Hauptprobleme einer selbständigen Philosophie der Sprache enthalten. Nicht am wenigsten sind aber diejenigen Wissenschaften von der Philosophie berührt worden, die ihr vor nicht langer Zeit vielleicht am fernsten gestanden haben, diejenigen, die mich selbst - ich darf wohl sagen fast ohne mein Wissen und Wollen - der Philosophie entgegengeführt haben, die Naturwissenschaften. Wie wäre man noch vor zwanzig Jahren erstaunt gewesen, inmitten eines rein physikalischen Werks Exkurse über das Problem der Erkenntnis anzutreffen? Oder wie hätte man es für denkbar gehalten, daß ein Lehrer der Physik das Bedürfnis empfindet, sich und seinen Schülern in einer besonderen Vorlesung über die logischen Prinzipien seiner Wissenschaft Rechenschaft abzulegen? Die Älteren unter uns erinnern sich wohl noch der Zeit, da die Physik nur äußerlich in den Rahmen einer Wissenschaft zusammengefaßt war, innerlich aber in ebenso viele Wissenschaften zerfiel, als es Erscheinungsgebiete gibt, mit denen sie sich beschäftigt. Schwere, Licht, Wärme, Elektrizität bedurften besonderer Erklärungsprinzipien und im Grund bedurfte man für jede dieser Haupterscheinungen einer besonderen Theorie der Materie. Daneben ging die Chemie einher, welche zweifelhaft war, ob die Atome der Physik auch für sie eine Bedeutung haben, und in diesem Zweifel häufig mit der unmittelbarsten empirischen Auffassung der Tatsachen sich zufrieden gab. So konnte es dann nicht fehlen, daß man vielfach alle Hypothesen über den letzten Grund der physikalischen Erscheinungen als bloße Hilfsmittel der Veranschaulichung oder der Rechnung betrachtete und daher kein Art darin fand, wenn in den verschiedenen Teilen der Naturlehre die Hypothesen über die Konstitution der Materie wechselten. Ganz zwar ist dieser unbefriedigende Zustand noch nicht beseitigt. Immerhin hat die neuere mechanische Wärmetheorie für eine große Zahl der physikalischen Erscheinungen eine einheitliche Betrachtung bereits möglich gemacht, und schon steht sie im Begriff zwischen Physik und Chemie die Brücke zu schlagen, indem sie auf die chemischen Verbindungserscheinungen allgemein bewährte physikalische Gesichtspunkte mit Erfolg anwendet. Zwar halten noch jetzt die meisten Physiker und Chemiker unsere Ansichten über die Materie, und gewiß mit Recht, für provisorische. Aber kein Naturforscher zweifelt mehr daran, daß in diesen Ansichten ein Kern von Wahrheit ist, der sich allmählich, je mehr von den verschiedenen Seiten her die Untersuchungen übereinstimmende Ergebnisse herbeiführen, zur ganzen und vollen Wahrheit entfalten wird. Niemand denkt heute mehr daran, daß Physiker und Chemiker oder gar die Physiker verschiedener Gebiete sich bei widersprechenden Hypothesen beruhigen können. Mehr oder minder bewußt ist die Ansicht zur allgemeinen Geltung gekommen, daß es mit der bloßen Beschreibung und Verbindung der Erscheinungen in der Naturwissenschaft nicht getan ist, sondern daß es sich schließlich darum handelt, hinter den Grund der Erscheinungen zu kommen. Damit aber erkennt die Naturwissenschaft an, daß es ihre Aufgabe ist, an einer philosophischen Gesamtauffassung der Natur mitzuarbeiten. Es würde zu weit führen, hier auch nur in den flüchtigsten Umrissen schildern zu wollen, wie in ähnlicher Weise fast auf allen Gebieten die Naturwissenschaft sich vor philosophische Probleme gestellt findet. Schon hat man, gleichfalls aus den Grundsätzen der mechanischen Wärmetheorie, Folgerungen entwickelt, welche, bis in die entfernteste Zukunft des Universums hinabreichend, sich nicht scheuen an die große Weltfrage zu rühren, ob es eine Ende der Dinge gibt oder nicht. Auf demselben Boden allgemeiner Betrachtungen hat der Satz von der Unzerstörbarkeit der Kraft seine zwingende Gewalt über die lebende Welt ausgedehnt, welche er dem allgemeinen Kräftewechsel der Natur dienstbar macht, indem er die in der Physiologie ohnehin bereits wankend gewordene Annahme spezifischer Lebenskräfte vollends vernichtet. Von einer anderen Seite her gewinnt das lange zurückgelegte Problem der Entwicklung der organischen Lebensformen einen wachsenden Einfluß in den biologischen Wissenschaften. Die festgewurzelten Ansichten über die Bedeutung der natürlichen Systeme werden umgestoßen, und die fast vergessene Frage nach der Entstehung alles Lebendigen erhebt sich von Neuem. Noch schwebt innerhalb der Entwicklungstheorie der Streit, ob und wie die anscheinende Zweckmäßigkeit der organischen Naturprodukte mit ihrer strengen Kausalität zu vereinen ist, und schwerlich wird derselbe eine ganz befriedigende Lösung finden, bevor man den Begriffen Zweck und Ursache von Neuem mit den philosophischen Waffen zu Leibe geht, die der jetzige Zustand der Wissenschaften an die Hand gibt. Während auf diesem Punkt die Naturwissenschaft von der philosophischen Begriffszergliederung eine Lösung der Schwierigkeiten erwartet, in die sie sich verwickelt sieht, steht auf einem anderen Gebiet die Naturwissenschaft im Begriff eine bisher der Philosophie zugezählte Disziplin zu erobern oder wenigstens eine Teilung der Gewalten herbeizuführen. Aus der Physiologie der Sinneswerkzeuge hat sich allmählich durch die Übertragung naturwissenschaftlicher Beobachtungs- und Versuchsmethoden auf die innere Erfahrung, die neue Wissenschaft der experimentellen Psychologie entwickelt, die ihrem ganzen Wesen nach dazu berufen scheint, die Vermittlerin zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften zu bilden. Doch nicht bloß die einzelnen Zweige der empirischen Forschung führen zur Philosophie hinüber, selbst die abstrakte Grundlage der Naturwissenschaft, die Mathematik, ist vom Zug der Zeit nicht unberührt geblieben. Hier sucht man durch transzendente Spekulationen über das Wesen des Raumes einen allgemeineren, von den Fesseln der Anschauung befreiten Begriff desselben zu gewinnen. Dort prüft man die allgemeinsten Sätze der Mechanik, diese Fundamente der ganzen erklärenden Naturwissenschaft, von Neuem auf ihre Herkunft und Sicherheit. So werden überall aus den besonderen Gebieten der Wissenschaft philosophische Fragen laut, und schon hat der Fortschritt der einzelnen Forschungen mannigfache Resultate von philosophischer Bedeutung ans Licht gefördert, Bausteine einer zusammenhängenden Welterkenntnis, deren schließliche Ordnung und Zusammenfügung die Aufgabe der Philosophie sein wird. Ist nun die heutige Philosophie dieser Aufgabe bereits gerecht geworden? Ist uns etwa ein System des Wissens überliefert, in welchem die neuerworbenen Erkenntnisse ohne Schwierigkeit ihre Stelle finden? Oder müssen wir ein Gesamtbild der geistigen Bewegung unserer Zeit von einer Philosophie der Zukunft erst erwarten? Oder endlich, sollte es vielleicht dem menschlichen Geist überhaupt nie beschieden sein, eine philosophische Weltanschauung zu entwickeln, welche mit den Ergebnissen und Forderungen der Einzelwissenschaften in einem durchgängigen Einklang steht? Unbestritten ist KANT derjenige unter den neueren Philosophen, der auf die einzelnen Wissenschaften, und insbesondere auf die Naturwissenschaft, die tiefsten und nachhaltigsten Wirkungen geübt hat. An KANT knüpfen überdies alle späteren Entwicklungen des philosophischen Denkens an, in so scharfen Gegensatz dieselben untereinander auch treten mögen. Begreiflich daher, daß Manchen die kantische Philosophie noch immer als das einzige philosophische Lehrgebäude erscheint, welches durch den Fortschritt der Einzelwissenschaften nicht überholt ist. In der Tat, wenn irgendeinem neueren Philosophen, so gebührt sicherlich KANT der seltene Ruhm, daß er ein philosophischer Entdecker gewesen ist. Sein größtes Verdienst besteht in der Nachweisung der subjektiven Bedingungen unseres Erkennens. Dieses Unternehmen hatte aber zwei Seiten: die Untersuchung der Bedingungen der Anschauung oder sinnlichen Wahrnehmung, und die Untersuchung der Bedingung der Erkenntnis aus Begriffen. Indem KANT Raum und Zeit als die subjektiven Bedingungen unserer Anschauung nachgewiesen hat, ließ er unbestimmt, woher der Inhalt oder, wie er es ausdrückt, die Materie der Empfindung stammt. Aber auch Raum und Zeit hat KANT nur als Formen der Anschauung nachgewiesen, die aus uns kommen, ohne zu untersuchen, wie sie in uns entstehen. Soweit also die Anschauung ein erkenntnistheoretisches Problem enthält, hat KANT dieses Problem gelöst; das psychologische Problem dagegen, das zugleich in der Anschauung enthalten ist, hat er ungelöst gelassen. Mit diesem hat später von philosophischer Seite her HERBART und dann, auf dem Boden der physiologischen Erfahrung, die neuere experimentelle Psychologie sich beschäftigt. Ähnlich verhält es sich mit der Erkenntnis aus Begriffen. KANT hat gezeigt, daß wir überall unsere Begriffe in die Dinge hineindenken. Aber die Frage, ob die Stammbegriffe des Verstandes, die Begriffe der Ursache, der Substanz, der Qualität, Quantität usw., uns angeboren oder ob sie psychologisch entstanden sind, bleibt bei ihm ohne Antwort. Es mag sein, daß er jene Begriffe als angeborene angesehen hat. Noch sind über diese Frage, von der einst LOCKE bei seinen denkwürdigen Untersuchungen ausging, die Ansichten geteilt. Manche möchten unter den Stammbegriffen KANTs wenigstens eine Auswahl treffen und etwa das ursprüngliche Fundament unseres Denkens mit SCHOPENHAUER auf den angeborenen Begriff des Grundes oder der Kausalität beschränken. Die psychologische Erfahrung dürfte ihre Meinung dahin abgeben, daß wir all jene allgemeinen Begriffe gewissermaßen potentiell in uns tragen, insofern wir nämlich denkende Wesen sind, daß sie aber, ebenso wie die Anschauungen der Zeit und des Raumes, in Jedem von uns von Neuem sich psychologisch entwickeln müssen. KANTs Entdeckung war also eine rein erkenntnistheoretische. Die psychologischen Fragen, die sich an sie knüpfen, ließ er unberührt. Zugleich trug aber diese Entdeckung - womit ihr Verdienst übrigens nicht im Geringsten geschmälert werden soll - einen propädeutischen [vorschulischen - wp] Charakter an sich. Denn mit dem Nachweis, was an unserer Erkenntnis subjektiv ist, was nicht, haben wir noch keine einzige Tatsache der Natur oder des Geistes wirklich erkannt. Leider sollte jedoch KANT selbst einer Gefahr nicht entgehen, auf die er in seinen Antinomien der Vernunft hingewiesen hatte, der Gefahr nämlich, Begriffen, die einen rein erkenntnistheoretischen Wert besitzen, eine reale Bedeutung beizulegen. Indem KANT nachgewiesen hat, daß überall subjektive Formen des Anschauens und Denkens in unsere Auffassung der Welt eingehen, konnte er das Ergebnis seiner Vernunftkritik auch in den Ausdruck zusammenfassen: wir erkennen überall nur Erscheinungen, nicht aber die Dinge, wie sie ansich sein mögen. So entstand die folgenreiche Unterscheidung der Erscheinung und des Dings-ansich, eine Unterscheidung, die so lange ihr unbestreitbares Recht hat, als man auf dem Boden der Erkentniskritik verbleibt, die aber in dem Moment jenes Recht verliert, wo man dem Ding-ansich eine reale Bedeutung zugesteht, indem man es irgendwie als den Grund der Erscheinungen ansieht. Ist einmal dieser Schritt geschehen, so ist es nur natürlich, daß sich auch das Begehren regt, von jenem verborgenen Grund der Erscheinungen irgendwie, vielleicht durch einen Akt intuitiver Erkenntnis, den Schleier zu lüften. Und in der Tat ist es bei KANT so gekommen. Im Sittengesetz, meinte er, enthülle sich die innerste Natur des Menschen, das wahre Ding-ansich, und von diesem einem Punkt strahle ein schwaches Licht auch auf den dunklen Hintergrund der im Gebiet des theoretischen Erkennens unerweisbaren transzendenten Vernunftideen. Die Bedeutung, welche KANTs praktische Philosophie besitzt, durch die Entschiedenheit, mit der sie die einfache Größe des Sittengesetzes in den Vordergrund stellt, darf uns gegen die Schwäche dieser Begründung nicht blind machen. Einem Dualismus der bedenklichsten Art bereitet sie den Boden. Hier das Reich der Erscheinungen, wo Anschauungen und Begriffe überall sorgfältig gefragt werden nach ihrer Herkunft und ihrer Berechtigung; dort das Gebiet der Dinge-ansich, wo jede Erkenntnis aufhören soll, und in das uns nachträglich doch ein unerwarteter Einblick gestattet wird. Dieser Punkt ist es, bei welchem SCHOPENHAUER an KANT, und in neuester Zeit wieder die vielbesprochene "Philosophie des Unbewußten" an den ersteren anknüpft. Der kantische Gegensatz zwischen Erscheinung und Ding-ansich verwandelt sich bei SCHOPENHAUER in den Dualismus von Vorstellung und Willen. Auf dem Gebiet der Vorstellung ist bei ihm Alles klar und zusammenhängend; Alles ist hier beherrscht von Grund und Ursache. Der Wille dagegen ist das dunkle Ding-ansich, das da und dort als eine rätselhafte Tat in die Welt der Vorstellungen hereinbricht. In der Philosophie des Unbewußten endlich hat dieses Ding-ansich den Namen des "Unbewußten" angenommen und deutet damit schon an, daß sich in ihm Alles vereinigt findet was nicht auf klare Prinzipien des Erkennens zurückgeführt werden kann. So waltet dann hier, wie schon bei SCHOPENHAUER, auf der einen Seite, auf dem Gebiet der Vorstellung, eine verhältnismäßig klare, dem naturwissenschaftlichen Denken befreundete Auffassung, und auf der anderen Seite eine ebenso unverkennbare Sympathie mit den mystischen und spiritistischen Verirrungen der sogenanngen gebildeten Gesellschaft der Gegenwart. Vielleicht ist es gerade die Vereinigung so heterogener Bestandteile, welche diese letzten philosophischen Früchte, die auf dem Boden des kantischen Dualismus gewachsen sind, bei einem Teil des heutigen Publikums so beliebt macht. Für die Bestimmung des philosophischen Grundcharakters einer Zeit sind aber zweifellos die Ideen, welche die Entwicklung der Einzelwissenschaften beherrschen, von höherer Bedeutung als diejenigen Stimmungen, die in der Popularität dieses oder jenes Philosophen ihren Ausdruck finden. Denn die Wissenschaft ist der öffentlichen Meinung immer voraus. Und in der Wissenschaft - dies darf man, wie ich glaube, unbedenklich behaupten - hat die dualistische Weltanschauung keinen Boden mehr. Es mag wohl sein, daß einzelne Gelehrte, namentlich außerhalb des Gebietes ihrer eigenen Arbeiten, noch dem Strom der populären Neigungen folgen. Aber der Zug unserer wissenschaftlichen Entwicklung im Ganzen geht auf eine einheitliche, monistische Weltanschauung. Niemand verkennt, daß unser Wissen Grenzen hat, und sie jeder Zeit haben wird. Aber so weit unser Wissen reicht, will es ein innerlich zusammenhängendes sein, und widerstrebt dem Versuch, es in zwei gänzlich verschiedene Hälften zu spalten. Jene zwischen Rationalismus und Mystizismus schwankenden Anschauungen sind daher innerhalb der Wissenschaft heute schon ein überwundener Standpunkt. Doch nötigt nicht die Wissenschaft selbst eine andere und tiefer gehende Form des Dualismus uns auf, indem sie überall auf die Verschiedenheit der inneren und äußeren Erfahrung hinweist, eine Verschiedenheit, welche ja auch der Trennung in die zwei großen Klassen der Natur- und Geisteswissenschaften zugrunde liegt? Aber je mehr unser psychologisches Erkennen fortschreitet, umso deutlicher gestaltet sich zwischen innerer und äußerer Erfahrung ein durchgängiger Zusammenhang. Was wir äußere Erfahrung nennen, ist von unseren Anschauungsformen und Begriffen beherrscht. Zur Bildung der Anschauungen und Begriffe bedürfen wir freilich der Anstöße von außen, aber darum sind sie selbst doch in uns, das heißt Bestandteile unserer inneren Erfahrung. Alle Erfahrung ist zunächst innere Erfahrung. Ist also eine monistische Weltanschauung das Ziel der Wissenschaft, so kann dies nur eine solche sein, welche die Priorität der inneren Erfahrung rückhaltlos anerkennt, der Idealismus. Noch ist dieses Wort allzuleicht dem Mißverständnis ausgesetzt. Der Idealismus, meint man - und der Weg, welchen die idealistische Philosophie nach KANT genommen hat, begünstigt diese Meinung - wolle die äußere Erfahrung überhaupt nicht als wirkliche Erkenntnisquelle gelten lassen, sondern er wolle alles Wissen aus Ideen, die vor jeder Erfahrung in uns liegen, entwickeln. Aber schon der Idealismus KANTs, der in Bezug auf das Verhältnis zwischen äußerer und innerer Erfahrung einer monistischen Denkweise zuneigte, entspricht keineswegs diesem Begriff; nicht minder ist der Idealismus, welchem gegenwärtig die Naturwissenschaften zustreben, von ganz anderer Art. HEGEL, in welchem die auf KANT gefolgte idealistische Philosophie ihren Abschluß gefunden hat, gründete sein System des Wissens auf die Selbstbewegung des reinen Gedankens. Indem er erkannte, daß die allgemeinsten Prinzipien der Logik, der Satz der Identität und der Satz des Widerspruchs, nicht imstande sind als Grundlagen des Wissens zu dienen, nahm er ein neues, angeblich logisches Prinzip zum Ausgangspunkt seiner Gedankenentwicklung, den Satz des realen Gegensatzes. Jeder Begriff soll sein Gegenbild in sich enthalten, durch eine Vereinigung mit diesem Gegenbild einen neuen Begriff erzeugen, an dem nun dieselbe Gedankenbewegung sich wiederholt, bis endlich unsere ganze Begriffswelt sich in selbstgefügter Ordnung zu einem System des Wissens verbindet. In der Tat, wer möchte es leugnen, daß der reale Gegensatz überall unser Denen beherrscht? Wir reden vom Gegensatz der Richtungen des Raumes und der Bewegung. Anziehung und Abstoßung walten auf dem Gebiet der physikalischen und chemischen Kräfte. Nicht minder bewegt sich unsere Empfindung in Gegensätzen: Warm und kalt, hohe und tiefe, starke und schwache Töne, grelles und mattes Licht. Und dieselben Gegensätze kehren wieder in unseren ethischen und ästhetischen Vorstellungen: Gut und Böse, Schön und Häßlich. Überall aber ist dieser Gegensatz ein Produkt unserer Anschauung. Aus der Anschauung stammt er, nicht aus dem reinen Gedanken. Indem so in Wahrheit nicht ein logisches Prinzip, sondern eine allgemeine Erfahrung das Vehikel der dialektischen Methode war, konnte es freilich nicht gelingen, auch das erfahrungsmäßige Wissen ihrem System einzufügen. Aber was sonst aus der reichen Erfahrung der Einzelwissenschaften für die philosophische Betrachtung fruchtbringend gewesen wäre, mußte notwendig vor der Alles nivellierenden Gewalt des einen Prinzips zurücktreten. Nirgends ist dies deutlicher hervorgetreten als in der Naturphilosophie; denn es gibt keine Wissenschaft, die eine größere Zahl bestimmt erkannter Prinzipien der Erklärung, welche bis jetzt noch nicht aufeinander zurückgeführt werden können, entwickelt hat, als die Naturwissenschaft. Näher stand unter den auf KANT gefolgten Philosophen HERBART der naturwissenschaftlichen Anschauungsweise. Sein Versuch, auf dem Boden, den KANTs Erkenntniskritik und FICHTEs Zergliederung des Selbstbewußtseins geschaffen hatten, die Monadologie von LEIBNIZ zu erneuern, bot einerseits mit der atomistischen Theorie Berührungspunkte und schien andererseits der den Naturforschern geläufigen mathematischen Methode auch in die Psychologie einen unerwarteten Eingang zu eröffnen. Bei näherem Zusehen freilich verschwindet mit den naturwissenschaftlichen Anschauungen ebenso, wie die mathematischen Formeln in seiner Statik und Mechanik der Vorstellungen die exakte Grundlage der Messung oder auch nur eine annähernde Bestätigung durch die Erfahrung vermissen lassen. HERBARTs einfache Wesen, aus deren Wechselwirkungen sich der Welten Lauf zusammensetzt, sind nicht etwa, wie die Atome der neueren Physik, die Träger der einfachsten Kräftewirkungen, welche sich dem Wechsel der äußeren Naturerscheinungen zugrunde legen lassen, sondern sie haben ihr Urbild in der reinen Empfindung. Gleich dieser besitzen sie Qualität, und wie qualitativ verschiedenartige Empfindungen sich stören, so stören sich die einfachen Wesen in ihrem Zusammensein. Die einfachsten Erfahrungen unseres Bewußtseins sind also hier hinübergewandert in die äußeren Dinge. Nachdem aber einmal diese Grundlage gewonnen ist, nimmt die spekulative Entwicklung ohne Beiziehung weiterer Erfahrungen ihren Gang. Höchstens wird nachträglich, so gut es geht, ein Einvernehmen herzustellen gesucht mit den Resultaten der Wissenschaft. Wie HEGEL die allgemeinste, so proklamierte HERBART die einfachste innere Erfahrung als das Wesen der Dinge. Nun ist es allerdings ein allgemeines methodologisches Prinzip aller Wissenschaften, daß das Zusammengesetzte zergliedert und schließlich aus dem Einfachen erklärt werden muß. Ein zweites ebenso wichtiges Prinzip lautet aber, daß diese Zergliederung diejenigen Erfahrungen umfassen muß, um deren Erklärung es sich handelt. Und dieses Prinzip hat HERBART verletzt. Er hat die psychologische Erfahrung zergliedert, und das Einfachste worauf er hier gekommen ist hat er auf das Gebiet der physikalischen Erfahrung hinübergetragen. Man könnte diesen Schritt vielleicht deshalb für gerechtfertigt halten, weil ja alle Erfahrung uns nur als innere Erfahrung, durch das Medium unseres Bewußtseins übermittelt wird. Aber im selben Maß wie wir den Begriff der inneren Erfahrung hier ausdehnen, müssen wir sie auch in unserer Erklärung der Dinge zu Rate ziehen. Wenn jene psychologische Erfahrung, die wir auf unser eigenes Wesen beziehen, und jene physikalische, die wir aus der Einwirkung einer Außenwelt herleiten, beide im strengsten Sinn nur Teile der inneren Erfahrung sind, so werden wir zwar bei der Erklärung der physikalischen Dinge die nur aus der psychologischen Erfahrung bekannte Natur unseres Bewußtseins mit in Rechnung zu ziehen haben, wir werden aber wahrlich nimmermehr von der physikalischen Erfahrung selbst abstrahieren dürfen. Und nicht minder wird unsere psychologische Forschung zwar zunächst die eigentlich psychologische Erfahrung berücksichtigen. Sobald sie sich aber über den tieferen Grund der letzteren Rechenschaft geben soll, wird sie ihrerseits nicht absehen können von dem was die physikalische Erfahrung über die allgemeine Natur der Dinge erschließen läßt. So weist jede unserer Erkenntnisquellen auf die andere zurück, und nur diejenige philosophische Weltanschauung wird uns daher fernerhin befriedigen können, welche den Resultaten und Forderungen der Einzelwissenschaften nach diesen verschiedenen Richtungen hin gerecht wird. - Wir kommen zum Schlußergebnis unserer Betrachtungen. Die Wissenschaft unserer Zeit strebt nach einer einheitlichen, zusammenhängenden Weltanschauung; manche Bausteine zu einer solchen hat sie schon zutage gefördert. Aber die Forderungen der Einzelwissenschaften werden durch keines der vorhandenen Systeme befriedigt, denn es mangelt ihnen jene umsichtige Benutzung der wissenschaftlichen Erfahrung, welche die einzelnen Wissenschaften, und namentlich die Naturwissenschaften, beim Grad der Ausbildung, den sie erlangt haben, verlangen dürfen. So handelt es sich dann darum, von Neuem dem Ziel zuzustreben, welches im Anfang dieses Jahrhunderts die deutsche Philosophie schon einmal erreicht zu haben meinte. Wahrlich, nicht leicht ist dieser Weg. Denn nicht leer soll er zurückgelegt werden, sondern belastet mit der ganzen Fülle wissenschaftlicher Erfahrung. Immerhin ist die gewaltige Arbeit, an die sich die Nachfolger KANTs gewagt haben, für uns nicht vergeblich getan worden. Aus HEGELs Geschichtsauffassung sollten wir dieses eine wenigstens lernen, daß eine spekulative Entwicklung, die ein Menschenalter beherrscht hat, nicht eine bloße Verirrung gewesen sein kann. Eine monistische Weltanschauung hat mit philosophischer Konsequenz zum ersten Mal der neuere deutsche Idealismus durchgeführt. Neben diesem wird ihm das andere Verdienst unvergessen bleiben, daß er alle Gebiete des geistigen Lebens, Staat und Gesellschaft, Geschichte und Kunst, auf die Idee einer innerlich notwendigen Gedankenentwicklung zurückführte, eine Idee, die sogar im beengenden Panzer der dialektischen Methode die Kraft überzeugender Wahrheit nicht ganz eingebüßt hat. Auch die Naturwissenschaft ist von ihr nicht unberührt geblieben, wie so manche Anklänge bezeugen, die in der Entwicklungstheorie der heutigen Biologie an die Naturphilosophie SCHELLINGs erinnern. Während diese mit FICHTE beginnende Richtung des Idealismus nach ihrem allgemeinsten Gedankengehalt gewürdigt werden muß, wenn sie nicht verkannt werden soll, hat HERBART seine Stärke in der scharfsinnigen Zergliederung der Einzelbegriffe. Auch seine Bedeutung wird vielleicht dann erst richtig geschätzt werden, wenn es keine Schule mehr gibt, welche die Fesseln seines Systems trägt. Nicht deshalb also muß die Philosophie vorwärts schreiten, weil alles Vorangegangene Fehler und Irrtum wäre, sondern weil die Wissenschaft indessen weiter geschritten ist. Auch wandert der menschliche Geist, wie uns vor allem die Geschichte der Philosophie zeigt, nicht auf der geraden und kürzesten Bahn seinem Ziel entgegen, sondern er schlägt mannigfache Umwege ein, die ihn unvermeidlich zuweilen auf Abwege führen. Es mag sein, daß er auf andere Weise schneller vorwärts käme, aber den größeren Gewinn trägt er doch davon, wenn er das Reich der Erkenntnis nach allen seinen Richtungen durchmessen hat. Und was schadet auch ein kleiner Zeitverlust auf einem Weg, dessen letztes Ziel doch in der Unendlichkeit liegt? Ob es früher oder später wieder gelingen wird, das menschliche Wissen in jene systematische Form zu bringen, welche der Philosophie bisher immer als Aufgabe vorgeschwebt hat, wer vermöchte dies mit Gewißheit heute schon zu sagen, wo noch so viele Begriffe nicht nur in der Philosophie, sondern auch in den Einzelwissenschaften der Klärung bedürfen? Vorläufig, scheint es, sind wir noch in jenem vorbereitendem Stadium, in welchem, während sich fortan der Stoff im Einzelnen sammelt, die allgemeinen Gesichtspunkte sich allmählich aus dem Streit der Meinungen empor arbeiten. Unterdessen hat die Philosophie nicht müßig zu gehen. In der Prüfung der allgemeinen Ergebnisse der Wissenschaften, in der Entwicklung der wissenschaftlichen Methode und ihrer Prinzipien hat sie ein mit dem Fortschritt der wissenschaftlichen Erfahrung immer wachsendes Feld der Arbeit vor sich, auf dem sie zugleich befruchtend auf die Einzelwissenschaften zurück wirken kann. Je mehr aber die Philosophie diesen ihren Beruf, die "Wissenschaft der Wissenschaften" zu sein, im wörtlichsten Sinn auffaßt, umso weniger wird es ihr fehlen können, dereinst auch von der wissenschaftlichen Gedankenbewegung unserer Zeit ein treues Bild auf die Nachwelt zu bringen. Denn die Systeme, welche die Geschichte der Philosophie auf ihren Blättern verzeichnet, sind, so weit sie eine bleibende Bedeutung gewonnen haben, nicht müßige Ideenverbindungen einzelner Denker; sondern die zahllosen Quellen der Erkenntnis, die in den Einzelwissenschaften fließen, sammelt die Geschichte der Philosophie zu einem großem Strom, an welchem man zwar nicht den Verlauf jeder einzelnen Quelle, wohl aber die Richtung wieder erkennt, die sie alle zusammen genommen haben. Dem Bewußtsein der jüngst vergangenen Zeit war diese Wechselwirkung der Philosophie und der einzelnen Wissenschaften bisweilen abhanden gekommen. Den letzteren entspringt daraus der geringere Vorwurf. Denn die Sache der Philosophie ist es, die gute Beziehung mit den Einzelwissenschaften aufrecht zu erhalten, indem sie ihnen entlehnt was sie bedarf, die Grundlage der Erfahrung, und ihnen mitteilt was sie entbehren, den allgemeinen Zusammenhang der Erkenntnisse. ![]() |