p-4H. RuinJ. G. SulzerJ. VolkeltMFKG. W. CampbellM. Palágyi    
 
HEINRICH HOFMANN
Untersuchungen über den
Empfindungsbegriff

[3/6]

"Die in unserer Erfahrung vorkommenden visuellen Anschauungsgebilde sind immer schon eine irgendwie anschauungsgemäß bestimmte Beziehung zur dritten Dimension. Wir dürfen diese Gebilde aber nicht als etwas psychologisch Letztes und Elementares betrachten; sie sind nicht das Resultat eines reinen Sinnesreizes, sondern damit sie zustande kommen, müssen die reinen Empfindungen noch eine bestimmte Auffassung erfahren. Wir können also die gewöhnlich sich darbietenden anschaulichen Sinnesgebilde in zwei verschiedenartige Teile zerlegen, in die reinen Empfindungen und deren Auffassung."

"Es ist zu beachten, daß die psychischen Elemente in der isolierten Beschaffenheit, in der wir sie begrifflich fixiert denken, in der Wirklichkeit niemals existieren, sondern immer eingebettet in einen größeren Zusammenhang anderer Inhalte und insofern reine Produkte begrifflicher Abstraktionen darstellen."

"Das Einfache, das auf dem Gebiet des Tonsinnes plausibel war, wird uns so beim Gesichtssinn zum großen Problem, und wir werden Bedenken tragen, den mit solchen Schwierigkeiten behafteten Begriff der einfachen Empfindung zum Grundbegriff einer wissenschaftlichen Forschung zu machen. Man muß sich gegenwärtig halten, daß die einfachen Empfindungen das Ziel und nicht den Anfang der wissenschaftlichen Forschung darstellen und daß wir dementsprechend als Forschungsobjekte, mit denen die Empfindungslehre beginnen kann, nicht die einfachen Empfindungen bestimmen können, sondern von komplexeren sinnlichen Gebilden ausgehen müssen."


Erstes Kapitel
Kritik der Empfindungsbegriffe
[Fortsetzung]

§ 4. Empfindung als "Wahrnehmungsinhalt"

Wir haben im vorigen Paragraphen auseinandergesetzt, daß der Begriff der reinen Empfindung für die rein deskriptive Psychologie keine irgendwie in Betracht kommende Bedeutung haben kann. Sehen wir nun aber daraufhin die deskriptiv-psychologische und die auf eine deskriptiv-psychologische Analyse sich stützenden erkenntnistheoretische Literatur durch, so werden wir vielfach einen Empfindungsbegriff finden, der mit unserem Begriff der reinen Empfindung in sehr enger Beziehung steht. Es wurde früher hervorgehoben, daß für die Aufstellung des Begriffs der reinen Empfindung als ein Hauptmotiv die Erkenntnis maßgebend gewesen ist, daß wir in der gewöhnlichen Dingwahrnehmung die von außen empfangenen Eindrücke nicht einfach so hinnehmen, wie sie uns dargeboten werden, sondern in gewisser Weise von uns aus ergänzen und umformen. Diese für die ganze Problemstellung der experimentellen Psychologie geradezu fundamentale Erkenntnis hat man nun auch von Anfang an "erkenntnistheoretisch" zu verwerten und auf sie gestützt eine Theorie der Dingwahrnehmung aufzubauen gesucht.
    "Infolge der Affektion des Nerven, z. B. der Netzhaut, sagt Überweg (16), "entsteht in uns eine sinnliche Empfindung. Unmittelbar ist nur diese in unserem Bewußtsein; alles Übrige ist eine Deutung derselben. Wir deuten sie unwillkürlich ... auf ein äußeres Objekt."
Was zunächst den Begriff der sinnlichen Empfindung, wie er hier verwendet wird, anlangt, so scheint er mir genau dieselben Sinnesanschauungen bezeichnen zu wollen, die wir in den vorhergehenden Paragraphen reine Empfindung genannt haben. Aber was diesem Begriff der Empfindung gegenüber dem bisher Ausgeführten noch seine besondere Färbung gibt, das ist die Behauptung, daß unmittelbar nur diese, wir können sagen reinen Empfindungen in unserem Bewußtsein sein sollen. Wenn wir Dinge wahrnehmen, so sagt man vielfach, dann treten nicht diese Dinge in unser Bewußtsein, weder mit ihren Formen nocht mit ihren Farben, sondern "in unserem Bewußtsein" sind jeweils nur die psychischen Folgeerscheinungen der von objektiv-dinglichen Verhältnissen in bestimmter Weise abhängigen Nervenerregungen. Je nach Beschaffenheit und jeweiliger psychischer Dispositioin geben wir dann diesen im Bewußtsein vorhandenen reinen Empfindungen diese oder jene "Bedeutung", wir "deuten" sie auf dieses oder jenes äußere Objekt. Sehen wir z. B. eine vor uns auf dem Tisch liegende, objektiv gleichmäßig rote Kugel bei normaler Tagesbeleuchtung, so wäre nach dieser Wahrnehmungstheorie "im Bewußtsein" ein gleichmäßig abgeschattetes Rot von kreisförmiger Gestalt, das keinerlei Beziehungen zur dritten Dimension hat. (17)

Wie steht es nun mit der Wahrheit dieser Wahrnehmungstheorie? Um dies zu entscheiden, werden wir uns vorerst klar machen müssen, was die Rede von der Existenz "im Bewußtsein" besagen soll: Es leuchtet zunächst ein, daß mit dem Ausdruck "im Bewußtsein" und "nicht im Bewußtsein" kein irgendwie räumlicher Gegensatz bezeichnet sein kann. So grob denkt heute niemand mehr, daß er das Bewußtsein gleichsam als eine Schachtel auffassen wollte, in die man allerhand hineintun kann, in der aber gewisse "Dinge" keinen Platz finden könnten. Aber wie sollen wir uns sonst das "Im-Bewußtsein-Sein" klar machen? Sollen wir sagen, daß all das, dessen wir uns im gewöhnlichen Sinn "bewußt" werden können, damit zugleich auch "im Bewußtsein" ist? Offenbar würde ein solcher Begriff viel zu weit sein; denn bei seiner Verwendung würden z. B. auch die materiellen Dinge, die gerade keine Bewußtseinsexistenz sollen haben können, als "im Bewußtsein" seiend angesprochen werden könne. Doch da fällt uns ein durchgehender Unterschied zwischen den verschiedenartigsten Gegenständen, deren wir uns "bewußt" werden können, auf. Wenn wir ein Ding, etwa die vorherige rote Kugel, wahrnehmen, so legen wir dieser in unserer Wahrnehmung mehr Bestimmungen bei, als wir voll und ganz sehen. Wir sprechen ihr eine von uns abgekehrte Seite, eine Schwerewirkung usw., vor allem aber eine Existenz in der objektiven Welt der Dinge zu. All das sehen wir aber doch nicht, sondern wir deuten es bloß dem eigentlich Geschehenen zu, wir "vermeinen" es bloß. Nehmen wir nun aber demgegenüber den Fall, wo ich kein Ding, sondern etwa eine Farbe wahrnehme, z. B. die Farbe, in der ich das Papier, auf dem ich schreibe, sehe. Es kommt bei dieser Wahrnehmung gar nicht darauf an, daß die gesehene Farbe "die" Farbe des Papiers darstellt; ich nehme die Farbe rein so, wie ich sie sehe, ohne irgendeine Deutung auf objektive Verhältnisse, so daß das wahrgenommene nach allen seinen "vermeinten" Bestimmtheiten anschaulich vor mir hingestellt ist. Dieser ausgezeichnete Fall der Wahrnehmung scheint der von einem rein deskriptiven Standpunkt aus allein mögliche zu sein, bei dem man von einer Existenz der Empfindungen "im Bewußtsein" sprechen kann.

Wie steht es nun mit der Anwendbarkeit des so bestimmten begriffs auf die reinen Empfindungen? Gehen wir wieder zu unserem Kugelbeispiel! Wenn wir in gewöhnlicher Weise die Kugel wahrnehmen, so pflegen wir nicht auf das zu achten, was sich uns "von der Kugel" in jedem Augenblick darbietet, und wie es sich darbietet. Aber wir wollen nun einmal mit voller Absicht auf diese dargebotene sinnliche Anschauung achten! Wir sehen dann eine farbige, krumme Fläche, die in eine anschaulich bestimmte Entfernung von uns gesetzt ist, die und die Lage in unserem momentanen "Sehraum" aufweist. All die verschiedenen Momente, die wir so in der Beschreibung hervorheben, machen das visuelle Gebilde aus, das sich uns in voller Anschaulichkeit ohne irgendein Hinausgehen über das eigentlich Gesehene darstellt; das alles ist also unserer Begriffsbestimmung gemäß in diesem Augenblick "in unserem Bewußtsein".

Doch von einem derartig gestalteten sinnlichen Gebilde spricht die zur Diskussion stehende Wahrnehmungstheorie nicht. "Im Bewußtsein" sollen hiernach unmittelbar nur die reinen Empfindungen sein. Wir werden also unsere Wahrnehmungseinstellung noch in einer etwas anderen Richtung nehmen müssen, um auch die reinen Empfindungen voll-anschaulich zu Gesicht zu bekommen. Da nun aber
    "(zumindest bei normalen erwachsenen Menschen) ... jeder (visuelle) Sinneseindruck ebenso unmittelbar wie mit seinen sonstigen Beschaffenheiten auch mit seiner räumlichen Bestimmung ins Bewußtsein tritt" (18),
so würde es von Seiten des Wahrnehmenden einer besonderen Anstrengung bedürfen, um die beschriebene unwillkürlich und jederzeit bereitwilligst sich einstellende sinnliche Anschauung in eine Anschauung der reinen Empfindung umzuwandeln. Daß eine solche Umwandlung in allen Fällen gelingen würde, muß füglich bezweifelt werden. Aber auch gesetzt, sie wäre möglich, so können wir nach dem, was wir früher über die reine Empfindung ausgeführt haben, niemals mit Bestimmtheit angeben, daß wir jetzt die Anschauung einer reinen Empfindung haben. Doch nehmen wir einmal an, daß es sich im Laufe der Zeit herausstellen sollte, daß wir auch reine Empfindungen anschauen können, so wäre damit für die Richtigkeit der kritisierten Wahrnehmungstheorie absolut nichts gewonnen, denn "im Bewußtsein", d. h. vollkommen anschaulich vorhanden und aufweisbar sind bei der Dingwahrnehmung im allgemeinen immer nur visuelle Gebilde, die der allgemeinen Theorie entsprechend nicht als reine Empfindungen angesehen werden dürfen, so daß es sicherlich für diese Fälle eine falsche Wiedergabe des Tatbestandes ist, wenn man hier von einer Bewußtseinsexistenz der reinen Empfindungen und deren "Deutung" spricht.

Doch man könnte noch in folgender Weise die bekämpfte Wahrnehmungstheorie zu retten versuchen: Zugegeben, so könnte man sagen, daß die in unserer Erfahrung vorkommenden visuellen Anschauungsgebilde immer schon eine irgendwie anschauungsgemäß bestimmte Beziehung zur dritten Dimension haben, so dürfen wir diese Gebilde - wie wir früher selbst zugegeben haben - doch nicht als etwas psychologisch Letztes und Elementares betrachten; sie sind nicht das Resultat eines reinen Sinnesreizes, sondern damit sie zustande kommen, müssen die reinen Empfindungen noch eine bestimmte "Auffassung" erfahren. Wir können also die gewöhnlich sich darbietenden anschaulichen Sinnesgebilde in zwei verschiedenartige Teile zerlegen, in die reinen Empfindungen und deren "Auffassung".

Aber wo in aller Welt sind derartige "Auffassungs"tatsachen in der Erfahrung aufweisbar? Ich für meinen Teil vermag zumindest derartiges nicht zu beobachten. Sobald ich die Augen aufmache, steht dieses oder jenes Gebilde sinnlich anschaulich vor mir, aber daß darin die reinen Empfindungen als ein Teil, als ein besonderer "Wahrnehmungsinhalt" mit enthalten wären, davon kann ich beim besten Willen nichts entdecken. Früher als meine Seele noch keine "Erfahrungen" gesammelt hatte und sie noch eine "ursprüngliche Reaktionsweise" hatte, da waren meine sinnlichen Anschauungen noch reine Empfindungen, aber heute, wo in das ursprüngliche primitive Seelengetriebe durch die "Erfahrung" so mannigfache Veränderungen hineingekommen sind, da reagiert der Seelenmechanismus auf dieselben sinnlichen Reize ganz anders. Wie kann man da noch die reine Empfindung als einen besonderen "Wahrnehmungsinhalt" ansprechen. Man darf doch nicht
    "das, was unter gewissen Umständen und nur unter diesen in der Seele vorhanden ist, in jene Fälle hineintragen, in denen es seelisch auf keine Weise nachgewiesen werden kann." (19)
Das subjektive Augengrau, das wir anschauen können, wenn wir die Augen schließen und mit der Hand verdecken, ist in diesem Fall anschaulich vorhanden und aufweisbar. Öffnen wir die Augen und sehen wir ein Rot an, so mögen jene Ursachen, die vorher die Anschauung des subjektiven Grau bedingten, auch jetzt noch mit im Spiel sein, aber zu diesen vorherigen Bedingungen sind jetzt wesentlich neuartige getreten, welche die sinnliche Anschauung von Grund auf umgestaltet haben. Es wird aber doch wohl jetzt niemand sagen wollen - zumindest wäre eine derartige Ansicht vom psychologischen Standpunkt aus unbedingt falsch -, daß in der vorhandenen Rotanschauung die Anschauung des subjektiven Grau als Teilinhalt mit enthalten wäre, sondern man kann nur sagen, daß die Grauanschauung durch die Rotanschauung abgelöst worden ist. Nicht durch die Variation der Bedingungen, die beim Bestehen einer sinnlichen Anschauung in Betracht kommen, können deren Teilinhalte ermittelt werden, sondern nur dur rein im Anschaulichen bleibende, immanente "abstraktive" Analyse.

Nun haben allerdings bei diesem Übergang von der Grau- zur Rotanschauung die psychologischen Veränderungen ihren Grund in einem Wechsel der physiologischen Bedingungen, während beim Übergang der reinen Empfindungen zu den Anschauungsgebilden des Erwachsenen der Voraussetzung nach die physiologischen Bedingungen dieselben bleiben und noch "psychologische" Bedingungen mit eingeschaltet werden. Doch diese Verschiedenartigkeit der Bedingungen ist für die deskriptiv-psychologischen Verhältnisse der sinnlichen Anschauung vollkommen belanglos: in der Anschauung sind die den physiologischen Bedingungen einerseits und den "psychologischen" andererseits entsprechenden sinnlichen Gebilde durch eine "abstraktive" Analyse einzeln nicht mehr nachzuweisen, und darum dürfen wir auch nicht von der Bewußtseinsexistenz dieser Gebilde bei der Wahrnehmung, von den reinen Empfindungen als besonderen "Wahrnehmungsinhalten" sprechen.

In diesem Sinne haben sich dann auch andere Forscher ausgesprochen. So sagt z. B. HERING:
    "Es ist nach dem jetzigen Stand unseres Wissens nicht zulässig zu behaupten, daß beim erstmaligen wie beim letztmaligen Auftreten jenes Netzhautbildes genau dieselben reinen Empfindungen ausgelöst werden, daß sie aber das letzte Mal in Folge der Einübung oder Erfahrung etwas anders ausgelegt, zu einem etwas anderen Anschauungsgebilde verwarbeitet werden wie das erste Mal. Denn gegeben ist uns nur einerseits das Netzhautbild, und das ist beidenfalls dasselbe, und andererseits der ausgelöste Empfindungskomplex, und der ist beide Male verschieden; von einem Dritten, nämlich einer zwischen Netzhautbild und Anschauungsbild als Wahrnehmung eingeschlossenen reinen Empfindungen wissen wir nichts. Wir können also, wenn wir jede Hypothese (20) vermeiden wollen, nur sagen, daß der nervöse Apparat auf denselben Reiz das letzte Mal anders reagiert hat als das erste Mal, und daß dementsprechend auch der betreffende Empfindungskomplex verschieden ist." (21)
Wir werden also eine Wahrnehmungstheorie, welche die reine Empfindung als einen "Wahrnehmungsinhalt" der sinnlich-visuellen Anschauung bzw. Wahrnehmung und dementsprechend die Dingwahrnehmung als "Deutung" der reinen Empfindung zu fassen sucht, als irrig zurückweisen. Nicht in der "Deutung" unsagbarer reiner Empfindungen besteht die Dingwahrnehmung, sondern, wie ich später aufweisen werde, in der Auffassung der anschaulich sich darbietenden visuellen Gebilde als "Erscheinungen" einer von unserer Wahrnehmung unabhängigen materiellen Welt.

Dem bisher Gesagten möchte ich nun, um ein möglicherweise sich einschleichendes Mißverständnis auszuschließen, noch einiges Weitere über den verschiedenartigen Sinn von Wahrnehmungstheorien hinzufügen. Bei der Diskussion der eben zurückgewiesenen Wahrnehmungstheorie gingen wir so vor, daß wir prüften, ob die Teile, von deren Bestand in der Wahrnehmung die Theorie spricht, sich auch tatsächlich durch eine "abstraktive" psychologische Analyse als besondere Teile aufweisen lassen. Theorie der Dingwahrnehmung in diesem ersten Sinn würde also bedeuten, daß man die "Konstituentien" der Wahrnehmung, d. h. alle diejenigen durch rein deskriptive Analyse herauszulösenden Teile angibt, welche allgemein für das Bestehen einer Dingwahrnehmung erforderlich sind, aus denen sich jede Dingwahrnehmung zusammensetzt. Wahrnehmungstheorie kann man aber noch in einem zweiten, ganz anderen Sinn treiben, indem man nämlich nach den allgemeinen Bedingungen fragt, die erfüllt sein müssen, damit eine Dingwahrnehmung zustande kommt. Die Fragestellung ist also jetzt eine ganz andere. Bei der Theorie im ersten Sinn kam es auf die Beschreibung und Zerlegung eines komplexen psychologischen Ganzen an, jetzt aber handelt es sich um die kausale Erklärung des Entstehens dieses Ganzen. Entsprechend dieser verschiedenen Fragestellung sind dann auch die Methoden der Forschung in beiden Fällen verschieden. Im ersten Fall verwendet man die ganz und gar im Psychologischen bleibende Zerlegung in einfachere konkrete und abstrakte psychologische Teile, im zweiten Fall hingegen sucht man durch eine experimentelle Variation der Bedingungen den komplizierten Bedingungskomplex in seine verschiedenartigen Bestandteile zu zerlegen. Gemeinsam ist beiden Methoden die Deskription des psychologischen Tatbestandes, aber während im ersten Fall dieser Tatbestand selbst nach den verschiedenen Richtungen analysiert wird, kommt es im zweiten Fall auf die Analyse der Bedingungen des tatsächlich Vorhandenen an. Und diesem Unterschied in dem, was analysiert werden soll, entspricht auch das Auseinanderfallen der Trennungslinien in dem, was als einfach, was als analysierbar zu gelten hat. Wenn wir z. B. in der Abenddämmerung ein einfaches Weiß sehen, so können wir diese Farberscheinung durch die rein psychologische Analyse nicht mehr in eine Mehrheit von einfacheren konkreten Teilen zerlegen; was aber die Bedingungen anlangt, die für das Zustandekommen gerade dieser Weißanschauung in Frage kommen, so hat man sehr wahrscheinlich neben den "peripheren" Reizbedingungen vielleicht noch eine ganze Reihe von "zentralen Erfahrungsmotiven" anzusetzen, die zu ermitteln und in ihrem Zusammenwirken verständlich zu machen, eben die Aufgabe der experimentellen Psychologie ist.


§ 5. Der Begriff der primitiven Empfindung

Im Anschluß an den Begriff der reinen Empfindung möchte ich den Begriff der primitiven Empfindung besprechen, bei dessen Festlegung man ebenfalls von kausal-genetischen Gesichtspunkten ausgegangen ist, der aber doch zu ganz anderen sinnlichen Gebilden führt als der Begriff der reinen Empfindung. Der Begriff ist von FRANZ HILLEBRAND in seiner Arbeit über "Die Stabilität der Raumwerte auf der Netzhaut" (22) aufgestellt worden; er nimmt nur im Besonderen auf die Tatsachen des Gesichtssinnes Bezug.

Ausgehend vom Begriff HERINGs vom Sehding, bzw. der Empfindung, worunter das jeweils vollkommen anschaulich sich darstellende Sinnliche zu verstehen ist (23), stützt HILLEBRAND seine Begriffsbestimmung auf folgende Überlegung: Nach der allgemeinen Ansicht ist die Lokalisation des Gesehenen im Raum
    "im allgemeinen nicht bloß durch die Besonderheit des äußeren Reizes ... bestimmt, sondern auch durch die verschiedenartigsten Motive" (24),
und eben dadurch kommt es, daß wir bei denselben äußeren Reizbedingungen unter Umständen verschiedene Empfindungen haben können. Eine projektivische Zeichnung z. B. braucht unter Umständen gar nicht als solche aufgefaßt zu werden, "sondern einfach als ein in der Ebene des Papieres oder der Tafel liegendes System von Linien" (25). Im allgemeinen freilich werden wir die Zeichnung wirklich als "Bild" sehen und dementsprechend die einzelnen Teile der Zeichnung in einer verschiedenen Tiefe lokalisieren. Dabei kann die Zeichnung auch so beschaffen sein, daß (wie bei den sogenannten invertierbaren Figuren) die Tiefenlokalisation so oder anders ausfallen kann, daß Linien, die einmal nach vorn lokalisiert werden, ein anderes Mal als hinten liegend erscheinen, je nachdem, welche zentralen Motive die Tiefenlokalisation bestimmen.

Gerade diese Beispiel aber können uns die Veranlassung geben, die "zentralen (dispositionellen) Bedingungen" in zwei Arten zu scheiden:
    "in solche, welche immer wirksam sind, gleichgültig welches die periphere Erregung ist, die die neue Empfindung hervorruft, und solche, die nur bei bestimmten peripheren Erregungen zur Wirkung kommen." (26)
So bestimmt z. B.
    "der Akt der Konvergenz, welcher erforderlich ist, um einen leuchtenden Punkt in einem dunklen Raum zu fixieren, dessen Tiefe im Sehraum, die durch die periphere Erregung für sich nicht bestimmt wäre. Die vom Zentrum ausgehende Lokalisation findet immer statt, gleichgültig welcher Art die Erregung ist, die an den Stellen des deutlichsten Sehens auftritt." (27)
Bei einer perspektivischen Zeichnung hingegen hat die Lokalisation der einzelnen Teile des Bildes ihren Grund in den bestimmten perspektivischen Eigenschaften der Zeichnung, also in Besonderheiten der momentanen peripheren Erregung bzw. des Netzhautbildes.

Die Bedeutung dieser Scheidung liegt darin, daß sich die in den speziellen Eigentümlichkeiten des Netzhautbildes liegenden Motive der Lokalisation, "die man als Erfahrungsmotive im engeren Sinn bezeichnen kann" (a. a. O.), ein einzelnen Fall ausschließen lassen. Wir erhalten also, je nachdem wir die letzteren mitwirken lassen oder nicht, bei denselben peripheren Reizen zwei verschiedene Tiefenlokalisatioinen, oder wie wir auch sagen können, zweierlei Empfindungen. Diejenige "Empfindung" nun, bei der die Erfahrungsmotive im engeren Sinn nicht wirksam sind, bezeichnet HILLEBRAND als primitive Empfindung und stellt diese der modifizierten Empfindung als einer solchen gegenüber, bei der die betreffenden Motive wirksam sind. So ist, um auf unser früheres Beispiel zurückzukommen, diejenige Anschauung, bei der wir die Zeichnung als ein auf einer Papierfläche angeordnetes Liniensystem auffassen, eine primitive Empfindung, während es sich dann, wenn wir in der Zeichnung ein "Bild" sehen, um eine modifizierte Empfindung handelt (28).

Es versteht sich, daß der so erläuterte Begriff der primitiven Empfindung durchaus relativ ist, denn
    "nur mit Bezug auf den Ausschluß derjenigen nicht in der peripheren Erregung begründeten Ursachen der Lokalisation, die sich überhaupt ausschließen lassen, nennen wir die Empfindung primitiv und halten uns dabei gegenwärtig, daß es auch im früheren Empfindungsleben erworbene Momente gibt (oder geben kann), die wir nicht auszuschließen vermögen. In diesem Sinne ist also die primitive Empfindung nicht notwendig identisch mit derjenigen, welche etwa der Neugeborene haben würde, wenn sich auf seiner Netzhaut derselbe Vorgang abspielt wie beim erwachsenen Individuum." (29)
In dieser letzteren Bemerkung ist zugleich auch dasjenige angedeutet, was den Begriff der primitiven Empfindung von unserem vorher erörterten Begriff der reinen Empfindung scheidet. Die reinen Empfindungen treten im Bewußtsein des Neugeborenen auf, und es bedarf erst besonderer Theorien, um zu entscheiden, ob derartiges auch in der Erfahrung des Erwachsenen vorkommt; die primitiven Empfindungen hingegen gehören ihrer Definition gemäß der Erfahrung des Erwachsenen an, sie sind sinnliche Anschauungen, die nur der Besonderheit ihrer Bedingungen wegen aus den übrigen Empfindungen herausgehoben sind. Sie heißen nicht darum primitiv, weil sie in einem primitiven Bewußtsein und eventuell nur in diesem auftreten, sondern weil sie für die Erfahrung des psychologischen Forschers in gewisser Weise etwas Primitives darstellen insofern, als dieselben physiologischen Erregungen, die den primitiven Empfindungen zugrundeliegen, unter Umständen auch andere Empfindungen im Gefolge haben können, für deren Zustandekommen wir außer den Bedingungen der primitiven Empfindungen noch andere Motive verantwortlich machen müssen. In der Empfindung als solcher ist darum auch keinerlei "Hinweis darauf gegeben, ob wir es mit einer primitiven oder mit einer modifizierten Empfindung zu tun haben." (30)

Auf die Brauchbarkeit dieses Begriffs der primitiven Empfindung für die Behandlung des Lokalisationisproblems brauchen wir hier nicht einzugehen; uns kommt es nur darauf an, einmal ob der Begriff ein solcher ist, daß er psychologische Realitäten bezeichnet, und zum anderen, ob er zum Fundamentalbegriff der Empfindungslehre gemacht werden kann.

Was nun die erste Frage betrifft, so ist ja schon in den vorhergehenden Ausführungen hervorgehoben worden, daß die primitiven Empfindungen nicht irgendwelche gedanklichen Konstruktionen, sondern nach bestimmten Gesichtspunkten ausgewählte sinnliche Anschauungen bezeichnen sollen, die sich im Bereich der Erfahrung des Erwachsenen aufweisen lassen. In dieser Hinsicht wäre also nichts gegen die Aufstellung und Verwendung des Begriffs zu sagen.

Und auch bei der Beantwortung der zweiten Frage können wir uns kurz fassen: Indem die Gesamtheit der Empfindungen in primitive und modifizierte Empfindungen geschieden wird, ist zum Ausdruck gebracht, daß der Begriff der primitiven Empfindung gar nicht als Fundamentalbegriff der Empfindungslehre gedacht ist. Aber der allgemeine Empfindungsbegriff, von dem HILLEBRAND ausgeht, soll sinnliche Gebilde bezeichnen, mit denen wir uns im zweiten und dritten Kapitel befassen werden, so daß ich an dieser Stelle nur auf die nachfolgenden Ausführungen zu verweisen brauche.


§ 6. Die einfache Empfindung

Ein zweiter Empfindungsbegriff, der für die Empfindungslehre allgemeine Bedeutung beansprucht, ist der Begriff der einfachen Empfindung, wie ihn WUNDT ausgebildet hat. Dieser Forscher wird von folgender Überlegung aus zu seinem Empfindungsbegriff geführt:

Wenn wir unser Seelenleben in der unmittelbaren Wahrnehmung beobachten, so stellt es sich als ein
    "unaufhörliches, nirgends der Beobachtung stille haltendes Geschehen dar, das zugleich in jedem Augenblick von überaus zusammengesetzter Beschaffenheit ist." (31),
und zwar geht diese Zusammensetzung nach zwei Richtungen hin: einmal ist jeder Inhalt regelmäßig von einer Anzahl anderer Inhalte, auf die wir nicht gerade achten, begleitet und "infolge seiner Verbindung mit diesen zusammengesetzt" (32), und zum anderen ist jeder aus seiner Begleitung herausgelöste Einzelinhalt in sich noch nichts Einfaches, sondern im Allgemeinen noch aus verschiedenen psychologischen Teilen zusammengesetzt. Die Zerfällung in einfachere Bestandteile ist aber nicht etwa bloß das Resultat einer wissenschaftlichen Reflexion, sondern die seelischen Vorgänge führen "Bedingungen mit sich, die uns fortwährend (auch im gewöhnlichen Leben) veranlassen", die Zusammensetzung zu lösen und die Einzelinhalte für sich zu betrachten, indem sich uns nämlich die einzelnen Bestandteile des psychologischen Geschehens "in fortwährend wechselnden Verbindungen" (33) darbieten und sich dadurch verschiedene Einzelbestandteile aus dem Gesamtgeschehen als "relativ selbständige Teilinhalte" (a. a. O.) herausheben. Tritt etwa ein Inhalt a nacheinander in den verschiedensten Verbindungen mit anderen Inhalten auf, so liegt hierin ganz von selbst schon ein "subjektives Moment", ihn aus der übrigen Gesamtheit herauszuheben und gesondert von allen übrigen Bestandteilen zu betrachten. Auf diese Weise liefert schon die vorwissenschaftliche Denkweise eine relativ weitgehende Zerfällung der komplexen Inhalte in einfachere Bestandteile. Auf diese Weise wird es jedoch kaum zu einer vollständigen Auflösung in wirklich unzerlegbare Bestandteile kommen. Diese kann erst die psychologische Analyse vollziehen, indem diese weitere Variationsmöglichkeiten aufzufinden sucht, welche den sich in der gewöhnlichen Betrachtungsweise als einheitlich gebenden Bestandteil a noch in mehrere einfachre Bestandteile zu zerlegen gestattet. So wird die psychologische Analyse den schon im naiven Denken begonnenen Prozeß weiter und weiter fortsetzen. Es ist jedoch klar, daß die Absonderung immer einfacherer Inhalte nicht bis ins Unendliche fortgehen kann, sondern daß wir schließlich einmal zu "letzten Bestandteilen" kommen müssen, die sich durch eine rein psychologische Analyse auf keine Weise in noch einfachere Bestandteile zerlegen lassen. Diese unzerlegbaren Inhalte nennt WUNDT die psychischen Elemente.

Was diese psychischen Elemente allgemein charakterisiert, das ist, wie WUNDT ausdrücklich hervorhebt, zweierlei, nämlich 1) daß sie "empirische Elemente" sind, d. h. daß sie nicht irgendwelche hypothetisch angenommenen Voraussetzungen für das reale psychische Geschehen bilden, sondern sich nach ihrem gesamten qualitativen Sein in der unmittelbaren psychologischen Wahrnehmung aufweisen lassen; und 2) ist zu beachten, daß die psychischen Elemente in der "isolierten Beschaffenheit, in der wir sie begrifflich fixiert denken, in der Wirklichkeit niemals existieren", sondern immer eingebettet in einen größeren Zusammenhang anderer Inhalte und "insofern reine Produkte begrifflicher Abstraktionen" darstellen.

Den Empfindungsbegriff bestimmt WUNDT dann von diesen Gesichtspunkten aus in folgender Weise: Die zusammengesetzten "psychischen" Vorgänge, also die Inhalte, die nicht "psychische Elemente" sind, zerfallen in zwei große Klassen, nämlich in Vorstellungen und in Gemütsbewegungen, wobei die Scheidung dadurch bedingt ist, daß wir uns in den Vorstellungen "auf Gegenstände außerhalb unseres Bewußtseins" (34), in den Gemütsbewegungen aber "auf ein subjektives Verhalten des Bewußtseins selber" (a. a. O.) beziehen. Die Empfindungen definiert WUNDT dann ganz allgemein als die psychischen Elemente der Vorstellungen.

Um sich den Umfang von WUNDTs Empfindungsbegriff zu verdeutlichen, muß man beachten, daß WUNDTs Begriff der Vorstellung nicht etwa bloß die Phantasie- und Erinnerungsvorstellungen, sondern auch das gesamte Gebiet der sinnlichen Wahrnehmung mit umfaßt, wie ja überhaupt nach WUNDT der gewöhnlich statuierte Unterschied zwischen den sinnlichen Wahrnehmungen einerseits und den Phantasie- und Erinnerungsvorstellungen andererseits kein unmittelbar psychologischer ist, sondern ein durch die Vermengung "des psychologischen Tatbestandes mit einer erkenntnistheoretischen Reflexion entstandenes Vorurteil". (35) Durch diese Stellungnahme WUNDTs und die ihr entsprechende weite Fassung des Begriffs der "Vorstellung" wird dann auch der Umfang des Begriffs der Empfindung sehr weit, denn zu ihm gehören die "Elemente" aller Wahrnehmungs-, Phantasie- und Erinnerungsvorstellungen.

WUNDTs Ansicht, daß von einem rein psychologischen Standpunkt aus keine charakteristischen Unterschiede zwischen der Wahrnehmung und der Phantasie aufzuweisen sind, dürfte sich wohl kaum halten lassen. Jedoch dem schon erwähnten allgemeinen Plan entsprechend, nicht auf die in dieser Hinsicht bestehenden Streitpunkt einzugehen, möchte ich mich hier nicht weiter auf die Begründung dieser meiner gegenteiligen Ansicht einlassen. Ich möchte darum auch WUNDTs Empfindungsbegriff auf dem Gebiet der Phantasie- und Erinnerungsvorstellungen nicht weiter verfolgen, sondern ihm nur im Bereich der sinnlichen Wahrnehmung nähertreten. Die Empfindungen sind also nach WUNDT die "Elemente" der sinnlichen Wahrnehmungen. Vertiefen wir uns nun anhand einer bestimmten Wahrnehmung in die Einzelheiten und die Tragweite dieser Bestimmung!

In einer Ecke meines Zimmers nehme ich einen Ofen wahr. Die Reflexion über dieses Wahrnehmungserlebnis zeigt mir, daß diese Ofenwahrnehmung nicht etwas psychologisch Einfaches ist, sondern sich zunächst in zwei ganz verschiedenartige einfachere Bestandteile zerlegen läßt: in die sinnliche Anschauung und die "Deutung" dieser Anschauung auf einen objektiv existierenden dinglichen Gegenstand. Indem wir diese Unterscheidung machen, haben wir wohl eine Analyse ganz im Sinne WUNDTs insofern vollzogen, als wir aus dem Gesamterlebnis gewisse Teile durch die pointierende Aufmerksamkeit herausgehoben haben. Das Erlebnis der objektiven "Deutung" können wir allerdings nicht so deutlich vor uns hinstellen wie die sinnliche Anschauung, aber das Vorhandensein dieser "Deutung" können wir doch mit Gewißheit konstatieren.

WUNDTs Definition des Empfindungsbegriffs nach müßten wir nun durch eine weitere Analyse der beiden unterschiedenen Teile in beiden Fällen zu Empfindungen gelangen können. Doch da unser Begriff der "Deutung" schwierig zu fassen ist, so wollen wir nur bei der sinnlichen Anschauung die Analyse in einfachere Teile fortsetzen. Wie sieht die sinnliche Anschauung in unserem Beispiel der Ofenwahrnehmung aus?

Nun, wir sehen vor uns eine mannigfach gegliederte schwarzgraue Fläche in der und der anschauungsmäßig bestimmten Entfernung und Stellung in unserem Anschauungsraum. (36) Indem wir diese Beschreibung der Ofenanschauung vornehmen, achten wir der Reihe nach auf die verschiedenen (konkreten und abstrakten) Teile des visuellen Anschauungsbildes, machen sie zu besonderen Inhalten des Gesamtbildes. Wir müßten also, da wir, wie es scheint, eine Analyse im Sinne WUNDTs betrieben haben, die Stellung der schwarzen Fläche im Anschauungsraum, ihre anschauliche Entfernung vom Wahrnehmenden, ihre Form- und Farbenbeschaffenheiten als Bestandteile der sinnlichen Gesamtanschauung ansehen können, durch deren weitere Analyse wir schließlich zu Empfindungen kommen müßten. Eine solche Bezeichnungsweise würde jedoch ganz und gar nicht im Sinne WUNDTs sein. Für diesen fällt von vornherein - die Gründe hierfür wollen wir nicht weiter untersuchen - das Extensive als ein möglicher Elementarbestandteil der visuellen Wahrnehmung fort, und nur das Qualitative und Intensive bleibt als ein eventuelles Empfindungselement bestehen. Es hängt das, abgesehen von gewissen theoretischen Vorstellungsweisen, die sich WUNDT vom Extensiven der Gesichtswahrnehmung macht, zusammen mit der ganzen Orientierung von WUNDTs Empfindungsbegriff. Hierbei geht der Forscher nicht, wie wir es bisher zu tun versuchten, von den Tatsachen des Gesichtssinns aus, sondern von den Verhältnissen auf dem Gebiet der Töne. Verfolgen wir also diese Orientierungsmöglichkeit!

Wenn wir einen Ton hören und auf die einzelnen Bestimmungen des Phänomens achten, so können wir zeitliche, räumliche und rein tonale Merkmale unterscheiden. Wir hören den Ton nicht bloß, sondern wir hören ihn auch an einer mehr oder weniger bestimmten Stelle oder von einer Stelle herkommend; und dann hat der Ton auch eine gewisse Dauer, also eine zeitliche Bestimmung. Doch diese räumlichen und zeitlichen Bestimmungen erscheinen uns als etwas dem Ton mehr Äußerliches. Was den Ton allererst zum Ton macht, das sind die rein tonalen Merkmale, die wir durch Höhe, Stärke und Klangfarbe bezeichnen können. Darum nimmt WUNDT in seinen Begriff der Tonempfindungen die räumlichen und zeitlichen Bestimmungen nicht mit auf, sondern nur das nach Qualität und Intensität abstufbare rein Tonale.

Dehnen wir nun diesen am Tongebiet orientierten Empfindungsbegriff auch auf die übrigen Sinnesgebiete, im Besonderen also auch auf den Gesichtssinn, aus und bezeichnen wir, da die Empfindungen nach WUNDT etwas Elementares, Einfaches darstellen sollen, diesen Empfindungsbegriff zum Unterschied vom Begriff der reinen Empfindung durch eine "einfache Empfindung", so können wir allgemein definieren:
    Die einfachen Empfindungen sind diejenigen rein intensiven und qualitativ einfachen seelischen Zustände (37), die sich durch eine abstraktive Analyse aus den verschiedenartigen sinnlichen Wahrnehmungen herauslösen lassen.

§ 7. Kritisches zum Begriff
der einfachen Empfindung

Die Art und Weise, wie WUNDT zu seinem Empfindungsbegriff geführt wird, erscheint sehr natürlich und auch von einem deskriptiv-psychologischen Standpunkt aus von vornherein durchaus einwandfrei. Der Begriff der einfachen Empfindung unterscheidet sich dadurch ganz wesentlich vom Begriff der reinen Empfindung. Während dieser letztere durch die Vorstellung der reinen Abhängigkeit von peripheren physiologischen Bedingungen festgelegt war, nimmt der erstere keinerlei Bezug auf irgendwelche physiologischen Vorstellungsweisen: durch einen bestimmten Abstraktionsprozeß, der von sinnlich-anschaulichen Gebilden ausgehend, immer auf dem Gebiet der "psychologischen Tatsachen" bleibend, wieder mit sinnlich-anschaulich erfaßbaren Inhalten endet, gelangen wir zu den einfachen Empfindungen. Der Begriff ist also "rein psychologisch" festgelegt, und dadurch erscheint er auch viel eher geeignet, den Fundamentalbegriff der Empfindungslehre abzugeben, als der Begriff der reinen Empfindung. Wenn man seine Festlegung jedoch mehr im Einzelnen verfolgt, so erscheint auch er, wie wir schon vorher durch seine konsequente Anwendung auf dem Gebiet des Gesichtssinnes andeuteten, mit gewissen Schwierigkeiten behaftet.

Ein erstes Bedenken kann man schon dabei haben, daß die einfachen Empfindungen als psychische Elemente keine weiteren "dem Wechsel unterworfenen Bestandteile" haben sollen, und daß ihnen WUNDT trotzdem noch "Intensität und Qualität als ihre beiden unveräußerlich zusammengehörigen allgemeinen Eigenschaften" (38) zuschreibt. Wie anders, so fragt man sich, sollen wir denn zur Unterscheidung von Intensität und Qualität kommen, als dadurch, daß mit derselben Qualität verschiedene Intensitäten (und umgekehrt) verbunden vorkommen, sich also innerhalb der einfachen Empfindung noch ein Wechsel von Verschiedenartigem vollziehen kann. Es scheint also, als ob innerhalb dessen, was WUNDT als einfache Empfindung hat stehen lassen, noch eine Fortsetzung des vorher angewandten Abstraktionsprozesses möglich ist. Jedenfalls werden wir bei der Unterscheidung von Intensität und Qualität der Empfindung doch auch von einer Abstraktion reden ganz ebenso, wie auch WUNDT die zu den Empfindungen führende Analyse als einen Abstraktionsprozeß bezeichnet hat. Freilich wäre es möglich - und WUNDTs Begriffsbestimmung läßt das als wahrscheinlich annehmen -, daß von Abstraktion in zweierlei Sinn geredet werden kann; so ganz willkürlich wird doch wohl WUNDT nicht irgendwo in einem gleichartigen Prozeß einen so fundamentalen Schnitt machen wollen. Wir werden also diese Möglichkeit genauer überlegen müssen, und zwar wollen wir uns wieder zuerst die Beispiele auf dem Gebiet des Gesichtssinnes gegenwärtig halten.

Nehmen wir etwa an, daß wir die einfachen Empfindungen herausanalysieren wollten, die vorhanden sind, wenn wir die rote Kugel, von der früher die Rede war, wahrnehmen. Wir würden da zunächst die sinnliche Anschauung, in der uns die Kugel zur Erscheinung kommt, für sich zu betrachten haben. Indem wir dies tun, vollziehen wir, schon wenn wir nur das Sinnliche in Betracht ziehen, das zur unmittelbaren Anschauung kommt, eine "Abstraktion"; denn die sinnliche Anschauung der Kugel steht nicht für sich da, sondern gehört in ein größeres sinnliches Ganzes, in dem neben der Kugel auch noch deren Umgebung zur Erscheinung kommt, von der wir in der momentanen Betrachtung absehen. Doch auch wenn die sinnliche Kugelanschauung nicht als ein volles konkretes Bewußtseinsganzes gelten kann, ein "Abstraktes werden wir es doch kaum nennen können, denn es ist ein "konkreter Teil" (39), ein wahrhaftes Stück des sinnlichen Gesamtinhaltes, analog wie ein Tischbein zwar kein Tisch, aber doch ein Stück des Tisches ist. Der erste Schritt unseres "Abstraktionsprozesses" hat uns also zu konkreten Teilen des Gesamterlebnisses geführt.

Die "Selbständigkeit" der Inhalte wird schon geringer, wenn wir uns jetzt von der gesamten sinnlichen Anschauung der Kugel zur Betrachtung der farbigen Fläche wenden, durch die uns die Kugel sinnlich vorgestellt wird, wenn wir also absehen: einmal von der Entfernung, in der uns die Fläche erscheint, und zum anderen von der Stellung, die die Fläche innerhalb des Anschauungsraumes einnimmt. Immerhin könnten wir auch da noch mit einer gewissen Berechtigung von einem konkreten Teil reden, denn die Fläche ist gleichsam das Hauptstück der sinnlichen Kugelanschauung, nämlich das, aufgrund dessen wir erst sagen können, daß wir eine Kugel wahrnehmen.

Doch damit sind wir ja noch nicht zur einfachen Farbempfindung gelangt, sondern dazu ist noch notwendig, daß wir auch von den räumlichen Eigenschaften der Fläche, also der räumlichen Ausbreitung, von der räumlichen "Flächenstruktur" und von der (eventuellen) Krümmung absehen und nur die Farbigkeit für sich betrachten. Die "Teile", zu denen wir bei diesem Schritt des Abstraktionsprozesses kommen, sind nun aber gegenüber den früher erhaltenen wesentlich anderer Natur; die Farbigkeit der Kugel können wir nicht mehr als konkreten Teil ansehen, denn die Farbe für sich allein ohne irgendeine räumliche Ausbreitung vermag in keiner Weise einen Teil des Gesichtsfeldes zu erfüllen, kann also auch nicht als ein Stück der sinnlichen Anschauung angesprochen werden. Hier beim Übergang von der farberfüllten Fläche zur Farbigkeit für sich allein scheint also ein bedeutsamer Schnitt in unserem analysierenden Abstraktionsprozeß zu liegen, indem wir zu "Teilen" geführt werden, die wahrhaft abstrakter Natur sind und die man deshalb als abstrakte Teile den früher erhaltenen konkreten Teilen gegenüberstellen kann.

An dieser Stelle liegt jedoch nicht der Schnitt, den WUNDT im Abstraktionsprozeß macht. Dieser kommt vielmehr erst dann, wenn wir dazu übergehen, an der Farbe noch eine Qualität und Intensität zu unterscheiden. Soll WUNDTs Unterscheidung nun nicht willkürlich sein, so müssen wir bei diesem letzten Schritt abermals zu neuartigen "Teilen" kommen. Und in der Tat, wenn man sich die Sachlage genauer überlegt, scheint das auch der Fall zu sein. Die "Zerfällung" der Farbigkeit in Intensität und Qualität ergibt zwar auch wieder "abstrakte" Teile, aber doch abstrakte Teile einer höheren Ordnung; denn die Art und Weise, in der sich Qualität und Intensität zur Farbe "zusammensetzen", ist eine ganz andere als diejenige, in der Farbe und Form die Fläche ausmachen. Dieser Unterschied gibt sich auch im Grad der Leichtigkeit zu erkennen, mit dem wir im einen und im anderen Fall die Analyse vollziehen können. Form und Farbe treten gleichsam von selbst auseinander, das eine scheint mit dem anderen gar nichts weiter zu tun zu haben, Qualität und Intensität einer Farbe aber bilden eine innige Einheit, und von einer eigentlichen Sonderung durch den Abstraktionsprozeß kann fast nicht mehr gesprochen werden. Das merkt man deutlich, wenn es sich um die Herstellung von Gleichungen zwischen zwei farbigen Flächen handelt. Farbengleichheiten oder -verschiedenheiten zu konstatieren, ist verhältnismäßig leicht, aber bei reinen Qualitäts- oder gar Intensitätsvergleichen ist das Urteil bei weitem unsicherer. Eine vollkommene abstraktive Sonderung des einen vom anderen ist eben nicht gut möglich; trotz des Bemühens, im abstraktiven Betrachten beides scharf zu trennen, fließt das eine mit dem anderen immer wieder bis zu einem gewissen Grad zusammen. Wir werden also nicht umhin können, die Differenzierung, den Schnitt, den WUNDT im analysierenden Abstraktionsprozeß macht, nicht als willkürlich, sondern als durch die Tatsachen selbst gegeben anzuerkennen.

Daß sich beim Gehörssinn, an dem - wie wir schon hervorgehoben haben - WUNDTs Empfindungsbegriff in der Hauptsache orientiert erscheint, die Sache ebenso verhalten wird, ist von vornherein wahrscheinlich. Wir sahen ja auch schon, daß sich hier die Trennung des rein Tonalen von den räumlichen und zeitlichen Eigenschaften gleichsam von selbst ergibt. Diese letzteren erscheinen gewissermaßen als etwas Äußerliches, als etwas sich bloß an den Ton Anheftendes. Die Abstraktion von den räumlich-zeitlichen Eigenschaften des Tones vollzieht sich deshalb auch ohne weiteres, und das, was bei der Abstraktion als reiner Ton übrig bleibt, ist zwar kein voller konkreter Inhalt, aber doch etwas, was einem solchen noch sehr nahe steht. Unterscheiden wir hingegen an den Tönen noch Qualität und Intensität, so führt eine solche Trennung zu weit weniger selbständigen Teilen und WUNDTs Begriffsbestimmung findet so auch auf dem Gebiet des Tonsinnes seine Bestätigung.

Auch bei den übrigen Sinnesgebieten, um auch darauf noch einen kurzen Blick zu werfen, dürfte die in Rede stehende Scheidung keine besonderen Schwierigkeiten machen, ausgenommen freilich das Gebiet des Tastsinnes. Denn bei diesem erscheinen mir die räumlich-örtlichen Bestimmungen so eng mit den Qualitäten und Intensitäten verwachsen, daß eine besondere Untersuchung über die Berechtigung von WUNDTs Demarkationslinie im Abstraktionsprozeß geboten wäre. An dieser Stelle möchte ich jedoch auf diese Frage nicht weiter eingehen, sondern mich gleich wieder dem Gesicht und Gehör zuwenden, denn auch bei diesen Sinnesgebieten sind noch nicht alle Bedenken beseitigt, die WUNDTs Begriffsbestimmung anregt.

Wir haben zwar anerkannt, daß die Trennung des Extensiven vom Qualitativen und Intensiven einen in der Sache begründeten Schnitt im Abstraktionsprozeß bedeutet, aber es ist jetzt weiter zu beachten, daß das bloß qualitativ und intensiv Bestimmte noch nicht ohne weiteres als einfache Empfindung im definierten Sinn bezeichnet werden darf, sondern daß nur dann diese Bezeichnung angewendet werden soll, wenn als weiteres wesentliches Merkmal auch noch der Charakter der Einfachheit vorhanden ist. Wir werden also jetzt noch zusehen müssen, in welcher Weise sich der Unterschied zwischen dem qualitati und intensiv Einfachen und einem Zusammengesetzten bestimmen läßt.

Der Übergang vom qualitativ und intensiv Zusammengesetzten zum Einfacheren und schließlich Einfachen ist im Sinne von WUNDTs Redeweise wiederum ein "Abstraktionsprozeß", aber die Richtung, in der wir uns hier bewegen, muß eine andere sein als diejenige, in der wir vom konkreten Bewußtseinsinhalt aus zu den Qualitäts- und Intensitätsinhalten gelangt sind. Dies gibt auch WUNDTs Begriffsbestimmung zu erkennen, die die extensive Vorstellungsverbindung von der intensiven scheidet, wobei als die Grundformen der ersteren die räumlichen und zeitlichen Vorstellungen angegeben werden, während unter einer intensiven Vorstellungsverbindung eine solche verstanden wird,
    "bei der sich die in eine Vorstellung eingehenden Empfindungen zu einem Ganzen verbinden, das, wie jedes der sie konstituierenden Elemente, lediglich qualitative und intensive Eigenschaften erkennen läßt." (40)
Als typisches Beispiel der intensiven Vorstellungsverbindung werden von WUNDT die Gehörsvorstellungen angegeben (41). Bei diesen vollzieht sich die Abstraktion von den intensiven Eigenschaften relativ am leichtesten, aber was übrig bleibt, das sind nicht etwa schon einfache Empfindungen, sondern Vorstellungen, d. h. Zusammensetzungen von einfachen Empfindungen. Und zwar handelt es sich bei den meisten unserer Gehörsvorstellungen um eine Zusammensetzung in zweierlei Hinsicht, nämlich einmal sind die meisten Töne von mehr oder weniger stark hervortretenden Geräuschen begleitet, und zum anderen sind, wenn wir von den begleitenden Geräuschen ganz absehen, die Gehörsvorstellungen im allgemeinen Klänge, d. h. aus einer Mehrheit von einfachen Tönen zusammengesetzt. Bei diesen Klängen kann zwar je nach dem Fall, um den es sich hier handelt, die Verschmelzung zu einem tonalen Ganzen eine mehr oder weniger vollkommene und insofern die Verbindung eine innere oder losere sein, aber etwas schlechthin Einfaches wird es kaum sein. Das, was wir gewöhnlich als einen einzelnen Ton bezeichnen, ist keine einfache Tonempfindung im Sinne unserer Definition, sondern etwas, was wir nicht unpassend als "Einzelklang" bezeichnen könnne. Geben wir z. B. auf dem Klavier das a an, so hören wir nicht einen Ton, sondern wir können neben dem Grundton, der sich uns mit besonderer Deutlichkeit aufdrängt, wenn wir geübt sind, immer noch einige "Obertöne" unterscheiden. Und so kommt allgemein die absolut einfache Tonempfindung für sich in der Wirklichkeit niemals vor (42), sondern sie stellt nur einen Grenzfall dar, dem gewisse Tonphänomene (bei Labialpfeifen und Stimmgabeln) nahe kommen, der aber ansich niemals ganz erreicht wird.

Wie aber kommen wir, so wollen wir jetzt fragen, dazu, einfache Tonempfindungen als psychologisch aufweisbar zu statuieren, trotzdem unsere Erfahrung uns immer nur "Zusammensetzungen" von mehreren Tönen darbietet? Die andere Frage, inwieweit wir die in der Erfahrung vorkommenden Tonphänomene als eine "Zusammensetzung" oder "Verbindung" von einfachen Empfindungen ansehen dürfen, lassen wir dabei einstweilen dahingestellt; uns interessiert vorerst nur die Frage, welches der Gang des Abstraktionsprozesses ist, der von den Tonkomplexen zu den einfachen Tönen hinführt, und zum anderen, wie sich die unterschiedenen Tonempfindungen im tonalen Ganzen realisiert finden.

Nun, es unterliegt keinem Zweifel, daß es Fälle gibt, bei denen der Übergang vom tonalen Gesamtinhalt zu einfacheren Inhalten keine besondere Schwierigkeit macht. Hören wir etwa ein Blasinstrument mit einer Geige zusammen spielen, so wird es auch dem wenig geübten Ohr ohne weiteres möglich sein, den Geigen- bzw. Trompetentönen jedem für sich, die Aufmerksamkeit zuzuwenden, jeden allein in der "Abstraktion" herauszuheben. Damit ist aber nur ein möglicher erster Schritt in unserem Abstraktionsprozeß vollzogen; wir müssen weiterschreiten und versuchen, ob wir nicht z. B. beim eben gehörten Geigenton ein Einfacheres aus der Gesamtheit heraushören können. Das wird jedenfalls schon wesentlich schwieriger sein als vorher das Heraushören des Geigentones als Ganzes und vielleicht für viele schon gar nicht mehr vollziehbar. Aber immerhin wird es doch noch sehr vielen möglich sein, zu sagen, ob der gehörte Geigenton derselbe ist wie ein angegebener Klavierton oder nicht, und eben darin zeigt sich, daß, wenn wir vielleicht auch nicht den Geigenton für sich als ein "Komplexes" erkennen können, unsere Abstraktionsfähigkeit doch weiter geht, als es den Anschein haben mag: wir heben tatsächlich, indem wir Klavier- und Geigenton auf ihre Höhe vergleichen, den Grundton aus der übrigen Tonmasse heraus, erfassen ihn in der Abstraktion gleichsam ganz für sich. Und so haben wir ganz allgemein die Fähigkeit, auf den Hauptton innerhalb des Einzelklangs für sich zu achten und damit den einfachen Ton als einen in der unmittelbaren Wahrnehmung enthaltenen "Bestandteil" psychologisch zu realisieren; denn im Herausheben des Grundtones für sich habt unser beschriebener Abstraktionsprozeß sein Ende erreicht. Gehen wir weiter und unterscheiden am Einzelton Höhe und Intensität, so sind wir mit unserem Abstrahieren in eine neuartige Phase eingetreten, analog dem früher erörterten Fall es Übergangs zu Qualität und Intensität einer Farbe. Wir verstehen sonach die Bedeutung von WUNDTs Bedeutung des Begriffs der einfachen Tonempfindung und erkennen auch, daß die einfachen Tonempfindungen bis zu einem gewissen Grad zumindest ihre psychologische Realisierung finden, wenn auch nicht in der Isoliertheit, in der wir sie begrifflich fixiert denken, so doch als in eigentümlicher Weise aus dem Gesamtinhalt herausgehobene Gebilde, die wir beobachten und beschreiben und deren Gesetzmäßigkeiten wir ermitteln können. Darum erscheint der Begriff der reinen Empfindung auch - zumindest was das Tongebiet anlangt - sehr wohl brauchbar zum Aufbau der Empfindungslehre, und wenn wir uns die geleisteten Untersuchungen über die Tonempfindungen ansehen, so scheinen sie in der Tat auch von dem, was hier als einfache Tonempfindung bezeichnet wird, auszugehen. Sehen wir nun zu, wie sich in dieser Beziehung die Sache auf dem Gebiet des Gesichtssinnes verhält.


§ 8. Kritisches zur einfachen Empfindung
auf dem Gebiet des Gesichtssinnes

Wir sahen früher, daß der Begriff der einfachen Empfindung auf dem Gebiet des Gesichtssinnes nur auf die Farberscheinungen Anwendung finden soll. Wir erden nun von dieser Bestimmung ausgehen und uns die Frage vorlegen, ob alle Farberscheinungen einfache Empfindungen im Sinne WUNDTs sind, oder ob auch hier ein Gegensatz zwischen einfachen Empfindugnen und den aus solchen "zusammengesetzten" Farbvorstellungen zu statuieren ist. Ich will zunächst versuchen, WUNDTs Antwort auf diese Frage wiederzugeben; ich muß allerdings daraufhinweisen, daß ich mir nicht in jeder Hinsicht über die Stellungnahme WUNDTs zu dieser Frage klar bin, und daß es deshalb möglich ist, daß das, was ich als Ansicht WUNDTs wiedergeben werde, nicht in jeder Hinsicht das trifft, was WUNDT meint. Das liegt zum Teil an den eigenen Ausführungen WUNDTs, denn diese fassen da, wo es sich um die Farberscheinungen handelt, den Empfindungsbegriff bei weitem nicht mit der Bestimmtheit wie in den entsprechenden Erörterungen über die Tonphänomene. Während in Bezug auf die letzteren ausdrücklich betont wird, daß von einer Empfindung nur dann geredet werden soll, wenn es sich um ein qualitativ und intensiv Einfaches handelt, wird bei den Farberscheinungen auf die Einfachheit scheinbar kein besonderer Nachdruck gelegt. Man könnte hieraus die Vermutung ableiten wollen, daß WUNDT auf dem Gebiet der Farben keinen Unterschied zwischen Einfachem und Zusammengesetzten macht; doch dem ist nicht so, sondern auch bei den Farberscheinungen können wir nach WUNDT in gewisser Weise Einfacheres herausanalysieren und auf diesem Weg zu einfachen Farbempfindungen kommen. Freilich bilden die an denselben Raumstellen gesehenen Farben im allgemeinen viel innigere "Verbindungen" als die gleichzeitig gehörten Töne, aber die pointierende Abstraktion vermag auch hier noch Mehrheiten zu schauen, und zwar in ganz analoger Weise wie bei den Tönen. Schon die gewöhnliche Redeweise läßt dies erkennen. So sprechen wir z. B. davon, daß die Farbe, die wir vor uns sehen, ein schwärzliches Blau oder ein weißliches Rot ist, daß die Farbe des Papiers, auf dem ich schreibe, kein reines Weiß ist, sondern daß ihm auch in Stich ins Blaue zukommt usw. Auf diese Weise trennen wir schon in der vorwissenschaftlichen Betrachtung, was eigentlich miteinander vereint ist. Es wird uns dies wesentlich dadurch erleichtert, daß, wie bei den Tönen "die neben einem stärkeren Hauptton gehörten Nebentöne wechseln und in gewissen Grenzfällen unmerklich werden" (43), so auch bei den Farben, die mit den stärker hervortretenden "Grundfarben" gesehenen "Nebenfarben" wechseln und ebenfalls in gewissen Grenzfällen unmerklich werden.
    "Jede bunte Farbe kann bei gleicher Qualität ihres bunten Merkmals ... mehr oder weniger weißlich, gräulich oder schwärzlich, gleichsam durch Weiß, Grau oder Schwarz in verschiedenem Grad verschleiert oder verhüllt sein." (44)
Diese Verschleierung oder Verhüllung tritt jedoch in manchen Fällen zurück, und wir nähern uns auf diese Weise gewissen Farberscheinungen, die wir als "unverhüllte bunte Farben" (45) bezeichnen können. Andererseits kann ein Weiß, Grau oder Schwarz einen mehr oder weniger bunten Farbenton aufweisen, und auch da gibt es gewisse Fälle, bei denen die Tonung fast vollkommen verschwindet, so daß wir von "tonfreien Farben" reden können. Auf diese Weise haben wir, analog wie wir bei den Tönen die einfachen Tonempfindungen erhalten haben, auch beim Gesichtssinn einfache Farben herausanalysiert, die wir gewissen inneren Eigentümlichkeiten der Farben entsprechend in zwei Gruppen sondern können, nämlich in die unverhüllten bunten und in die tonfreien Farben (in der Terminologie HERINGs) oder wie WUNDT es ausdrückt, in die vollkommen gesättigten und die farblosen Lichtempfindungen.

Die gesättigten Farben bilden eine Reihe stetig ineinander überzuführender einfacher Empfindungen, bei denen von einer weiteren "Zerlegung" in noch einfachere "Bestandteile" nicht geredet werden kann. Wir benennen zwar alle unsere einfachen Farbempfindungen nach den vier sogenannten Hauptfarben Rot, Gelb, Grün und Blau, und es könnte auch scheinen, als ob alle gesättigten Farben aus diesen vier Hauptfarben zusammengesetzt, also nur die Hauptfarben wirkliche Farbempfindungen sind. Doch das ist eine Täuschung; "in unserer unmittelbaren Empfindung" haben die Hauptfarben keinen "von den Übergangsfarben spezifisch verschiedenen Charakter" (46),
    "eine Farbe, die zwischen je zwei anderen, nicht allzu entfernten liegt, erscheint aber beiden in gewissem Grad verwandt und wir fassen sie daher in diesem Sinn als eine Zwischenfarbe auf." (47)
Wenn wir aber in unserer Sprache für die Hauptfarben besondere Namen haben und für die übrigen nicht, so liegt das daran, daß "die Farben, wie die Geschichte der Sprache wahrscheinlich macht, überall von gewissen äußeren Objekten ihre Namen erhalten haben", und daß an diesen Objekten bestimmte Sinneseindrücke, eben die, welche wir als Hauptfarben benennen, immer wiedergekehrt sind (das Blau des Himmels, das Gründ der Vegetation, das Rot des Blutes und das Gelb der Gestirne (48),
    "worauf dann den übrig gebliebenen Farben von selbst die Stellung von Übergangsfarben zufallen mußte. Nur der Umstand, daß es gerade vier Hauptfarben gibt, mag vielleicht in der subjektiven Natur der Empfindung eine gewisse Grundlage haben, da ja zwei benachbarte Hauptfarben einander nahe genug sein müssen, damit bei allen dazwischenliegenden Empfindungen eine Verwandtschaft mit beiden merklich wird." (49)

    "Hätten wir uns aus irgendwelchen Gründen daran gewöhnt, Purpur und Orange als Hauptfarben anzusehen, so würde sich wahrscheinlich niemand scheuen, dem Rot die Rolle einer Zwischenfarbe zwischen beiden zuzuschreiben." (50)
Diesen suggestiven Einfluß, den bei der psychologischen Analyse der Farberscheinungen rein äußerliche Umstände ausüben, erkennt man deutlich daran, daß die Maler, die ja bekanntlich Grün durch die Mischung gelber und blauer Pigmente herstellen, im Grün eine aus Gelb und Blau zusammengesetzte Farbe zu sehen meinen, während die Psychologen, die diesem Einfluß nicht unterliegen, das Grün als Hauptfarbe betrachten.

Wie sollen wir uns nun zu diesen Ausführungen WUNDTs stellen? Nun, zunächst ist anzuerkennen - und es ist gut, daß WUNDT hierauf den Nachdruck legt -, daß für die systematische Gruppierung der Farberscheinungen und für die Bestimmung dessen, was als einfache Farberscheinung zu gelten hat, nur die Eigentümlichkeiten dieser selbst und nicht irgendwelche Rücksichten auf physikalische bzw. physiologische Vorstellungsweise maßgebend sein dürfen. Aber ob WUNDT diese rein immanenten Eigenschaften der Farben wirklich richtig beschrieben hat, das wird man doch bezweifeln müssen. Das Gros der Psychologen und auch Physiologen widerspricht hier WUNDT auch auf das Entschiedenste. Die Sache scheint im Gegensatz zu WUNDTs Ansicht vielmehr so zu liegen: Wenn wir die Reihe der Spekralfarben, in denen wir den Prototypen der gesättigten Farben sehen können, unbefangen auf ihre Einfachheit hin durchmustern, so erkennen wir, daß so, wie wir bei einer ungesättigten Farbe den farbigen oder bunten Teil vom "farblosen" sondern, auch bei vielen Farben der spektralen Sättigungsreihe mehrere einfache Farben herausgesehen werden können, so daß z. B. die Unterscheidung von Rot und Gelb im Orange eine rein psychologische Analyse in demselben Sinn ist, in dem WUNDT diesen Terminus verwendet. Wenn also WUNDT einerseits die Möglichkeit anerkennt, aus ungesättigten Farben farbige und "farblose" Bestandteile für sich durch pointierende Aufmerksamkeit abzusondern, und andererseits die Einfachheit aller Sättigungsfarben behauptet, so scheint er mir eine offenbare Inkonsequenz zu begehen. Ich vermag jedenfalls nicht einzusehen, worin der Unterschied bestehen soll, wenn man einmal aus einer Farbe Rot und Weiß heraussieht und ein andermal aus einem Orange Rot und Gelb.

Gehen wir im Spektrum von Rot nach Gelb,
    "so sehen wir die in der einen Richtung sich anreihenden roten Farben immer deutlicher gelblich werden, während die Rötlichkeit der Farbe entsprechend zurücktritt, bis wir durch Orange und Goldgelb hindurch zu einem Gelb gelangen, welches keine Spur mehr von der noch im Oranges so deutlichen Röte zeigt." (51)
Während also alle zwischen Gelb und Rot liegenden Farben komplexer Natur sind, erscheinen Rot und Gelb selbst durchaus einfach. Sie repräsentieren uns gleichsam zwei am Ende der Reihe stehende Gegenpole, zwei Extreme, denen die zwischenliegenden Farben mehr oder weniger nahe kommen.

Schreiten wir in der Spektralreihe vom Gelb weiter fort in Richtung Grün, so tritt hierbei ein neuartiges Moment auf, von dem vorher bei de rotgelben Reihe nichts zu merken war. Wir erleben so im Gelb gleichsam einen Richtungswechsel, eine Ablenkung von der gerade bzw. gleichmäßig gekrümmten Bahn, auf der wir uns bis zum Gelb hin bewegt haben, und die Bewegung auf der neuen gleichartig gekrümmten Bahn dauert so lange, bis wir zu einem bestimmten Grün gekommen sind. In diesem tritt, wenn wir uns zum Blau hinbewegen, ein neuer Richtungswechsel ein, und ebenso dann wieder beim reinen Blau. So ergeben sich in der spektralen Sättigungsreihe, wenn wir sie durch die im Spektrum selbst nicht mehr vorkommenden Zwischenfarben zwischen dem äußersten Rot und Violett ergänzen, vier ausgezeichnete Stellen, die wir als reines Rot, reines Gelb, reines Grün und reines Blau bezeichnen können. Wir dürfen also, wenn wir die in der Sättigungsreihe obwaltenden Verhältnisse bildlich darstellen wollen, nicht, wie WUNDT das tut, den in allen Teilen gleichmäßig gekrümmten Kreis wählen, sondern eine geschlossene Figur mit vier ausgzeichneten Punkten, also etwa ein aus vier Kreisbogen gebildetes Viereck, wobei dann die Ecken oder Knicke die Repräsentanten der vier "reinen Farben" sind.

Mit dieser Beschreibung ist dann zugleich auch die andere Ansicht WUNDTs zurückgewiesen, daß wir das reine Rot in demselben Sinn als aus Purpur und Orange "zusammengesetzt" ansehen könnten wie Orange aus Rot und Gelb, denn nicht darum bezeichnen wir eine Farbe z. B. als weißliches Rotgelb, wenn sie in gewisser Weise zwischen Weiß, Rot und Gelb liegt, sondern
    "weil wir, sukzessive auf die einzelnen Farben sie prüfend achten (wie wir die Töne eines Mehrklangs herausanalysieren) jetzt Gelb, dann Rot, schließlich auch noch Weiß darin zu entdecken vermögen." (52)
Im reinen Rot aber vermögen wir weder Purpur noch Orange zu entdecken, können also auch nicht sagen, daß reines Rot aus Purpur und Orange zusammengesetzt ist in demselben Sinn, wie wir Orange als eine "Verbindung" von Rot und Gelb ansprechen. Man muß hier eben zweierlei scharf auseinanderhalten, nämlich
    1) die Möglichkeit der Anordnung der Farben in Ähnlichkeitsreihen und

    2) die Fähigkeit, aus einer Farbe mehrere einfachere "Bestandteile" herauszusehen.
Von der "Zusammensetzung" einer Farbe - wenn wir dieses Wort überhaupt anwenden wollen - können wir nur dann reden, wenn wir tatsächlich auch verschiedene Farben heraussehen können. Die Aufstellung besonderer Farbenreihen hat zum großen Teil ihren Grund in der Möglichkeit dieser Analyse. WUNDT hingegen faßt die Sache gerade umgekehrt auf, indem er von der Ähnlichkeitsreihe ausgeht und in der Tatsächlichkeit ihres Bestehens den Sinn der Farbenanalyse erblickt.

Nun darf freilich auch nicht unerwähnt bleiben, daß die psychologische Farbenanalyse kein so einfaches Ding ist; es treten hier vielmehr Schwierigkeiten in den Weg, deren Überwindung noch manche Mühe kosten wird. Zunächst ist die Lehre von den vier reinen Farben nicht allgemein anerkannt, sondern es gibt Forscher, die auch das reine Grün noch einer Zerlegung für fähig halten. FRANZ BRENTANO hat in den schon erwähnten "Untersuchungen zur Sinnesphysiologie" von Neuem die Meinung vertreten und zu begründen versucht. Es versteht sich, daß von BRENTANO eine solche Zerlegung nur in einem rein psychologischen Sinn gemeint ist, daß er sich also das reine Grün in demselben Sinn aus Gelb und Blau zusammengesetzt denkt wie das Orange aus Rot und Gelb, so daß wir nur drei einfache Farbempfindungen hätten. (53)

Andererseits ist es keineswegs ein für allemal ausgemacht, daß wir wirklich alle vorkommenden Farberscheinungen in die vier reinen Farben und Schwarz und Weiß zu analysieren vermögen. Da sind z. B. die bei den Farbuntersuchungen immer etwas stiefmütterlich behandelten braunen Farben. Es kann sein, daß wir sämtliche Braunnuancen, die überhaupt vorkommen, in Farbreihen einordnen können, an deren Ende irgendwelche der sechs vorher bezeichneten Farben stehen, aber daraus folgt nach dem vorher Angeführten doch noch nicht, daß wir sie auch in die betreffenden Farben zu analysieren vermögen. Und wie steht es mit den Graunuancen? Ist es wirklich war, daß wir aus jedem einzelnen Grau Schwarz und Weiß herauszusehen vermögen, wie wir in einem rötlichen Gelb Rot und Gelb zu sehen glauben? Man sieht, es erheben sich auch hier vom Standpunkt der rein psychologischen Analyse aus nicht unerhebliche Bedenken, und in all die Schwierigkeiten wird auch WUNDTs Begriff der einfachen Empfindung mit verwickelt! Das Einfache, das auf dem Gebiet des Tonsinnes plausibel war, wird uns so beim Gesichtssinn zum großen Problem, und wir werden Bedenken tragen, den mit solchen Schwierigkeiten behafteten Begriff der einfachen Empfindung zum Grundbegriff einer wissenschaftlichen Forschung zu machen. Was wir zugestehen können, das ist, daß der Begriff der einfachen Empfindung so wie derjenige der reinen Empfindung das Ziel der wissenschaftlichen Forschung nach einer bestimmten Richtung hin zum Ausdruck bringt, nämlich aus den uns in einer unmittelbaren Wahrnehmung sich darbietenden sinnlichen Inhalten in der unter der Bezeichnung der analysierenden Abstraktion beschriebenen Weise einfachere und schließlich einfache Inhalte herauszulösen und in ihrer gesetzmäßigen Beziehung zu anderen Inhalten zu erforschen. Es soll nicht geleugnet werden, daß ein solches Ziel für die wissenschaftliche Forschung und speziell für die rein deskriptive Psychologie eine große Bedeutung hat, aber man muß sich doch gegenwärtig halten, daß die einfachen Empfindungen (zumindest auf dem Gebiet des Gesichtssinnes) das Ziel und nicht den Anfang der wissenschaftlichen Forschung darstellen und daß wir dementsprechend als Forschungsobjekte, mit denen die Empfindungslehre beginnen kann, nicht die einfachen Empfindungen bestimmen können, sondern von "komplexeren" sinnlichen Gebilden ausgehen müssen, deren Bestimmung uns die Betrachtungen der nächsten Kapitel ermöglichen sollen.

Die Begriffe der reinen und einfachen Empfindung sind neben dem Empfindungsbegriff, auf dessen Herausarbeitung wir in den folgenden Kapiteln hinzielen, diejenigen Empfindungsbegriffe, welche in der psychologischen Literatur eine Rolle spielen. Manchmal allerdings verwendet man auch noch einen von diesen dreien gänzlich abweichenden weitere Empfindungsbegriff, den wir aber kurz abtun können, ich meine den Begriff der "petites perceptions": Wir sitzen im Zimmer und sind in die Betrachtung irgendeines Gegenstandstandes vertieft. Während dieser Betrachtung tickt immer die Wanduhr. Das Ticken gelangt auch bis zu unserem Ohr, aber wir hören es nicht, oder bemerken es nur so ganz nebenbei. Man pflegt dann wohl zu sagen, daß das Ticken der Uhr in diesem Fall zwar für unser Bewußtsein vorhanden ist, aber nicht bemerkt wird, es wird einfach nicht wahrgenommen, sondern bloß "empfunden". Derartige "Empfindungen" haben wir in jedem Augenblick eine große Zahl, denn gar mannigfach sind die "Erregungen", die normalerweise fortwährend von allen Sinnesgebieten her auf unser Bewußtsein einstürmen, so daß wir nur einen kleinen Teil vom Dargebotenen auch wirklich bemerken, wahrnehmen können.

Hier haben wir also noch einen neuartigen Begriff von "Empfindung". Doch es ist klar, daß man einen solchen Empfindungsbegriff nicht zum Grundbegriff der sinnespsychologischen Forschung machen kann, denn die Gegenstände, die man wissenschaftlich erforschen will, muß man doch zumindest wahrnehmen können, und eine Wahrnehmung dieser "Empfindungen" ist dem Begriff nach ausgeschlossen; sobald wir uns den "Empfindungen" wahrnehmend zuwenden, rücken sie aus der bloßen "Empfindungs"sphäre in die "Wahrnehmungs"sphäre, sind also keine "Empfindungen" mehr. Man muß von diesen "Empfindungen" bei der Beschreibung des seelischen Tatbestandes sprechen, denn sie bedeuten tatsächlich für unser Bewußtsein etwas, aber den an ihnen orientierten Empfindungsbegriff wird man niemals zur Grundlage einer wissenschaftlichen Empfindungslehre machen können. Wir brauchen deshalb auch nicht weiter darauf einzugehen.
LITERATUR - Heinrich Hofmann, Untersuchungen über den Empfindungsbegriff, [Inaugural-Dissertation] Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. 26, Leipzig 1913
    Anmerkungen
    16) MORITZ BRASCH, Die Welt- und Lebensanschauung Friedrich Überwegs, Leipzig 1889
    17) Sofern wir, wie es wohl in der Regel geschieht, den visuellen reinen Empfindungen keine Bestimmtheiten nach der dritten Dimension zuschreiben.
    18) JOHANNES von KRIES, in NAGELs "Handbuch der Physiologie des Menschen", Bd. 3, Braunschweig 1905, Seite 16.
    19) EBBINGHAUS, Grundzüge der Psychologie, zweite Auflage 1905, Seite 440.
    20) Eine derartige Hypothese hätte natürlich innerhalb des "Psychologischen" gar keinen angebbaren Sinn.
    21) EWALD HERING in HERMANs "Handbuch der Physiologie", Leipzig 1879, Seite 567f; vgl. auch EBBINGHAUS, a. a. O., Bd. 2, Seite 4.
    22) Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 5
    23) Genaueres über den Begriff des Sehdings werde ich im nächsten Kapitel ausführen.
    24) HILLEBRAND, a. a. O., Seite 3
    25) HILLEBRAND, a. a. O., Seite 6
    26) siehe Kapitel 3 dieser Arbeit.
    27) HILLEBRAND, a. a. O., Seite 6
    28) HILLEBRAND, a. a. O., Seite 7
    29) HILLEBRAND, a. a. O., Seite 7
    30) HILLEBRAND, a. a. O., Seite 8
    31) WILHELM WUNDT, Physiologische Psychologie, Bd. I, sechste Auflage, Seite 398
    32) WUNDT, a. a. O., Seite 399
    33) WUNDT, a. a. O., Seite 400
    34) WUNDT, a. a. O., Seite 404
    35) WUNDT, a. a. O., Seite 405
    36) Hinsichtlich dieser Analysen sei auf die beiden folgenden Kapitel verwiesen.
    37) vgl. WUNDTs "Philosophische Studien", Bd. 2, Seite 303 (Mitte).
    38) WUNDT, a. a. O., Seite 412
    39) vgl. HUSSERL, Logische Untersuchungen, Bd. II, Unt. 3.
    40) WUNDT, Phil. Stud. II, Seite 374
    41) WUNDT, Phil. Stud. II, Seite 375
    42) WUNDT, Phil. Stud. II, Seite 70
    43) WUNDT, a. a. O., Seite 402.
    44) HERING, Grundzüge der Lehre vom Lichtsinn, Leipzig 1905, Seite 40.
    45) HERING, a. a. O., Seite 40
    46) WUNDT, a. a. O., Bd. 2, Seite 145
    47) WUNDT, a. a. O., Bd. 2, Seite 241.
    48) WUNDT, a. a. O., Bd. 2, Seite 239/40, vgl. G. E. MÜLLER, Zur Psychophsyik der Farbenempfindungen, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 10, Seite 67f.
    49) WUNDT, a. a. O., Bd. 2, Seite 145
    50) WUNDT, a. a. O., Bd. 2, Seite 241
    51) HERING, a. a. O., Seite 41
    52) BRENTANO, Untersuchungen zur Sinnespsychologie, Leipzig 1907, Seite 17. Man vgl. dagegen EBBINGHAUS, a. a. O., Bd. 1, Seite 202f) und von KRIES ("Die Gesichtsempfindungen und ihre Analyse", Leipzig 1882, Seite 41). Auch HERING spricht nicht eigentlich von einer Analyse, sondern nur von Erinnerung; man lese aber bei G. E. MÜLLER (a. a. O., Seite 58f) nach, was hiergegen einzuwenden ist.
    53) vgl. die Kritik an BRENTANOs Ansicht vom phänomenalen Grün bei DAVID KATZ, Die Erscheinungsweisen der Farben und ihre Beeinflussung durch die individuelle Erfahrung, siebter Ergänzungsband der "Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane", Leipzig 1911, Seite 360f.