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Erkenntnistheoretische Grundzüge der Naturwissenschaften
V o r w o r t Damit in Zusammenhang steht, daß die Beiträge zu einer wissenschaftlichen Methodenlehre, welche ich liefern will, ebensogut auch auf einem anderen Grund und Boden als dem naturwissenschaftlichen erwachsen können - und sie sind auch hie und da erwachsen. Aber das ist meine Meinung: die Naturwissenschaften scheinen dafür insofern den geeignetsten Ausgangspunkt zu bieten, als es ihnen am leichtesten ist, sich dem Objekt der Forschung als einem rein äußeren gegenüberzustellen, frei von allen Erregungen des Gemüts, welche nur allzuleicht mit einer Trübung des Urteils verbunden sind. Weist man sonst darauf hin, daß es den Naturwissenschaften an inneren Berührungspunkten mit dem Menschlichen in uns fehlt, so drängt sich geradde von dieser Seite aus die Überzeugung auf, daß in den Naturwissenschaften eine besondere Naturaufgabe schlummert, die bisher nur wenig oder gar nicht in das Bewußtsein einer allgemeinen Bildung getreten ist: die Aufgabe, in der Methode verwickelten Stoffes Meister und Herr zu werden, unter Umständen vorbildlich dienen zu können. Die Bedeutung dieses Gedankens für die Gegenwart ist wichtig genug, um ihn noch in einer anderen Form zu verandschaulichen. Selbst mit tausend Banden an das Leben und die uns umgebende Wirklichkeit geknüpft, erscheint es im Kampf der Meinungen überaus schwer, das logische Verhältnis von Voraussetzung und Folge erkenntnistheoretisch ins Licht zu setzen, welches zur Erfassung der Wirklichkeit nun einmal nötig ist. Dieses Verhältnis erscheint oft dermaßen getrübt, daß die Einbildung einer Voraussetzungslosigkeit der Behandlung nur allzuhäufig den Gedanken an die logische Unmöglichkeit einer solchen gar nicht aufkommen läßt. Und wo die Notwendigkeit einer Analyse nach dem logischen Schema von Voraussetzung und Folge zugestanden wird, da mag es auf den ersten Blick scheinen, als ob die elementare Mathematik dazu eine genügende Anleitung zur Hand gibt. Aber der Mathematik fehlt der Reichtum der Wirklichkeit, welchen die Naturwissenschaften gewähren, und die Elemente der Wirklichkeit in ihnen sind nicht in dem Maße zutage liegend, wie das z. B. von den Elementen der Geometrie behauptet werden kann, sie müssen viel ehr nach physikalischen Muster mühsam gesammelt und festgestellt werden. Daran liegt es, daß für das Verhältnis von Voraussetzung und Folge die Physik mit größerem Recht als vorbildliches Analogon zur theoretischen Erfassung anderer Wirklichkeiten hingestellt werden kann, als die Mathematik. Wenn die Physik eine Theorie oder ein System der Wirklichkeit auf ihrem Gebiet zu sein beansprucht, dann müßte es in der Tat auffallend sein, wenn sie nicht jeder Theorie und jedem System der Wirklichkeit auf ganz anderen Gebieten erkenntnistheoretische Formen und Betrachtungen nahezulegen vermöchte. Und wenn es nichts weiter wäre als die Erkenntnis, daß es einer Wissenschaft der Wirklichkeit nicht sowohl auf Wahrheit als auf angemessene Begriffsbildung ankommen muß - anders ausgedrückt, daß ein allzu unmittelbarer Versuch, die Wahrheit zu erfassen, einer angemessenen Begriffsbildung nur hinderlich wäre, möchte ich dies schon als einen nicht zu unterschätzenden Gewinn bezeichnen. Den Naturwissenschaften entnommene erkenntnistheoretische Studien, wie die vorliegeden, scheinen mir noch nach einer anderen Richtung von einer allgemeinen Bedeutung. Es läßt sich nicht leugnen, daß durch die Naturwissenschaften um die Mitte des nun bald scheidenden Jahrhunderts ein gewisser Zwiespalt in das Geistesleben der Menschheit hineingetragen erscheint; die Naturwissenschaften haben damit in erster Linie auch die Verpflichtung übernommen, diesen Zwiespalt zu lösen. Dieser Verpflichtung dürften sie am Besten durch eine Bekanntgabe der positiven Beiträge nachkommen, welche sie zu einer allgemeinen Erkenntnistheorie zu liefern imstande sind. Diese Anschauung schien mir für das Geistesleben der Gegenwart wichtig genug, um sie geradezu zur Einleitung meiner Darstellung zu machen. Ich hoffte dadurch am leichtesten auch Fernstehendere in das Interesse für die Probleme einzuführen, welche mich bei der Abfassung der vorliegenden Schrift beseelt haben. Wenn es noch nötig ist, den Inhalt meiner Schrift nach einer Richtung hin zu charakterisieren, so wäre zu sagen, daß man darin vergeblich nach materialistischen Auffassungen und Betrachtungen suchen wird. Es ist ja bekannt, daß man unter dieser stillschweigenden Voraussetzung Naturforschern gar zu gerne die Fähigkeit abspricht, die Rolle schöpferischer Persönlichkeiten im Leben und in der Geschichte würdigen zu können. So berechtigt bis zu einem gewissen Grad innerhalb der Naturwissenschaften der Materialismus war und noch ist, so hat es doch wohl keine Zeit gegeben, in der z. B. die physikalische Forschung eine derartig starke Tendenz aufweist, sich vom Materialismus loszumachen, wie die gegenwärtige. Die wahre Naturwissenschaft ist weder materialistisch noch idealistisch, sie huldigt keinem monistischen philosophischen System, sie ist und darf nichts anderes sein als die Wissenschaft von der Natur. Was schließlich die Form der Veröffentlichung betrifft, so schien es mir das sachgemäßeste, die Vortragsform beizubehalten. Diese dürfte für erkenntnistheoretische Studien besonders geeignet sein, denn es liegt wohl im Begriff der Erkenntnistheorie, daß sie ein festes starres System nicht verträg; sie bietet mehr Anregung, die Dinge unter gewissen Formen zu betrachten, als daß sie behaupten will, daß diese Formen eine ausnahmslose Gültigkeit für sich beanspruchen sollen. Anhangsweise habe ich einige lose Erörterungen aufgenommen, die sich in das Gefüge der Vorträge nicht ohne Zwang hätten einordnen lassen und über welche ich mich auszusprechen das Bedürfnis hatte. Ich will in diesen Vorträgen eine in gewisser Weise eigenartige Aufgabe behandeln. Ich will den Versuch machen, mich in anderer Weise den Dingen gegenüber zu stellen, die den Gegenstand der Naturwissenschaften ausmachen, als man sich ihnen gewöhnlich gegenüber zu stellen pflegt. Ich will selbstverständlich dem eigentlichen Inhalt der Naturwissenschaften mein Interesse entegenbringen, und ich werden wiederholt Gelegenheit nehmen, mich bei naturwissenschaftlichen Gegenständen aufzuhalten und von Ergebnissen der Naturwissenschaften Rechenschaften abzulegen und zu berichten. Ich werde nach dieser Richtung keine besonderen Voraussetzungen machen. Aber mein Interesse soll noch weiter gehen, es soll nicht stehen bleiben beim Inhalt, der in populärwissenschaftlichen Vorträgen dargeboten zu werden pflegt. Ich will den Versuch machen, naturwissenschaftlichen Gegenständen eine andere Seite abzugewinnen, ihnen gegenüber, wenn der Ausdruck erlaubt ist, einen höheren Standpunkt einzunehmen. Sie merken, daß ich mit einer gewissen Vorsicht die Höhe meines Standpunktes einzuführen mich anschicke. Es gibt verschiedene Höhen, und ich will gleich lieber früher als zu spät der Frage näher treten, wie hoch denn mein Standpunkt gelegen sein soll. Will ich mich - bildlich gesprochen - begnügen mit einer kleinen Anhöhe, die eine Umschau über die nächste Umgebung gestattet, will ich einen von Menschenhand gebauten Turm besteigen, will ich einen hohen Berg dazu wählen, der in die Wolken ragt, oben mit eisigen Gefilden bedeckt, dem waghalsigen Wanderer beim geringsten Fehltritt Absturz und Verderben verheißend, oder will ich gar wie Ikarus einst mit kunstvoll verfertigten Flügeln mich ganz vom Erdboden entfernen und vergessen?
Kein körperlicher Flügel sich gesellen." Nein, ich halte es mit den Worten einer anderen durch ihr Alter geheiligten Überlieferung: "Wer hoch steht, der sehe zu, daß er nicht falle." Ich will meinen Standpunkt so wählen, daß ich vor allem festen sicheren Boden unter den Füßen behalte; ich will überhaupt weniger auf die Höhe des Standpunkts achten, ich will zusehen, ob es vielleicht gelingt, dieselbe Landschaft von verschiedenen Seiten aus zu überblicken. Indem ich mich so in einer Ihnen wohlbekannten Bildersprache bewegt habe, bin ich zu einem Bild gekommen, das ich Ihnen schon hier bei meinen einleitenden Betrachtungen nicht genug empfehlen kann. Die Alltäglichkeit des Lebens hat uns daran gewöhnt in der Regel von jedem Ding nur immer eine Seite zu sehen und zu beachten. Es genügt in der Regel der bloße Name einer Sache oder auch einer Person, um ganz bestimmte Vorstellungen nach einer Seite hin zu erwecken. Bei Dingen und Personen, die selbst alltäglich sind, mag ja dieser Standpunkt auch ganz gerechtfertigt sein. Die Betrachtungen, zu denen ich einlade, sollen und wollen keine alltäglichen sein, ich will mich über den alltäglichen Standpunkt erheben und eine erste Forderung dieses etwas höheren Standpunkts, den ich nicht genug zur Annahme empfehlen kann, ist daher dann auch diese, sich zu gewöhnen, alle bedeutenden Dinge von den verschiedensten Seiten anzusehen, unbekannte Dinge lieber für bedeutend als unbedeutend zu halten, oder doch zumindest über solche mit Urteil und Meinung zunächst zurückzuhalten. Es ist nicht geringste Vorzug einer Beschäftigung mit der Natur und den Naturwissenschaften auf einen solchen über die Alltäglichkeit erhebenden Standpunkt nicht nur hingewiesen, nein, hingedrängt zu werden. Und doch, wie gerne stellt man sich der Natur und damit auch den Naturwissenschaften in der einseitigsten, oft banausischsten Weise gegenüber. Für den einen ist die Natur, um mit der angehmsten Seite zu beginnen, ein Reich des ästhetischen Genusses, wie gerne suchen wir unsere Erholung in der freien Natur, auf Reisen, wie verständlich spricht der Dichter zu jedem Menschenherzen, wenn er die Natur besingt. Für den anderen - das ist der Gegensatz - ist die Natur ein Mittel, allerlei technische Kunststücke fertig zu bringen. Es ist besonders der Laie, auf welchen die großen Errungenschaften der Technik einen derartigen Eindruck machen, daß er schließlich alles für erreichbar hält, daß er glaubt, der bloße Gedanke an eine Erfindung genügt auch schon die Möglichkeit einer solchen nachgewiesen zu haben. Für den dritten ist diese technische Seite der Naturwissenschaft gar eher ein Tadel als eine Empfehlung, er sieht in ihr die untergeordnete Dienstmag, betrachtet sie unter Umständen sogar als ein notwendiges Übel. Für den Naturforscher wieder ist, unbekümmert um alle Technik, um allen Nutzen und Nebenzweck, die Natur die unerschöpfliche Quelle der Forschung, den natürlichen Verlauf der Dinge, die Gesetze der Natur, ihre Kräfte und Wandlungen zu studieren. Und für uns, die wir an diesen letzten Standpunkt allenthalben anknüpfen, soll die Natur, die Naturwissenschaft eine Quelle besonderer Art abgeben, ich will meine Aufmerksamkeit dahin richten, wie die Erkenntnis der Natur zustande kommt, in welchen Formen sie sich bewegt. Der Inhalt der Naturwissenschaften ist uns mehr Mittel als Zweck; unser Interesse geht der Frage zu, wie ein so imposanter Bau, wie der Bau der Naturwissenschaften aufgeführt werden kann. Haben wir aber erst solche Fragen beantwortet, dann geht unser Interesse weiter, dann erheben sich höhere Fragen, ob diese Erkenntnisformen nicht auch über die Naturwissenschaft hinaus ihre Bedeutung haben, ob sie nicht geeignet erscheinen tief in das Geistesleben der Gegenwart einzugreifen und einzuschneiden. Damit bin ich auf den Ausdruck gekommen, der in der Ankündigung meiner Vorträge eine Rolle spielt: Geistesleben der Gegenwart. Was ist das Geistesleben der Gegenwart, worin besteht es, welches sind seine Elemente? Das sind die Fragen, welche ich Ihnen gleich hier verständlich zu machen haben werde. Wir gewinnen eine Verständnis für solche Fragen aufgrund geschichtlicher Rückblicke. Ich möchte schon hier auf dieses außerordentlich wichtige Hilfsmittel aufmerksam machen, dessen wir uns in unseren Vorträgen noch wiederholt bedienen werden. Es ist ein ungemein sicherer Boden, auf dem wir uns überall da befinden, wo wir geschichtlich zurückblicken können. Geschichtlich gereifte Erscheinungen und Entwicklungen stehen gegenüber Spekulationen a priori - das sind reine Gedankengebilde, die sich etwas darauf zugute halten ohne Rücksicht auf Erfahrung und Geschichte durch reines Denken auf Fragen Antwort geben zu wollen, überhaupt Fortschritte der Erkenntnis und der Wissenschaft herbeiführen zu wollen, die nun einmal ihrem Inhalt nach in der Wirklichkeit ihre Wurzel haben, also auch ein tiefes ernstes Studium der Wirklichkeit zur Voraussetzung haben. Wenn ich also die Frage aufwerfe: Was hat es mit dem Geistesleben der Gegenwart auf sich, dann werden wir gut beraten, zunächst solche Fragen zu berühren, wie die: Was war es mit dem Geistesleben des Altertums, mit dem Geistesleben in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts? und erst dann die Frage zu stellen: Was ist es jetzt mit dem Geistesleben am Ende dieses Jahrhunderts? Das Gesamtwissen des Altertums war, verglichen mit dem Gesamtwissen unserer Gegenwart, ein verhältnismäßig geringes, und so konnte dann auch die Aufgabe, die wir dem Altertum mit Vorliebe zu entnehmen pflegen "das Gesamtwissen harmonisch zum Ausdruck zu bringen" verhältnismäßig leicht erreicht werden. Es wurde dieses Ideal einer Bildung erreicht aufgrund einer im Großen und Ganzen künstlerischen, ästhetischen Anschauung, bei der, was man das Menschliche zu nennen pflegt, in des Wortes bester Bedeutung in vieler Beziehung zu seinem Recht gekommen ist; aber es konnte auch wieder nur erreicht werden bei einer durchaus ungenügenden Kenntnis und Rücksichtnahme auf die Wirklichkeit, welche wir die Natur nennen. Das Problem der allgemeinen Bildung war verhältnismäßig ebenso leicht aufgestellt, wie gelöst. ARISTOTELES war es, der tatsächlich das Gesamtwissen der griechischen Bildung umfaßte, den man typisch für alle Zeiten als Repräsentanten einer Bildung hingestellt hat, die vorbidlich für alle Zeiten als solche dienen könnte. Indem ich diese Vorbildlichkeit des klassischen Altertums für und für unsere Bildung zugestehe, kann ich sie doch nur bedingt zugestehen. Für die Bedingungen, unter denen das Altertum lebte und leben mußte oder auch leben konnte, war jedenfalls die Aufgabe, das Geistesleben des Altertums harmonisch zum Ausdruck zu bringen, gelöst. Aber nun wurde in der Folge und noch in diesem Jahrhundert der Fehler gemacht, das Bedingte bedingungslos hinzunehmen. Doch so ist der Mensch und darin besteht sein größter Irrtum, daß er die Bedingungen vergißt, unter denen ihm etwas gegeben ist. Die Bedingungen der Gegenwart sind andere, als die des Altertums, und so wird dann auch die Aufgabe das Geistesleben der Gegenwart zu beherrschen, eine andere und vor allem auch ihre Lösung. Das Altertum kann uns höchstens ein Vorbild, also doch nur ein Bild sein, wie wir etwa der Lösung, welche uns das Geistesleben der Gegenwart stellt, zustreben sollen. Aber aus diesem Bild hat man fremdartige Dinge gemacht. Das Altertum sollte für alle Zeiten die Aufgabe gelöst haben. Jedwede Beschäftigung mit dem klassischen Altertum sollte den Schlüssel zur Problemstellung und der Lösung der allgemeinen Bildungsfrage für alle Zeiten enthalten. Eine besondere Rolle spielte bei diesen Bildungsfragen das Studium der alten Sprachen, welches in vielen Fällen so stark die Aufmerksamkeit und das Interesse in Anspruch nahm, daß der geistige Inhalt des Altertums zu kurz gekommen ist. Auch kann man nicht sagen, daß die Verwertung der alten Sprachen zu Zwecken der Erziehung und Bildung ein unmittelbares Analogon zur Erziehung und Bildung im Altertum fand, welche wir gewohnt sind harmonisch zu preisen und als vorbildlich anzusehen. Ich habe mir nur erlaubt, hier über das Geistesleben des Altertums und seine Würdigungf einige allgemeinere Bemerkungen zu machen, um einen Anhaltspunkt für eine Würdigung des Geisteslebens der Gegenwart zu haben. Aber vielleicht habe ich dabei zu hoch gegriffen? Ich höre Stimmen, welche sagen, unsere Zeit stehe tief unter dem Geistesleben des Altertums, es sei eine Zeit der Barbarei und des Banausentums angebrochen. Unsere Zeit sei eine Zeit des Verfalls, wie sie die Geschichte der Menschheit auch schon früher durchgemacht hat, eine Zeit, die keine höheren Aufgaben ernsthaft ins Auge faßt oder auch nur fassen kann, eine Zeit in der keine besonderen geistigen Interessen im Vordergrund stehen, - oder wo von geistigen Interessen die Rede ist, da sollen dieselben bekämpft oder untergraben werden. Ich kann mich solchen ungünstigen Urteilen über unsere Zeit nicht anschließen. Wenn auch zuzugeben ist, daß es unserer Zeit zunächst noch nach mancher Seite an innerer Klarheit über ihre Aufgaben und ihre Lösung fehlen mag, so erkennt doch jedermann an, daß Aufgaben da sind, und was unsere Zeit vor allen früheren Zeiten voraus hat, das ist ein Fleiß und eine Energie geistiger Tätigkeit, mit der Aufgaben gestellt und ihre Lösung erstrebt wird, die ihresgleichen sucht. Die Entfaltung eines solchen Fleisses und einer solchen Energie, wie sie die Gegenwart aufweist, hat immer sittliche Kraft zur Voraussetzung, und solange diese vorhanden ist, darf uns nicht bange werden. Entnehmen wir dem Altertum die Aufgabe, das Gesamtwissen, das Geistesleben harmonisch zum Ausdruck zu bringen, dann werden wir zu berücksichtigen haben, daß sich diese Aufgabe für jede Epoche, für jedes Zeitalter immer von Neuem stellt; und wenn die Aufgabe zu einer Zeit gelöst erscheint, ist sie es darum nicht für folgende Zeiten. Durch die fortschreitende Entwicklung der Einzelwissenschaften werden immer neue Ideen in die Bildung und das Geistesleben hineingeworfen, und so drängen sich Aufgaben, welche das Leben stellt, immer von Neuem auf und harren unter dem Wechsel der Bedingungen ihrer Lösung. Durch den Umfang des Gesamtwissens wird mit bedingt, daß sich das Hauptinteresse der Bildung den Faktoren zuwendet, welche im Kampf stehen, daß andere Faktoren, welche vielleicht früher im Vordergrund des Interesses standen, zurücktreten. Die Betrachtung jeder Epoche ist von diesem Standpunkt aus reizvoll, keine hat in gewissem Sinn vor der anderen etwas voraus, aber wir, die wir nun einmal in unsere Zeit gestellt sind, haben die Pflicht unsere Zeit in ihren Aufgaben zu erfassen. Den Wunsch auch nur zu hegen, unter den Bedingungen früherer Zeiten zu leben, wäre träumerisch, das Bestreben frühere Zeiten der Gegenwart gegenüber allzu sehr herabzusetzen, wäre anmaßend, aber der Versuch, die wirklich fördernden Tendenzen der Gegenwart in ihrer Tragweite aufzudecken, ist immer lehrreicht. Situationen, zu denen die Entwicklung drängt, sollten nicht erst überaschend in das Bewußtsein treten, sie sollten bis zu einem gewissen Grad vorgeschaut werden, dann erst kommt das Leben zu seinem Recht, dann erst ist es seine Lust und Freude zu leben. Das scheinen mir die leitenden Gesichtspunkte sein zu müssen, unter denen man das Geistesleben jedes Jahrhunderts zu betrachten hat, das sollen auch die Gesichtspunkte sein, unter denen wir einen Teil des Geisteslebens dieses Jahrhunderts betrachten wollen, unseres Zeitalters, das WERNER von SIEMENS vor zehn Jahren das naturwissenschaftliche Zeitalter genannt hat. Die Wurzeln dieses naturwissenschaftlichen Zeitalters gehen auf die erste Hälfte des Jahrhunderts zurück; in jene Hälfte fielen die grundlegenden Entdeckungen, welche den Naturwissenschaften neues Leben und neue Bahnen eröffneten, jene Entdeckungen, deren Früchte wir nun schon seit einigen Jahrzehnten zu ernten begonnen haben. Es war ein wunderbares Lebens, das Geistesleben in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts. Eine himmelstürmende Philosophie, welche Methoden und Grenzen, wie sie ihr ein naturwissenschaftlich durchgebildeter KANT Ende des vorigen Jahrhunderts gegeben hatte, entbehren zu können glaubte, trat siegesbewußt und imponierend auf, suchte sich an die Spitze aller geistigen Bewegung zu stellen, und nur allzu bereit wurde ihr von maßgebender Seite dieser Rang zuerkannt. Das, was wir heute unter einem ernsten Studium der Wirklichkeit und der Erfahrung verstehen, was dieser Philosophie unbekannt, das glaubte sie gar nicht nötig zu haben; mit ihren Konstruktionen a priori glaubte diese Philosophie all die schwere Arbeit, welcher sich heute die Naturwissenschaften unterziehen, nicht aufwenden zu dürfen; im Gegenteil, wo die Arbeit der Naturforscher etwas anderes ergeben hat, als es sich der Philosoph dachte, da sollte der Irrtum auf Seiten des Naturforschers liegen, das Denken der Philosophen sollte mit dem Sein identisch sein. Ich will nicht ungerecht sein: diese philosophische Richtung, wie sie insbesondere an den Namen HEGEL knüpfte, war für die Wissenschaften, welche man häufig als Geisteswissenschaften zu bezeichnen pflegt, für die historisch-philologischen Wissenschaften nicht ohne Anregung und Förderung. Diese Wissenschaften liegen nun einmal dem menschlichen Geist bequemer, der menschliche Geist kann sich in diesen Wissenschaften leichter, ohne Anstrengung ergehen, diese Wissenschaften sind dem Menschen kongenialer, wie man sich auch ausdrücken kann. Aber der Naturwissenschaft konnte diese Geistesrichtung kein Leben zuführen, im Gegenteil, dem damals kleinen aber auserwählten Kreis deutscher Naturforscher konnte nur Feindschaft erblühen. Die Art der Beschäftigung mit der Erfahrung, wie sie nun einmal der Naturwissenschaft charakteristisch ist, die Wertschätzung von Experiment und Beobachtung und ihre künstlerische Ausübung wurde als eine in jeder Beziehung inferiore [untergeordnete - wp] Tätigkeit angesehen, eines so hohen menschlichen Geistes, wie ihn die damaligen Philosophie zur Voraussetzung nahm, unwürdig. Wir können wohl heute verstehen, daß der Naturforscher damals keinen leichten Stand hatte. Die Naturwissenschaften liegen nun einmal dem menschlichen Geist unbequemer, als die historisch-philologischen Wissenschaften, hier kann nur mit Anstrengung, ja Entsagung etwas erreicht werden, die Naturwissenschaften sind, wie ich mich ausdrücken möchte, dem Menschen weniger kongenial. Wo hätte da bei der Grundverschiedenheit der Voraussetzungen ein Verständnis des Philosophen für die Arbeit des Naturforschers herkommen sollen? Die weitere Entwicklung um die Mitte des Jahrhunderts hat in diesem Geisterkampf die Entscheidung gebracht. Die Philosophie verstieg sich Schritt für Schritt zu Behauptungen, welche die fortschreitende Naturwissenschaft als Irrtümer und Fehler aufdecken konnte. Die Naturwissenschaften wieder machten nach ihrer vielgeschmähten Methode Schritt für Schritt Entdeckungen, deren Tragweite zunächst allerdings nur der Fachmann einigermaßen überblicken konnte, die dann aber bald früher, als es der Fachmann zu ahnen gewagt hat, durch die enormen Fortschritte der Technik in das Bewußtsein des Laien traten. Das Resultat war auf der einen Seite ein vollständiges Aufgeben der Wege, welche die Philosophie in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts gewandelt ist, war der Ruf wieder auf KANT zurückzugehen und wieder mit KANT anzufangen. Das Resultat war auf der anderen Seite ein vollständiger Sieg der Naturwissenschaften und ihrer Methode. Wenn es gestattet ist im Bild zu reden, von Kampf, von Sieger und Besiegtem, so kann man vielleicht sagen, dem Besiegten ging es zu schlecht, der Sieger wurde vielleicht hie und da übermütig. Nebenbei spielten die Wissenschaften, die der Philosophie der ersten Hälfte des Jahrhunderts soviel Anregung und Förderung verdankten, die historisch-philologischen Wissenschaften zunächst als neutrale Mächte eine besondere Rolle. Ihnen kam der Umschwung der Dinge nicht gleich zum Bewußtsein, waren sie in diesem Kampf doch gar nicht die treibenden Kräfte gewesen, sie mußten sich plötzlich bis zu einem gewissen Grad isoliert und darum unbehaglich fühlen, und so glaubten sie sich verpflichtet und berufen, das Erbe des Kampfes anzutreten, welcher jetzt nur noch in einer Negation der kulturellen Bedeutung der Naturwissenschaften bestehen konnte. In der Tat, überblickt man heute das Geistesleben und die Bildungsfragen, welche die Gegenwart bewegen, dann stehen sich zwei Gruppen gegenüber: die eine knüpft an historisch-philologische, die andere an naturwissenschaftliche Interessen. Im Sinne des Bildungsproblems des Altertums muß es als eine der Aufgaben der Gegenwart bezeichnet werden, auf ein gedeihliches Zusammenwirken dieser Faktoren hinzuarbeiten, die harmonische Fortentwicklung unseres Geschlechts, die Zukunft fordert es. Wenn ich mich den Worten einer Adresse der Berliner Akademie aus dem Jahre 1893 anschließen darf: "Beide Kreise verstehen sich gegenwärtig kaum in Bezug auf die Interessen ihres Denkens und Strebens". Der Zwiespalt macht sich fühlbar in Lehrkörperschaften, in denen eine Mischung der beiden innerlich vielleicht unverstanden gegenüberstehenden Elemente vorliegt; er wird hier getragen auf dem Grund der Achtung, welche man sich Angesichts eines gedeihlichen Zusammenwirkens entgegenzubringen angewiesen ist. Aber wo es an einem derartigen Zwang gegenseitiger Ehrerbietung fehlt, da macht man sich die Entscheidung leicht, man straft wohl die entgegenstehenden Interessen mit Verachtung, man findet sich vielleicht äußerlich damit ab, man sucht nicht das Problem, man geht ihm aus dem Weg. Wenn einer Körperschaft die Rolle zufallen kann, das Problem aufzusuchen und zu lösen, dann werden es in erster Linie unsere Universitäten sein, und nur insofern ich die Ehre habe einer Universität anzugehören, habe ich es gewagt, mit meinem Thema vor Sie zu treten, den Versuch zu machen, Sie für dasselbe zu interessieren, Ihnen einen Beitrag zur Lösung des Problems der gegenwärtigen Bildung zu liefern. Soweit ich die Dinge sehe, befinden wir uns gegenwärtig am Ende des Nachklangs jenes philosophischen Kampfes. Ich kann ihn nur als aus einem Mißverständnis hervorgegangen ansehen. Die historisch-philologischen Wissenschaften waren die treibenden Kräfte in jenem philosophischen Kampf nicht, und sie werden auch nach der Natur ihres Gegenstandes so leicht für das Geistesleben keine treibenden Kräfte sein, einen so wertvollen Bestand sie innerhalb desselben ausmachen. Sie werden die Rolle treibender Kräfte übernehmen nach Zeiten des Verfalls, in denen Ideale fehlen oder verloren gegangen sind, in denen es gilt wieder Ideale zu gewinne und in denen man in Ermangelung anderer Ideale dieselben einer glänzenden Vergangenheit entnimmt, an der man hofft sich aufrichten zu können. Diese Rolle haben die historisch-philologischen Wissenschaften gespielt zu Zeiten des Humanismus und der Renaissance. Sie sind und bleiben den gegenwärtig produktiven Naturwissenschaften gegenüber der Natur ihres Gegenstandes entsprechend - wenn der Ausdruck erlaubt ist - doch immer mehr reproduktive Wissenschaften. Wollen wir also eine Aufdeckung jenes Mißverständnisses, von dem ich gesprochen habe, von einer Seite heute erwarten, so werden wir es wohl nur von naturwissenschaftlicher Seite zu erwarten haben. Man stellt die Naturwissenschaften so gerne den Geisteswissenschaften gegenüber. Will man damit nichts weiter als eine Bezeichnung schaffen, so ist dagegen nichts zu sagen; will man aber mit dieser Gegenüberstellung einen Begriff verbinden, so ist doch einzuwenden, daß der Natur der Sache nach durchaus kein Gegensatz besteht. Die Naturwissenschaft unserer Tage ist ebenso ein Geistesprodukt der Menschheit, wie es die historisch-philologischen Wissenschaften sind, und die historisch-philologischen Wissenschaften werden sich zu einem Teil mit derselben Materie zu beschäftigen haben, mit der sich die Naturwissenschaften beschäftigt. Denken Sie an die Naturforscher des Altertums, an einen ARISTOTELES, einen PLINIUS; denken Sie daran, daß vielleicht nach weiteren tausend Jahren unsere ganze moderne Naturwissenschaft einen Teil der Wissenschaften ausmachen kann, die wir heute als historisch-philologische Wissenschaft bezeichnen. (2) Also ein innerer Gegensatz zwischen den sogenannten Natur- und Geisteswissenschaften kann gar nicht existieren, und wo er zu existieren scheint, ist er wohl nur künstlich hineingetragen. Um jedes Mißverständnis abzuschneiden, wird man die Bezeichnung Geisteswissenschaft besser aufzugeben haben. Die Naturwissenschaften kann man in der Tat als die treibende Kraft im Geistesleben der Gegenwart bewußt und unbewußt ansehen. Die Elemente, welche die Naturwissenschaft dem Geistesleben in dieser Beziehung zuzuführen imstande ist, sollen aufgedeckt werden, die Naturwissenschaft soll als Geisteswissenschaft dargestellt werden. Man kann die Frage aufwerfen, warum die Naturwissenschaft nicht schon früher auf diese Elemente hingewiesen hat, warum sie erst neuerdings darauf verfallen ist, diese Elemente aufzudecken und zu studieren. Auf diese Frage möchte ich folgende Antwort geben: Den Naturwissenschaften wurde während dieses Jahrhunderts eine überaus glänzende und schnelle Entwicklung zuteil, die Fruchtbarkeit der Ideen und die Tragweite der Erfolge mußte selbst den Naturforscher überraschen, und bei aller Sorgfalt, mit der die Methode gehandhabt wurde, blieb keine Zeit übrig, über die Methode als solche zu reflektieren und den Versuch zu machen, sie dem Schatz der allgemeinen Bildung einzuverleiben. Die Freude am Schaffen war zu groß, sie stand im Vordergrund der eigenen Interessen, und darum - soweit überhaupt das Bedürfnis vorlag, sich an weitere Kreise zu wenden - der Drang, vor Allem die Schöpfungen als solche den Gebildeten der Nation zur Anschauung zu bringen. Wenn wir aber schon innerhalb der Naturwissenschaften die Geschichte so mancher Ideen und Entdeckungen durch die drei Marksteine charakterisieren können: Ablehnung, kühle Bewunderung, wirkliches Verständnis und freudige innere Aneignung, dann mußte den Naturforscher ein aufmerksames Studium der einschlägigen Literatur lehren, daß der Philosoph und der interessierte Laie den Naturwissenschaften gegenüber doch immer erst den Standpunkt der kühlen Bewunderung erreicht hat, und daß bis zum inneren Verständnis noch ein weiter Weg ist. Der Weg, den bisher Naturforscher meist eingeschlagen, interessierten Laien naturwissenschaftliche Anschauungen und Forschungen nahe zu bringen, konnte auch nicht mehr als kühle Bewunderung hervorrufen. Meister der Wissenschaft haben die Resultate der Naturforschung, soweit sie geeignet waren, ein allgemeines Interesse zu erregen, in populärer Form im edelsten Sinne des Wortes zur Darstellung gebracht; man hat die Freude am stetigen Fortschreiten der Naturerkenntnis auch weiteren Kreisen zur Anschauung gebracht und in ihrer Bedeutung für die Kultur der Menschheit aufgewiesen. Indem aber der Weg, auf welchem alles Große erreicht wurde, sich in der Regel einer populären Darstellung entzog, mußte man auf die Forderung einer inneren Aneignung und nach einem wirklichen Verständnis verzichten. Man hat mehr überrascht als belehrt, mehr zerstreut als gesammelt. Ein Teil der gebildeten Laien wurde gewonnen, aber der andere und vielleicht einer tieferen Belehrung fähigere Teil fühlte sich nicht befriedigt, es fehlte das Bamd mit dem Interessenkreis, der davon ausgeht, daß das eigentliche Studium des Menschengeschlechts der Mensch ist, und der darum geneigt war, Alles, was dem Menschengeschlecht, wenn auch nur nebenbei, praktischen Nutzen gewähren konnte, nur von diesem Standpunkt und daher als untergeordnet anzusehen. Scheint die bisherige Art der Popularisierung der Naturwissenschaften, so gehaltvoll sie sich oft selbst für den Sachverständigen gestaltete, für eine tiefere Verständigung der gegenüberstehenden Parteien wenig geeignet, so waren andere Bestrebungen, die aufgrund eines immerhin beschränkten naturwissenschaftlichen Materials nach einem vorzeitigen Abschluß der Weltanschauung drängten, nur allzusehr dazu angetan, die Kluft, welche es doch nun einmal zu überbrücken galt, zu vertiefen; auf eine Verständigung mit der anderen Seite wurde dann naturgemäß von vornherein verzichtet; die Macht der Ideen und Tatsachen sollte der einen Seite zum Sieg verhelfen, die andere Seite vernichten. Ich kann diesen Gedanken noch in anderer Form Ausdruck verleihen: Den Naturwissenschaften mangelte bis dahin die Stufe der Entwicklung, in der sie heute berufen erscheinen, das Kultur- und Geistesleben in immer neuen Formen und in immer weiterem Umfang zu durchdringen und zu beleben. Hatte, wenn wir heute einen Rückblick werfen, das Eintreten der Naturwissenschaft in die Kultur eine gewisse Reife des Menschengeschlechts zur Voraussetzung, so mußte zunächst den Naturwissenschaften im Kampf um die Bildung ein Mangel anhaften: sie konnten auf keine derartige Geschichte zurückblicken, wie die Wissenschaften, die man so oft und so gern den Naturwissenschaften gegenüber zu stellen pflegt. Die Naturwissenschaft war nun einmal die jüngere Schwester, darin lag Vorzug und Mangel zugleich. Der Vergleich der Entwicklung der Wissenschaften mit der Entwicklung des Menschen weist nach mehr als einer Seite hin Berührungspunkte auf und kann zur Veranschaulichung herangezogen werden. Der Jüngling seiner noch stets wachsenden Kraft bewußt, glaubt der Erfahrung des reiferen Alters entraten zu können; er beruft sich wohl auch auf Erfahrung, aber sein Leben war noch zu kurz, um zu wissen, was es heißt, sich auf Erfahrung berufen zu können. Diese Erfahrung des reiferen Alters aber ist es eben, welche in der Wissenschaft die Rückwirkung ihrer Geschichte zum Analogon hat. Die Naturwissenschaft kann heute in der Mehrzahl ihrer Disziplinen auf eine Entwicklung zurückblicken, deren Geschichte darzustellen, ein Gegenstand voll des Reizes ist, und nicht allein das: eine Geschichte der Naturwissenschaft hat ihre besondere Bedeutung, sie ist geeignet den Mangel abzustreifen, der ihr bis dahin den älteren Schwestern gegenüber noch anhaftete - mehr noch: sie enthält die Keime in sich den Maßstab abzugeben, aufgrund dessen ein wahrer Vergleich mit den anderen Bildungselementen der Gegenwart möglich erscheint. Das scheinen mir die Gründe zu sein, weshalb die Naturwissenschaften nicht schon früher als Geisteswissenschaft aufgetreten, weshalb sie erst heute fähig erscheinen, eine Stellung im Geistesleben der Gegenwart einzunehmen, deren Bedeutung allgemein zum Bewußtsein zu bringen nur noch eine Frage der Zeit sein kann. Und worin liegt diese Bedeutung? Sie liegt in den denkbar allgemeinsten Beiträgen, welche die Naturwissenschaften fähig sind, den Fragen menschlicher Bildung und menschlicher Erkenntnis zuzuführen. Was ist Bildung, was ist Erkenntnis, wie kommt Bildung, wie kommt Erkenntnis zustande? Das sind die Fragen, die uns zu einem Teil in diesen Vorträgen beschäftigen werden, das sind die Fragen, für welche ein Verständnis anzubahnen, ich mich zum Schluß dieser einleitenden Bemerkungen noch anschicken möchte. Der Begriff Bildung steht in einem gewissen Verhältnis zum Begriff Wissen und es empfiehlt sich daher, beide Begriffe im Zusammenhang zu veranschaulichen. Soviel ist klar: Wissen ist noch keine Bildung. Allerdings hat Bildung ein gewisses Quantum Wissen zur Voraussetzung und insofern ist Wissen eine Macht, es ist eine umso größere Macht, je größer es ist. Aber an und für sich, ohne Begleiterscheinungen, ist Wissen tot, ist Wissen vor allem Stückwerk und wird Stückwerk bleiben bei allem Fortschritt der Wissenschaft. Bildung ist die Fähigkeit, aus dem an und für sich toten Wissensstoff Werke des Lebens und des Geistes zu gestalten zu können. Bildung ist etwas nie Abgeschlossenes, Fertiges, sondern ein etwas sich stets Abschließendes, Vollendendes. Bildung ist die Fähigkeit, jede gegebene Situation in ihren Elementen richtig aufzufassen, und, wenn es sein muß, auf dieselbe selbst einwirken zu können. Bildung ist nicht wie das Wissen etwas Aufweisbares und daher Sichtbares, Gegebenes, es ist etwas Unsichtbares aber Wirksames und Wirkendes. Ebenso wie ich die Begriffe "Bildung" und "Wissen" im Zusammenhang zu veranschaulichen für notwendig halte, so auch die Begriffe Logik und Erkenntnistheorie. Logik ist bekanntlich die Lehre vom richtigen Schließen, eine Lehre, die bereits von ARISTOTELES zu einem gewissen Abschluß gebracht ist. Es verhält sich mit der Logik in gewisser Beziehung ähnlich, wie mit der Grammatik der Muttersprache. Ebenso wie wir, ohne Grammatik zu treiben, die Muttersprache handhaben und zwar instinktmäßig nach unserem Sprachgefühl, wenn es sein muß auch nach ästhetischen Rücksichten, so können wir auch unbewußt, ohne die Grundsätze der Logik zu kennen, ganz richtig schließen. Ich möchte mich auf den Standpunkt stellen, daß die praktische Handhabung der Logik ebenso allgemein ist, wie die praktische Handhabung der Muttersprache, daß man mit anderen Worten der Regeln, welche die Logik als die Kunst des richtigen Schließens aufstellt, ebensowenig bedarf, um wirklich richtig zu schließen, wie man der Grammatik bedarf, um seine Muttersprache richtig zu handhaben. Logik und Grammatik ist das Spätere; die Kunst richtig zu schließen und richtig zu sprechen das Ursprüngliche. Einer, der vor jedem Schluß sich erst der logischen Grundsätze erinnern müßte, die er eventuell anzuwenden hätte, wird niemals ein großer Denker werden; ebenso wie einer, der bei jedem Wort sich erst der Regeln der Grammatik erinnern müßte, niemals ein großer Redner oder Schriftsteller werden wird. Logik und Grammatik sind etwas Interessantes und Lehrreiches, aber sie sind es erst aufgrund eines gegebenen Stoffes, aus dem man die Regeln abstrahieren kann. DESCARTES wirft einmal die Frage auf, welche Gabe unter den Menschen am gerechtesten verteilt ist, und er antwortet darauf: der Verstand; denn, fügt er erläuternd hinzu, jeder hält den auf ihn gerade gefallenen Anteil für völlig ausreichend, ja er fühlt sich verletzt, wenn diese Tatsache von einem seiner Mitmenschen in Zweifel gezogen wird. Ich möchte diese Äußerung durchaus nicht für scherzhaft halten, wofür man sie auf den ersten Blick vielleicht halten könnte. Es gibt wirklich nur eine Logik, und sie wird von jedem Menschen bewußt oder unbewußt ganz richtig gehandhabt. Es ist nichts unzutreffender und es verrät nichts mehr den niedrigen Standpunkt einer Diskussion, als wenn sich streitende Teile gegenseitig einen Mangel an Logik vorwerfen. Logik will nun einmal jeder sozusagen gepachtet haben und er hat auch darin ganz recht, aber er hat nicht recht, wenn er diese Voraussetzung, welche er für sich in Anspruch nimmt, beim Gegner als nicht vorhanden oder vielleicht weniger ausgebildet in Ansatz bringt. Wir können die besten Logiker sein, ohne deshalb auch nur einen Schritt in unserer Erkenntnis vorwärts zu kommen, und eben vielleicht gerade weil wir so gute Logiker sein wollen, hindert uns das in unserer Erkenntnis, Fortschritte zu machen. Die Schwierigkeit einer Erkenntnis liegt gar nicht in der Schwierigkeit, richtig zu schließen, sie liegt vielmehr in der Art und Weise, das wirklich geeignete Material herbeizuschaffen und zu sichten, liegt in der Handhabung des spröden Materials, an dem sich unsere gepriesene, so gerecht unter den Menschen verteilte Logik zu betätigen hat. Die naturwissenschaftliche Arbeit geht, wie alle wissenschaftliche Arbeit, ähnlich wie die Arbeit an einem Kunstwerk vor sich. Ohne daß zunächst bestimmte Regeln vorliegen, wird dasselbe geschaffen. Das Genie schafft unmittelbar, intuitiv, halb unbewußt aufgrund einer inneren Anschauung. Nachher kommt der Kritiker und sucht den Werken des Genius gewisse Gesetze und Regeln abzulauschen, nach denen das Werk zustande gekommen ist. So verfuhr ein LESSING den Werken bildender und dramatischer Kunst gegenüber, so wollen auch wir den Werken der Naturwissenschaft gegenüber verfahren. Was der Kunstkritiker im Verhältnis zur Kunst ist, das soll unsere Erkenntnistheorie im Verhältnis zur Naturwissenschaft sein. Wir wollen den Versuch machen, naturwissenschaftlichen Entdeckungen in der Richtung nachzuspüren, um gewisse Anhaltspunkte zu gewinnen, wie naturwissenschaftliche Erkenntnis zustande kommt. Wir tun es in der Überzeugung, daß solche Untersuchungen dem allgemeinen Geistesleben nur zugute kommen können, und wir werden den Versuch machen, wenn wir einen gewissen erkenntnistheoretischen Boden aufgrund naturwissenschaftlicher Betrachtungen gefunden haben, Beziehungen unserer gewonnenen erkenntnistheoretischen Grundsätze zum Geistesleben der Gegenwart aufzudecken. |