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Kant contra Haeckel [1/2]
Einleitung Den "Welträtseln" folgten 1904 die "Lebenswunder", "gemeinverständliche Studien über biologische Philosophie", auch sie sind jetzt schon in 10.000 Exemplaren verbreitet. Ein Jahr später hielt HAECKEL drei Vorträge (1) in der Berliner Sing-Akademie, die großen Staub aufwirbelten, obwohl sie keinen einzigen Gedanken bringen, der nicht schon aus seinen früheren Schriften bekannt gewesen wäre. des Rückschritts Ohne Zweifel, HAECKEL ist eine geistige Macht heutzutage. Aber nicht, wie er sich rühmt, Lichtbringer und Kulturträger, sondern eine Macht der Finsternis und des Rückschritts. In Weltanschauungsfragen steht er auf einem Standpunkt, den das moderne Denken längst überwunden hat. Und es genügt ihm nicht, seine Gedankentorheiten und Unklarheiten unter eigener Firma auf den Markt zu bringen - dann würden sie kaum wirken -: er verkündet sie als die notwendigen Konsequenzen der Naturwissenschaft und im Besonderen der Entwicklungslehre; dadurch diskreditiert er beide und erschwert es ihnen, auch bei den Anhängern des Alten den Grad von Bedeutung und Einfluß zu gewinnen, auf den sie mit Recht Anspruch erheben können. Wenn die Orthodoxie noch immer gegen die Entwicklungslehre eifert, so ist in erster Linie der Radikalismus HAECKELs und seiner Gefolgschaft daran schuld. Und schließlich auch der Naturforschung selbst kann sein seichtes Philosophieren nur zum Schaden gereichen. Auf dem Weg der Naturphilosophie á la SCHELLING hätte sie nie ihre großen Erfolge errungen; metaphysische Hypothesen und Träume in streng wissenschaftliche Untersuchungen einmengen taugt nun einmal nicht. Und gerade darin ist HAECKEL groß. Er hat sich immer wieder von Neuem als völlig unfähig erwiesen, Tatsachen und Theorien, Gegebenes und dessen Deutung scharf und gewissenhaft voneinander zu sondern (und doch beruth darauf das Heil der Wissenschaft!). Hypothese werden ihm zu Dogmen, die Grenzen zwischen Möglichem und Unmöglichem verwischen sich, und selbst das Unmögliche erscheint ihm als notwendig, wenn es in den Zusammenhang seines Denkens paßt. HAECKEL ist eben durch und durch Dogmatiker, darin steht er mit BÜCHNER auf einer Stufe. Aber als Naturforscher überragt er ihn weit: in seiner früheren besseren Zeit hat neue Wege eingeschlagen, reiche Anregungen sind von ihm ausgegangen, wichtige Resultate verdankt man seiner Arbeit. Beide Männer drängte es zu Synthesen, der intellektuelle Einheitstrieb war stark in ihnen entwickelt, mit einem Prinzip suchten sie die ganze Welt zu umfassen. Und trotzdem: als Philosophen sind beide vollständige Nullen! Wie kommt das? Sie sind ganz und gar von dem einen Trieb erfüllt. Über dem Bedürfnis nach Einheit vergessen sie die in der Welt faktisch herrschende Vielheit und übersehen die Schwierigkeiten, welche sich ihrer Weltformel eben wegen deren Einfachheit entgegenstellen. In die einmal gefaßte Meinung sind sie völlig verrannt. Mögen die Gegeninstanzen noch so zahlreich sein, mögen sie sich in der nächstliegenden Erfahrung noch so stark aufdrängen: sie werden nicht beachtet, die Augen beider Forscher sind wie geschlossen für alles, was mit ihren Theorien nicht in Übereinstimmung steht. Und vor allem, es fehlt ihnen das, was zwar nicht genügt, einen zum Philosophen zu machen (dazu gehören noch manche andere Dinge!), was aber, zumindest heutzutage, die ganz unentbehrliche Vorbedingung für jedes Philosophie ist: die erkenntnistheoretische Durchbildung. Daß es Grenzen für das menschliche Erkennen gibt, und zwar sehr enggesteckte, unüberschreitbare, wissen sie wohl vom Hörensagen, aber ihr Denken hat dieses Wissen nicht in sich aufgenommen, seine Siegesgewißheit ist dadurch nicht herabgestimmt. Und wenn HAECKEL sich auch dann und wann etwas reservierter ausdrückt, so sind das doch nur flüchtige Anwandlungen von edler Bescheidenheit oder - greisenhafter Schwäche, die auf jeden Fall das Ganze seiner Denkungsweise durchaus nicht zu modifizieren vermögen und sofort verschwinden, wenn es bei den Einzelfragen zur Entscheidung kommt. Dann ist des Rätsels Lösung doch stets entweder schon in HAECKELs Hand oder steht wenigstens in naher Aussicht; die naturwissenschaftliche Forschung ist durch keine Schranken eingeengt, es gibt für sie kein undurchdringliches Dunkel. Auch nur ein "Ignoramus" [Wir wissen es nicht. - wp] zu sprechen, fällt HAECKEL schwer: ein "Ignorabimus" [Wir werden es niemals wissen. - wp] würde ihm nicht weiser Selbstprüfung, sondern feigem Mißtrauen in die eigene Kraft oder träger Zufriedenheit mit halb Erreichtem zu entstammen scheinen. Für so manches, was ein jeder, der im philosophischen Denken auch nur einigermaßen geschult ist, als Binsenwahrheit betrachtet, geht HAECKEL (ebenso wie BÜCHNER) jedes Verständnis ab. Vor allem für die Fundamentalerkenntnis, daß die uns nächstliegende Erfahrung die geistige ist, daß nicht materielles, sondern psychisches Geschehen das uns Bestbekannte und primär Gegebene ist. So kommt es dann, daß ihre Weltanschauungen nicht, wie andere Weltanschauungen, Aufrisse sind, denen ansich ein wirkliches Gebäude entsprechen könnte, daß sie vielmehr Pläne darstellen, aufgrund deren nirgends, nicht einmal in einem Wolkenkuckucksheim, einen Bau auszuführen möglich wäre, Pläne, bei denen das Dach in der Erde ruht, während die Grundmauern hoch oben in den Lüften schweben. Das ist der Grund, weshalb man die Unhaltbarkeit ihrer System erweisen kann: sie zählen nicht unter die zwar nicht demonstrierbaren, eben darum aber auch nicht widerlegbaren Weltanschauungen. Sie können, wie ich zeigen werde, ad absurdum geführt werden aufgrund erkenntnistheoretischer und methodologischer Erwägungen. HAECKEL hat dieser Schrift die Ehre erwiesen, sich mit ihr zu beschäftigen, sowohl in den "Lebenswundern" (Seite 505f), wie auch in seinem Glaubensbekenntnis der reinen Vernunft", das er der Volksausgabe der "Welträtsel" als Nachwort mit auf den Weg gegeben hat (Seite 164f). Daß es zu keiner sachlichen Polemik gekommen ist, war vorauszusehen. Er hat es verlernt zu hören, fremde Ansichten unentstellt in sich aufzunehmen, Gründe und Gegengründe objektiv und unparteiisch gegeneinander abzuwägen. Wer nicht für ihn ist, wird zum Dualisten gemacht. Dieses Verdammungsurteil trifft auch mich, obwohl die Tendenz meines Denkens, wie ich stark betont hatte, eine durchaus monistische ist. Er operiert gegen mich mit der Unterscheidung zwischen KANT I, dem Physiker, Monisten, Atheisten mit reiner Vernunft, und KANT II, dem Anti-Physiker, Dualisten und Theisten mit reiner Unvernunft. Diese Gegenüberstellung spukte schon in den "Welträtseln" (Seite 107/108, 401f, 453f), jetzt ist eine geschlossene Theorie daraus geworden: in den "Lebenswundern" (Seite 528) formuliert eine Tabelle in acht Punkten die einander entgegengesetzten Ansichten der beiden KANT, die als zeitlich aufeinander folgend gedacht werden (denn "im Verlauf einer dualistischen und dogmatischen Metamorphose" ist nach den Berliner Vorträgen (Seite 86) KANT I zu KANT II geworden; jener ist den "Welträtseln" (107/108) zufolge der jugendliche, wirklich kritische KANT, dieser der gealterte, dogmatische, wonach dann freilich seine Jugend etwas lange, bis ins 57. Jahr, gedauert haben müßte!). KANT I soll das Ding-ansich zu einer bloßen Grille erklärt haben, eine immaterielle Geisterwelt für ein Luftgebilde der Phantasie, den Gottesglauben für bloße Dichtung; er ist der Begründer der monistischen Kosmogonie, der kritische Ergründer der reinen Vernunft, KANT II dagegen der Verfasser der dualistischen Kritik der Urteilskraft, der dogmatische Erfinder der praktischen Vernunft mit ihren "drei mystischen Phantasie-Gebilden" (Gott, Freiheit, Unsterblichkeit). Nun bin ich gewiß der letzte, der versucht wäre, die zahlreichen Widersprüche und Inkonzinnitäten [Unregelmäßigkeiten - wp] in KANTs Philosophie zu leugnen oder zu verschleiern. Aber die Gegensätze, die HAECKEL hier konstruiert, bestehen nur in seiner Phantasie, und beweisen lediglich das Eine zur Evidenz, daß KANTs Persönlichkeit wie KANTs Lehre ihm gleichermaßen böhmische Dörfer sind. Er hat keine Ahnung davon, daß die Postulate der praktischen Vernunft schon 1781 in der "Kritik der reinen Vernunft" auftreten (ja! dem Grundgedanken nach sogar schon 1766 in den "Träumen eines Geistersehers"), daß KANT sein Leben lang Theist und überzeugter Anhänger des Unsterblichkeitsglaubens war, daß er gerade in seiner früheren (nach HAECKEL: monistischen) Zeit einen neuen Beweis für das Dasein Gottes aufgestellt, daß er andererseits an der "monistischen Kosmogonie" bis zuletzt festgehalten hat. H. E. ZIEGLER in Jena meint (2) die "offiziellen Philosophen" hätten, wie aus ihren Entgegnungen ersichtlich ist, HAECKEL seine abfällige Kritik KANTs sehr übel genommen. Was mich betrifft, so bekenne ich gern, daß HAECKELs Weisheitssprüche über KANT stets nur erheiternd auf mich gewirkt haben. Um sie übel zu nehmen, müßte man sie vor allem erst einmal ernst nehmen. Das ist aber wirklich zuviel verlangt bei derart apriorischen Konstruktionen, die mit den Tatsachen auch nicht mehr die entfernteste Ähnlichkeit haben. Der Himmel mag wissen, aufgrund welch seltsamer Nachrichten dieses noch seltsamere Bild von KANTs Philosophie in HAECKELs grauer Hirnsubstanz - denn die besorgt ja bei ihm ganz allein das Denken! - entstanden ist. KANT selbst gelesen hat er sicher nicht; wäre es der Fall, so könnte selbst ein HAECKEL nicht so unklar und verworren reden. Vielleicht taucht hier mit der Zeit noch ein SALADIN II als Quelle auf: ein Gegenstück zu dem obskuren Gewährsmann, dem HAECKEL seine Kenntnisse über Bibel und Christentum verdankt. Von ihm mag er auch zu der kostbaren Anmerkung auf Seite 453-455 der "Welträtsel" angeregt sein, wo KANT das Zeugnis ausgestellt wird, daß er es eventuell zu einer ganz anständigen Philosophie hätte bringen können, wenn er nur fleißig organische Naturwissenschaften studiert, im 3. Jahrzehnt seines Lebens (seiner Hauslehrerzeit) weite Reisen gemacht und - eine Frau genommen hätte. In den "Lebenswundern" (Seite 367) werden die wohltätigen Einflüsse des Ehestandes weiter entwickelt: hätte KANT Kinder gehabt und ihre geistige Entwicklung schrittweise verfolgt, so hätte er seinen Apriorismus aufgegeben und wäre konsequenter Monist geworden. Ein Jammer, daß KANT nicht 100 Jahre später gelebt hat und in HAECKELs Nähe. HAECKEL als Heiratsstifter, um den Gefährdeten zu Beginn der drohenden dualistischen Metamorphose durch zarte Bande auf dem rechten Weg zu erhalten: es wäre ein rührendes, erhebendes Bild gewesen! Auch H. E. ZIEGLER (a. a. O., Seite 24) ist der Ansicht, daß KANT seinem Apriorismus hätte entsagen müssen, sobald er sich zur Entwicklungslehre und genetischen Psychologie bekennt.
Ich für meine Person habe es noch bequemer: jene Angriffe treffen mich gar nicht, da ich KANTs Apriorismus und Rationalismus in dem Sinne, in welchem HAECKEL und ZIEGLER davon sprechen, nicht teile. Ich bin Empirist und erkläre Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit der Mathematik wie der Naturwissenschaft vom Standpunkt der Erfahrung aus. Auch bin ich überzeugt, daß die Dinge-ansich in räumlich-zeitlichen Ordnungen stehen, die denen der Erscheinungswelt entsprechen. KANTs Versuch, in seinem Postulaten der praktischen Vernunft etwas einem Beweis auch nur von fern Ähnliches zu liefern, halte ich für ganz verfehlt. Im Gegensatz zu ihm bin ich Pantheist und strenger Determinist, glaube also nicht an einen außerweltlichen Gott, nicht an eine Schöpfung der Welt durch ihn, auch nicht an ein vom Körper getrenntes immaterielles Seelenwesen. Ich stehe ganz auf dem Boden einer genetischen Auffassung, nehme einen lückenlosen allumfassenden Kausalzusammenhang an und eine "natürliche" Entwicklung von der anorganischen Welt zur organischen und in dieser hinauf bis zum Menschen (diesen eingerechnet!). Dieses mein monistisches Glaubensbekenntnis hat ich schon in der 1. Auflage dieser Schrift im Vorwort ausgesprochen. HAECKEL sollte es also kennen. Trotzdem rechnet er mich - in direktem Widerspruch mit den Tatsachen - zu den "eifrigen dualistischen Gegners der Welträtsel" und behauptet, ich stütze mich ganz und gar auf die von KANT II mit Hilfe der praktischen Vernunft entworfenen dualistischen Prinzipien der intelligiblen Welt (Nachwort der Volksausgabe der "Welträtsel", Seite 165/166). Absicht der Schrift. Wenn ich trotz des Gegensatzes, in dem ich in sehr vielen Punkten zu KANT stehe, den Titel "Kant contra Haeckel" gewählt habe, so geschah es, weil KANT die beiden gegen HAECKEL vorzubringenden Hauptargumente zwar nicht als erster in die philosophische Betrachtung eingeführt hat, wohl aber sie besonders eindringlich geltend machte und so nicht wenig dazu beitrug, daß aus ihnen "ewige Wahrheiten" wurden, die heutzutage unter allen Wissenden als etwas durchaus Selbstverständliches gelten. Der Titel soll also darauf hinweisen, daß meine wichtigsten Einwände nicht auf mich als Einzelpersönlichkeit zurückgehen, daß sie vielmehr (zum allermindesten der erste von ihnen) durch KANT zum Gemeingut der ganzen modernen wissenschaftlichen Philosophie geworden sind, als deren Sprecher ich nur auftrete. Die beiden Hauptargumente lauten folgendermaßen:
2) Außerhalb der Erscheinungswelt ist für die Naturwissenschaft und für die Wissenschaft überhaupt leerer Raum; vom Transzendenten gibt es kein Wissen, nur Glauben. KANT bedeutet also das erkenntnistheoretische Panier, um das alle Gegner HAECKELs sich scharen können. Das sollte der Nebentitel der ersten Auflage zum Ausdruck bringen: "Erkenntnistheorie gegen naturwissenschaftlichen Dogmatismus", aus erkenntnistheoretischen Erwägungen ergab sich als sicheres Resultat, daß HAECKEL ein Dogmatiker vom reinsten Wasser, einer Erzgläubiger ist, daß er Metaphysik, und zwar schlechteste Metaphysik, treibt, wo er behauptet streng naturwissenschaftlich vorzugehen. Wenn der Nebentitel in dieser zweiten Auflage etwas anders lautet ("Für den Entwicklungsgedanken - gegen naturwissenschaftlichen Dogmatismus"), so liegt dem nicht ein Stellungswechsel zugrunde - dazu war keinerlei Anlaß -; es sollte nur auch schon im Titel der Inhalt der ganzen Schrift wenigstens angedeutet werden. Denn mit jenen Gedanken des erkenntnistheoretischen Idealismus beschäftigen sich nur das zweite und vierte Kapitel, mit denen das erste eng zusammenhängt, da es nachweist, daß HAECKEL nicht Monist, sondern Materialist ist. Im dritten Kapitel dagegen trete ich (nicht in KANTs, sondern im eigenen Namen) für den Entwicklungsgedanken ein, für die Anschauung, daß eine natürliche einheitliche Entwicklung aus dem Reich des Anorganischen hinüberführt in das organische Gebiet und hier aufwärts von der einfachsten Zelle bis zum komplizierten Organismus des Menschen mit seinem hochentwickelten Geistesleben. Aber während der Dogmatiker HAECKEL das zu wissen vorgibt und es als tatsächlich nachweisbar behauptet, bin ich bescheiden und glaube es nur, stelle es nur als ein Postulat der Naturwissenschaft und Metaphysik hin. Und zugleich zeige ich, daß die Konsequenzen, die HAECKEL aus dem Entwicklungsprinzip zieht, weder aus diesem noch aus sonstigen Lehren moderner Naturwissenschaft mit irgendeiner Art von Notwendigkeit herfließen. Einheitlichkeit der Weltanschauung läßt sich auch auf anderem, philosophischerem Weg erreichen, als HAECKEL es unternimmt. Seinem Scheinmonismus wird im Anschluß an SPINOZA, auf den er sich oft, aber mit Unrecht beruft, der wahre Monismus entgegengestellt, nicht als beweisbares Faktum, sondern als persönliche Glaubensüberzeugung. Und es ergibt sich, daß dieser konsequente Monismus samt seiner Theorie der Allbeseelung und des psychophysischen Parallelismus mit der Naturwissenschaft, ihren Tatsachen, Folgerungen und Forderungen in bester Harmonie steht und ihr vollste Aktionsfreiheit gewährt. HAECKELs Weltanschauung, mit der er so gern paradiert als mit einem notwendigen Ergebnis des Entwicklungsprinzips, ist in Wirklichkeit auch nichts als ein individueller Glaube, hervorgehend aus gewissen radikalen Tendenzen seiner Natur und daher stammenden eigenartigen Gemütsbedürfnissen. Daß dem so ist, dafür sind LAMARCK und DARWIN Zeugen, die HAECKEL für seinesgleichen auszugeben und auf das Niveau seiner philosophischen Bildung herabzuziehen liebt, auch hier wieder im Widerspruch mit den Tatsachen; denn LAMARCK bekennt sich in seiner "Philosophie zoologique" auf das Unzweideutigste zu einem deistischen Glauben an einen Gott und Schöpfer, und von DARWIN ist eine briefliche Äußerung bekannt, nach der er nie ein Atheist in dem Sinne gewesen sein will, daß er die Existenz eines Gottes geleugnet hätte. Widerlegung des Materialismus
- die Existenz des Psychischen zu erklären a)Psychische Vorgänge nicht Eigenschaften der Materie Man hat versucht, die Unbestimmtheit in den Wendungen des ersten Typus (3) durch Bilder zu verschleiern: Bewußtsein, Gedanken seien mit dem Leuchten des Phosphor oder faulen Holzes zu vergleichen. Nur unter besonderen Umständen komme der Materie die Eigenschaft des Leuchtens zu: so taucht auch nur hier und da, unter günstigen Vorbedingungen, ein Bewußtsein auf. "Wenn man's so hört, möcht's leidlich scheinen." Aber sieht man sich die Sache genauer an, so verliert das Gleichnis allen Wert. Was heißt Ding? was heißt Eigenschaft? Ich reibe zwei Stücke Holz: sie werden heiß. Da haben zwei Dinge eine neue Eigenschaft bekommen. Aber was ist denn dieses Ding, Holz genannt, nach naturwissenschaftlicher Ansicht? Eine Masse von "Dingen", ein Konglomerat von Atomen (4), die in bestimmter Weise zu Molekülen verbunden sind; und diese Moleküle sind in fortwährender Schwingung begriffen. Infolge des Reibens ändert sich die Intensität der Schwingungen. Ihre Gesamtheit verursacht zuerst gewise Ätherbewegungen, die in mir eine schwache Temperaturempfindung erregen. Durch das Reiben wird die auf mich ausgestrahlte Bewegung intensiver; die unmittelbare Folge ist eine veränderte Temperaturempfindung: ich nenne das Holz jetzt heiß. Das ist der "eigentliche" Vorgang nach naturwissenschaftlicher Auffassung. In Wirklichkeit ist also nicht ein einheitliches Ding da, an dem verschiedene Eigenschaften wechseln. Sondern es gibt nur Bewegungen kleinster, miteinander in einem bestimmten Zusammenhang stehender Teilchen. Die Form und Art dieser Bewegungen ändert sich; damit ist auch die Einwirkung der ausgestrahlten Bewegungen auf uns eine andere: wir sagen, das betreffende Ding hat sich verändert, es hat eine neue Eigenschaft bekommen. Ähnlich ist es mit dem Leuchten des Phosphor. Für sich allein leuchtet Phosphor nicht, sondern nur in Verbindung mit Sauerstoff. Und was ist das Neue, das dieser Verbindung entspringt? Ein langsamer Oxidationsprozeß wird eingeleitet, d. h. es finden molekulare Umlagerungen statt, durch welche der Äther in schnelle Schwingungen versetzt wird. Und diese erscheinen in unserem Bewußtsein als Leuchten. Was also in der Natur vorgeht, sind wieder nur Bewegungsänderungen. Auf sie läßt sich überall das Auftauchen "neuer Eigenschaften" zurückführen. In Wirklichkeit sagt also die Wendung des ersten Typus nichts, als daß bewegte Materie, die zwar im allgemeinen nicht psychisch tätig ist, es unter besonderen Umständen (bei gewissen sehr komplizierten, äußerst wandelbaren Lagerungsverhältnissen) werden kann. Wie aber eine solche Wandlung vor sich gehen kann, bleibt völlig unbegreiflich. Jedes einzelne Atom ist empfindungslos, es ist nur Träger chemisch-physikalischer Kräfte, die für den Materialisten nicht Innenzustände unbestimmter Art sind, sondern nur die eine Bedeutung und Aufgabe habenm, Bewegungen hervorzubringen. Und bei einer gewissen Kombination von Atomen sollen nun auf einmal, ganz unmotiviert und unvermittelt, Innenzustände auftreten: Empfindungen, Vorstellungen, Bewußtsein? Es wäre das auf jeden Fall das Wunder der Wunder. Denn was für Vorzüge kann eine größere Summe von Atomen vor dem einzelnen Atom oder ein paar Atomen voraushaben? Doch nur die Kompliziertheit der Bewegungen und Lagerungsverhältnisse! Aber von da zu Innenzuständen führt kein Weg! Nur quantitativer, nicht qualitativer Art sollen ja der Voraussetzung gemäß die Unterschiede zwischen den einzelnen Atomen (bzw. Atomverbindungen) sein: nur Unterschiede der Größe, Gestalt, Lagerung, Geschwindigkeit, Bewegungsart, Bewegungsrichtung dürfen in Frage kommen. Und vollends alle unkontrollierbaren, unqualifizierbaren Innenzustände sind ausdrücklich ausgeschlossen; die Kräfte der Materie sind nur zugelassen, um Bewegung hervorzubringen, bzw. zu erklären. Infolgedessen kann auch nie und nimmer eine Brücke geschlagen wwerden, die uns von der bewegten Materie und ihren chemisch-physikalischen Kräften zu Qualitätsunterschieden, geschweige denn zu Bewußtseinszuständen geführt hat. Vielmehr: alle Qualitätsunterschiede würden schon ein Bewußtsein voraussetzen, welches sie auffaßt, oder genauer: welches sie zu dem macht, was sie nicht ansich sind, als was sie uns aber erscheinen. Die ganze Welt des Materialismus wäre im besten Fall tot und stumm: ein bloßes System ununterbrochener, rastloser Bewegungen -, bis das erste Bewußtsein käme. Mit einem Schlag gäbe es dann Qualitätsunterschiede, freilich nur in der Auffassung des Bewußtseins. Statt des Systems bloßer Bewegungen wäre die tönende, leuchtende, farbenglühende Welt da. Aber das Bewußtsein selbst? Es wäre wie aus einer anderen Welt hineingeschneit. Aus der Materie würde es nicht zu erklären sein: so wenig und noch weniger als die Qualitätsunterschiede, die allein sein Werk wären. Ist dem einzelnen Atom unmöglich zu empfinden und bewußt zu sein: so vermag auch die komplizierteste Lagerung und Bewegung vieler Atome daran nichts zu ändern. Will der Materialist auf seinem Standpunkt beharren, so muß er versuchen, diesen prinzipiellen Einwand zurückzuweisen. Dann ist er aber genötigt, die unbestimmten Wendungen des ersten Typus aufzugeben und sich entweder zum zweiten oder zum dritten Typus (siehe Anmerkung 3) zu bekennen. Er wird behaupten müssen, entweder daß Bewegung Empfindungen und Bewußtsein hervorbringt, oder daß alle psychischen Vorgänge in Wirklichkeit, ansich, nichts sind als eine eigenartige Bewegungsform und uns nur etwas anderes zu sein scheinen. Bewegungen identisch Das letztere ist ein klarer entschiedener Standpunkt. Ja, noch mehr! Er kann nicht widerlegt werden; ebensowenig wie der konsequente Solipsismus. Für diesen gibt es höchstens eine Widerlegung: man sperrt den Solipsisten in ein Tollhaus. Und in die Gegend ungefähr gehört auch der Materialist, wenn er obige Behauptung im Ernst und im Bewußtsein ihrer Tragweite aufstellt. Denn seine Begriffsverwirrung hat dann einen Grad erreicht, der eine Radikalkur als notwendig erscheinen läßt. Bei HAECKEL läuft die Formel nur so mit durch, neben andern, und wahrscheinlich ist er sich nicht einmal recht dessen bewußt, was sie besagt. Die Formel klingt, als hätten die Materialisten von KANT gelernt. Zwischen Erscheinung und Ding-ansich unterscheiden sie. Aber das Ding-ansich ist die bewegte Materie, die Erscheinung - das Bewußtsein. Unwillkürlich fragt "man": wem oder wo erscheint die Bewegung so? Die Antwort könnte nur lauten: in einem Bewußtsein. Diese Frage und die einzige Antwort, die es darauf gibt, genügen eigentlich schon, um den Materialisten ad absurdum zu führen, wenn er überhaupt Gründen zugänglich wäre. Aber er sieht nichts mehr als seine Materie, blickt nicht rechts, blickt nicht links, und vor allem auch nicht - in sich. Und so kommt er dann dazu, die Welt völlig umzukehren. Das Einzige, was uns überhaupt direkt gegeben ist, unsere Bewußtseinszustände: sie sollen eine zufällige Beigabe sein. Das wahrhaft, objektiv Seiende ist allein die Materie und ihre Bewegung: alles Psychische ist "bloß" etwas Subjektives. Selbstbewußtsein im "objektiven" Sinn würde nur bei einem Menschen vorhanden sein, der die Gehirnbewegungen fühlt oder mit einem inneren Auge gleichsam sehen würde. Empfindungen haben und denken könnte er ja nebenbei auch noch, - wenn es denn durchaus nötig ist. Die eigentliche Sache, der objektive Vorgang würde auf jeden Fall dadurch in keiner Weise berührt. Wenn nur - um von erkenntnistheoretischen Überlegungen hier ganz zu schweigen! - die innere Erfahrung nicht wäre! Klar und unzweideutig sagt sie: Empfindung ist nicht Bewegung, sondern etwas ganz anderes, Eigenartiges, das durchaus nicht mit Bewegungen, Umlagerungen und Ähnlichem verglichen, geschweige denn identifiziert werden kann. Doch: "was schiert mich die innere Erfahrung!", antwortet der Materialist; "ich behaupte ja eben, daß sie bloße Erscheinung ist, eine subjektive Auffassung von Vorgängen, die in Wirklichkeit ganz anders geartet sind." Aber dann müßte uns doch wenigstens die Entstehung dieses Scheins erklärt werden, der uns so sehr äfft, daß wir denkend, fühlend, empfindend von den eigentlichen Vorgängen, den Bewegungen, auch nicht das Geringste merken. KANT spricht ja auch von Erscheinungen, gibt uns aber doch wenigstens eine prinzipielle Lösung des Rätsels, wie das Ding-ansich uns in einer Weise erscheinen kann, die von der eigentlichen (zeit- und raumlosen) Art seiner Existenz so weit abweicht. Woher aber kommt die "subjektive Auffassung" mitten unter lauter Bewegungszuständen? Der Materialist muß die Antwort schuldig bleiben. Die erste Wahrnehmung, so geringfügig sie gewesen sein mag, würde für ihne eine Verdoppelung der Wirklichkeit bedeuten. Vor ihr war nur Bewegung, mit ihr tritt etwas ganz Neues ein: die Bewegung ist nicht nur, sie wird auch wahrgenommen, empfunden. Welch unermeßlicher Abstand für den, der die Tatsachen vorurteilslos erwägt und, statt sie zu meistern, sich von ihnen leiten läßt! Es handelt sich um zwei ganz getrennte Welten. Wüßte der Materialist im Gehirn Bescheid wie in seiner Studierstube: er sähe nur eine endlose Kette von Bewegungen, aber keinen Punkt, wo das plötzliche Auftauchen dieses "Scheins" von Bewußtsein und Empfinden irgendwie erklärlich würde, keine Bewegung, von der begreiflich wäre, weshalb nun mit ihr auf einmal subjektive Auffassung und Wahrnehmung verbunden ist. Doch alle diese Erwägungen werden den Materialisten von echtem Schrot und Korn nicht hindern, nach wie vor mit BÜCHNER das Denken "als eine besondere Form der allgemeinen Naturbewegung" anzusehen,
Kaum irgendwo tritt die Gewalt des Glaubens, die Macht der vorgefaßten Meinung, oder - um mit SCHOPENHAUER zu sprechen - der Primat des Willens über den Intellekt so klar und unzweideutig hervor, wie an diesem Punkt, da der Materialist, um seinen Standpunkt zu wahren, sich nicht anders retten kann, als indem er das zu einem bloßen subjektiven Schein erklärt, was doch auch seinem Leben allein Inhalt und Bedeutung gibt und was dazu seinen Fetisch, die Materie, erst schafft. Man denkt unwillkürlich an den Vogel Strauß, wie er seinen Kopf in den Sand gräbt, um sich den Verfolgern unsichtbar zu machen, oder an die Kleinsten unter den Kleinen, wenn sie beim Versteckspielen die Hände vor die Augen halten und meinen, man sieht sie nicht. Versuchte der Materialist sich hinter seinem Vergleich mit dem leuchtenden Phosphor zu verschanzen und sähe er die Ähnlichkeit darin, daß sowohl hier, wie auch bei allen psychischen Vorgängen, Bewegungen als etwas erscheinen, was sie in Wirklichkeit nicht sind: so wäre zweierlei einzuwenden. Zunächst könnte der Vergleich auf Genauigkeit nur dann Anspruch erheben, wenn das Leuchten ein Bewußtseinszustand des Phosphors und trotzdem eigentlich nur Bewegung wäre. Das ist aber nicht der Fall. So wird dann - und das ist das zweite - unser psychisches Erleben mit einem Objekt dieses Erlebens verglichen und das also schon vorausgesetzt, was erklärt (bzw. das in die Erläuterung als bekannt aufgenommen, was erst erläutert) werden soll. Denn das Leuchten findet ja nur in irgendeinem Bewußtsein statt: denkt man sich jedes Bewußtsein weg, so ist es auch mit dem Leuchten vorbei, und es bleibt nur noch Bewegung übrig. Wie es möglich ist, daß die vom Phosphor ausgestrahlte Bewegung mir als Leuchten, d. h. als Bewußtseinszustand, als Empfindung erscheint: das will ich ja gerade wissen. Wirkungen von Bewegungen Es bleibt noch der dritte Typus zu besprechen. Dabei kann ich mich kurz fassen: die prinzipiellen Gründe, die ich bisher vorbrachte, haben auch hier ihre Geltung; ein neuer kommt allerdings noch hinzu. Berücktigt ist VOGTs Sekretionsgleichnis (in seinen "Physiologischen Briefen", 1847: die Gedanken stünden etwa in demselben Verhältnis zum Gehirn, wie die Galle zur Leber oder der Urin zu den Nieren. Dagegen erhob sich in gewissen Kreisen ein Entrüstungssturm; eine Herabwürdigung des Höchsten, eine Beleidigung aller besseren Gefühle nannte man den Vergleich. Sehr mit Unrecht! Denn was macht es den Gedanken aus, wenn sie wie der Urin durch Absonderung entstehen? Bedeutung haben sie durch das, was sie sind, nicht durch die Art ihrer Entstehung und Abstammung. Töricht, nicht unwürdig hätte man VOGTs Sprache nennen sollen. Töricht, weil sie materielle Ausscheidungen (von Drüsen und Organen), also im letzten Grund Bewegungserscheinungen, gleichstellt mit psychischen Vorgängen. Und da sind wir wieder beim Kardinalpunkt angelangt: so wenig Gedanken und Empfindungen ansich Bewegungen sind und nur subjektiv als psychisch erscheinen, ebensowenig vermag die Bewegung etwas Psychisches hervorzubringen. Es gibt keinen Kausalzusammenhang, der vom Materiellen zum Psychischen hinüberführt. Bewegte Materie bleibt in alle Ewigkeit bewegte Materie. Nie kann sie aus sich heraus Innenzustände hervorbringen, mag ihre Anordnung und Bewegung noch so fein und kompliziert sein. Bewußtsein und Bewegung sind etwas toto genere [völlig - wp] Verschiedenes. Man kann das Reich der Bewegung nach allen Seiten hin durchstreifen: nirgends trifft man in ihm auf Bewußtsein. Wären alle Rätsel der Gehirnanatomie und -physiologie gelöst, könnte man dem kindlichen Gehirn sein Horoskop stellen und jede Bewegung darin bis zum späten Tod des Greises berechnen: das Rätsel der Empfindung bliebe dasselbe wie zuvor, auch nicht um einen Schritt wäre man seiner Lösung näher gerückt. Und nichts in den Nervenbewegungen würde verraten, daß noch etwas anderes da ist, als bloße Bewegung. Es wäre vergeblich, wollte ich diesen Gedanken noch weiter erläutern und viel an ihm herumerklären. Der gute Wille des Lesers muß das Seinige tun. Es gilt sich von der Erkenntnis durchdringen zu lassen und sie ganz zu Ende zu denken: bewegte Materie mit ihren rein äußerlichen Quantitäts-, Lagerungs- und Bewegungsverhältnissen einerseits, Bewußtsein, Innenzustände andererseits sind durch eine solche Kluft voneinander getrennt, daß keine Brücke von hüben nach drüben führt. Wer diese Grundtatsache begriffen hat, und sich vor Augen hält, was alles in ihr liegt und aus ihr folgt: für den ist der Materialismus ein überwundener Standpunkt. Er hat nur ein mitleidiges Lächeln, wenn er behaupten hört, es sei gelungen, Empfindung auf Bewegung zurückzuführen. Eher noch würde er der Botschaft Glauben schenken, den Danaiden sei es geglückt, ihr Faß zu füllen. Und der Materialist - wenn er sich Einwänden überhaupt zugänglich zeigt, - wird wenigstens zugeben müssen, daß er sein Versprechen nicht hat halten können. Er wollte eine durchaus verständliche Weltanschauung entwerfen, mit nur wenigen Ignoramus und ohne jedes Ignorabimus. Sein Ruhmestitel sollte eine anschauliche Erklärung des psychischen Lebens sein. Und was bietet er uns statt dessen? Bloße Behauptungen, Postulate, die das Wunder in Permanenz erklären würden! als Energiegesetz Und noch zu einem zweiten Zugeständnis könnte der Materialist an diesem Punkt gezwungen werden. Er zieht ja angeblich nur die natürlichen, unvermeidbaren Konsequenzen moderner Naturforschung. In Wirklichkeit verstößt seine Behauptung, daß Bewegung Empfindung und Bewußtsein hervorbringt, gegen die wahre Naturforschung: gegen das Gesetz von der Erhaltung der Energie. Zwar könnte er versuchen, seinen Standpunkt mit dem Energiegesetz durch die Annahme auszusöhnen, daß alles Geistige nur Energie ist, eine besondere Art oder Form derselben, die mit den übrigen, den physischen Energiearten (der mechanischen, chemischen, thermischen etc.), in ebenso fest bestimmten, gesetzmäßigen Austauschverhältnissen steht, wie diese untereinander. - Aber das ist ein Ausweg, der höchstens dem Dualisten offen steht (obwohl sich auch bei ihm gewichtige Bedenken dagegen erheben lassen), der aber dem Materialisten ganz und gar verschlossen ist: sobald er ihn wählt, wird er selbst zum Dualisten. Denn sein Stolz und sein Anspruch ist ja doch, nur die Materie mit ihren chemisch-physikalischen Kräften als Bausteine bei seiner Weltkonstruktion zu verwerten. Neben sie aber träte jetzt das Geistige als besondere Energieart, nicht aus ihnen ableitbar, sondern ebenso ursprünglich wie sie; auf eine Erklärung, eine Genesis des Psychischen aus dem Physischen wäre Verzicht getan. Und welch ein für den Materialismus unannehmbarer Zwiespalt würde dadurch in den sonst einheitlichen Energiebegriff hineingetragen! Bei allen physischen Energieformen handelt es sich immer um Geschehen und Verhältnisse im Raum; wie man das Energiegesetz auch deutet und welcher Art die Energie auch ist: sie betätigt sich doch schließlich in äußeren Einwirkungen, in Veränderungen, die sie an irgendeinem Materiellen oder an irgendwelchen Spannungszuständen hervorbringt. Und daneben nun die geistigen Energien: welch ein anderes Bild! Ihre Betätigung bestünde nur in Innenzuständen, in Denken, Wollen, Fühlen, Empfinden, Plänen, Leidenschaften, die absolut keinen räumlichen Charakter tragen und von äußerer Lage oder Bewegung durchaus verschieden sind. Spricht der Materialismus von geistigen Energien, so werden von ihm zwei ganz disparate Vorstellungen - nicht etwa in einen Begriff verschmolzen, sondern nur - unter ein Wort subsumiert und durch diess äußerlich zusammengehalten, während sie sich innerlich nach wie vor fremd gegenüberstehen. Und nun gar, wenn man das Energiegesetz streng mechanistisch auffaßt, wie der Materialismus seiner bisherigen Tradition nach muß, da er ja das ganze Weltgeschehen in Bewegungen, Umlagerungen kleinster Teilchen auflösen will. Dann bedeutet Umsetzung einer Energieart in die andere nichts als Änderung in der Bewegungsform. Diese mechanistische Betrachtungsweise müßte aber jedesmal aufgegeben werden, sobald eine Umwandlung physischer Energie in psychische oder umgekehrt in Frage käme. Mit der Einheitlichkeit wäre es vorbei, durch die ganze Weltanschauung ginge ein Bruch, offenster Dualismus würde Platz greifen. Nein! will der Materialismus sich selbst treu, will er überhaupt Materialismus bleiben, dann darf er nicht neben den physischen Energien noch eine besondere geistige Energieart annehmen. Muß er aber darauf verzichten, dann kann er auch die durchgängige Gültigkeit des Energiegesetzes nicht aufrecht erhalten. Bewegung, lehrt er, bringe Empfindung und Bewußtsein hervor. Nun ist aber in der physischen Natur keine Arbeitsleistung ohne Energieaufwand möglich. Es müßte also bei der Produktion oder "Sekretion" der psychischen Elemente Bewegung aufhören und ihre kinetische Energie verlieren, ohne in irgendeine Form von potentieller Energie überzugehen. Bewegung würde nicht etwa nur momentan sistiert [ausgesetzt - wp], wie wenn ich einen Stein auf das Dach werfe. Bleibt er liegen, so verwandelt sich seine kinetische Energie in Lagenenerige; sowie er aber ins Rollen kommt, geht diese wieder in jene über. Bringt dagegen eine Bewegung Psychisches hervor, so hörte sie für alle Zeiten auf, Bewegung zu sein; sie nähme eine andere Form der Existenz an und könnte nie wieder in Bewegung zurückverwandelt werden. Diese unausweichliche Konsequenz sollte doch die Herren Materialisten stutzig machen. Für jeen, der an naturwissenschaftliches Denken gewöhnt ist, und weiß, auf welcher Grundlage die neuere Naturwissenschaft ihre Siege errungen hat, muß, wie mir scheint, das völlige Aufhören einer Bewegung und den gänzlichen Verlust kinetischer Energie eine unmögliche Vorstellung sein. Vielleicht sucht man einen Ausweg in der Behauptung, die Empfindung sei nur ein Nebeneffekt, so daß Bewegung zwar immer wieder Bewegung, aber als Nebeneffekt zugleich auch Empfindung hervorbringt. Aber war ursprünglich nichts Empfindungsähnliches, keinerlei Innenzustand in der Materie, geht also die Empfindung aus bloßer Bewegung hervor, so muß auch beim Schaffen der Empfindung Bewegung, bzw. Energie verloren gehen. Sei der Verlust auch nur minimal: das Prinzip wäre durchbrochen, und auch das Minimale würde sich im Lauf der Jahrtausende aufsummen. Nirgends in der Welt bewegter Materie gibt es eine Wirkung, die nicht in der Ursache irgendeine Energie verschlingt. DAVID FRIEDRICH STRAUSS, der trotz seines scharfen Kopfes auf seine alten Tage wunderbarerweise noch zum Materialisten wurde, suchte gerade auf das Energiegesetz seine materialistische Theorie aufzubauen. Wie Bewegung sich in Wärme verwandelt: so unter gewissen Bedingungen auch in Empfindung. Die Bedingungen sind dafür im Nervensystem gegeben.
Die Sache hat noch eine Kehrseite, die dem Materialisten noch unangenehmer sein dürfte. Wie mechanische Enerige verloren gehen würde, so oft Bewegung Empfindung hervorbringt, so müßte auch mechanische Energie neu entstehen, wenn ein Gedanken oder Entschluß den Körper in Bewegung setzt. Es würde eine Bewegung erfolgen, die ihre Ursache nicht in einem vorhergehenden Bewegungsvorgang, sondern in einer psychischen Tatsache hätte. Diese psychische Tatsache würde zwar wieder auf eine frühere Bewegung als ihre Ursache zurückverweisen, aber zwischen dieser Bewegung als Ursache und jener Bewegung als Wirkung des psychischen Faktums gäbe es keine irgendwie wahrscheinliche Gleichung: die Kontinuität in der Welt der bewegten Materie wäre durchbrochen. Zwischen zwei Bewegungszustände schöbe sich ein Etwas ein, das einen von der Bewegung (und ebenso von den chemisch-physikalischen Kräften, die ja doch nichts sind als quantitativ bestimmbare und meßbare Bewegungserreger) toto coelo [völlig - wp] verschiedenen Charakter tragen würde. Auch die Ausflucht wäre nichts wert, daß die psychischen Elemente nicht etwa neue Energie schaffen, sondern nur der vorhandenen Energie ihre Richtung geben oder die im Muskel aufgespeicherte Spannkraft in lebendige Kraft umsetzen. Keins von beiden geschieht um nichts und wieder nichts. Beide Male ist vielmehr Energie erforderlich, die also neu geschaffen und neu in die materielle Welt eintreten würde. Im Einzelfall mag es nur ein Minimum sein, was in Betracht kommt. Aber auch hier würden sich die Minima aufsummen. Und außerdem: der Bann des Energiegesetzes wäre auf jeden Fall durchbrochen. Auf die prinzipielle Stellung kommt hier alles an. Kann ich durch meinen bloßen Willen, also durch einen rein psychischen Einfluß, meinen Arm und durch ihn diesen Zweig bewegen: warum sollte ich dann nicht auch durch meinen Willen allein Berge versetzen? Läßt die Naturwissenschaft das eine zu, so kann sie gegen das anderen keine Einwendung mehr machen. Beide Fälle stimmen darin überein, daß in die materielle Welt eine neue Energie bewegungserregend eintritt, die aus einer anderen Welt stammt. Ob diese Energie groß oder klein ist, macht nichts aus: in beiden Fällen wäre das Gesetz von der Erhaltung der Energie durchbrochen. Sollte aber der Materialist leugnen, daß zwischen zwei Bewegungen, die kontinuierliche Kette unterbrechend, das psychische Element mitten hinein tritt; sollte er behaupten, daß eine Bewegung direkt, ohne psychisches Zwischenglied, die andere auslöst und daß die psychischen Vorgänge nur nebenhergehen: so bleibt ihm nur zwischen zwei Möglichkeiten die Wahl. Entweder er muß sich zweiten der aufgestellten Typen (siehe Anmerkung 3) und damit zu offenem Unsinn bekennen. Oder er wird aus einem Materialisten zu einem Parallelisten, der - zunächst nur für das Gebiet des Nervensystems - behauptet, daß jeder Bewegungsvorgang von einem Innenzustand und umgekehrt jeder Innenzustand von einem Bewegungsvorgang begleitet ist, ohne daß jedoch irgendein Glied der einen Reihe mit irgendeinem Glied der anderen Reihe in einem Kausalzusammenhang stünde. Beide Reihen gehen nebeneinander her, einander genau entsprechend, aber nicht voneinander abhängig. Das ist SPINOZAs Standpunkt. Und auch bei HAECKEL finden sich Gedankenreihen, welche auf ihn hinführen. Zunächst gilt es, den Kampf gegen den Materialismus zu Ende zu führen. Bisher versuchte ich zu erweisen, daß der Materialist die Versprechungen, welche er macht, in keiner Weise erfüllt. An die Stelle des Dualismus, den die Erfahrungswelt mit ihren beiden Seiten der Natur und des Geistes bietet, will er einen Monismus setzen, indem er das Psychische aus dem Physischen ableitet. Aber diese Genesis müßte er erklären, faßlich, anschaulich machen. Nichts von alledem! Zu je bestimmteren Auskünften man ihn zwingt, desto undurchdringlicher erscheint das Rätsel, desto größer werden die Schwierigkeiten, die sich seiner Theorie in den Weg stellen. Die Kluft, welche die komplizierteste Bewegung vom einfachsten psychischen Zustand trennt, bleibt immer gleich groß. Und der Materialist muß entweder baren Unsinn vertreten, indem er das Gewisseste, was wir haben: unser Bewußtsein, zu einer rein subjektiven Erscheinung herabsetzt, oder er muß zugeben, daß bei ihm die Stelle von Erklärungen bloße Behauptungen einnehmen, die gerade das, was der Gegner für unmöglich hält, und erklärt oder bewiesen haben will, ohne Beweis einfach postulieren und zudem mit dem Grundgesetz der heutigen Naturwissenschaft in Widerspruch stehen. ![]()
1) Veröffentlicht unter dem Titel: "Der Kampf um den Entwicklungs-Gedanken" (1905). 2) "Entwicklungslehre oder Apriorismus? Haeckel oder Kant?", in: Das freie Wort, Frankfurt/Main 1904, Seite 18-24. 3) Auf drei Typen lassen sich die verschiedenen Äußerungen der Materialisten über die Abhängigkeit des Psychischen vom Physischen zurückführen, und alle 3 Typen trifft man sehr oft in ein und demselben Werk friedlich nebeneinander in lieblichster Verwirrung. - - - Es wird behauptet: 1. Empfindung-Gedanke sind Eigenschaften der Materie, welche dieser aber nur unter gewissen besonderen Umständen zukommen; 2. Sie sind in Wirklichkeit Bewegungen und erscheinen uns nur als etwas anderes, Geistiges. 3. Bewegung bringt Empfindungen und Gedanken als ihre Wirkungen hervor. 4) bzw. von Energie- oder Kraftzentren. Aber dieser Unterschied zwischen atomistischer und dynamischer Naturauffassung spielt hier, wo es sich nur um ein Verständnis der Begriffe "Ding, Eigenschaft" handelt, keine Rolle. |