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JULIUS BERGMANN
Zur Beurteilung des Kritizismus
vom idealistischen Standpunkt

[2/3]

"Es sollen zwei Wege möglich sein, zur Harmonie zwischen der Einheit des Denkens und der Vielheit des Seienden zu gelangen: entweder man leite die Einheit aus der Vielheit oder die Vielheit aus der Einheit ab."

"Heraklit erkannte ebensowenig wie die Eleaten neben der Vernunft die Erfahrung als philosophische Erkenntnisquelle an, er pocht nicht weniger als diese darauf, daß er der Vernunft statt der trügerischen Meinung folgt, er redet mit noch entschiedenerer Verachtung nicht nur von der Menge, die sich dem Sinnenschein, welcher uns ein Beharrendes im ewigen Fluß der Dinge vorspiegelt, überläßt, sondern auch von den Dichtern und Denkern, da sie in demselben Wahn befangen sind."

"Die Sophistik ist das Ende der älteren Naturphilosophie, aber noch nicht der schöpferische Anfang eines Neuen, sie weist noch keinen neuen Inhalt als Ersatz für den zerstörten Glauben an die Erkennbarkeit des Objekts auf."

"Ich kann es nicht für richtig halten, wenn Zeller sagt, die Sophistik sei für sich genommen das Ende aller Philosophie, sie führe nicht bloß zu keiner neuen Erkenntnis, sondern auch nicht einmal, wie die spätere Skepsis, zu einer philosophischen Gemütsstimmung, sie zerstöre vielmehr alles philosophische Streben, indem sie kein anderes Ziel übrig läßt, als die praktischen Zwecke der Selbstsucht."


II.
Die Entwicklung der griechischen Philosophie
bis zum Kritizismus

Der philosophische Trieb hat sich als der Trieb, als welcher er im vorigen Abschnitt dargestellt wurde, als Trieb nach einer Erkenntnis aus reiner Vernunft (spekulativer Erkenntnis) vom substantiell Seienden zum ersten al bei den Eleaten unverhüllt geäußert. Die Einsicht aber, daß die Vernunft nur auf dem Weg der Selbsterforschung mittels der ihr wesentlich eigenen Selbstanschauung diesen Trieb befriedigen kann, ist ihnen noch ganz fremd, ihre Denkweise ist durchaus dogmatisch. Sie hielten den Blick auf die Außenwelt gerichtet und glaubten, durch reines Denken unmittelbar das Richtige in derselben ausscheiden und das wahrhaft Seiende erfassen zu können.

Wenn nur dasjenige wahrhaft ist, was sich durch reines Denken erfassen läßt, so ist all dasjenige an der Außenwelt ein Richtiges, was wir nur mittels der Wahrnehmung oder der reproduktiven Einbildungskraft im Bewußtsein haben können. Nach Abzug all dessen bleibt nun von der Außenwelt gar nichts mehr übrig. Im reinen Denken erfassen wir nur uns selbst als denkende Wesen überhaupt. Andererseits erfassen wir im reinen Denken nichts als sein Korrelat, das Seiende als solches in der höchsten, jedoch endlichen Bedeutung des Wortes, oder das substantiell Seiende der höchsten Stufe als solches (vgl. oben) und hieraus kann geschlossen werden, daß Sein und Denken oder Seiendes und Ich dasselbe bedeuten (welcher Schluß, beiläufig bemerkt, für denjenigen, der voraussetzt, daß sein eigenes Ich nicht das einzig Wirkliche ist, anzeigt, daß in der intellektuellen Anschauung des eigenen Ich dieses als Glied einer Vielheit von Ichs gesetz sein muß). Ein anderes Resultat ergibt sich aber vom dogmatischen Standpunkt aus, dem die Einsicht, daß alles Bewußtsein unmittelbar nur sich selbst zum Inhalt oder Gegenstand hat, fehlt, und der stattdessen voraussetzt, daß der unmittelbar ergriffene Inhalt des empirisch denkenden Bewußtseins nicht das empirisch bestimmte Ich, sondern die sinnlich wahrnehmbare Außenwelt ist. Für diesen Standpunkt ergibt sich als das Korrelat des reinen Denkens zwar auch das Seiende als solches, aber als etwas, was von der Außenwelt übrig bleibt, wenn von allem abstrahiert wird, was von derselben nicht durch reines, sondern durch empirisches, die sinnliche Anschauung in sich schließendes Denken erfaßt wird, das Seiende als das die Substanz der Außenwelt bildende, durch die sinnlichen Bestimmtheiten verhüllte noeton [das Intelligible - wp].

Daß überhaupt etwas ist, erscheint dem dogmatischen Standpunkt ebenso sehr wie dem reflektierenden als denknotwendig. Es wäre, so muß man von beiden Standpunkten aus sagen, ein Widerspruch, wenn das Seiende nicht wäre, wenn es also gar nichts gäbe, das Seiende existiert seinem Begriff nach, der Begriff des Seienden verbürgt unmittelbar seine Realität. Aber wer auf einem reflektierenden Standpunkt steht, weiß, daß er dies nur deshalb sagen kann, weil der richtig gedachte Begriff des Seienden zugleich die Anschauung des tatsächlich Seienden, nämlich des eigenen Ich, ist. Vom dogmatischen Standpunkt aus muß man hingegen zwar auch meinen, durch reines Denken das Seiende zugleich in seiner Tatsächlichkeit anzuschauen, aber einerseits ist dabei das, was für tatsächlich Seiendes gilt, kein solches, weil die materielle Außenwelt eine bloße Fiktion des Verstandes ist, andererseits erscheint die Tatsächlichkeit des Seins von diesem Standpunkt aus als etwas Nebensächliches, welches auch fehlen könnte, ohne daß dadurch die unmittelbare Gewißheit des Daseins beeinträchtigt würde. Der Satz, daß das Seiende ist, hat, mit anderen Worten, für den dogmatischen Standpunkt die Bedeutung des kürzesten Ausdrucks des ontologischen Beweises für das Dasein Gottes.

Die Konstruktion des Grundgedankens des dogmatischen Idealismus wird durch die eleatische Lehre unmittelbar bestätigt. Nichts ist als das reine (intelligible) Sein, das Seiende aber ist und das Nicht-Seiende ist nicht, lehrte PARMENIDES.

Was aber heißt Seiendes? Was denken wir durch den mit diesem Wort bezeichneten Begriff? Die Eleaten konnten auf dem Weg des reinen Denkens natürlich zu keiner positiven Antwort auf diese Frage gelangen, denn dieses reine Denken ist inhaltslos und vermag nichts hervorzubringen. In der Anschauung der sinnlichen Welt bleibt eben in Wahrheit nichts übrig, worauf als den Inhalt des Begriffs des Seienden hingewiesen werden könnte, nach von allem Sinnlichen abstrahiert ist. Nur negativ konnten sie den Begriff des Seienden bestimmen und dann dadurch, daß sie den negativen Bestimmungen die Form positiver gaben, glauben, positive Bestimmungen aufgestellt zu haben. Negativer Bestimmungen ließ sich eine unendliche Menge finden, denn das Seiende als solches ist all das nicht, was wir als seiend wahrzunehmen glauben. Dieselben lassen sich in die eine zusammenfassen, daß Seiende als solches nichts Besonderes ist. Nun beruht auf der Besonderheit alle Vielheit der Dinge, alle inneren Unterschiede derselben, alle Veränderung. Also kann jene negative Bestimmung auch so ausgedrückt werden, daß das wahrhaft Seiende alle Vielheit, alle inneren Unterschiede und alle Veränderung oder alles Werden ausschließt. Diese negative Bestimmung aber läßt sich leicht in eine positive Form bringen und lautet dann: das wahrhaft Seiende ist Eines, in sich einheitlich und in ewiger Ruhe beharrend. In Wahrheit sind freilich diese Bestimmungen der Einheit und des Beharrens nicht bloß der Form, sondern auch dem Inhalt nach die positiven, diejenigen der Vielheit und des Werdens die negativen, aber wer, wie die Eleaten, als die Quelle, aus der wir die ersteren schöpfen und ohne welche auch die letzteren nicht in der Wahrnehmung vorkommen könnten, nicht das Ich-Bewußtsein erkannt hat, würde in ihnen doch keine andere Bedeutung nachzuweisen im Stande sein, als die der Negation der durch die Wahrnehmung bekannten Vielheit und des Werdens.

Es wird gewöhnlich angenommen, daß dieses negative Verfahren dem ZENON eigentümlich ist. Mir scheint aber auch die Beweisführung des PARMENIDES im Wesentlichen dialektisch zu sein, d. h. in dem Nachweis von Widersprüchen in der Sinnenwelt zu bestehen. Jedenfalls ist dies das einzige Verfahren, welches dem Standpunkt der Eleaten entspricht.

Die Ansichten sind darüber verschieden, ob und inwieweit die Eleaten das Eine für immateriell gehalten haben. ARISTOTELES sagt, XENOPHANES habe sich darüber nicht deutlich erklärt, er scheine den Unterschied zwischen der begrifflichen und der materiellen Einheit noch nicht ins Auge gefaßt zu haben, sondern sagt nur, auf das All blickend, das Eine sei Gott. Dem MELISSUS schreibt ARISTOTELES die materielle Auffassung zu. PARMENIDES hat das Eine als eine Kugel beschrieben, im eigentlichen Sinn, wie die Einen, bloß vergleichsweise, wie die Anderen meinen. ZENON scheint in den Resultaten ganz mit PARMENIDES übereingestimmt zu haben. Für die gegenwärtige Untersuchung ist es in Beziehung auf diese Frage nur von Wichtigkeit hervorzuheben, daß die Eleaten mit ihrem Begriff des Einen dasjenige zu denken glaubten, was an der Außenwelt wirklich ist, und daß man deshalb berechtigt ist, zu sagen, sie haben die Materie für das allein wahrhaft Seiende erklärt, das Wesen der Materie für das allein wahrhaft Seiende erklärt, das Wesen der Materie aber in die Einheit und in die Beharrlichkeit gesetzt, denn Materie bedeutet die Substanz der Außenwelt, inwiefern deren Realität als Außenwelt überhaupt nicht geleugnet wird. Ob sie oder Einige von ihnen auch die Ausdehnung zum Wesen der Materie gerechnet haben, bleibt damit noch unentschieden.

Die Lehre der Eleaten würde in jenem negativen Resultat aufgegangen sein, wenn ihr Verfahren ausschließlich in dem bestanden hätte, was sie für ein reines Denken ansehen konnten. Einerseits wird sich indessen bei ihnen das Bedürfnis geltend gemacht haben, ihrem Prinzip auch eine wirklich positive, anschauliche Bestimmtheit beizulegen, andererseits wird es sich ihnen fühlbar gemacht haben, daß es ein Widerspruch sein würde, zum Richtigen auch das vernünftige Denken zu rechnen, dessen Objekt das wahrhaft Seiende ist, - zuerst die Vernunft zum Richter über Sein und Nicht-sein zu machen und dann das Sein so zu bestimmen, daß die Vernunft selbst davon ausgeschlossen wird, - das Seiende für das absolut Intelligible oder Rationale oder Vernünftige zu erklären und die Vernunft selbst für ein Nicht-seiendes, also ein Irrationales, Unvernünftiges. Wir finden zumindest, daß sie ihr Prinzip dadurch positiv bestimmt haben, daß sie dem vernünftigen Denken Realität zugeschrieben haben, indem sie nämlich das Seiende mit dem vernünftigen Denken, dessen Objekt es ist, das noeton mit dem nooun für einerlei erklärten. Tauton d'esti noein te kai houneken esti noema [Daß man es erkennt, ist zugleich die Erkenntnis, daß es ist. - wp], sagt PARMENIDES. So ist das Prinzip der Eleaten die reine, absolute, unterschiedslos und bewegungslos in sich beruhende, sich selbst denkende Vernunft.

Auch der dogmatische Idealismus stellt sich somit nicht bloß als Intellektualismus, sondern auch als Spiritualismus dar, indem er unbewußter Weise doch noch aus der Quelle schöpft, welche dem reflektierenden Idealismus für die einzige gilt, der Selbstanschauung der Vernunft. Ein eigentliches Hinausgehen über den dogmatischen Standpunkt liegt jedoch nicht in dieser Identifizierung des Seienden und der Vernunft. Es bedurfte dazu nicht schon jener einen höheren Standpunkt begründenden Einkehr der Vernunft bei sich selbst. Denn diese Einkehr bedeutet, daß die Vernunft in der Anschauung, welche sie von sich selbst hat, die Quelle des philosophischen Wissens erkennt, nicht aber, daß sie überhaupt eine Anschauung, ein Bewußtsein von sich erlangt. Ein solches Bewußtsein gehört ja zum Wesen der Vernunft und ist ihr von ihren ersten Regungen an eigen. Um jene Identifizierung zu vollziehen, genügt aber das ursprünglichste Selbstbewußtsein. -

Die Lehre der Eleaten ist die Wahrheit der vorhergehenden. Ist sie absoluter Idealismus in vollkommen entwickelter Gestalt, näher der Erkenntnisweise nach absoluter Intellektualismus, dem Ergebnisse nach absoluter Spiritualismus (ohne daß sie freilich den Spiritualismus durchzuführen, die materielle Welt als Erscheinung des Geistes nachzuweisen vermocht hätte), so sind die Lehren der älteren Ionier und der Pythagoräer all dies in unentwickelter Gestalt.

Auch diese leitete der Trieb, aus inneren Gründen der Vernunft das wahrhaft Seiende zu erkennen, nur waren sie sich der Natur ihres Triebes nicht bewußt. Das Denken des THALES, ANAXIMANDER, ANAXIMENES gründete sich noch auf die sinnlichen Eindrücke, aber in seiner Bewegung und seinem Ziel zeigt sich deutlich genug, daß es seiner innersten Natur nach nicht in einem Folgern aus den Tatsachen der sinnlichen Wahrnehmung aufgegangen ist, sondern spekulativ war. Die Pythagoräer wußten bereits, daß sie, um dem philosophischen Trieb zu genügen, von den Eindrücken der Sinne abstrahieren mußten, sie gründeten ihr Denken jedoch noch auf das Formale in der sinnlichen Anschauung, aber der spekulative Charakter desselben tritt so deutlich hervor, wie der Unterschied zwischen ihrer Lehre vom wahrhaft Seienden und der Mathematik.

Die Wesensgleichheit der Erkenntnisweise der älteren Ionier und der Pythagoräer mit derjenigen der Eleaten äußert sich im Besonderen darin, daß an ihr ganz analog wie an jener eine negative und eine positive Seite zu unterscheiden ist. Was zunächst die negative Seite betrifft, so gilt Jedem von ihnen sein Prinzip nicht deshalb für das allein wahrhaft Seiende, weil er bemerkt hätte, daß alles Andere aus ihm entsteht und es in allem Anderen als die verborgene Substanz wiedergefunden werden kann, sondern deshalb, weil sich an allem Anderen Eigenschaften finden, an welche seine Vernunft Anstoß nimmt, und zwar deshalb Anstoß nimmt, weil er ahnt, weil ihm dunkel vorschwebt, daß das substantiell Seiende ein Intelligibles und Geistiges sein muß. Es sind die Eigenschaften, welche denjenigen, die zumindest als Symbole des Intelligiblen und Geistigen erscheinen können, am meisten entgegengesetzt sind. Wir können es, meine ich, wohl verstehen, wenn z. B. THALES die Materie in der Gestalt der starren Körper nicht den Anforderungen zu entsprechen schien, welche die Vernunft an die Dinge stellt, oder vielmehr, wenn die Vernunft ihm die Anforderung an die Dinge zu stellen schien, nicht starr zu sein, und wenn er also die Starrheit als zum substantiellen Sein gehörend geleugnet hat und das Nicht-starre in den Dingen, welches im Wasser seine adäquate unverhültte Form zu haben scheint, als das wahrhaft Seiende bestimmt hat. Freilich hat Thales sein Prinzip nicht bloß durch eine solche Negation gefunden, es hat ja als ein Anschauliches eine positive Bestimmtheit, die Flüssigkeit, und die Vergleichung der Starrheit mit der Flüssigkeit wird erst die Bedenken THALES gegen die Realität der ersteren hervorgerufen haben, aber sein Grundgedanke ist doch der negative, daß das Starre sich nicht zur Substanz eignet. Wir können dies, sage ich, wohl verstehen, denn die starre Materie ist es, deren Bild wir zunächst und vorzugsweise unserem Begriff der Materie unterlegen, wenn wir ihn dem Begriff des Geistes entgegensetzen, und daß die Schmiegsamkeit, Beweglichkeit und Durchsichtigkeit des flüssigen Elements, die geheimnisvolle Lebendigkeit, welche es als Meer dem Auge und Ohr darstellt, die Ahnung des Geistigen zu erwecken geeignet ist, muß Jeder fühlen. - Die positive Seite zweitens am Verfahren der Vorgänger der Eleaten besteht wie bei diesen darin, daß sie die durch das negative Verfahren entstandene Leere durch eine Bestimmung ausgefüllt haben, welche sie, ohne darauf zu reflektieren, aus dem Selbstbewußtsein entnommen haben, oder vielmehr das negative Verfahren war mit einem solchen positiven unmittelbar und untrennbar verknüpft. Man kann RITTERs Ansicht bezweifeln, welcher meint, indem die älteren Philosophen nach Gründen gesucht haben, weswegen das eine oder das andere Element geschickter darin ist, der Weltbildung zum Grund zu dienen, sei ihnen das Element fast nur eine symbolische Bezeichnung eines ganz anderen geworden, und das Element, von welchem dieses den Namen führt, sei ihnen selbst als abgeleitete Erscheinung der die Welt bildenden Kraft erschienen; so ist dem THALES sein Prinzip, das Wasser, bloße Lebenskraft; so vergleicht ANAXIMENES sein Prinzip, die Luft, bereits mit der menschlichen Seele usw. Sicherlich aber haben wir in den älteren Ioniern Vorläufer der eleatischen Lehre, daß das verborgene Wesen der Materie der Geist ist, zu erblicken. Die Pythagoräer sodann identifizierten ausdrücklich ihr Prinzip, die Zahl, mit der Seele, denn die Seele bestimmten sie als Harmonie, die Harmonie aber bildet als das Band, welches die Gegensätze des Gerade und Ungeraden verknüpft, die nach ihrer Ansicht schon in der Zahl Eins und folglich in jeder Zahl sich finden, das Wesen der Zahl.

In diesem Nachweis, daß die Lehren der Vorläufer der Eleaten ein unentwickelter Intellektualismus gewesen sind, liegt unmittelbar auch der, daß sie ein unentwickelter Spiritualismus gewesen sind.


Für die Beurteilung des Entwicklungsgangs der vorsokratischen Philosophie sind zwei von BOECKH und SCHLEIERMACHER aufgestellte Gesichtspunkte besonders einflußreich geworden. Dieselben lassen die Ionier, unter welchem Namen BOECKH und SCHLEIERMACHER auch HERAKLIT, EMPEDOKLES und ANAXAGORAS mit begreifen, die Pythagoräer und die Eleaten nicht nur sowohl als die Repräsentanten einer geradlinig oder durch direkte Steigerung, sondern als vielmehr einer durch Gegensätze fortschreitenden Entwicklung erscheinen, obwohl BOECKH zugleich von einem dritten Gesichtspunkt aus einen Zusammenhang annimmt, der wesentlich mit dem oben behaupteten übereinstimmt. Die ionische Philosophie wird infolgedessen nicht nur nicht als Spiritualismus, sondern als dessen gerades Gegenteil, als Materialismus, charakterisiert. Jene beiden Gesichtspunkte beruhen in der angeblich platonischen Einteilung der Philosophie in die Physik, Ethik und Dialektik, und der Unterscheidung des ionischen und des dorischen Stammescharakters.

BOECKH, dessen Konstruktion eingehend und zuverlässig von BRATUSCHECK in dem Aufsatz "August Boeckh als Platoniker" (Philosophische Monatshefte, Bd. 1, Seite 257-349) dargestellt worden ist, findet (Seite 292), daß dem durch Leichtigkeit im Auffassen und Beweglichkeit im Handeln ausgezeichneten ionischen Charakter die Philosophie der Ionier dadurch entspricht, daß sie die Erkenntniskraft aus dem Wesen der Dinge ableitet und so materialistisch ist, und dem ebenso langsamen und im Aufnehmen äußerer Eindrücke schwerfälligen als im Wirken nach außen energischen dorischen Charakter die Philosophie der Dorer oder Pythagoräer dadurch, daß sie umgekehrt das Wesen der Dinge aus dem Wesen der Erkenntnis ableitet und deshalb spiritualistisch ist. Sowohl bei den Ioniern als auch bei den Dorern soll indessen der Anstoß zum Philosophieren von den Objekten ausgegangen sein (Seite 293), der erkennende Geist habe Befriedigung gesucht und gefunden, indem er die sich ihm von außen aufdrängenden Probleme gelöst hat. Es gebe aber ein diesem Verhalten entgegengesetztes, ein solches nämlich, da der Geist sich durch innere Motive getrieben findet, die Dinge zu erforschen und sich mit ihrem Wesen in Einklang zu setzen. Ein solcher subjektiver Anlaß zum Philosophieren ist nun durch den Gegensatz der materialistischen ionischen und der spiritualistischen dorischen Philosophie gegeben gewesen. Er habe die eleatische Philosophie hervorgebracht, deren polemisches Bestreben und dialektisches Verfahren sich auch daher erklärt; die Eleaten haben für den Dorismus Partei ergriffen und ihm seine dialektische Form gegeben. In der eleatischen Philosophie habe aber der äolische Stammescharakter, dem Leidenschaftlichkeit des Gemüts und ein erfinderischer spitzfindiger Sinn eigentümlich ist, Bedeutung gewonnen.

Sowohl bei den Ioniern als auch bei den Pythagoräern stehen die Ideen auf der Stufe der Physik (Seite 296). Die Wirkung der Dinge auf den Geist, dessen Totalität die Natur ist, d. h. das von den Dingen Erkannte, bildet für beide den eigentlichen Gegenstand der Philosophie. Allein in der pythagoreischen Weltansicht liegt eine ethische Richtung, denn die Natur wird vergeistigt und der Gegenstand der Ethik ist eben die Wirkung des Geistes auf die Natur. Nur fassen die Pythagoreer jene Vergeistigung nicht als Wirkung auf die Dinge auf, sondern versetzen sich in die Dinge selbst, in der wissenschaftlichen Betrachtung ist daher bei ihnen das Sittliche noch ganz dem Physischen untergeordnet, sie sind durchaus nicht zu einer ausgebildeten ethischen Theorie durchgedrungen.
    "Demgemäß konnte die aus dem Gegensatz der ionischen und pythagoreischen Philosophie hervorgehende, auch zu keiner Theorie ausgebildete Dialektik nur einseitig sein. Denn die Dialektik ist die Einheit des Physischen und Ethischen und setzt so beides voraus; hier aber lag statt der Ethik nur eine ethisch gestimmte Physik zugrunde."
Durch einen dritten Gesichtspunkt gelangt BOECKH, wie oben bemerkt, zu einer Auffassung, welche der hier vertretenen im Resultat im Wesentlichen entspricht, während ihre Begründung wieder ein gegensätzliches Verhältnis hervorhebt. Es sollen zwei Wege möglich sein, zur Harmonie zwischen der Einheit des Denkens und der Vielheit des Seienden zu gelangen: entweder man leite die Einheit aus der Vielheit oder die Vielheit aus der Einheit ab. Den ersten Weg hat gemäß ihrem materialistischen Charakter die ionische, den zweiten gemäß ihrem spiritualistischen Charakter die pythagoräische Philosophie eingeschlagen. Da aber die Pythagoräer ebenso undialektisch wie die Ionier gewesen sind, haben sie die Ableitung nicht durch diskursives Denken, wodurch sie zur Einheit des Begriffs gelangt sein würden, zu erreichen vermocht, sondern sind bei der mathematischen Form stehen geblieben. Durch die eleatische Dialektik sind Begriffe an die Stelle der mathematischen Zahlen getreten.
    "So gelangten die philosophischen Ideen in derselben Stufenfolge allmählich zur Klarheit, wie sie Platon in der Republik für alles Wissen aufgestellt hat. Sie entwickeln sich aus den Symbolen, die man aus der mythischen Philosophie übernommen hatte, bei den Ioniern an der Erforschung des Sinnlichen (aistheta), erhoben sich dann bei den Pythagoräern zu der höheren Form der mathematischen Anschauung (dianoeta) und nahmen endlich in der eleatischen Schule eine rein geistige Natur an (noeta)." (Seite 295)
Über die Beziehung zu den Stammescharakteren und den philosophischen Disziplinen äußert sich SCHLEIERMACHER und im Anschluß an ihn RITTER ähnlich. Die ionische Philosophie, sagt RITTER (Geschichte der Philosophie, Bd. 1, Seite 190), habe sich mit der Welt mehr nach Art der Physik beschäftigt, die dorische mehr mit den inneren Gründen der Weltentwicklung, nicht sowohl das Wie, als vielmehr das Warum der Erscheinung nach ethischer Ansicht erforschend. Zwar beschäftigen auch sie sich vorzugsweise mit den Gründen der Welt und den physischen Erscheinungen des Weltgebäudes, aber nicht physische Weise, sondern ihre Aufgabe ist, zu erforschen, wie Gesetz und Harmonie nach sittlicher Bestimmung des Guten und des Bösen in den Gründen der Welt liegen. Die Eleaten endlich haben die dialektische Seite der Weltansicht aufgefaßt, ihre Philosophie ist daher Metaphysik. Hinsichtlich der Beziehung zu den Unterschieden der Stammescharaktere sehen sich RITTER und SCHLEIERMACHER durch die eleatische Lehre in Verlegenheit gesetzt. SCHLEIERMACHER sagt in spielender Weise (Geschichte der Philosophie, Seite 19):
    "Wie nun diese (die Dialektik) den beiden anderen Zweigen gleich entgegengesetzt ist, so sind auch die Eleatiker, um weder Ionier noch Dorer zu sein, beides, das eine der Geburt, das andere der Sprache nach."
RITTER gesteht geradezu, diesen Gesichtspunkt nicht auf die Eleaten anwenden zu können. -

Was zunächst die Zusammenfassung der älteren und jüngeren Ionier zu einer Gruppe betrifft, so wird die nächste Betrachtung meine abweichende Ansicht begründen. Hier möge nur darauf hingewiesen werden, wie wenig damit die Chronologie übereinstimmt; diese läßt es doch gewiß als unzulässig erscheinen, PYTHAGORAS auf ANAXAGORAS folgen zu lassen.

Den Einfluß der Stammescharaktere will ich nicht überhaupt in Abrede stellen. Indessen muß ich gestehen, daß mir das Beste, was ich darüber gelesen habe, mehr geistreich als überzeugend erscheint. Wissen doch SCHLEICHERMACHER und RITTER selbst die Eleaten nicht recht unter diesen Gesichtspunkt zu bringen, war doch PYTHAGORAS kein Dorer und XENOPHONES kein Aeoler, tritt doch die ernste in sich gekehrte Sinnesart, das ethische Motiv des Philosophierens bei ANAXAGORAS und HERAKLIT vielleicht mehr, jedenfalls nicht weniger hervor als bei PYTHAGORAS. Zumindest kann ich den Folgerungen, die man aus dieser Beziehung ableitet, kein hinreichendes Gewicht zugestehen, um die Ansicht zu widerlegen, daß sich in der Aufeinanderfolge der älteren ionischen, der pythagoreischen und der eleatischen Philosophie nicht bloß der Intellektualismus entwickelt hat, wie BOECKH selbst annimmt, sonddern auch der Spiritualismus, also mit einem Wort: der Idealismus. Was könnte nicht am Ende auch über den Einfluß des Stammescharakters auf KANT, FICHTE, SCHELLING, HEGEL, HERBART, SCHOPENHAUER ein geistreicher und kenntnisreicher Mann alles vortragen, aber was hätte die Geschichte der Philosophie davon?

Die Einteilung der Philosophie endlich in die Dialektik, Physik und Ethik ist zunächst nicht als platonisch erwiesen. XENOKRATES ist gar nicht ein so treuer Schüler PLATONs gewesen, wie man vorauszusetzen scheint, wenn man jene ihm von SEXTUS EMPIRICUS zugeschriebene Einteilung als von PLATON herstammend glaubt ansehen zu müssen. CICEROs Mitteilung kann nicht ins Gewicht fallen, überdies nimmt er den Begriff der Dialektik in ein anderen Sinn als BOECKH und SCHLEIERMACHER, denn diesen bedeutet Dialektik Logik nur in dem Sinne, in welchem die Logik wesentlich Metaphysik ist. PLATON muß vor allem die reine und die angewandte Philosophie unterschieden haben, denn er sagt von der höchsten Wissenschaft, daß sie durch reines Denken zustande kommen soll, unmöglich aber kann er von allen Gegenständen, die er der Philosophie gibt, geglaubt haben, daß sie durch reines Denken zu erfassen sind. Die reine Philosophie muß er mit der Dialektik identifiziert haben. Der Dialektik aus der reinen Philosophie kann er nun nicht etwa die Physik und die Ethik als die Teile der angewandten gegenübergestellt haben, wie SCHLEIERMACHER anzunehmen scheint, wenn er der Dialektik die Ethik und Physik als die beiden realen Zweige entgegensetzt, denn vom vernünftig wollenden Geist muß nicht weniger als vom vernünftig denkenden in der Wissenschaft vom wahrhaft Seienden die Rede sein, zumal wenn diese Wissenschaft wie bei PLATON in dem Satz gipfelt, daß nur das Gute wahrhaft ist. Es ist vielmehr anzunehmen, da er in der Ethik selbst einen reinen zur Dialektik gehörigen, und einen auf die Erfahrung angewandten (realen) Teil unterschieden hat, und daß er die Logik als die Lehre vom denkenden Geist ebenso in die reine und angewandte eingeteilt, die reine aber nicht mit der Metaphysik identifiziert, sondern sie neben der Metaphysik und der reinen Ethik als Teil der Dialektik betrachtet hat.

Wäre aber auch die Einteilung der Philosophie in Dialektik, Physik und Ethik als platonisch erwiesen, so wäre sie darum noch nicht richtig. Und wenn sie, wie ich glaube, unrichtig ist, so könnte die behauptete Beziehung zwischen jenen drei Disziplinen und den drei ältesten Philosophenschulen nur für etwas durchaus Zufälliges gelten, falls sie bestehen würde. Eine innere Notwendigkeit für das Auftreten von drei jenen Disziplinen entsprechenden Schulen - und eine solche scheinen doch BOECKH, SCHLEIERMACHER und RITTER behaupten zu wollen - würde sich höchstens dann verstehen lasen, wenn eine innere Notwendigkeit für die in Rede stehende Einteilung dargelegt wäre.

Jene Beziehung besteht jedoch gar nicht. Nur daß die eleatische Lehre Dialektik ist, ist richtig, wenn nämlich unter Dialektik die von der Logik als Wissenschaft vom denkenden Geist, insofern er denkt, getrennte Metaphysik verstanden wird, und in diesem Sinne scheint ja auch BOECKs Behauptung genommen werden zu wollen, da er sagt, die Dialektik sei von den Eleaten nicht zur Theorie (wohl Theorie des metaphysischen Denkens) ausgebildet worden. Metaphysik und zwar bestimmer: Ontologie sind aber auch die Lehren der älteren Ionier und der Pythagoräer; Physik sind sie nur insofern, als sie von der Metaphysik als einer Disziplin der reinen Philosophie sofort zu deren Anwendung auf die mehr oder weniger nichtige sinnliche Welt übergehen. Dieses Vorkommen der Physik berechtigt umso weniger, sie in einen Gegensatz zur eleatischen zu bringen, als auch diese von der Wissenschaft zur Physik, von der Wissenschaft vom wahrhaft Seienden zu derjenigen von bloß zu sein Scheinenden übergeht. Wenn bei den älteren Ioniern die Physik mit der Metaphysik gänzlich verschmolzen ist, bei den Pythagoräern eine Grenzlinie bereits deutlich zu erkennen ist, bei den Eleaten sich eine vollständige Trennlinie zeigt, so ist dies ganz im Einklang mit dem Verhältnis der Steigerung, als welches oben der Zusammenhang dieser drei Schulen bestimmt wurde. -

BOECKH und RITTER scheinen in ihren mitgeteilten etwas dunklen Worten die pythagoreische Weltansicht weniger als ethisch, denn als teleologisch zu bestimmen, wie dann auch RITTER dieselbe in der Tat auch in diesem Sinn auslegt. Diese Auffassung müßte jedoch besser begründet sein, um über die Unwahrscheinlichkeit einer Teleologie vor der Entdeckung des Begriffs des vernünftigen Geistes in seinem Gegensatz zu demjenigen der Materie, welche allgemein erst ANAXAGORAS zugeschrieben wird, hinwegzuhelfen. Sollte BOECKH mit der ethischen Stimmung vielmehr gemeint haben, daß den Pythagoräern das wissenschaftliche Forschen ein sittliches Tun bedeutet hat, so ist bereits oben darauf hingewiesen, daß das Gleiche sich mit demselben Recht von ANAXIMANDER und HERAKLIT behaupten läßt; überhaupt lassen diese nicht weniger als jene ihren sittlichen Ernst durch ihre metaphysische Theorie hindurchscheinen. - In BOECKHs Bemerkung, daß die Dialektik der Eleaten deshalb eine einseitige gewesen ist, weil ihr keine eigentliche Ethik vorausgegangen ist, liegt etwas Richtiges, nämlich beides, daß die eleatische Dialektik in der Leugnung der Vielheit und des Werdens die Konsequenz des Dogmatismus gezogen hat, eine reflektierende Dialektik aber, welche wie die platonische die Notwendigkeit der Vielheit in der Einheit, der Tätigkeit im Beharren einzusehen vermochte, weil in der intellektuellen Anschauung ihres unmittelbaren Gegenstandes, des vernünftigen Geistes, dieses Verhältnis sich vorfindet und zwar als ein mit der bloßen Form des Denkens gesetztes, vor dem Auftreten der Ethik nicht möglich war.

Es bleibt nur noch die Frage, ob sich etwa ganze unabhängig von jenen der Einteilung der Philosophie und dem Unterschied der Stammescharaktere entnommenen Gesichtspunkten behaupten läßt, daß die Weltansicht der Ionier der Materialismus, diejenige der Pythagoräer und Eleaten der Spiritualismus gewesen ist. Der Materialismus der ersteren beruth nach BOECKH darin, daß sie die Erkenntniskraft aus dem Wesen der Dinge, der Spiritualismus der anderen darin, daß sie umgekehrt das Wesen der Dinge aus der Erkenntniskraft abgeleitet haben. Zur näheren Erklärung des Materialismus der Ionier dient in BRATUSCHECKs Abhandlung der Satz (Seite 295):
    "Um das Wesen des Geistes aus der Materie zu erklären, hatte die ionische Naturphilosophie allmählich einen immer feineren Urstoff des Alls angenommen; denn er sollte ja die Ursache der in der Seele zum höchsten Maß gesteigerten Bewegung sein."
Von einem Ableiten der Erkenntniskraft aus dem Wesen der Dinge jedoch, einem Setzen der blinden Kraft vor den bewußten Gedanken, wie TRENDELENBURG sich in einem später zu besprechenden Aufsatz allgemeiner ausdrückt, einem Zurückführen der Seele als einer zum höchsten Maß gesteigerten Bewegung auf die Wirkung des Urstoffes, vermag ich in den Nachrichten, die wir von den älteren Ioniern haben, nichts zu finden. Schon der Name Hylozoismus deutet darauf hin, daß sie sich vielmehr den Urstoff selbst als zugleich geistiger Natur vorgestellt haben, indem sie diejenigen Eigenschaften, welche dem Geistigen und Intelligiblen am meisten entgegengesetzt zu sein scheinen, von ihm negierten und dafür die Anschauung des Geistigen unbewußt hineingetragen haben, wie dies oben angegeben worden ist. Ebensowenig läßt sich aber eine Ableitung des Wesens der Dinge aus der Erkenntniskraft bei den Eleaten und Pythagoräern nachweisen, man müßte dann darunter schon den Versuch einer Bestimmung des Wesens der Dinge durch die Erkenntniskraft, durch reines Denken verstehen; versteht man aber dies darunter, so muß ich einerseits bemerken, daß damit nicht das Wesen des Spiritualismus, sondern dasjenige des Intellektualismus bezeichnet wird, und andererseits auf die frühere Behauptung zurückkommen, daß sich dieser Versuch in reiner Gestalt erst bei den Eleaten darstellt, und daß er sich zum entsprechenden Versuch der Pythagoräer wie eine Steigerung verhält und ebenso dieser zum entsprechenden Versuch der älteren Ionier.

Will man jede Lehre Materialismus nennen, welche das Reale unmittelbar in dem der sinnlichen Welt zugrunde liegenden Substrat sucht, so war allerdings diejenige der älteren Ionier ein Materialismus. Aber dann nicht minder die der Pythagoräer und Eleaten, denn es war ebenfalls das der sinnlichen Welt zugrunde liegende Substrat, welches jene als Zahl, diese als unterschieds- und regungslose absolute Vernunft bestimmten. Ich nenne die eleatische Lehre Spiritualismus darum, weil sie in Wahrheit die Materie leugnet, indem sie ihr Wesen als Geist setzt, und die ionische und pythagoreische darum, weil sich diese aus jener, und aus ihr die eleatische gleichsam in gerader Linie entwickelt hat, und weil es Recht ist, das Wesen des Keimes zu beurteilen nach dem, was daraus erwächst. Daß es überhaupt möglich war, den Spiritualismus nicht nur der älteren Ionier, sondern, wie häufig geschehen ist, aller drei Schulen zu verkennen, hat seinen Grund darin, daß derselbe sich seines Gegensatzes zum Materialismus noch nicht bewußt war. Möchte Jemand stattdessen lieber sagen, er sei ein sich seiner spiritualistischen Natur noch nicht bewußter Materialismus, so habe ich nichts dagegen.


Die naive oder dogmatische Richtung des Philosophierens hatte mit den Eleaten ihren Höhepunkt erreicht. Der philosophierende Geist konnte aber denselben noch weniger als einen der bisher durchlaufenen Punkte zu einem Ruhepunkt machen. Denn wer möchte einerseits glauben, daß es vernünftig wäre, wenn nichts wäre als das reine Sein, und daß Vielheit und Werden unvernünftig sind, und wem konnte es andererseits entgehen, daß die Tatsache, daß Vielheit und Werden zumindest zu sein scheinen, der eleatischen Lehre widerspricht, daß diese Lehre konsequentermaßen nicht nur die Realität, sondern auch die Phänomenalität der Vielheit und des Werdens leugnen muß.

Die nächste Richtung in welche die Philosophie durch die Unhaltbarkeit des eleatischen Standpunkts gedrängt wurde, die der jüngeren Ionier, kann als eine vermittelnde bezeichnet werden. Ihre Vertreter nämlich suchten auf Kosten der Strenge der eleatischen Dialektik die Forderungen der Vernunft mit der tatsächlichen Beschaffenheit der Erscheinungswelt in Einklang zu bringen, sie legten in ihren Versuchen, das Innere der Dinge zu bestimmen, der Vernunft eine fortwährende Rücksicht auf das erscheinende Äußere derselben auf. Andererseits bestritten sie die unbedingte Wahrheit der sinnlichen Auffassung, sie erkannten an, daß die äußere Welt, so, wie sie wahrgenommen wird, nicht die wahrhaft seiende Welt ist, sondern daß die sinnliche Auffassung der Korrektur durch die Vernunft bedarf. Der Gesinnung nach waren auch sie Intellektualisten, aber sie schränkten notgedrungen den Intellektualismus durch den Empirismus ein.

Wie die Erkenntnisweise, so ist auch das Ergebnis der jüngeren ionischen Philosophie dualistisch. Das substantiell Seiende, so lautet dasselbe in seiner entwickelten Gestalt bei ANAXAGORAS, ist nicht bloß, wie die Eleaten gelehrt haben, der vernünftige Geist, sondern auch die tote starre Materie. Auch dieser Dualismus entspricht nicht der Gesinnung seiner Vertreter; EMPEDOKLES' Hinneigung zum Monismus zeigt sich in seiner Lehre vom sphairos [Gott in Kugelgestalt - wp] und in dem Vorzug, welchen er der vereinigenden Liebe vor dem trennenden Haß gibt; ANAXAGORAS gilt der Geist für das vorzüglichere und mächtigere Prinzip, der Geist beherrscht die Materie und nur seiner gestaltenden Tätigkeit verdankt es die Materie, daß sie statt eines Chaos eine geordnete Welt bildet.

Der Weg, auf welchem die jüngeren Ionier zu diesem Ergebnis gelangt sind, scheint mir dadurch bestimmt zu sein, daß sie einerseits, indem sie die sinnliche Wahrnehmung wieder mitsprechen ließen, wieder an die älteren Ionier anknüpften, und daß sie andererseits den Resultaten der eleatischen Dialektik so viel wie möglich Rechnung zu tragen suchten. Sie nahmen demgemäß wieder eine materielle Substanz im gewöhnlichen Sinn des Wortes, d. h. eine raumerfüllbare teilbare, an, aber sie konnten in derselben nicht mehr in der unbefangenen Weise der älteren Ionier die Stofflichkeit und die Lebendigkeit, den Grund des Seins und den Grund des Geschehens, vereinigt denken. So entstand zunächst der Dualismus des Stoffes und der Kraft. Wie in der vorhergehenden Periode ging dann der Begriff der Kraft in denjenigen des Geistes über.

Auf den ersten der jüngeren Ionier, HERAKLIT, scheint diese Betrachtung auf den ersten Blick in keiner Weise zu passen. Bei genauerer Erwägung meine ich jedoch müsse sich das Gegenteil herausstellen. HERAKLIT erkannte allerdings ebensowenig wie die Eleaten neben der Vernunft die Erfahrung als philosophische Erkenntnisquelle an, er pocht nicht weniger als diese darauf, daß er der Vernunft statt der trügerischen Meinung folgt, er redet mit noch entschiedener Verachtung nicht nur von der Menge, die sich dem Sinnenschein, welcher uns ein Beharrendes im ewigen Fluß der Dinge vorspiegelt, überläßt, sondern auch von den Dichtern und Denkern, da sie in demselben Wahn befangen sind. Aber offenbar ist es doch tatsächlich die Erfahrung, der zu genügen er das Prinzip des Werdens angenommen hat. Der Vernunft zuliebe trieb er dieses Prinzip ebenso auf die Spitze, wie die Eleaten dasjenige des beharrenden Seins, und stellte es, obwohl es den Forderungen der Vernunft, soweit dieselben damals verstanden werden konnten, durchaus entgegengesetzt ist, doch als das absolut Vernünftige hin.

Auch im Ergebnis HERAKLITs kündigt sich der Dualismus an. Der Begriff des Werdens drückt nach ihm nicht, wie dies bei den Eleaten der Begriff des Seins getan hat, das Reale vollständig und ohne Rest aus. Ihm gilt vielmehr das Werden als solches nur für die allgemeine Form des Realen und er nimmt noch einen von ihr verschiedenen Inhalt an und zwar, dem oben Bemerkten gemäß an die älteren Ionier anknüpfend, einen sinnlich vorzustellenden Inhalt, das Feuer. Er fügt also dem Werden ein Anderes, woran es stattfindet, oder, wie wir dafür in diesem Zusammenhang sagen würden, dem Prinzip der Kraft das Prinzip des Stoffes hinzu. Allerdings ist die dualistische Auffassung bei noch verhüllt. Er stellt das Feuer so dar, daß es mit dem Prinzip des Werdens zusammenzufallen scheint, so daß ZELLER die Ansicht aussprechen konnte, das Feuer gelte dem HERAKLIT gar nicht für etwas vom Werden Verschiedenes, es sei nur das zu einer physikalischen Anschauung gewordene Prinzip des Werdens, das Gesetz der Veränderung stelle sich ihm durch eine unmittelbare Wirkung der Einbildungskraft unter jener symbolischen Anschauung dar (Die Philosophie der Griechen, Bd. 2, erste Auflage, Seite 458). Allein HERAKLIT hat es uns doch andererseits unmöglich gemacht, das Feuer anders zu fassen als den Stoff, woran sich das Werden vollzieht, denn er läßt aus dem Feuer durch Umwandlung alle Dinge entstehen, man kann aber doch nicht sagen, daß das Werden sich selbst in andere Gestalten, also in ein Nicht-werden umwandelt.

Bei EMPEDOKLES und ANAXAGORAS liegt der Dualismus sowohl der Erkenntnisweise als auch des Ergebnisses so unverhüllt zutage, daß der Nachweis desselben in der bloßen Wiedergabe ihrer Lehren bestehen würde. Auch daß der Begriff der Kraft von EMPEDOKLES, wenn er sie als Liebe und Haß bezeichnet, demjenigen des Geistes angenähert wird, ist nicht zu verkennen.


Durch ANAXAGORAS war die Philosophie zum Bewußtsein des Gegensatzes des lebendigen Geistes und der todten Materie, der Innenwelt und der Außenwelt, gelangt. Damit war der Standpunkt des dogmatischen Philosophierens aufgelöst, denn es war damit die Erkenntnisquelle eröffnet, welche der vernünftige Geist im Bewußtsein seiner selbst besitzt. Aber aus dieser Auflösung des dogmatischen Standpunktes sollte nicht unmittelbar der kritische hervorgehen. Die Vernunft sollte erst durch die hereinbrechende Unphilosophie angetrieben werden, in der Einkehr bei sich selbst die Rettung der Philosophie zu suchen. Mit anderen Worten: nachdem der kritische Standpunkt durch die jüngeren Ionier in positiver Weise vorbereitet war, sollte er auch noch in negativer Weise vorbereitet werden.

Die bisher betrachteten Standpunkte waren wirklich philosophische Standpunkte, weil sie in der Überzeugung von der Herrschaft der Vernunft gegründet waren. Und zwar erkannten sie diese Herrschaft in zweifacher Hinsicht an, einmal indem die Erkenntnis des substantiell Seienden sich aus inneren Gründen der Vernunft ergeben sollte, sodann, weil das substantiell Seiende als vernünftiger Geist bestimmt wurde. Sie waren, mit einem Wort: wirklich philosophische Standpunkte, weil sie der Erkenntnisweise nach intellektualistisch, dem Ergebnis nach spiritualistisch, im Ganzen idealistisch waren. Ganz uneingeschränkt passen zwar diese Bezeichnungen nur auf den Standpunkt der Eleaten, aber diejenigen der älteren Ionier und Pythagoräer waren ein noch unentwickelter Intellektualismus und Spiritualismus, und derjenige der jüngeren Ionier ein gegen ihre Gesinnung notgedrungen durch den Empirismus eingeschränkter Rationalismus und durch den Materialismus eingeschränkter Spiritualismus, - notgedrungen, weil der uneingeschränkte Intellektualismus und Spiritualismus in der Periode des dogmatischen Philosophierens nur in der unhaltbaren eleatischen Gestalt erscheinen kann.

Die nächsten Standpunkt sind unphilosophisch deshalb, weil sie die Vernunft leugnen. Die Atomistiker leugnen die Vernunft als wahrhaft Seiendes und bestimmen dieses vielmehr als ein absolut Vernunftloses, das darum auch ein absolut Unvernünftiges und Irrationales ist, und die Sophisten leugnen die Vernunft als Erkenntnisvermögen. Der Standpunkt der Atomistiker ist derjenige des den Spiritualismus vollständig ausschließenden Materialismus, der Standpunkt der Sophisten ist derjenige des den Intellektualismus vollständig ausschließenden und deshalb in Skeptizismus übergehenden Empirismus. Die Unphilosophie mußte sich in zwei Standpunkten darstellen, weil der Skeptizismus und der Materialismus einander ausschließen, während der Intellektualismus und der Spiritualismus als zwei verschiedene Seiten desselben Standpunktes zusammengehören; denn der Skeptizismus leugnet die Möglichkeit philosophischer Erkenntnis und der Materialismus behauptet philosophische Erkenntnis besitzen. Andererseits freilich hat jeder dieser beiden Standpunkte den andern zur Konsequenz. Denn hat der Materialismus Recht, daß das substantiell Seiende das Gegenteil des vernünftigen Geistes, die tote blinde Materie ist, so kann auch der vernünftige Geist nicht die Wahrheit über das Seiende hervorbringen, und hat der Skeptizismus Recht, daß der vernünftige Geist das Seiende nicht erkennen kann, so ist das Seiende das absolut Unvernünftige und Vernunftlose, die tote blinde Materie. Diese Standpunkte sind mit dem inneren Widerspruch behaftet, daß sie unphilosophische Standpunkte in der Philosophie sind, - daß sie Vernunfterkenntnis zu besitzen prätendieren [vorgeben - wp] und daß diese vermeintliche Vernunfterkenntnis die Leugnung der Vernunft zum Inhalt hat. Und darin kommt dieser innere Widerspruch zum Vorschein, daß sie einander zugleich ausschließen und fordern.

Die Sophisten wandten sich nicht mehr wie alle bisherigen Philosophen, die Atomistiker eingerechnet, mit ihrem Denken unmittelbar an die Außenwelt, sondern sie machten das denkende Subjekt selbst zum Gegenstand. Danach könnte es scheinen, als müsse mit ihnen bereits die Periode des reflektierenden Philosophierens eröffnet werden, als gehe also in dieser dem Kritizismus der Skeptizismus voran, - umso mehr, als sie nicht bloß das Denken, sondern auch das Wollen in den Kreis ihrer Reflexionen hineingezogen haben. Diese Ansicht wird in der Tat von einigen Historikern vertreten, z. B. von ÜBERWEG, der die erste bis auf ANAXAGORAS und die Atomistiker reichende Periode der griechischen Philosophie durch die vorwiegende Richtung der philosophischen Forschung auf das Ganze der Natur und Welt oder die Vorherrschaft der Kosmologie, und die zweite mit den Sophisten beginnende durch vorwiegende Richtung der philosophischen Forschung auf den Menschen als wollendes und denkendes Wesen oder die Vorherrschaft der Ethik und Logik mit allmählicher Wiederaufnahme und zunehmender Begünstigung der Naturphilosophie charakterisiert findet. Was gegen diese Auffassung geltend zu machen ist, scheint mir im wesentlichen ZELLER (a. a. O., Seite 118) angegeben zu haben. Die Sophistik, sagt ZELLER, sei das Ende der älteren Naturphilosophie, aber noch nicht der schöpferische Anfang eines Neuen, sie weist noch keinen neuen Inhalt als Ersatz für den zerstörten Glauben an die Erkennbarkeit des Objekts auf, sie ist nur eine indirekte Vorbereitung des Neuen; man pflegt aber auch sonst eine neue Periode erst da zu beginnen, wo das sie beherrschende Prinzip positiv, mit schöpferischer Kraft und bestimmtem Bewußtsein seines Ziels auftritt, z. B. in der Religionsgeschichte eröffnet man eine solche mit Christus, nicht mit dem Verfall der Naturreligionen und des Judentums, und demnach ist auch SOKRATES als der erste Vertreter der Denkweise zu behandeln, deren Prinzip er zuerst positiv ausgesprochen und ins Leben eingeführt hat. Den Beispielen ZELLERs für diese historische Regel möchte ich noch dieses hinzufügen, daß man allgemein, auch ÜBERWEG, in der Geschichte der neueren Philosophie eine neue Periode nicht mit dem Empirismus LOCKEs oder dem Skeptizsimus HUMEs, sondern mit KANT beginnt.

Für berechtigt muß ich es dagegen anerkennen, wenn man von einem anderen als dem oben aufgestellten Gesichtspunkt aus den Atomismus in einen engeren Zusammenhang mit der Lehre der jüngeren Ionier als mit der Sophistik bringt. Man kann, die Atomistiker zu den jüngeren Ioniern rechnend, sagen, durch diese habe die dogmatische Philosophie sich selbst soweit aufgelöst, wie sie es konnte, ohne aufzuhören, dogmatische Philosohie zu sein, die Sophistik dagegen hat gleichsam durch einen Stoß von außen her, von dem Ort aus, an welchem gleich darauf der neue Standpunkt gegründet werden sollte, diese Auflösung vollendet.

Um übrigens der Sophistik gerecht zu werden, darf man nicht verkennen, daß doch auch "der schöpferische Anfang eines Neuen" sich in ihr zumindest ankündigt. Ich kann es nicht für richtig halten, wenn ZELLER (in der oben erwähnten Begründung der Stellung, welche er den Sophisten anweist) sagt, die Sophistik sei für sich genommen das Ende aller Philosophie, sie führe nicht bloß zu keiner neuen Erkenntnis, sondern auch nicht einmal, wie die spätere Skepsis, zu einer philosophischen Gemütsstimmung, sie zerstöre vielmehr alles philosophische Streben, indem sie kein anderes Ziel übrig läßt, als die praktischen Zwecke der Selbstsucht. In der Wahrnehmungstheorie des PROTAGORAS, die PLATON zugute gekommen ist, sowie in GORGIAS' Entdeckung des scheinbaren Widerspruchs im Verhältnis zwischen den Begriffen des Seienden und des Gedachten liegen doch wohl wirklich positive Leistungen. Sodann meine ich eine Frische und Keckheit und einen Übermut, wie sie sich in dem sophistischen Treiben äußern, sei nicht das Anzeichen des Endes aller Philosophie, sondern nur des Endes einer alten und zugleich des Anfangs einer neuen Philosophie. Und weit entfernt, die Sophistik deshalb geringer zu schätzen, weil sie nicht, nach ZELLERs Ausdruck, zu einer philosophischen Gemütsstimmung führt, muß ich sie gerade deshalb über den späteren Skeptizismus stellen. Dieser ist nämlich wirklich das Ende aller Philosophie, und er sucht deshalb zumindest eine gewisse Gemütsstimmung zu retten als Ersatz für wirkliches philosophisches Leben; statt der Frische und des Übermuts der Sophistik hat er dementsprechend eine gewisse trübselige Art und Weise. Die der Sophistik eigene übermütige Lust an der Negation ist immer noch eine Lust an der Macht der Vernunft, die Alles in Frage zu stellen wagt, freilich eine unvernünftige Lust, weil die Macht der Vernunft, der sie gilt, sich gegen sich selbst wendet, aber doch Lust an der Macht der Vernunft und Ausdruck eines kräftigen Lebensgefühls ist. -

Zur Ergänzung des obigen Referates über BOECKHs Auffassung des Entwicklungsgangs der vorsokratischen Philosophie füge ich hier aus dem angegebenen Aufsatz von BRATUSCHECK Folgendes ein. Die Atomistik bringt BOECKH in ein analoges Verhältnis zum ionischen Materialismus wie die eleatische Lehre zum dorischen Spiritualismus. Wie der Dorismus durch die Eleaten, so habe der Ionismus durch die Atomistiker seine dialektische Form erhalten. Auch dabei habe der äolische Geist befruchtend mitgewirkt; denn LEUKIPP ist aus Elea gewesen (Seite 294). Die abderistische Dialektik ist ebenfalls einseitig, weil ohne ethische Grundlage gewesen; sie habe sich erst dem Dorismus gegenüber den Ansatz zu einer eigenen, gleichfalls vollständigen in die Naturbetrachtung eingewurzelten ethischen Theorie geschaffen (Seite 296).

Die Gegenüberstellung der eleatischen und der atomistischen Lehre ist treffend. Auch die Subsumtion beider unter den Begriff der einseitigen Dialektik ist mit der von mir entwickelten Auffassung vereinbar, sofern man unter einseitiger Dialektik die dogmatische und deshalb bloß ontologische und nicht auch teleologische, mit der Ethik in Verbindung stehende Metaphysik versteht. Freilich paßt dieser Begriff auf alle bisherigen Ansichten, aber die eleatische und die atomistische Lehre zeigen doch innerhalb desselben die größte spezifische Differenz, indem jene den ausgebildeten uneingeschränkten Spiritualismus, diese den nackten Materialismus repräsentiert, oder indem beide die Einseitigkeit dieser Metaphysik, jede in einer anderen Richtung, zum entschiedensten Ausdruck bringen.

BOECKHs Auffassung der Sophistik scheint mir ganz mit der meinigen verbunden werden zu können. Die Sophistik sei die Selbstauflösung der einseitigen Dialektik (Seite 297). Von ihren beiden Hauptvertretern sei der eine, GORGIAS aus Leontini in Sizilien, von der Lehre der Eleaten, der andere, PROTAGORAS aus Abdera, von der abderistischen Atomistik ausgegangen. Indem GORGIAS die Postulate des Praktischen, PROTAGORAS den Wertunterschied der Vorstellungen für den Vorstellenden, den Unterschied des Guten und Bösen, d. h. des Angenehmen und Unangenehmen hat bestehen lassen, hat der allen Sophisten gemeinsame Skeptizismus zu einer wenn auch einseitigen auf die Ethik geführt.
    "Gerade im Kampf mit der verwerflichen egoistischen Tendenz der Sophistik und doch angeregt durch die Bewegung der Geister, die sie hervorbrachte, entwickelte sich die attische Philosophie, die zunächst den Grund zur eigentlichen Ethik legt und dadurch zugleich zu einer wirklichen Dialektik führt."

LITERATUR - Julius Bergmann, Zur Beurteilung des Kritizismus vom idealistischen Standpunkt, Berlin 1875