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ERICH ADICKES
Kant contra Haeckel
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"Die gewöhnliche Ansicht des gesunden Menschenverstandes ist ein naiver Realismus, demzufolge die Gegenstände der äußeren Erfahrung durchweg unabhängig von uns und unseren Vorstellungen existieren und der Hauptsache nach ansich gerade so sind, wie sie uns erscheinen: farbig, tönend, weich, süß. Das Wahrnehmungsproblem ist für ihn (den naiven Realisten) nicht vorhanden, geschweige denn eine Wahrnehmungstheorie. Wie die Gegenstände in uns, in unsere Vorstellung hineinkommen: darüber wird nicht nachgedacht."


Absurdität des Materialismus, da die
Materie nur unsere Vorstellung ist

Jetzt ist es an der Zeit, das schwerste Geschütz aufzufahren. Psychisches kann nicht aus Physischem hervorgehen, hieß es bisher. Im Gegenteil: alles Physische geht aus Psychischem hervor, die Materie ist ein Werk unseres Geistes, sie existiert nur als Bewußtseinszustand: so lautet die neue These.

Um sie zu erweisen und um so dem Materialismus vollends den Garaus zu machen, bedarf es Erwägungen prinzipiellster Art, die man unter dem Stichwort des erkenntnistheoretischen Idealismus zusammenzufassen pflegt. Teilweise waren sie schon der antiken Philosophie bekant. Heutzutage bringt man sie vor allem mit KANTs Namen in Verbindung.


a)Erkenntnistheoretischer Idealismus

Der erkenntnistheoretische Idealismus stellt sich dem Realismus entgegen. In beiden Lehren haben wir nicht eindeutig bestimmte Standpunkte vor uns. Mannigfache Nuancierungen sind möglich, so daß die beiden Gegensätze sich bald nähern, bald weiter auseinander treten.

Die gewöhnliche Ansicht des gesunden Menschenverstandes ist ein "naiver Realismus", demzufolge die Gegenstände der äußeren Erfahrung durchweg unabhängig von uns und unseren Vorstellungen existieren und der Hauptsache nach ansich gerade so sind, wie sie uns erscheinen: farbig, tönend, weich, süß. In dieser Doppelexistenz der körperlichen Welt (außer uns - in unserer Vorstellung) findet der naive Realist keine Schwierigkeit, ja, es kommt ihm nicht einmal zum Bewußtsein, daß er eine solche Doppelexistenz behauptet: das Wahrnehmungsproblem ist für ihn nicht vorhanden, geschweige denn eine Wahrnehmungstheorie. Wie die Gegenstände in uns, in unsere Vorstellung hineinkommen: darüber wird nicht nachgedacht.

Die Physiologie der Sinnesorgane hat dieser Anschauungsweise für immer die Berechtigung entzogen. Seitdem man die Subjektivität der Sinnesqualitäten erkennen gelernt hat, ist jeder wissenschaftliche Standpunkt gezwungen, dem Idealismus Konzessionen zu machen. So ist dann der heutige naturwissenschaftliche Realismus auch der Ansicht, daß alles Sinnesqualitäten nur in uns ihr Dasein haben, während es in der körperlichen Welt draußen nichts als Atome (bzw. Kraftzentren) und deren Bewegungen gibt. Vom Materialismus unterscheidet sich dieser Standpunkt dadurch, daß nach ihm die körperliche Welt nicht Ein und Alles ist. Vielmehr erkennt er auch die Existenz des Psychischen an, ohne sich über den Zusammenhang desselben mit der materiellen Welt eine Theorie zu bilden; eine solche liegt über die Grenzen der Naturwissenschaft hinaus und würde stets philosophisch (erkenntnistheoretisch oder metaphysisch) sein.

Im Gegensatz dazu sagt der Idealismus: die ganze körperliche Welt ist nur in meinem Bewußtsein, sie ist nur meine Vorstellung, und wie die ganze Welt, so auch jeder einzelne Gegenstand in ihr. Primär ist das Psychische, das Materielle sekundär, jedes körperliche Objekt nur durch und für ein Subjekt: das ist das Grunddogma des Idealismus.

Die weitere Frage wäre dann: was entspricht dem Körperlichsein im Ding-ansich, abgesehen von unserer Art, es anzuschauen? Darauf gibt es mehrere Antworten, je nachdem, wie weit man sich in den idealistischen Gedankengängen vorwagt. Man kann mit KANT auch Raum und Zeit zu bloßen Vorstellungsformen erklären, kann mit gewissen unter seinen Nachfolgern sogar dem Ding-ansich jede extramentale Existenz absprechen, kann aber auch die Dinge-ansich als in Raum und Zeit befindliche bewegte Kraftzentren betrachten.

Ausgschlossen ist dagegen für jeden, der die Probleme wirklich durchdacht hat, daß der Materie auch abgesehen von unserer Art vorzustellen Realität zukommt, daß also die Dinge-ansich körperlich sind. Bleibt der Materialist doch, allen Gegeninstanzen zum Trotz, bei diesem - Aberglauben, so müßte er wenigstens das Zugeständnis machen, daß wir in der angeblichen materiellen Welt der Dinge-ansich kein Faktum vor uns haben: sie wäre nur erschlossen. Gegeben wäre die Materie nur als Bewußtseinszustand, als Vorstellung; erschlossen und damit unsicher wäre ihre Existenz außerhalb unseres Bewußtseins. Und dem Materialismus würde auch dann ein Ende gemacht durch die Überlegung, daß es im höchsten Grad unwissenschaftlich ist, das einzig Gewisse, Sichere, was uns gegeben ist, aus dem abzuleiten, was wir bestenfalls als wahrscheinlich erschließen könnten.

Aber dieser "beste" Fall ist eben ein irrealer Fall. - Erscheinung setzt etwas voraus was erscheint, ein Ding-ansich: darin bin ich mit KANT einverstanden. Dieses Ding-ansich ist räumlich und zeitlich bestimmt; Raum, Zeit und Bewegung sind also nicht nur unsere Vorstellungsweisen, sondern haben auch transzendente Gültigkeit: darin weiche ich von KANT ab und nähere mich dem naturwissenschaftlichen Realismus. Aber alle Körperlichkeit, alle materielle Raumerfüllung ist ein bloßes Produkt unseres Vorstellungsvermögens; die Materie, der Abgott der Materialisten, ist nichts als eine Schöpfung unseres Geistes.

Diesen meinen idealistischen Standpunkt, soweit er im Gegensatz nicht zu KANT, sondern zum Materialismus steht, will ich jetzt kurz begründen.

Daß die Welt ansich niccht tönt, leuchtet und im Glanz der Farben prangt, daß der Tisch, an dem ich sitze, an sich nicht hart und bräunlich ist, der Zucker nicht süß, die Rose nicht duftet: das alles wird der Materialist gern zugeben. Auch ihm ist die Wahrheit nicht mehr verborgen, daß unsere Sinnesqualitäten weder den Dingen noch ihren Kräften, noch den Veränderungen ähneln, die mit ihnen vorgehen.

Ja! gerade aus dieser Erkenntnis sucht er eine Stütze für seinen Standpunkt zu gewinnen. Das "ansich" all dieser Erscheinungen ist eben angeblich bewegte Materie. Nur unsere Sinne empfinden Farben und Licht, Süße und Härte, Töne und Düfte. In den Dingen selbst sind zwar auch Verschiedenheiten, aber nur äußerliche: Variationen in der Bewegungs- und Lagerungsart.

Das eigentlich und einzig Wirkliche, würde der Materialist also etwa sagen, sind die Atome im Raum. Um sie herum, die von uns als Atome nicht wahrgenommen werden, gruppieren wir die von uns "wahrgenommenen" Sinneseigenschaften. Letztere sind gleichsam ein glänzender Firnis, durch den ein gewöhnliches Auge nicht hindurchdringt. Wie der Maler bei einem Ölbild nachforschend, aufgrabend die verschiedenen Schichten entdecken kann, die dem Nicht-Künstler verborgen bleiben: so legt die Wissenschaft in den Atomen das Gerüst der ganzen Erfahrungswelt bloß. Sie sind die festen Punkte, um die herum wir die sinnlichen Eigenschaften sich kristallisieren lassen. Also ist nur die Außenseite der Welt um uns herum subjektiv, ihr Kern dagegen objektiv: den im Raum bewegten Atomen kommt ein extramentales transzendentes Dasein zu. Undurchdringlichkeit, Ausdehnung, Gestalt, Bewegung der Körper, also dasjenige, was schon LOCKE "primäre Qualitäten" genannt hat, wird durch die Subjektivität unserer Sinnesorgane nicht berührt.

Diese Ein- und Ausrede erscheint vielleicht manchem recht einleuchtend, ist aber doch durchaus nicht treffend. Um das einzusehen, braucht man nur das idealistische Prinzip zu Ende zu denken. Unsere ganze Erfahrungswelt ist auf Empfindungen aufgebaut und existiert nur innerhalb unseres Bewußtseins. Es ist daher nichts in ihr, was nicht von uns abhängig wäre; auch ihr innerster Kern ist nur unsere Vorstellung. In ihr kann das Ding-ansich niemals und nirgends gefunden werden; es wäre nur möglich, daß dies oder das in ihr nicht nur auf unsere Art vorzustellen zurückgeführt werden müßte, sondern auch von transzendenter Bedeutung, auch für Dinge-ansich von Gültigkeit wäre. Zunächst aber würde auch das nur Bewußtseinsinhalt, also Erscheinung, sein; seine transzendente Gültigkeit müßte erschlossen werden.

In dieser Tatsache liegt ein Dreifaches.
    1. Auch die primären Qualitäten (sowohl in der Welt um uns herum, als auch am eigenen Körper inklusive Gehirn) sind Wahrnehmungsinhalte;

    2. die Lokalisierung der Empfindungen, d. h. ihre Anordnung im Raum, ist unser Werk, ist eine Folge unserer geistigen Organisation;

    3. auch die Atome und Atombewegungen, mit denen die Naturwissenschaft operiert, sind nur unsere Vorstellungen. Ja, sie sind sogar nur Vorstellungen zweiter Ordnung: nicht empfunden, sondern erdacht, nicht wirkliche Dinge, die wir jeweils mit den Augen sehen können, sondern Hilfsbegriffe, um Theorien entwerfen und Formeln veranschaulichen zu können.
Diese drei Behauptungen sollen jetzt weiter ausgeführt und begründet werden.

b) Subjektivität der primären Qualitäten

Man ziehe einmal von den primären Qualitäten, wie die Körperwelt sie bietet, alles ab, was von den Sinnen herstammt! Was bleibt übrig? Ich meine: nichts! Bei einem Blindgeborenen kann zwar, wie die Erfahrung zeigt, nicht nur das räumliche Orientierungsvermögen, sondern auch die Raumvorstellung hoch entwickelt sein. Selbst in Mathematik und Physik vermag er eventuell Hervorragendes zu leisten. Aber die unentbehrliche Vorbedingung sind dabei die Empfindungen seines Haut- und Muskelsinnes. Nur mittels ihrer entsteht ihm das Gebilde des dreidimensionalen Raums, sowie der Gegenstände in ihm. Denkt man sich einen solchen Blindgeborenen vom Schlag gerührt, verlöre er infolgedessen alles Sinnes- und Vitalempfindungen (vor allem also auch die Haut- und Bewegungsempfindungen), behielte aber noch eine Zeitlang die Fähigkeit vorzustellen und denken: so wäre für ihn die objektive räumliche Welt um ihn herum, und sein eigener Körper mit ihr, völlig entschwunden. Sie wäre wie Vineta, die versunkene Stadt: nur die Erinnerung würde noch von ihr melden. Und der arme Patient bestünde in seiner eigenen Vorstellung nicht mehr "aus Körper und Geist", sondern sein Dasein ging auf in seinem Selbstbewußtsein und dessen Zuständen oder Inhalten. Unter ihnen gäbe es keine räumlich lokalisierten mehr, wohl aber noch Erinnerungsbilder an räumliche Dinge. Und auch diese Erinnerungsbilder würden ganz und gar auf seinen früheren Haut- und Bewegungsempfindungen beruhen.

Alle primären Qualitäten gehen eben auf Empfindungsinhalte zurück, ja, bestehen nur aus ihnen. Körperliche Ausdehnung und materielle Raumerfüllung sind nichts als eine Kombination von Empfindungen der Farbe, Weichheit, Härte etc. In ihrer Abhängigkeit von unserer Subjektivität sind die primären Qualitäten um nichts besser gestellt als die sekundären. Sowie es keine Farbe ohne Auge gibt, so auch in der Körperwelt keine Undurchdringlichkeit ohne Hautsinn. Selbst in unseren Erinnerungs- und Phantasiebildern sind wir durchwegs vom Material unserer Sinnesempfindungen abhängig. Wohl können wir, z. B. beim Gedanken an geometrische Figuren oder stereometrische Objekte, ganz von Farbe, Undurchdringlichkeit etc. abstrahieren. Sobald wir uns aber körperliche Ausdehnung und materielle Raumerfüllung anschaulich vorstellen wollen, müssen wir sie uns als Empfindungsinhalte denken. Das würde auch vom angeblichen Kern oder Gerüst der Erfahrungswelt, den Atomen, gelten. Auch sie kann man sich nur rauh oder glatt, weich oder hart, und - der Sehende zumindest - farbig vorstellen. Könnte ein Mensch sie jemals wahrnehmen: dann nur mit diesen Eigenschaften. Etwas Körperliches ohne die letzteren (also auch ohne Farbe!) ist für mich ebensowenig anschaulich vorstellbar wie ein Gebäude, das weder aus Stein noch aus Holz noch aus sonst irgendeinem Material wäre.

Der naturwissenschaftliche Realismus läßt verschiedenartige Bewegungen als Reize unsere Nerven treffen und aufgrund davon in letzteren die Empfindungen entstehen. Und dabei ist er geneigt, beides für gleich wirklich und tatsächlich gegeben zu halten: Bewegungen (Reize) und Empfindungen. Aber weit gefehlt! Nur eins von den beiden ist ursprünglich und wirklich, ist Tatsache, ja sogar die einzig wirkliche Tatsache, die Urtatsache: die Empfindung nämlich und mit ihr die ganze Bewußtseinswelt. Bewegungen und Reize sind wirklich zunächst nur als Vorstellungen, als Bewußtseinsinhalte, nicht als Bewußtseins-(Empfindungs-)erreger. Ob Bewegungen oder Reize eine Bedeutung für sich, außerhalb der Bewußtseinswelt, also transzendente Gültigkeit haben, ist eine Frage für sich. Eine solche Gültigkeit wäre auf jeden Fall keine Tatsache: sie wäre nur erschlossen, und zwar aufgrund eines Schlusses von der Wirkung auf die Ursache. Nun sind aber mehrere derartige Ursachen möglich und vorstellbar; so wahrscheinlich also auch ein solcher Schluß gemacht werden kann, er behält doch immer etwas Problematisches an sich.

Also das Gegebene, woraus unsere ganze Erfahrungswelt sich aufbaut, sind Empfindungen unbekannten Ursprungs. Sie sind eben da und bilden das Material auch für die primären Qualitäten. Mit innerer Notwendigkeit verbinden wir die Empfindungen verschiedener Sinne zu dem, was wir äußere Gegenstände nennen. Nicht etwa weil wir Härte und braune Farbe an einem Tisch vor uns verbunden sehen, vereinigen wir beide Eigenschaften in unserem Bewußtsein miteinander. Dieser Tisch ist ja erst unser Produkt; das Material, aus dem er besteht, sind unsere Empfindungen. Und zwar gilt das vom ganzen Tisch: nicht etwa nur von der Außenseite, sondern auch vom "Kern", auch vom "Gerüst", um welches wir die sinnlichen Eigenschaften nach Meinung des naturwissenschaftlichen Realisten gleichsam herumlegen.

Vielleicht schüttelt letzterr hier verwundert den Kopf, mitleidig lächelnd ob dieser Verblendung. Weiß denn der idealistische Philosoph nicht, wird er fragen, daß wir die Luftschwingungen darstellen und sehen können, die als Reize das Gehirn treffen und dort in den Nerven gewisse Veränderung hervorbringen, die ihrerseits wieder ...

Nun, lieber Realist, warum stockst du? Wolltest du etwa fortfahren: "die Empfindungen produzieren?" Dann würde dieses dein Stocken beweisen, daß man bei dir noch nicht alle Hoffnung aufzugeben braucht, das Paradoxon des Idealismus werde noch einmal eine Wiedergeburt deines Denkens herbeiführen. Denn die Worte, die du unterdtrückt hast, würde nicht mehr der naturwissenschaftliche Realist, sondern der Materialist gesprochen haben! Und dein Stocken zeigt, daß dir das große Rätsel des Bewußtseins wenigstens zu dämmern beginnt. Und darum bist du auch vielleicht fähig, die Tragweite der Antwort zu ermessen, die deinem Einwand jede Bedeutung nimmt und dein mitleidiges Lächeln in Beschämung verwandelt. Auch dein Gehirn ebenso wie die Gehirne aller übrigen Menschen samt allen Nerven darin sind ja doch nur deine und meine Vorstellungen, sind Bewußtseinsinhalte und aus Empfindungen aufgebaut so gut wie der Tisch, vor dem ich sitze. Mögen also Tausende von Bewegungen mein Gehirn treffen: sie sind und bleiben sämtlich in alle Ewigkeit meine Vorstellungen; ebenso wie das ganze Gehirn, in dem sie Veränderungen hervorbringen, sind sie mein Produkt, meine Schöpfung, mein Bewußtseinsinhalt. Und diese meine Vorstellungen sollten, wenn ich z. B. bei einer starken Kopfwunde einen Teil meines Gehirns im Spiegel betrachten könnte, in mir erst die Empfindungen hervorbringen, auf denen sie selbst aufgebaut sind?

Das wäre dann doch vollendeter Nonsens! Vielmehr: was der naturwissenschaftliche Realismus mit seiner Wahrnehmungstheorie eigentlich bezweckt, ist nicht, Vorgänge darzustellen, die sich in unserer Erfahrungswelt abspielen, sondern Vorgänge in der transzendenten Welt der Dinge-ansich. Nicht mein Gehirn - müßte er sagen - wird von Bewegungen (Reizen) getroffen, sondern das dem Gehirn zugrunde liegende Ding-ansich. Und das Etwas, von dem die Bewegung ausgeht, sowie das Etwas, das in Schwingungen versetzt, die Bewegung vermittelt: sie sind nicht Gegenstände unserer Erfahrungswelt, sondern Dinge-ansich.

Will man in diesem Etwas Atome sehen - gut, dann bestehen die Dinge ansich eben aus Atomen. Aber wahrgenommen würden diese Atome nicht, sie wären in keiner Wirklichkeit aufzuweisen: sie wären erschlossen, als Ursachen der Erscheinungswelt. Ebenso dann auch die Atome, die dem Gehirn zugrunde liegen! Was wir als Gehirn vor uns sehen, das körperliche Organ, ist durch und durch unser Produkt, es kann auf uns nicht einwirken, kann in uns nichts erregen, so wenig wie Tisch und Stuhl vor uns. Es ist nur ein Teil, ein Objekt unseres Bewußtseins, nie und nimmer sein Schöpfer oder auch nur sein Organ. Wohl sein Werk, aber nie sein Werkzeug! Dagegen was dem Gehirn zugrunde liegt als Ding-ansich: das mag in anderer Beziehung zu meiner Bewußtseinswelt stehen. Aber wir kennen es nicht! wir können nur Rückschlüsse darauf ziehen!

Die Atomlehre des Realismus ist - zumindest bei vielen seiner Vertreter - ein solcher Rückschluß. Ein wie unglücklicher, unwahrscheinlicher, das wird sich unter d) zeigen.


c) Subjektivität unseres Bewußtseinsraums

Zunächst gilt es nachzuweisen, daß, wie der ganze Inhalt der Erfahrungswelt unsere Schöpfung ist, so auch ihre äußere Form: der Raum. Die Lokalisation der Empfindungen im Raum ist unser Werk, ist eine Wirkung unserer geistigen Organisation. Damit wird durchaus noch nicht der Frage präjudiziert [vorher geurteilt - wp], ob der Raum nicht zugleich auch etwas Objektives, den Dingen-ansich Zukommendes ist. Ich bejahe diese Frage und bin der Meinung, daß unsere räumliche Welt die Rekonstruktion einer extramentalen räumlichen Welt ist, keine völlige Neuschöpfung.

Aber zunächst ist auf jeden Fall das räumliche Anschauen eine Funktion unserer Psyche. Der transzendente Raum ist uns nicht gegeben und kann uns nie gegeben werden, wir können ihn darum auch nie mit unserem Bewußtseinsraum daraufhin vergleichen, ob beide übereinstimmen. Wir können auch nie letzteren nach ersterem formen. Gegeben sind uns allein Empfindungen, Bewußtseinszustände und -inhalte. Unsere meisten Empfindungen tragen von vornherein einen räumlichen Exponenten an sich: indem sie uns zu Bewußtsein kommen, sind sie auch schon außerhalb unserer selbst im Raum geordnet. Die Härte eines Tisches empfinde ich nicht erst in mir, sondern sogleich außerhalb von mir; der operierte Blindgeborene sieht Licht und Farben sofort außerhalb seines Auges, wenn auch noch nicht in "richtiger" Weise lokalisiert. Aus diesen Empfindungen bauen wir unsere Erfahrungswelt auf: sie ist also ganz unser Werk, unser ist auch die Art, wie wir die Empfindungen der verschiedenen Sinne miteinander verbinden und sie zu einem räumlichen Gebilde verschmelzen, das wir "Gegenstand" nennen. Bei diesem Zusammenschweißen folgen wir keinem bewußten Plan, keiner vorgefaßten Absicht, ebensowenig lassen wir uns von unserer Willkür leiten: alles geschieht gesetzmäßig, aber nach uns unbekannten Gesetzen. Die Verbindung der Empfindungen und ihre Form wird uns gerade so aufgedrängt und aufgezwungen wie die Empfindungen selbst. Wir geben uns weder das eine noch das andere: beides empfangen wir, haben wir, "finden" wir "in" uns. Im höchsten Grade tätig, sind wir doch zugleich auch empfangend. Aber die Quelle, woher uns das wird, was wir empfangen, kennen wir nicht. Der Zwang, aus dem Rohstoff der Empfindungen diesen oder jenen Gegenstand zu formen, tritt nicht von außen her an uns heran, etwa von den Gegenständen der Bewußtseinswelt - wie wäre das möglich, da sie ja erst infolge dieses Zwangs entstehen! -, er liegt vielmehr in uns, ist in und mit den Empfindungen gegeben.

Wir also sind es allein, die den Empfindungen ihre räumliche Stelle bestimmen, ohne uns dieser Tätigkeit bewußt zu sein. Und was uns dabei leitet, können nur qualitative Unterschiede der Empfindungen sein. Räumlich geordnete Empfindungen: das wäre eine contradictio in adjecto [Widerspruch insich - wp] Denn wie könnte etwas Psychisches ausgedehnt, im Raum nebeneinander sein? Räumlich geordnete Reize im Gehirn, etwa wie das Netzhautbild im Auge: das wäre zumindest vorstellbar. Aber helfen würde es nichts, denn auch mein Gehirn ist ja zunächst nur meine Vorstellung, ist ein Teil, bzw. Gegenstand meines Bewußtseinsraums, den ich geschaffen habe mit allem, was darin ist. Und wollte der Realismus für Gehirn das setzen, was er eigentlich meint: das dem Gehirn zugrunde liegende Ding-ansich: was wäre gewonnen? Sobald die Vorgänge in der als räumlich angenommenen Welt der Dinge-ansich, die mir als Empfindungen erscheinen, in meiner Bewußtseinswelt sich widerspiegeln, würden und müßten ja auf jeden Fall alle räumlichen Bestimmtheiten verschwinden, und nur qualitative Unterschiede könnten überbleiben. Also auch der Realist, der dem Raum transzendente Gültigkeit zuschreibt, muß zugeben, daß zum Aufbau unserer Bewußtseinswelt und zur Lokalisation der Empfindungen in unserem Bewußtseinsraum uns keinerlei Andeutungen räumlicher Art gegeben sein können. Die einzigen Merkmale, von denen unsere Psyche sich bei der Lokalisation, ihr selbst unbewußt, leiten läßt, müssen qualitative Unterschiede sein. Unser ganzer Bewußtseinsraum ist also unsere Schöpfung. Der Tisch vor mir gibt mir so wenig Anweisung, wie und zu welcher Gestalt ich die verschiedenen Empfindungen der Härte und Farbe miteinander zu verbinden habe, daß er vielmehr mit allen seinen Eigenschaften erst durch diese Verbindung entsteht und außerhalb meines oder eines dem meinen ähnlichen Bewußtseins überhaupt keine Existenz hat.

Die räumliche Anordnung und damit der ganze Raum, sind zunächst - ebenso wie die Empfindungen - nichts als das Symbol eines ansich seienden Unbekannten und gewisser Eigenschaften an ihm. Bei den Empfindungen gibt der naturwissenschaftliche Realismus meistens die völlige Verschiedenheit dieser Symbole von den Eigenschaften der Dinge-ansich, auf die sie hinweisen, zu. Zwischen dem Grün, das meinem Auge erscheint, und der Eigenschaft der Dinge-ansich, welche in der Sekunde die 600 Billionen "Ätherschwingungen" hervorbringt, besteht keine größere Ähnlichkeit als zwischen meinen Gedanken und den sprachlichen Lauten, durch die ich ihn bezeichne. Dasselbe könnte ansich sehr wohl auch bei der räumlichen Anordnung der Fall sein; auch hier braucht keinerlei Ähnlichkeit zu bestehen zwischen unserer Art räumlich anzuschaun und den Eigenschaften der Dinge-ansich, die wir auf diese Art symbolisch darstellen. KANT behauptet das (5). Ich kann ihm hierin, wie gesagt, nicht folgen, bin vielmehr der Ansicht, daß unser Bewußtseinsraum die Rekonstruktion eines transzendenten Raums ist, in dem sich - ganz unabhängig von unserem Bewußtsein - die Welt der Dinge-ansich befindet, die auf das mir (auch meinem Gehirn) zugrunde liegende Ding-ansich einwirkt. Das ist meine Annahme, die nie bewiesen werden kann, die für mich aber deshalb den höchsten Grad an Wahrscheinlichkeit besitzt, weil das so entstehende Weltbild mir weniger Schwierigkeiten zu bieten scheint als die andern. Jede Behauptung über die Dinge-ansich bleibt innerhalb des Gebiets bloßer Hypothesen: denn jede gründet sich auf einen Rückschluß von der Wirkung (den Empfindungen) auf ihre unbekannte Ursache. Derartiger Ursachen sind viele denkbar. FICHTEs und BERKELEYs Ansichten, die das extramentale Dasein der nicht-geistigen Natur überhaupt geleugnet haben, sind nicht streng widerlegbar.

Die transzendente Gültigkeit unserer räumlichen Anschauungsweise gebe ich also dem naturwissenschaftlichen Realismus zu. Aber umso mehr muß ich betonen, daß der Raum, der uns umgibt, in dem wir leben, sehen, fühlen, schmecken, stoßen und gestoßen werden, schieben und geschoben werden, allein unsere Schöpfung ist. Daß unsere Empfindungen qualitative Unterschiede an sich tragen, die sich auf die räumliche Anordnung der Dinge-ansich beziehen und vermöge deren es uns möglich wird, diese ansich seiende räumliche Anordnung in unserem Bewußtseinsraum zu rekonstruieren: das alles ist eine nachträgliche Hypothese, aufgestellt, um unser Weltbild zu erklären, um Ursachen für das zu denken (vielleicht auch nur "erdenken"), was uns allein direkt gegeben ist: für unsere Bewußtseinswelt. Jenen Raum der Dinge-ansich können wir so wenig jemals sehen und fühlen wie die Dinge-ansich, die in ihm sind. Jene ganze transzendente Welt ist nur eine Annahme, eine Art, wie wir gedrungen werden, uns jenes große X vorzustellen, eine Annahme, die für den Einzelnen die größte Wahrscheinlichkeit haben mag, aber schließlich - doch immer nur eine Annahme. Und nicht einmal die einzig mögliche: Andere haben andere aufgestellt. Bestenfalls also, wenn wir wirklich die Welt der Dinge-ansich meinen Erwartungen entspräche und räumlich wäre: sie könnte nie und nimmer für mich zu etwas unmittelbar Gegebenem werden.

Und welcher Art sie sein mag: meine Erfahrungswelt wird dadurch gar nicht tangiert. Nirgends ragt die eine in die andere hinein, beide sind auf ewig geschieden. Die ganze Erfahrungswelt ist nur in meinem Bewußtsein vorhanden, ist auf Empfindungen aufgebaut, besteht aus ihnen und kann mir deshalb nie Anlaß zu Empfindungen werden. Sie wird empfunden, aber erregt keine Empfindungen, so wenig die vom Künstler geschaffene Marmorgruppe diesem erst die schöpferische Idee inspirieren kann. Sie kann auch keine Einheit geben, weder sich selbst noch meinen Empfindungen. Nicht entnehme ich den Gegenständen rings um mich herum die Einheit meiner Empfindungen; sondern erst, indem ich den letzteren Einheit gebe, schaffe ich die Wahrnehmungsgegenstände. Empfindungen, Bewußtsein: das ist das primär und allein Gegebene; Reize und Dinge ansich, von denen sie ausgehen, Bewegungen in einem extramentalen Raum, in denen sie bestehen: all das ist mir nicht direkt gegeben, sondern nur als Ursache hinzugedacht.

Ein Beispiel mag das Gesagte erläutern.

Gehe ich auf eine vor mir stehende Bank zu und stoße mich an ihr: so wirkt nicht diese Bank auf mich ein, sondern zu bestimmter Zeit ist eine Tastempfindung in mir, mit der gewisse Gesichts- und Bewegungsempfindungen verbunden sind. Aufgrund dieses Rohmaterials entsteht dann der Bewußtseinszustand, dessen Inhalt die vor mir stehende Bank bildet. Sie ist also ein Produkt aus jenen Empfindungen, nicht ihre Ursache. Nachher mag geschlossen werden, daß im extramentalen Ram an derselben Stelle, an welche in meinem Bewußtseinsraum die Bank von mir gesetzt wurde, ein ihr entsprechendes Ding-ansich vorhanden war, das auf mich, als Ding-ansich, einwirkte. Es ist das möglich, ich glaube es sogar fest. Aber dieses Ding ansich und der ganze extramentale Raum ist eine Hypothese. Das für mich allein wirklich Vorhandene ist der Bewußtseinsraum, den ich gemacht habe, der nur auf der mir angeborenen Funktion räumlich anzuschauen beruth.


d) Analyse des Atombegriffs

Was sagt nun schließlich das idealistische Prinzip über die naturwissenschaftliche Atomlehre?

Eins ist sicher: wenn BÜCHNER behauptet: "Die Atome der Alten waren philosophische Kategorien oder Erfindungen, die der Neuen sind Entdeckungen der Naturforschung" - so spricht er wie der Blinde von der Farbe. Atome "entdeckt": wie stolz das klingt! Als ob man sie sehen und fühlen, mindestens aber doch Farbe, Gestalt, Gewicht, Zahl genau bestimmen könnte! Und wie weit ist man davon entfernt, gerade heutzutage; wie geneigt gerade die leitenden Geister, auch hier sich zu bescheiden, wenn sie nicht gar die Atome, diese "Entdeckung der Naturforschung", - völlig verwerfen.

Von welcher Seite man die Atome auch betrachten mag: gegeben, in irgendeiner Erfahrung vorhanden sind sie nicht. Bestenfalls - wenn sie überhaupt existieren - sind sie erschlossen.

Ihr Gebrauch kann ein doppelter sein. Entweder will man mittels ihrer nur die Vorgänge in der körperlichen Erscheinungswelt auf einfachste Weise konstruieren oder man glaubt in den Atomen die Dinge-ansich vor sich zu haben.

1. Die Atome als Hilfsbegriffe
der Mechanik

Im ersten Fall gehört zur körperlichen Erscheinungswelt natürlich auch mein ganzer Körper inklusive Sinneswerkzeuge und Gehirn, und der Atomismus hat, wenn man seine Ziele so weit wie möglich steckt, die Aufgabe, die sämtlichen Phänomene in dieser Körperwelt (inklusive die Vorgänge in meinem Gehirn) als Bewegungen von Atomen darzustellen. Alles Psychische bliebe gänzlich aus der Berechnung. Mögen zu gewissen Gehirnvorgängen psychische Begebenheiten in unveränderlicher funktioneller Abhängigkeit stehen ("Funktion" im mathematischen Sinn verstanden!): für den Atomisten wäre das Psychische nicht vorhanden. Es reichte an keiner Stelle in sein Gebiet hinüber, bloß mit Bewegungen, mit kinetischer oder potentieller Energie hätte er zu tun.

Nur in dieser Beschränkung vertreten gerade die Meister vom Fach heutzutage den Atomismus und die mechanische Weltauffassung. Ja, manche, wie z. B. HEINRICH HERTZ (Prinzipien der Mechanik, Seite 45), sind sogar geneigt, das Gebiet der Mechanik mit dem der unbelebten Natur zusammenfallen zu lassen und also der belebten Welt eine Ausnahmestellung zu geben.

Was sind denn nun für diese streng wissenschaftlichen Theorien (im Gegensatz zu der HAECKELs oder einer ähnlichen materialistischen Metaphysik!) die Atome? Entdeckungen der Neuzeit? Wahrlich nicht! Nicht einmal erschlossene Wirklichkeiten, sondern Hilfsbegriffe, Rechenpfennige, Abstraktionen, von nicht größerer Realität als der völlig luftleere Raum oder der ausdehnungslose Punkt oder die völlig elastischen bzw. unelastischen Körper, mit denen die mathematische Physik rechnet. Man will Formeln deuten, eine Theorie entwerfen können: dazu glaubt man kleinster materieller Teilchen zu bedürfen; und das ist dann der Grund, weshalb man die Atome - nicht entdeckt oder demonstrativ nachweist, sondern - sich erdenkt und die erdachten hypothetisch verwertet.

Alles Rechnen mit Atomen ist gleichsam eine Übung am Phantom. Nie wird die Wirklichkeit ganz und gar dadurch erfaßt, nie geht sie restlos in ihm auf. Gerade diejenigen Physiker, die am meisten in die Tiefe gedrungen sind und die methodologisch-erkenntnistheoretischen Probleme ihrer Wissenschaft energisch in Behandlung genommen haben, sind sich der Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit voll bewußt. Offen erkennt HERTZ in der Einleitung zu seiner Mechanik an, daß alle physikalischen Theorien stets nur Bilder der wirklichen Vorgänge sind; nicht Rekonstruktionen, sondern Zeichen oder Symbole der eigentlichen Ereignisse. Ein Philosoph, ein Erkenntnistheoretiker würde tauben Ohren gepredigt haben: auf den genialen Physiker hört man und lernt sich zu bescheiden. Zwar ist man auch heute durchaus noch nicht allgemein geneigt, sich mit KIRCHHOFF auf den rein phänomenologischen Standpunkt zu stellen und von der Mechanik nur zu verlangen, daß sie die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen in einfachster Weise vollständig beschreibt, statt auch ihre Ursachen zu ermitteln. Aber auch der Hauptvorkämpfer der "alten klassischen Theorie", LUDWIG BOLTZMANN, sieht sich gezwungen, HERTZ zuzugeben, daß auch seine Atomistik nur ein Bild ist. Wie er meint: von allen bisherigen Theorien das klarste und einfachste Bild, aber immerhin doch nur ein Bild neben möglichen anderen Bildern. Und der beste Erfolg wird nach seiner Ansicht dann erzielt werden,
    "wenn man stets alle Abbildungsmittel je nach Bedürfnis verwendet, aber nicht versäumt, die Bilder auf jedem Schritt an neuen Erfahrungen zur prüfen." (6)
Damit spricht BOLTZMANN einen Gedanken aus, für dessen Richtigkeit die ganze bisherige Entwicklung der Atomistik Zeugnis ablegt: die Auffassung vom Wesen der Atome ist in fortwährender Wandlung begriffen, und es ist sicher, daß nie ein endgültiger Abschluß erreicht werden kann.

Nie! Denn was ist die Grundlage der Atomistik? Hauptsächlich doch wohl unser Bedürfnis, das im Wechsel Beharrende zu erfassen, oder, wenn es mit dem Erfassen nichts ist, zumindest zu denken, zu erdichten. Daraus folgt aber unmittelbar, daß die Atome nur Grenzbegriffe sind, deren Wesen sich mit den Grenzen ändert. Die letzteren immer weiter hinauszuschieben, ist Aufgabe und Ziel der Wissenschaft. Wo diese für den Augenblick mit der Zersetzung und Auflösung nicht weiter kommen kann, wo sie also ein für sie nicht mehr Zerlegbares konstatieren muß: da tritt - nicht etwa das Atom, sondern - der Atombegriff ein. Denn das Atom in diesem Sinn hat eben keine Realität, es ist nur ein Hilfsbegriff. Und was jetzt für die Wissenschaft unzerlegbar ist, kann ihr binnen kurzem als ein tausendfache zusammengesetzter Körper erscheinen. Das Atom ist also auch ein ganz relativer Begriff.

Daraus wird erklärbar, warum man heutzutage schon Atome zweiter und dritter Ordnung unterscheiden muß, und in 100 Jahren vielleicht Atome zehnter und zwanzigster Ordnung. Und theoretisch kann das in alle Ewigkeit so weiter gehen, denn es gibt unendlich viele verschiedene Unendlich-Kleinste. Augenblicklich gerade haben die Kathoden-, Röntgen-, Becquerel- und die anderen neu entdeckten Strahlen, für die man noch passende "Bilder" sucht, Ausblicke eröffnet und Veränderungen des Atombegriffs nahe gelegt, von denen der Atomistiker sich noch vor kurzem als von bloßen Phantastereien mit verächtlichem Achselzucken abgewandt hätte. Jene neuesten Wunder der Naturwissenschaft sucht man durch die Elektronentheorie zu erklären, und bei deren Ausgestaltung sieht man sich zu ganz neuen Ansichten über die Konstitution der Materie hingedrängt. Unter einem Elektron wird die kleinste vorkommende Menge Elektrizität verstanden; an Masse ist es mehr als tausendmal kleiner als das kleinste der bisherigen Atome: das Wasserstoffatom. Was aber das Seltsamste ist: diese seine Masse ist - nach einer verbreiteten Hypothese - nicht eine wirkliche Masse, wie wir sie an der ponderablen [wägbaren - wp] Materie zu denken gewohnt sind, sondern nur eine scheinbare und "elektromagnetischen Ursprungs"; die Elektronen besitzen "keine Masse außer derjenigen, welche ihnen infolge ihrer Bewegung und ihrer elektrischen Ladung scheinbar anhaftet", sie sind "lediglich ein lokalisierter besonderer Zustand des universellen Äthers". Und daran schließt sich dann die Annahme, daß die ponderable Materie: die bisherigen Atome und mit ihnen "die Gesamtheit der bekannten Körper, aus Aggregaten oder Systemen von Elektronen aufgebaut ist", daß die chemischen Atome veränderbar und Umwandlungen einer chemischen Substanz in eine andere (wie ja auch die Transformation des Radiums in Helium zu erweisen scheint) unter Umständen möglich sind (7).

Aus dem Gesagten erklärt sich noch ein Weiteres. Nicht nur die Grenze wird fortwährend hinausgeschoben, wo die Zerlegbarkeit endet und das atomon beginnt; den Atomen werden auch von verschiedenen Forschern ganz verschiedene, zum Teil entgegengesetzte Eigenschaften beigelegt. Kein Wunder! Es sind ja keine Wirklichkeiten - die Wirklichkeit ist nur eine - es sind ja, wie HERTZ sagt, nur Bilder. Bilder der Wirklichkeit aber kann es mehrere, kann es viele geben, das eine besser, das andere schlechter, manche aber auch gleich gut. Welche Eigenschaften ein gutes Bild haben muß, setzt HERTZ mit mustergültiger Klarheit auseinander: es muß zulässig, richtig und zweckmäßig (deutlich und einfach) sein. Oft genügt ein Bild diesen Anforderungen, wenn es auf eine bestimmte Gruppe von Erscheinungen angewandt wird; außerhalb dieses Gebietes ist es wenig oder gar nicht zu gebrauchen. Aber der Physiker, der sich gerade mit jenen Erscheinungen beschäftigt, schneidet ihnen zuliebe seine ganze Theorie so oder so zu, wie etwa ein Dramatiker sich am Charakter seiner Heldin versündigt, um einer bestimmten Tragödin die Rolle auf den Leib schreiben zu können.

So kommt es, daß die Lehre von den Atomen bei den verschiedenen Forschern oft ein ganz verschiedenes Aussehen zeigt. Der eine glaubt an Atome und leeren Raum, der andere läßt trotz der Atome den Raum kontinuierlich erfüllt sein. Diese halten die Atome für Körper von einer gewissen, wenn auch unendlich kleinen, immerhin meßbaren Größe, jene (AMPÉRE, FECHNER etc.) leugnen jede Ausdehnung: für sie sind die Atome nur unteilbare Punkte. Woran sich FARADAYs Ansicht einreihen ließe, nach der die Atome einfache Kraftzentren sind. Und damit wären wir mitten in der dynamischen Naturauffassung, wie KANT und andere sie vertreten haben: keine letzten diskreten Massenteilchen, sondern kontinuierliche Raumerfüllung. In gewisser Weise wieder auferstanden ist der Dynamismus (wenn er überhaupt jemals gestorben war) in der heutigen energetischen Anschauungsweise, die von den vier alten Grundvorstellungen der Mechanik: Raum, Zeit, Masse, Kraft die beiden letzten beseitigt, um an ihre Stelle die Energie zu setzen, wie andererseits HERTZ die Vierzahl auf eine Dreizahl reduziert, indem er die Kraft völlig zu eliminieren und durch verborgene Massen und Bewegungen zu ersetzen sucht.

Ein wunderbares Bild bietet sich uns also. Was die Materie, das schöpferische Prinzip des Materialismus, ist? kein Mensch weiß es. Die Popularisierer des Materialismus freilich behaupten es zu wissen, sie tun, als wäre ihnen nichts bekannter als der Stoff. Aber die Wissenschaft, von der allein man genaue, vorurteilsfreie Auskunft erwarten darf, weist nur ein großes leeres weißes Blatt auf. So trifft dann auch für unsere Tage noch VOLTAIREs Wort zu, das die Materie als ein être presque inconnu [nahezu unbekannt - wp] bezeichnet.

Und "dieses beinahe unbekannte Etwas" (8) sollten wir als Schöpfer des uns Bekanntesten und Nächstliegenden verehren: unseres Bewußtseins und seiner Zustände? Dieses Etwas, das, wenn wir es atomistisch denken, eigentlich überhaupt keine Realität besitzt? Da ja die Atome, aus denen die Materie bestünde, mit deren Gesamtheit sie identisch wäre, nur Rechenpfennige sind.

Man kann sich freilich leicht vornehmen, alle faktische Zusammensetzung aufgehoben zu denken, und das Nachbleibende, für sich Seiende Atome nennen. Ganz im Allgemeinen ist das gewiß leicht ausgeführt. Aber wenn man an die Veranschaulichung im Einzelnen geht: dann wird, wie die verschiedenen wissenschaftlichen Theorien zeigen, alles zweifelhaft und unklar, - und zwar bis zu einem solchen Grad, daß man sich gezwungen sieht, im Atombegriff alle Beziehung auf die konkrete Wirklichkeit aufzugeben und ihn nur als Hilfsbegriff für die Deutung von Formeln zu verwerten.

Wären die Atome etwas Wirkliches in der Erscheinungswelt: so wären sie unsere Schöpfungen, von uns im Raum lokalisiert. Aber nicht einmal als das darf man sie betrachten, so wenig wie die Materie, die aus ihnen besteht. Unsere Schöpfungen bleiben sie zwar auch so: aber nicht Dinge darf man sie nennen, sondern nur Abstraktionen, nicht reale Körper, sondern hypothetisch gedachte Massenteilchen, nicht Anschauungen der Sinne, sondern Lückenbüßer des Verstandes. Und diese entia rationis [Verstandesdingen - wp] sollte unsere ratio entstammen? dem Abbild des Werkes (nicht einmal dem Werk selbst?) der Werkmeister? Und das soll eine "vernunftgemäße" Weltanschauung sein, und nicht vielmehr höchste Unvernunft? (9)

Doch vielleicht wenden die Materialisten ein: Das ist ja gar nicht unsere Meinung; wenn wir von Materie und Atomen sprechen, so meinen wir nicht etwas in der Erscheinungswelt Gegebenes, sondern die Dinge-ansich. Damit komme ich zu dem zweiten der beiden oben genannten Fälle.


2. Die Atome als angebliche Dinge-ansich

Betrachtet der Materialist seine Materie als Ding-ansich, so bleibt ihm, wie mir scheint, nur eins übrig: er muß behaupten, daß den Dingen ansich auch das zukommt, was wir sekundäre Eigenschaften nennen; sie müßten ansich blau oder grün sein, hart oder weich, tönend und duftend, salzig oder bitter. Unsere sämtlichen Empfindungen dürften nicht nur unsere Art sein, das unbekannte X anzuschauen, nicht nur Symbole für etwas ansich ganz Unbestimmtes: sie müßten vielmehr ebenso viel Eigenschaften der Dinge-ansich darstellen. So etwas Ähnliches sah CZOLBE sich gezwungen anzunehmen: Licht- und Schallwellen leuchten und tönen schon ansich.

Aber zu welch seltsamen Konsequenzen würde das führen! Es müßte danach das Ding-ansich wirklich grün sein, seine Grünheit würde dann wieder die Ursache für die Entwicklung gewisser Ätherschwingungen sein, die unser Auge treffen und in unseren Nerven gewisse Veränderungen hervorrufen, und diese Veränderungen müßten schließlich von uns wieder als ein grüner Gegenstand empfunden werden, der sich an derselben Stelle des Raums befindet wie das grüne Ding ansich.

Entschieden ein sonderbarer, wenig wahrscheinlicher Vorgang! Eine prästabilierte Harmonie noch wundersamer als die von LEIBNIZ! Man könnte versuchen, sie mit Ideen von DARWIN zu stützen: solche Harmonie sei zweckmäßig, und im Kampf ums Dasein hätten diejenigen Wesen den Sieg davongetragen, die ihrer teilhaftig waren. Sehr schön! Aber das Unbegreifliche ist ja gerade das erste Entstehen einer solchen Harmonie mit all den ihr anhaftenden Wunderlichkeiten, nicht ihr Fortbestehen. Und dann! Warum sollte sie zweckmäßiger sein als eine nur symbolische Erkenntnis? Worauf es ankommt, ist doch nur, daß unser Empfindungsleben sich gesetzmäßig abspielt, wodurch uns die Möglichkeit gegeben wird, aus der Vergangenheit Schlüsse auf die Zukunft zu ziehen, sie vorherzusehen und die "Natur" zu beherrschen. Das ist jedoch ebenso gut möglich, wenn unsere Sinnesqualitäten nur eine symbolische Bedeutung haben und Zeichen (aber in gesetzmäßigem Zusammenhang stehende!) für etwas Unbekanntes sind.

Den Ausschlag gibt eine ganze Reihe von Tatsachen aus dem Gebiet der Sinnesphysiologie: sie nötigen einem in unwiderstehlicher Weise das Zugeständnis ab, daß unsere Sinnesempfindungen nicht auch zugleich Eigenschaften der Dinge ansich sein können. Ich erinnere an Kontrastwirkungen, perspektivische Verschiebungen, Sinnes- und optisch-geometrische Täuschungen, Halluzinationen und die Erscheinungen bei hypnotischen Zuständen, an Reiz- und Unterschiedsschwellen, an die spezifische Energie der Sinnesorgane, an die künstlichen Veränderungen unserer Eindrücke durch Mikroskop, Fernrohr und andere Instrumente. Mit vollster Bestimmtheit kann behauptet werden, daß die einzelne Empfindung vom gesamten Empfindungs- und Bewußtseinszustand abhängt, in den sie als Teil eingeht. Nicht nur äußerer "Reiz" und Sinnesorgan sind von Einfluß: die momentane Beschaffenheit unseres ganzen psycho-physischen Wesens macht sich geltend. Ein und dieselbe äußere Veränderung kann zu verschiedenen Zeiten in ganz verschiedener Weise empfunden werden und zu Bewußtsein kommen.

Der Materialist denkt sich seine Welt durchzogen von allen möglichen Bewegungen. Aus ihnen sondern unsere Sinne einige in gewissen Zahlenverhältnissen stehende aus und wandeln sie um. Mit Recht sagt F. A. LANGE: unsere Sinne sind Abstraktionsapparate. Man denke sich ein Wesen mit eigenen Sinnesorganen für Magnetismus, Elektrizität, Gravitation, für Röntgen-, Kathoden- und Becquerelstrahlen: wie ganz anders wäre dessen Weltbild!

Nimmt man all das zusammen, so wird man zugeben müssen: die Zeiten des extremen Realismus sind entschwunden und kehren nicht wieder. Ein wissenschaftlich denkender Mensch wird heute nicht mehr die Behauptung wagen, die Welt ums uns herum, gerade so wie wir sie sehen, hören, schmecken, riehchen und tasten, sei die Welt der Dinge ansich.

Und auch der Materialist von heute wird für die Materie, sein Ding-ansich, wohl nur die sogenannten primären Eigenschaften reklamieren wollen. Daß Undurchdringlichkeit, Räumlichkeit, Bewegung den Dingen-ansich zukommen, ist auch mir wahrscheinlich. Die Körperlichkeit aber, die materielle Raumerfüllung ist meiner Ansicht nach rein phänomenal. Sie beruth ganz und gar auf Empfindungen, alles Körperliche ist Bewußtseinsinhalt, ist von den sekundären Eigenschaften gar nicht zu trennen. Wie könnte man sich ein materielles Atom ohne Härte oder Weiche, wie könnte ein Sehender es sich ohne Farbe anschaulich vorstellen?! Nehmt der Materie die Sichtbarkeit, Hörbarkeit, Fühlbarkeit: und ihr nehmt ihr alles. Nur von den Sinnenqualitäten bekommt sie ihre Besonderheit, ihre sämtlichen Eigenschaften sind Empfindungsinhalte. Mit den letzteren steht und fällt sie. Eine Welt ohne unsere Sinnesqualitäten hat auch keinen Raum für die Materie.

Will man sich also über die Dinge-ansich Vorstellungen machen, so muß man annehmen, daß sie den Raum ausfüllen nicht durch Körperlichkeit, nicht dadurch, daß sie in jedem Raumteil ihrer Sphäre materiell da sind, sondern dadurch, daß sie in jedem Raumteil wirken. Ihre Ausgedehntheit würde nur ein anderer Ausdruck für die von ihnen ausgehenden Kraftwirkungen sein: sie wären als Kraftzentren zu denken, und das Wesentliche an ihnen wäre nicht, wie beim Materialismus, Raumerfüllung und Bewegung, sondern das unbekannte Innere.


Ich fasse die Resultate dieses Kapitels kurz zusammen. Der Materialismus ist aus der Reihe möglicher Weltanschauungen, die weder streng zu beweisen noch strikt zu widerlegen sind, auszuscheiden. Leute ohne kritische Selbstbesinnung mögen sich zu ihm bekennen. Und da es nie an ihnen fehlen wird, wird auch der Materialismus nicht aussterben. Aber für den "Wissenden", d. h. den in erkenntnistheoretischen Überlegungen Geschulten ist er nicht nur höchst unwahrscheinlich, sondern direkt unsinnig, aller gesunden Vernunft Hohn sprechend. Was die Herren Materialisten in Aussicht stellen, erfüllen sie nicht: eine Theorie des Psychischen mögen sie nicht zu geben. Vielmehr: wo sie erklären sollten, behaupten sie nur, oder wird ihnen gar das Bewußtsein zu einem bloß subjektiven Schein. Die Existenz des Psychischen ist die gefährliche Klippe, an der jeder Materialist scheitert, mag er sein Schifflein wenden und drehn, wie er will. Nichts hilft über die Tatsache hinweg, daß unsere Empfindungen und Bewußtseinszustände das uns Nächstliegende und Bestbekannte, das allein direkt Gegebene sind. Der Götze des Materialisten ist ein echter Fetisch, den er selbst gemacht hat: die Materie, der das Bewußtsein entstammen soll, existiert allein innerhalb des Bewußtseins. Ein Ding-ansich kann sie nicht sein; denn alle ihre Eigenschaften bestehen aus Empfindungsinhalten und deren Kombinationen. Nicht unser Geist ist von ihr: sie ist von unserem Geist abhängig; er schafft sie, nicht sie ihn.

Wer das einsieht, der kann nicht anders, als in der materialistischen Theorie einen der Höhepunkte der Absurdität zu erblicken. Bewußtsein aus der Materie ableiten wollen, das ist ein ähnliches Kunststück, wie wenn der Freiherr von Münchhausen sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zieht.
LITERATUR - Erich Adickes, Kant contra Haeckel, Berlin 1906
    Anmerkungen
    5) Haeckel läßt Kant lehren, daß unsere ganze durch die Sinne erworbene Kenntnis nur trügerischer Schein ist, daß die Außenwelt nur in unseren Vorstellungen existiert, und wendet dann gegen ihn ein: "Wenn alle gesunden Menschen durch ihren Tast- und Raumsinn sich überzeugen, daß der von ihnen berührte Stein einen Teil des Raums erfüllt, so existiert auch dieser Raum ("Lebenswunder", Seite 77). Der gute Haeckel! Es ist, als wenn Kinder mit Pfeil und Bogen einen modernen Panzerturm zusammenschießen wollten. Um einen Kant zu vernichten, bedarf es dann doch anderer Geschosse. Er würde Haeckel auf seine Lehre von der "empirischen Realität" verweisen, in der er ja gerade das behauptet, was Haeckel gegen ihn geltend macht, nämlich "die Realität (d. h. die objektive Gültigkeit) des Raums in Anbetracht all dessen, was uns äußerlich als Gegenstand vorkommen kann." Solange Haeckel den Sinn dieser empirischen Realität in ihrem Unterschied von und ihrem Zusammenhang mit der transzendentalen Idealität nicht verstanden und auch nicht begriffen hat, daß Schein und Erscheinung für Kant zwei ganz verschiedene Dinge sind, sollte er es in seinem eigenen Interesse lieber unterlassen, gegen Kant in die Arena zu treten.
    6) Ludwig Boltzmann, Über die Entwicklung der Methoden der theoretischen Physik in neuerer Zeit (Vortrag gehalten auf der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in München, 1899). Abgedruckt in: Naturwissenschaftliche Rundschau, 1899, Nr. 39-41.
    7) Die letzten Bemerkungen im Anschluß an Augusto Righi: Die moderne Theorie der physikalischen Erscheinungen (Radioaktivität, Ionen, Elektronen). Aus dem Italienischen übersetzt von Bernardo Dessau, Leipzig 1905; vgl. besonders Seite 8, 96f, 134f.
    8) Die Voltaire-Stelle ist angeführt und übersetzt von Otto Liebmann, "Gedanken und Tatsachen" (2. Heft 1899, Seite 208/209). Auf dieses Buch sowie auf ein anderes Werk desselben Verfassers: "Zur Analysis der Wirklichkeit" (dritte Auflage 1900) sei der Leser auf das Nachdrücklichste hingewiesen. Liebmann behandelt teilweise dieselben Probleme wie Haeckel. Aber was für ein Unterscheid! Bei Haeckel krassester Dogmatismus, blindes Drauflosstürmen, bei Liebmann kritische Besonnenheit, allseitiges Erwägen, Tiefe gepaart mit großer Klarheit.
    9) Die obigen Ausführungen richten sich natürlich durchaus nicht gegen die praktische Brauchbarkeit der Atomtheorie als eines leitenden Forschungsprinzips. Diese bestreiten zu wollen, wäre töricht angesichts der gewaltigen Erfolge, welche - um nur eins zu nennen - die heutige Chemie in der Analyse verwickelter Verbindungen und in der Synthese neuer Körper gerade mittels der atomistischen Anschauungsweise erzielt hat. Was die letztere so besonders geeignet macht, bei derartigen Arbeiten als Grundlage zu dienen, ist ihre Anschaulichkeit, die es dem Forscher ermöglicht, sich von den betreffenden Verhältnissen und Vorgängen ein klares plastisches Bild zu machen, dieses Bild seinen Berechnungen zugrunde zu legen und es auch heuristisch zu verwerten, indem er es umgestaltet und die "Richtigkeit" auch des veränderten Bildes durch Experimente erweist. Aber eben nur um Bilder handelt es sich, nicht um Wirklichkeiten; die Vorgänge und Verhältnisse selbst, deren Gesetzmäßigkeiten man mit Hilfe solcher Bilder oder Symbole auf die Spur zu kommen sucht, bleiben ihrem Wesen nach unbekannt trotz aller atomistischen Konstruktionen und schematischen Zeichnungen.