p-4 R. SemonTh. ZiehenM. OffnerA. LassonH. BergsonTh. Ziehen    
 
EWALD HERING
Über das Gedächtnis

"Leicht erkennt man bei näherer Betrachtung, daß das Gedächtnis nicht eigentlich als ein Vermögen des Bewußten, sondern vielmehr des Unbewußten anzusehen ist. Was mir gestern bewußt war und heute wieder bewußt wird, wo war es von gestern auf heute? Es dauerte als Bewußtes nicht fort, und doch kehrte es wieder. Nur flüchtig betreten die Vorstellungen die Bühne des Bewußtseins, um bald wieder hinter den Kulissen zu verschwinden und andern Platz zu machen. Nur auf der Bühne selbst sind sie Vorstellungen, wie der Schauspieler nur auf der Bühne König ist. Aber als was leben sie hinter der Bühne fort? Denn daß sie irgendwie fortleben, wissen wir; bedarf es doch nur des Stichwortes, um sie wieder erscheinen zu lassen."

"So sehen wir dann, daß es das Gedächtnis ist, dem wir fast alles verdanken, was wir sind und haben, daß Vorstellungen und Begriffe sein Werk sind, jede Wahrnehmung, jeder Gedanke, jede Bewegung von ihm getragen wird. Das Gedächtnis verbindet die zahllosen Einzelphänomene unseres Bewußtseins zu einem Ganzen, und wie unser Leib in unzählige Atome zerstieben müßte, wenn nicht die Attraktion der Materie ihn zusammenhielte, so zerfiele ohne die bindende Macht des Gedächtnisses unser Bewußtsein in so viele Splitter, als es Augenblicke zählt."

"Das Hühnchen, welches eben der Schale entschlüpfte, läuft davon, wie seine Mutter davonlief, als sie die Schale durchbrochen hatte. Das Hühnchen bringt jedoch nicht bloße große Geschicklichkeit in seinen Bewegungen angeboren mit, sondern auch ein ziemlich hoch entwickeltes Wahrnehmungsvermögen. Denn es nimmt sofort die Körner auf, die man ihm hinstreut. Hierzu ist nicht nur nötig, daß es diese überhaupt sieht, sondern auch, daß es den Ort jedes einzelnen Korns, seine Richtung und Entfernung sofort mit Sicherheit auffaßt, und endlich mit ebensolcher Sicherheit danach die Bewegungen seines Kopfes und ganzen Körpers abmißt. Auch dies kann es nicht in der Eierschale erlernt haben. Dies haben vielmehr die Tausende und Abertausede von Hühnern erlernt, die vor ihm lebten, und von denen es in direkter Linie abstammt."

Wenn der Naturforscher die Werkstätte seiner begrenzten Sonderforschungen verläßt und eine Wanderung ins weite Reich philosophischer Betrachtungen wagt, wo er die Lösung jener großen Rätsel zu finden hofft, um derentwillen er der Lösung der kleinen seine Tage widmet, so begleiten ihn die geheimen Befürchtungen deren, die er am Arbeitstisch der Spezialuntersuchung zurückläßt, und empfängt ihn das berechtigte Mißtrauen jener, die er als Eingeborene im Reich der Spekulation begrüßt. So steht er in Gefahr, bei ersteren zu verlieren und bei letzteren nicht zu gewinnen.

Der Gegenstand, für dessen Behandlung in dieser festlichen Stunde ich mir Ihre geneigte Aufmerksamkeit erbitte, lockt auch in jenes vielverheißene Land; aber eingedenk des Gesagten, will ich das naturwissenschaftliche Gebiet, dem meine Tätigkeit gewidmet ist, nicht verlassen; nur seine Höhen will ich zu gewinnen suchen, um freiere Umschau halten zu können.

Und da es im Verlauf des Folgenden leicht scheinen könnte, als würde ich diesem Vorsatz untreu, weil meine Betrachtungen ins Gebiet der Psychologie hinübergreifen werden, so sei es zunächst gestattet, anzugeben, inwieweit psychologische Untersuchungen ein nicht nur erlaubtes, sondern sogar unentberhliches Hilfsmittel der physiologischen Forschung bilden.

Mit dem tierischen oder menschlichen Organismus und seinem materiellen Getriebe, das zu erforschen sich die Physiologie abmüht, ist zugleich ein Bewußtsein gegeben, und während die Atome des Gehirns nach festem Gesetz die Bahnen ihrer Bewegung suchen, webt sich aus Empfindung und Vorstellung, aus Gefühl und Wille das innere Leben.

Jeder findet es in sich selbst, es leuchtet ihm entgegen aus der lebendigen Gestalt des andern, es klingt hervor aus dem Treiben des höher organisierten Tieres, selbst das einfachste Wesen trägt noch seine Spur, und wer vermöchte zu sagen, wo die Grenzen der Beseelung im Reich des Organischen gezogen sind?

Wie hat sich die Physiologie diesem Doppelleben der organischen Welt gegenüber verhalten? Soll sie der einen Seite desselben ganz ihr Auge verschließen? Soll sie der einen Seite desselben ganz ihr Auge verschließen, um desto schärfer die andere zu erfassen?

Solange der Physiologe nur Physiker ist - und ich gebrauche hier das Wort  Physik  in seiner umfassendsten Bedeutung - steht er der organischen Welt gegenüber auf dem Standpunkt einer bis aufs äußerste getriebenen, aber durchaus berechtigten Einseitigkeit. Wie dem Mineralogen der Kristall, dem Akustiker die schwingende Saite, so ist aus diesem Standpunkt dem Physiologen auch das Tier, der Mensch nichts weiter als ein Stück Materie. Daß das Tier Lust und Schmerz empfindet, daß sich an die materiellen Geschicke der menschlichen Gestalt die Freuden und Leiden eines Gemütes und das rege Vorstellungsleben eines Bewußtseins knüpfen; das kann den tierischen und menschlichen Leib für den Physiker nicht zu etwas anderem machen, als was er ist: ein Stoffkomplex, unterworfen den durch nichts zu beugenden Gesetzen, welchen auch die Masse des Steins, die Substanz der Pflanze folgt, ein Stoffkomplex, dessen äußere und innere Bewegungen ursächlich unter sich und mit den Bewegungen ihrer Umgebung so fest zusammenhängen, wie der Gang der Maschine mit dem Umlauf der Räder.

Und weder Empfindung, noch Vorstellung, noch bewußter Wille können ein Glied in dieser Kette stofflicher Vorgänge bilden, welche das physische Leben eines Organismus ausmachen. Wenn eine Frage an mich gerichtet wird, und ich gebe hierauf die Antwort, so muß der materielle Prozeß, welchen die Nervenfaser aus dem Gehörorgan zum Gehirn leitet, als materieller Prozeß mein Gehirn durchwandern, um zu den Bewegungsnerven der Sprachwerkzeuge zu gelangen; er kann nicht, an einer bestimmten Stelle des Gehirns angelangt, plötzlich in ein immaterielles Etwas eintreten, um nach einiger Zeit oder an einem anderen Ort des Gehirns als materieller Vorgang wieder anzuheben. Ebensogut könnte die Karawane in die Oase einziehen, die ihr die Fatamorgana vorspiegelt, um nach geschehener Rast und Erfrischung wieder in die reale Wüste hinauszuwandern, und ebensogut könnte einer durch das Spiegelbild einer Tür sein Zimmer verlassen und ins Freie gelangen.

So der Physiologe als Physiker. Doch er steht hinter der Bühne, und während er das Getriebe der Maschinerie mühsam erforscht und das geschäftige Treiben der Schauspieler hinter den Kulissen beobachtet, entgeht ihm der Sinn des Ganzen, den der Zuschauer von vorn mit leichter Mühe erfaßt. Sollte der Physiologe nicht vielleicht einmal seinen Standpunkt wechseln?

Freilich er kam nicht her, um eine gedachte Welt dargestellt zu sehen, sondern er sucht die wirkliche. Aber könnte es ihm nicht doch in der Erkenntnis des ganzen dramatischen Apparates und seiner Bewegungen fördern, wenn er ihn auch von der anderen Seite betrachten oder sich wenigstens erzählen lassen wollte, was andere nüchterne Beobachter von da aus gesehen?

Die Antwort kann nicht zweifelhaft sein, und darum ist die Psychologie eine unentbehrliche Hilfswissenschaft der Physiologie. Wenn die letztere bis jetzt von dieser Hilfe so wenig Gebrauch machen konnte, so war es nur zum kleinsten Teil ihre Schuld; denn die Psychologie hat spät begonnen, ihr fruchtbares Feld mit dem Pflug der induktiven Methode zu bearbeiten, und nur dem so bestellten Boden können die Früchte entsprießen, deren der Physiologe bedarf.

Wenn nun so der Nervenphysiologe zwischen den Physiker und den Psychologen gestellt ist, und wenn ersterer mit Recht die ununterbrochene kausale Kontinuität aller materiellen Prozesse als Grundlage seiner Forschung hinstellt, andererseits der besonnene Psychologe nach induktiver Methode die Gesetze des bewußten Lebens sucht und dabei ebenfalls die Annahme einer unerschütterlichen Gesetzlichkeit zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht, und wenn endlich den Physiologen die schlichteste Selbstbeobachtung lehrt, daß sein bewußtes Leben abhängig ist von den Geschicken seines Leibes, und daß umgekehrt sein Leib innerhalb gewisser Grenzen seinem Willen unterworfen ist: so bleibt ihm nur noch übrig, anzunehmen,  daß diese gegenseitige Abhängigkeit zwischen Geistigem und Materiellem gleichfalls eine gesetzmäßige sei,  und das Band ist gefunden, welches für ihn die Wissenschaft von der Materie mit der Wissenschaft vom Bewußtsein zu einem großen Ganzen verbindet.

So betrachtet, erscheinen die Phänomene des Bewußtseins als Funktionen der materiellen Veränderungen der organisierten Substanz, und - um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen, sei es ausdrücklich betont, obwohl es im Begriff der Funktion von selbst liegt - so betrachtet, erscheinen umgekehrt die materiellen Prozesse der Hirnsubstanz als Funktionen der Phänomene des Bewußtseins. Denn wenn zwei Veränderliche in ihren Veränderungen nach bestimmtem Gesetz voneinander abhängig sind, so daß mit der Veränderung der einen zugleich eine Veränderung der andern gesetzt ist, und umgekehrt; so nennt man die eine bekanntlich eine Funktion der anderen.

Damit kann also nichts weniger gesagt sein, als daß die beiden genannten Veränderlichen, Materie und Bewußtsein, im Verhältnis von Ursache und Wirkung, Grund und Folge zueinander stehen; denn darüber wissen wir nichts. Und wenn der Materialist das Bewußtsein als Ergebnis der Materie, der Idealist umgekehrt die Materie als Ergebnis des Bewußtseins hinstellt, ein Dritter endlich die Identität von Geist und Materie behauptet; so hat sich der Physiologe als solcher nicht weiter hiermit zu befassen.

Mit Hilfe der Hypothese des funktionellen Zusammenhangs zwischen Geistigem und Materiellem ist nunmehr die heutige Physiologie imstande, die Erscheinungen des Bewußtseins mit Erfolg in den Kreis ihrer Untersuchungen zu ziehen, ohne den sicheren Boden naturwissenschaftlicher Methode zu verlassen. Der Physiologe verfolgt als Physiker den Lichtstrahl, die Schallwelle, die Wärmeschwingung bis zum Sinnesorgan, sieht sie eintreten in die Nervenenden und, in eine Erregung der Nervenfaser umgesetzt, ihren Weg zu den Zellen des Gehirns finden. Hier aber verliert er ihre Spur. Und andererseits sieht er mit dem Auge des Physikers die Schallwellen des gesprochenen Wortes aus der Mundhöhle des Sprechenden hervordringen, sieht seine Glieder sich bewegen, findet, wie das alles durch Muskelkontraktionen bedingt ist, welche von Seiten der Bewegungsnerven ausgelöst werden, und wie diese Nerven wieder von den Nervenzellen der Zentralorgane her in Erregung versetzt werden. Hier endet abermals sein Wissen. Die Brücke, welche ihn hinüberführen soll von der Erregung des Empfindungsnerven ausgelöst werden, und wie diese Nerven wieder von den Nervenzellen der Zentralorgane her in Erregung versetzt werden. Hier endet abermals sein Wissen. Die Brücke, welche ihn hinüberführen soll von der Erregung des Empfindungsnerven zur Erregung der Bewegungsnerven, findet er zwar angedeutet in der labyrinthischen Verknüpfung der Nervenzellen untereinander, aber das Wesen der unendlich verwickelten Prozesse, welche hier eingeschaltet sind, ist ihm unbekannt. Und hier wechselt der Physiologe mit Erfolg seinen Standpunkt. Was die Materie seinem forschenden Auge nicht enthüllen will, das findet er im Spiegel des Bewußtseins, freilich nur im Bild, aber doch in einem Bild, das in gesetzmäßiger Beziehung steht zu dem, was er sucht. Wenn er nun hier beobachtet, wie eine Vorstellung, an dieser der Wille anknüpft, wie Gefühle und Gedanken sich ineinander weben: So wird er entsprechende Reihen materieller Prozesse anzunehmen haben, welche einander auslösen, sich miteinander verknüpfen und in ihrer materiellen Weise das ganze Getriebe des bewußten Lebens nach dem Gesetz eines funktionellen Zusammenhangs zwischen Materie und Bewußtsein begleiten.



Nach dieser Erörterung darf ich es wagen, eine große Reihe scheinbar weit auseinander liegender Erscheinungen, welche teils dem bewußten, teils dem unbewußten Leben des Organischen angehören, unter einen Gesichtspunkt zu bringen und als Äußerungen ein und desselben Grundvermögens der organisierten Materie, nämlich ihres  Gedächtnisses  oder  Reproduktionsvermögens,  zusammenfassend zu betrachten.

Man versteht unter Gedächtnis oft nur unsere Fähigkeit, Vorstellungen oder Vorstellungsreihen absichtlich zu reproduzieren. Aber wenn ungerufen die Gestalten und Ereignisse verangener Tage wieder heraufsteigen und in unserem Bewußtsein walten, heißt das nicht auch ihrer gedenken? Man hat das volle Recht, den Begriff des Gedächtnisses auf alle nicht gewollten Reproduktionen von Empfindungen, Vorstellungen, Gefühlen und Strebungen auszudehnen, und sobald dies geschieht, erweitert sich das Gedächtnis zu einem Urvermögen, welches der Quell und zugleich das einende Band unseres ganzen bewußten Lebens ist.

Es ist bekannt, daß sinnliche Wahrnehmungen, wenn sie in unveränderter Weise lange Zeit hindruch oder oft hintereinander gemacht werden, sich dem sogenannten  Sinnengedächtnis  zweilen derart einprägen, daß sie noch nach Stunden, und wenn schon längst hundert andere Dinge unsere Aufmerksamkeit beschäftigt haben, plötzlich wieder mit der vollen sinnlichen Frische der ursprünglichen Wahrnehmung in unser Bewußtsein treten. Da sehen wir dann wie eine ganze Gruppe von Empfindungen, und zwar nach Raum und Zeit richtig geordnet, mit einer solchen Lebendigkeit reproduziert wird, daß sie uns die Wirklichkeit dessen vortäuschen könnte, was schon längst nicht mehr gegenwärtig ist. Dies zeigt uns in schlagender Weise, daß, wenn auch die bewußte Empfindung und Wahrnehmung bereits längst verloschen ist, doch in unserem Nervensystem eine materielle Spur zurückbleibt, eine Veränderung des molekularen oder atomistischen Gefüges, durch welche die Nervensubstanz befähigt wird, jene physischen Prozesse zu reproduzieren, mit denen zugleich der entsprechende psychische Prozeß, d. h. die Empfindung und Wahrnehmung gesetzt ist.

In abgeschwächter Weise kommen die Erscheinungen des Sinnengedächtnises jedem allstündlich und tausendfach zur Beobachtung. Jedem führt sein Bewußtsein scharenweise die mehr oder weniger abgeblaßten Erinnerungsbilder früherer sinnlicher Wahrnehmungen vor, sei es, daß er sie absichtlich herbeiruft, oder daß sie sich von selbst herandrängen. Die Gestalten abwesender Personen kommen und gehen als blasse flüchtige Schemen, und die Klänge längst verhallter Melodien umschweben uns, nicht eigentlich hörbar, aber doch vernehmbar.

Von vielen Dingen und Ereignissen, besonders den nur einmal oder nur flüchtig wahrgenommenen, bleiben nur einzelne besonders hervorstechende Eigentümlichkeiten reproduzierbar, von anderen wieder nur diejenigen, welche schon früher an anderen Dingen wahrgenommen wurden, und für deren Aufnahme das Gehirn daher gleichsam schon gestimmt war. Diese finden nun einen stärkeren Anklang, treten leichter und energischer ins Bewußtsein als das Übrige, und hierdurch wächst zugleich ihre Geneigtheit zur Reproduktion. So kommt es, daß das vielen Dingen Gemeinsame und deshalb besonders oft Empfundene und Wahrgenommene nach und nach so reproduktionsfähig wird, daß es endlich ohne den entsprechenden, von außen kommenden wirklichen Reiz schon auf schwache innere Reize hin reproduziert wird. Die auf diese Weise, sozusagen von innen heraus entstandene Empfindung, z. B. des Weißen, hat zwar nicht die volle Frische der von außen her durch das weiße Licht erweckten, aber sie ist doch von derselben Qualität, eine abgeschwächte Wiederholung ein und desselben materiellen Hirnprozesses, ein und derselben bewußten Empfindung. So entsteht als eine fast bis zum Verschwinden verblaßte Empfindung die  Vorstellung  des Weißen.

Auf diese Weise lösen sich diejenigen Eigenschaften. welche vielen Dingen gemeinsam sind, im Gedächtnis gleichsam ab von ihren einzelnen Trägern und gewinnen als  Vorstellungen  und  Begriffe  eine selbständige Existenz in unserem Bewußtsein; und so wird die ganze reiche Welt unserer Vorstellungen und Begriffe aufgebaut aus den Werksteinen des Gedächtnisses.

Leicht erkennt man bei näherer Betrachtung, daß das Gedächtnis nicht eigentlich als ein Vermögen des Bewußten, sondern vielmehr des Unbewußten anzusehen ist. Was mir gestern bewußt war und heute wieder bewußt wird, wo war es von gestern auf heute? Es dauerte als Bewußtes nicht fort, und doch kehrte es wieder. Nur flüchtig betreten die Vorstellungen die Bühne des Bewußtseins, um bald wieder hinter den Kulissen zu verschwinden und andern Platz zu machen. Nur auf der Bühne selbst sind sie Vorstellungen, wie der Schauspieler nur auf der Bühne König ist. Aber als was leben sie hinter der Bühne fort? Denn daß sie irgendwie fortleben, wissen wir; bedarf es doch nur des Stichwortes, um sie wieder erscheinen zu lassen. Sie dauern nicht als Vorstellungen fort, sondern was fortdauert, das ist jene besondere Stimmung der Nervensubstanz, vermöge deren dieselbe den Klang, den sie gestern gab, auch heute wieder ertönen läßt, wenn sie nur richtig angeschlagen wird. zahllose Reproduktionen organischer Prozesse unserer Hirnsubstanz reihen sich fortwährend gesetzmäßig aneinander, indem der eine als Reiz den andern auslöst, aber nicht mit jedem Glied einer solchen Kette ist notwendig auch ein Phänomen des Bewußtseins gesetzt. Daher entbehren die Vorstellungsreihen bisweilen scheinbar des rechten Zusammenhangs, welcher durch nicht vom Bewußtsein begleitete, rein materielle Prozesse der Hirnsubstanz vermittelt wurde. daher kann andererseits eine lange Gedankenkette die richtige logische Verbindung und organische Entwicklung haben, ohne daß doch jedes zu einer solchen Verbindung und Entwicklung notwendige Glied uns wirklich bewußt geworden wäre. Einzelnes taucht auf aus dem Schoß des Unbewußten, ohne an Bewußtes anzuknüpfen, anderes verklingt ins Unbewußte, ohne daß sich ein anderes Bewußtsein anreiht. Zwischen dem, der ich heute bin, und dem, der ich gestern war, liegt als eine Kluft der Bewußtlosigkeit der Schlaf der Nacht, und nur das Gedächtnis spannt eine Brücke zwischen meinem Heute und meinem Gestern. Wer könnte hiernach hoffen, das tausendfältig verschlungene Gewebe unseres inneren Lebens zu entwirren, wenn er seinen Fäden nur nachgehen wollte, soweit sie im Bewußtsein verlaufen? Es hieße die reiche organische Formenwelt des Meeres kennen lernen wollen aus den wenigen Gestalten, die an seine Oberfläche emportauchen, um bald wieder in der Tiefe zu verschwinden.

So liegt das einende Band, welches die einzelnen Phänomene unseres Bewußtseins verbindet, im Unbewußten; und da wir von diesem nichts wissen, als was uns die Untersuchung der Materie aussagt, da mit einem Wort für die rein empirische Betrachtung Unbewußtes und Materie dasselbe sein muß, so kann der Physiologe mit vollem Recht das Gedächtnis im weiteren Sinne des Wortes als ein Vermögen der Hirnsubstanz bezeichnen, dessen Äußerungen zwar zum großen Teil zugleich ins Bewußtsein fallen, zum andern und nicht minder wesentlichen Teil aber als bloße materielle Prozesse unbewußt ablaufen.

Jede Wahrnehmung eines räumlichen Gegenstandes ist ein höchst verwickelter Vorgang. Es erscheint mir z. B. plötzlich eine weiße Kugel: da gilt es nicht bloß, die Empfindung des Weißen ins Bewußtsein zu bringen, da muß auch der kreisförmige Umriß der Kugel, ihre aus der feinen Verteilung von Licht und Schatten erkennbare Wölbung, da muß ihre Entfernung vom Auge und die Größe der Kugel richtig erfaßt werden. Welcher Aufwand von Empfindungen, Vorstellungen und Schlüssen ist scheinbar nötig, um das alles zu erledigen. Und doch ist die richtige Wahrnehmung der Kugel das Werk weniger Ausblicke, und doch bin ich mir der einzelnen Prozesse, aus welchen sich das Ganze aufbaut, gar nicht bewußt, sondern bloß das Endergebnis tritt fertig in mein Bewußtsein.

Die Nervensubstanz bewahrt treu die Erinnerung der oft geübten Verrichtungen; alle zur Herstellung der richtigen Wahrnehmung nötigen Prozesse, die einst langsam und schwierig unter fortwährender Teilnahme des Bewußtseins erfolgten, reproduziert sie jetzt, aber flüchtig, in abgekürzter Weise und ohne eine solche Dauer und Intensität, daß jedes einzelne Glied über die Schwelle des Bewußtseins gerückt würde.

Man hat solche Ketten unbewußter materieller Nervenprozesse, an welche sich schließlich ein von bewußter Wahrnehmung begleitetes Glied anreiht, als unbewußte Vorstellungsreihen und unbewußte Schlüsse bezeichnet, und vom Standpunkt der Psychologie läßt sich dies auch rechtfertigen. Denn der Psychologie verschwände oft genug die Seele unter den Händen, wenn sie sie nicht an ihren unbewußten Zuständen festhalten wollte. Für die physikalische Betrachtung aber ist unbewußt und materiell dasselbe, und die Physiologie des Unbewußten ist keine Philosophie des Unbewußten..

Bei weitem die meisten Bewegungen, die der Mensch ausführt, sind das Ergebnis langer, schwerer Einübung. Jenes harmonische Zusammenwirken der verschiedenen Muskeln, jenes fein abgestufte Maß des Anteils, welchen jeder einzelne zur Gesamtleistung beizusteuern hat, das alles will bei den meisten Bewegungen mühsam erlernt sein. Wie langsam findet beim Klavierspiel des Anfängers jede einzelne Note ihren Weg vom Auge bis zum Finger. Und andererseits, welch staunenswerte Leistung ist das Spiel des Geübten. Mit der Schnelle des Gedankens löst jede Note die entsprechende Bewegung aus; ein rascher Blick, auf das Notenblatt genügt, um eine ganze Folge von Akkorden erklingen zu lassen. Ja, eine oft geübte Weise kann man sogar spielen, während man nebenbei seine Aufmerksamkeit mit allerlei anderem beschäftigt.

Hier wendet sich nicht mehr der Wille an jeden einzelnen Finger, um ihm die gewünschten Bewegungen abzunötigen, hier überwacht nicht mehr die gespannte Aufmerksamkeit ängstlich die Bewegungen jedes Gliedes; hier führt der Wille nur noch den Oberbefehl: ein Kommandowort, und alle Muskeln geraten in die nach Zeit und Maß geregelte Tätigkeit und arbeiten weiter, solange es ihm gewohnten Geleis fortgeht, bis ein leichter Wink des Willens ihnen den weiteren Weg anweist. Wie wäre dies möglich, wenn nicht jene Teile des zentralen Nervensystems, unter deren Vermittlung die Bewegung geschieht, imstande wären, ganze Reihen von Erregungszuständen, die sie früher unter fortwährender Teilnahme des Bewußtseins eingeübt haben, nun sozusagen selbständig, auf einen bloßen Anstoß seitens des Bewußtseins hin, zu reproduzieren,, und zwar um so schneller und vollkommener, je öfter diese Reproduktion sich wiederholte; wenn sie nicht eine Erinnerung hätten für das, was sie früher getan. Wie unser Wahrnehmungsvermögen immer auf der tiefsten Stufe stehen bleiben würde, wenn wir jede Wahrnehmung aus den durch die Sinne gegebenen Einzelheiten des Empfindungsmaterials mit Bewußtsein aufbauen müßten, so würden unsere willkürlichen Bewegungen nie über die Unbeholfenheit des Kindes hinauskommen, wenn wir zu jeder Bewegung alle dazu erforderlichen Einzelimpulse mit bewußtem Willen erteilen und alle entsprechenden Einzelvorstellungen reproduzieren müßten, wenn, mit einem Wort, nicht auch das motorische Nervensystem sein, uns freilich unewußtes Gedächtnis hätte. Was wir die Macht der Gewohnheit nennen, das ist  seine  Macht.

So sehen wir dann, daß es das Gedächtnis ist, dem wir fast alles verdanken, was wir sind und haben, daß Vorstellungen und Begriffe sein Werk sind, jede Wahrnehmung, jeder Gedanke, jede Bewegung von ihm getragen wird. Das Gedächtnis verbindet die zahllosen Einzelphänomene unseres Bewußtseins zu einem Ganzen, und wie unser Leib in unzählige Atome zerstieben müßte, wenn nicht die Attraktion der Materie ihn zusammenhielte, so zerfiele ohne die bindende Macht des Gedächtnisses unser Bewußtsein in so viele Splitter, als es Augenblicke zählt.

Haben wir bis jetzt schon vielfach gefunden, daß die durch das Gedächtnis der Nervensubstanz vermittelten Reproduktionen organischer Prozesse nur zum teil ins Bewußtsein treen, zum andern und nicht minder wichtigen Teil aber unbewußt bleiben, so ließe sich das nun noch an zahlreichen Tatsachen aus dem Leben desjenigen Teils des Nervensystems erhärten, welches fast ausschließlich den unbewußten Lebensprozessen dient. Denn das Gedächtnis oder Reproduktionsvermögen des sogenannten sympathischen Gangliensystems ist nicht minder reich als das des Gehirns und Rückenmarks, und auf der weisen Benutzung seiner Hilfe beruth ein großer Teil der ärztlichen Kunst.

Aber um zum Schluß dieses Teils meiner Betrachtungen zu kommen, will ich die Nervensubstanz ganz verlassen und nur noch einen flüchtigen Blick auf die andern Formen der organisierten Materie werfen, wo wir in einfacherer Weise demselben Reproduktionsvermögen begegnen.

Die tägliche Erfahrung lehrt uns,, daß der Muskel umso kräftiger wird, je öfter wir ihn arbeiten lassen. Die Muskelfaser, die anfangs vielleicht schwach auf den Reiz antwortete, den ihr der Bewegungsnerv zuführte, tut dies umso energischer, je öfter sie, natürlich mit entsprechenden Pausen der Erholung, gereizt wurde. Nach jeder einzelnen Aktion wird sie aktionsfähiger, zur Wiederholung derselben Arbeit aufgelegter, zur Reproduktion desselben organischen Prozesses geneigter. Dabei gewinnt sie an Umfang, weil sie mehr assimiliert, als bei dauernder Ruhe. Hier haben wir in der einfachsten und dem physikalischen Verständnis näherliegender Weise dasselbe Reproduktionsvermögen, dessen Wirksamkeit uns an der Nervensubstanz in so verwickelter Weise entgegentrat. Und was von der Muskelsubstanz genauer bekannt ist, das tritt mehr oder minder deutlich auch an den Substanzen aller anderen Organe hervor. Überall zeigt sich bei gesteigerter und mit hinreichenden Pausen der Erholung abwechselnder Tätigkeit eine gesteigerte Kraft der Verrichtung, welche dem Organ im tierischen haushalt zukommt, zeigt sich eine vermehrte Assimilation und Zunahme an Umfang.

Aber diese Zunahme der Masse beruth nicht bloß auf einer Vergrößerung der einzelnen Zellen oder Fasern, aus denen das Organ zusammengesetzt ist, sondern auch auf einer Vermehrung derselben. Aus der bis zu einer gewissen Größe herangewachsenen Zelle entstehen Tochterzellen, welche die Eigenschaften der Mutterzelle mehr oder minder vollständig erben und daher gleichsam nur Wiederholungen der ersteren darstellen. Dieses Wachsen und Sichmehren der Zellen ist nur eine besondere Art jener mannigfaltigen Verrichtungen, durch welche die organisierte Materie sich charakterisiert, und welche nicht bloß im bestehen, was im Inneren der Zellsubstanz als Änderung oder Bewegung des molekularen Gefüges abläuft, sondern auch in dem, was zugleich nach Außen als Formänderung, Vergrößerung oder Teilung der Zelle sichtbar wird. So äußert sich dann die Reproduktion der Verrichtung auch als Reproduktion der Zelle selbst, wie uns dies besonders deutlich an der Pflanze entgegentritt, deren Hauptverrichtung eben in der Arbeit des Wachsens besteht, während im tierischen Organismus die sonstigen Verrichtungen viel überwiegender hervortreten.

Und hiermit lassen Sie mich schließlich übergehen zur kurzen Betrachtung eines Gebietes von Tatsachen, in welchen uns die Macht des Gedächtnisses der organisierten Materie am gewaltigsten entgegentritt.

Wir sind aufgrund zahlreicher Tatsachen zu der Annahme berechtigt, daß auch solche Eigenschaften eines Organismus sich auf seine Nachkommen übertragen können, welche er selbst nicht ererbt, sondern erst unter den besonderen Verhältnissen, unter denen er lebte, sich angeeignet hat, und daß infolge dessen jedes organische Wesen dem Keim, der sich von ihm trennt, ein kleines Erbe mitgibt, welches im individuellen Leben des mütterlichen Organismus erworben und hinzugelegt wurde zum großen Erbgut des ganzen Geschlechts.

Wenn man bedenkt, daß es sich hierbei um Forterbung von erworbenen Eigenschaften handelt, die an den verschiedensten Organen des Mutterwesens zur Entwicklung kamen, so muß zunächst in hohem Grad rätselhaft erscheinen, wie diese Organe auf den Keim, der sich an entfernter Stelle entwickelte, irgendeinen Einfluß nehmen konnten; und deshalb haben gerade in die Erörterung dieser Frage allerlei mystische Ansichten sich eingedrängt.

Indessen wird die Sache durch die folgende Überlegung dem physiologischen Verständnis näher gerückt.

Das Nervensystem bildet trotz seiner tausendfältigen Zerspaltung in Zellen und Fasern doch ein in sich zusammenhängendes Ganzes und steht seinerseits wieder mit allen Organen, ja vielleicht, wie die neuere Histologie vermutet, mit jeder Zelle der wichtigeren Organe direkt oder wenigstens durch die lebendige, reizbare und daher auch leitungsfähige Substanz anderer Zellen in leitender Verbindung. Mittels dieses Zusammenhangs ist es möglich, daß alle Organe sich untereinander in einer mehr oder weniger großen gegenseitigen Abhängigkeit befinden, daß die Schicksale des einen widerhallen in den andern, und von der irgendwo stattfindenden Erregung eine, wenn auch noch so dumpfe Kunde bis zu den entferntesten Teilen dringt. Zu diesem durch das Nervensystem vermittelten, leicht beschwingten Verkehr aller Teile untereinander gesellt sich der schwerfälligere, vom Kreislauf der Säfte vermittelte, durch den Produkte des Stoffwechsels von einem Organ zum anderen geführt werden können.

Wir sehen ferner, daß der Prozeß der Entwicklung jener Keime, welche für ein selbständiges Dasein bestimmt sind, schon in ihren ersten Anfängen eine gewaltige Rückwirkung auf das bewußte und unbewußte Leben des ganzen Organismus ausübt. Weist uns dies nicht darauf hin, daß das Organ der Keimbildung in engeren und wichtigeren Beziehungen zu den übrigen Teilen und insbesondere zum Nervensystem steht, als die anderen Organe, und daß deshalb umgekehrt auch die bewußten und unbewußten Geschicke des Gesamtorganismus im Keimstock ein lauteres Echo finden als anderswo?

So ist uns offen genug der Weg angedeutet, auf welchem die materielle Vermittlung zwischen den erworbenen Eigenschaften eines Organismus und derjenigen Besonderheit des Keimes liegt, vermöge deren der letztere jene mütterlichen Eigenschaften auch seinerseits wieder zur Entwicklung zu bringen vermag.

Man darf nicht einwenden, es lasse sich nicht denken, daß in einem Keim, der jedem andern so vollkommen gleicht, wie es der Augenschein lehrt, die spezifische Art seiner materiellen Zusammensetzung und nicht vielmmehr ein immaterielles Etwas das Bestimmende seiner künftigen Entwicklung sei.

Die Gestalten der Kurven und Flächen, welche der Mathematiker teils denkt, teils denkbar findet, sind zahlloser und mannigfaltiger als die Gestalten der organischen Welt. Denken wir uns aus jeder möglichen Kurve je ein, nahezu unendlich kleines Stück herausgebrochen, so werden alle diese kleinen Bruchstücke sich ähnlicher sehen als ein Keim den adern; und doch schlummert in jedem solchen Bruchstück die ganze Kurve, und wenn der Mathematiker es wachsen läßt, so wächst es eben nur in die Bahnen hinein, die schon durch die Eigentümlichkeit des kleinen Fragments bestimmt sind.

Darum ist es ein Irrtum, daß so feine Verschiedenheiten der Keime, wie sie die Physiologie annehmen muß, weit über die Grenzen des Denkbaren hinauslägen.

Eine unendlich kleine Verschiebung eines Punktes oder Punktkomplexes des Kurvenbruchstücks reicht hin, um das Gesetz ihres ganzen Laufs zu ändern, und so genügt auch eine unendlich kleine Einwirkung seitens des mütterlichen Organismus auf das molekulare Gefüge des Keimes, um bestimmend für seine künftige Entwicklung zu werden.

Was aber ist nun dieses Wiedererscheinen von Eigenschaften des Mutterorganismus an dem sich entfaltenden Tochterorganismus anderes, als eine Reproduktion solcher Prozesse seitens der organisierten Materie, an welchen dieselbe schon einmal, wenn auch nur als Keim im Keimstock, teilnahm, und deren sie jetzt, wo Zeit und Gelegenheit kommen, gleichsam gedenkt, indem sie auf gleiche oder ähnliche Reize in ähnlicher Weise reagiert wir früher jener Organismus, desen Teil sie einst war, und dessen Geschicke damals auch sie bewegten. Wenn dem Mutterorganismus durch lange Gewöhnung oder tausendfache Übung etwas so zur andern Natur geworden ist, daß auch die in ihm ruhende Keimzelle davon in einer wenn auch noch so abgeschwächten Weise durchdrungen wird, und letztere beginnt ein neues Dasein, dehnt sich aus und erweitert sich zu einem neuen Wesen, dessen einzelne Teile doch immer nur sie selbst sind und Fleisch von ihrem Fleisch, und sie reproduziert dann das, was sie schon einmal als Teil eines großen Ganzen mit erlebte: so ist das zwar ebenso wunderbar, wie wenn den Greis plötzlich die Erinnerung an die früheste Kindheit überkommt, aber es ist nicht wunderbarer als dieses. Und ob es noch dieselbe organisierte Substanz ist, die ein einst Erlebtes reproduziert, oder ob es nur ein Abkömmling, ein Teil ihrer selbst ist, der unterdessen wuchs und groß wurde; dies ist offenbar nur ein Unterschied des Grades und nicht des Wesens.

Doch wir stellen Betrachtungen darüber an, wie geringfügige erworbene Eigentümlichkeiten des mütterlichen Organismus am kindlichen reproduziert werden können, und vergessen darüber, daß der ganze kindliche Organisus nichts anderes ist als eine einzige große und bis ins Besonderste gehende Reproduktion des mütterlichen. So sehr sind wir gewöhnt, die Ähnlichkeit zwischen beiden als etwas Selbstverständliches hinzunehmen, daß wir oft erstaunen, wenn das Kind der Mutter in einzelnen Eigenschaften unähnlich ist, während doch das Staunenswerte vielmehr darin liegt, daß es ihm in so tausendfältiger Weise ähnlich ist.

Aber kann die Substanz des Keimes reproduzieren, was der Mutterorganismus erst während seines individuellen Lebens sich Besonderes aneignete, sollte sie da nicht noch viel mehr das reproduzieren können, was schon dem Mutterwesen eingeboren war und sich schon unzählbare Generationen hindurch an derselben organisierten Materie ereignete, deren kleines Bruchstück der Keim noch heute ist! Sollen wir uns wundern, daß dem Gedächtnis dieses Keimes fester eingeprägt ist, was die organische Substanz schon zahllose Male erlebt hatte, als was nur eben erst im Laufe eines einmaligen Lebens an ihr und durch sie geschah?

Bedenken wir jetzt noch, wie jedes organische Wesen, welches heute lebt, nur das Endglied einer unabsehbar langen Reihe organischer Wesen bildet, deren eines aus dem andern entsprang, eines vom andern ein Teil seiner erworbenen Eigenschaften erbte, und wie ferner alles dahin drängt, an den Anfang dieser Kette Organismen von äußerster Einfachheit gestellt zu denken, etwa denen vergleichbar, welche wir heute als organische Keime kennen: so erscheint uns diese ganze Kette von Wesen als das großartige Werk des Reproduktionsvermögens der Substanz jenes ersten organischen Gebildes, mit welchem die ganze Entwicklung anhob. Als dieses sich teilte, hinterließ es seine Eigenschaften seinen Abkömmlingen, diese erwarben neue hinzu und vererbten sie weiter, und jeder neue Keim reproduzierte den größten Teil des schon Geschehenen, während das Übrige in seinem Gedächtnis zurücktrat, weil verändert Umstände es nicht zur Reproduktion anregten.

So steht schließlich jedes organische Wesen der Gegenwart vor uns als ein Produkt des unbewußten Gedächtnisses der organisierten Materie, welche immer wachsend und immer sich teilend, immer neuen Stoff assimilierend und andern der anorganischen Welt zurückgebend, immer Neues in ihr Gedächtnis aufnehmend, um es wieder und wieder zur reproduzieren, reicher und immer reicher sich gestaltete, je länger sie lebte.

Die ganze individuelle Entwicklungsgeschichte eines höher organisierten Tieres bildet aus diesem Gesichtspunkt eine fortlaufende Kette von Erinnerungen an die Entwicklungsgeschichte jener großen Wesenreihe, deren Endglied dieses Tier bildet; und wie eine verwickelte Wahrnehmung durch eine flüchtige und sozusagen oberflächliche Reproduktion lange und mühsam eingeübter Hirnprozesse zustande kommt, so durchläuft der sich entwickelnde Keim schnell und nur andeutungsweise eine Reihe von Phasen, die von der Wesenreihe, deren Abschluß er bildet, während eines unabsehbar langen Lebens nur Schritt für Schritt zur Entwicklung und Fixierung im Gedächtnis der organisierten Materie gelangten. Oft und lange geahnt und unter verschiedener Gestalt zur Theorie erhoben, hat diese Auffassung doch erst durch einen Naturforscher der Gegenwart die richtige Beleuchtung gefunden. Denn die Wahrheit birgt sich in mancherlei Gewand vor den Augen derer, die sie suchen, bis sie endlich unverhüllt vor das Auge des Erwählten tritt.

Mit der Form, mit der äußeren und inneren Gestaltung des Leibes, des Organs, der Zelle reproduzieren sich nun aber auch deren Verrichtungen. Das Hühnchen, welches eben der Schale entschlüpfte, läuft davon, wie seine Mutter davonlief, als sie die Schale durchbrochen hatte. Man bedenke, welch außerordentlich verwickeltes Zusammenwirken von Bewegungen und Empfindungen nötig ist, um nur das Gleichgewicht beim Laufen zu erhalten, und man wird einsehen, daß hier nur die Annahme eines angeborenen Vermögens zur Reproduktion dieser verwickelten Verrichtungen die erwähnte Tatsache erklären kann. Wie dem Individuum eine im Laufe seines Lebens eingeübte Bewegung zur andern Natur wird, so auch dem ganzen Geschlecht die von jedem Glied desselben unendlich oft wiederholte Verrichtung.

Das Hühnchen bringt jedoch nicht bloße große Geschicklichkeit in seinen Bewegungen angeboren mit, sondern auch ein ziemlich hoch entwickeltes Wahrnehmungsvermögen. Denn es nimmt sofort die Körner auf, die man ihm hinstreut. Hierzu ist nicht nur nötig, daß es diese überhaupt sieht, sondern auch, daß es den Ort jedes einzelnen Korns, seine Richtung und Entfernung sofort mit Sicherheit auffaßt, und endlich mit ebensolcher Sicherheit danach die Bewegungen seines Kopfes und ganzen Körpers abmißt. Auch dies kann es nicht in der Eierschale erlernt haben. Dies haben vielmehr die Tausende und Abertausede von Hühnern erlernt, die vor ihm lebten, und von denen es in direkter Linie abstammt.

Das Gedächtnis der organischen Substanz verrät sich hier in der überraschendsten Weise. Der schwache Reiz, welcher als das vom Korn ausgehende Licht die Netzhaut des Hühnchens trifft, wird Anlaß zur Reproduktion einer reichgegliederten Kette von Empfindungen, Wahrnehmungen und Bewegungen, die sich noch nie in diesem Individuum zusammenfanden, und die sich trotzdem gleich von Anfang an mit einer Sicherheit und Genauigkeit ordnen, als wären sie schon tausendmal an demselben Individuum geübt worden. Man pflegt solche überraschende Leistungen der Tiere als Äußerungen des  Instinktes  anzusehen, und die naturphilosophische Mystik hat sich mit Vorliebe mit dem Thema der Instinkte befaßt. Betrachtet man aber den Instinkt als Äußerung des Gedächtnisses oder Reproduktionsvermögens der organisierten Materie, schreibt man der Gattung ein Gedächtnis zu, wie man es dem Individuum zuschreiben muß; so wird der Instinkt sogleich verständlic, und der Physiologe findet zugleich Anknüpfungspunkte, um ihn in die große Reihe jener Tatsachen einzufügen, die wir oben als Äußerungen des Reproduktionsvermögens angeführt haben. Hiermit ist eine physikalische Erklärung zwar noch nicht gegeben, aber erscheint doch als näher gerückt.

Das Tier handelt, wenn es seinem Instinkt folgt, wenn es sich als Raupe verpuppt, als Vogel sein Nest, als Biene seine Zelle baut, auch mit Bewußtsein und nicht als blinde Maschine. Es weiß innerhalb gewisser Grenzen abgeänderten Umständen gemäß auch sein Tun abzuändern und ist dabei dem Irrtum unterworfen, es fühlt Behagen, wenn das Werk vorwärts geht, und Unlust, wenn es Hindernisse findet; es lernt sicher auch dabei und baut das zweite Mal sein Nest besser als das erste Mal; aber, daß es schon das erste Mal so leicht auf die zweckmäßigen Mittel zur Erreichung seines Zieles verfällt, daß sich seine Bewegungen so trefflich und ganz von selbst dem Zweck gemäß regeln: das verdankt es dem angeerbten Inhalt des Gedächtnisses seiner Nervensubstanz, welche nur eines Anstoßes bedarf, um ganz von selbst in die zweckmäßige Art von Tätigkeit zu geraten und sich immer gerade auf das zu besinnen, was eben nötig ist.

Man erwirbt leicht überraschende Fertigkeiten, wenn man sich zu beschränken weiß; die Einseitigkeit ist die Mutter der Virtuosität. Wer die Geschicklichkeit bewundert, mit welcher die Spinne ihr Netz webt, sollte darüber nicht vergessen, daß sie ihre Kunst nicht einmal selbst lernte, sondern daß zahllose Spinnengeschlechter dieselbe langsam von Stufe zu Stufe erwarben. Und diese ihre Kunst ist auch so ziemlich alles, was sie überhaupt erlernten. Der Mensch greift zu Pfeil und Bogen, wenn seinem Netz die Beute fehlt; die Spinne aber verhungert.

So sehen wir den Leib und, was uns hier besonders fesselt, auch das ganze Nervensystem des neugeborenen Tieres vorgebildet und bestimmt für den Verkehr mit der Außenwelt, in welche es eintritt, bereit, auf ihre Einwirkungen in derselben Weise zu antworten, wie es schon oft geschah von seinen Vorfahren.

Sollte sich das Nervensystem und Gehirn des neugeborenen Menschen hiervon ganz abweichend verhalten?

Allerdings muß der Mensch erst mühsam erlernen, wo das Tier ein geborener Meister ist, dafür ist aber auch das menschliche Gehirn bei der Geburt viel weiter vom Gipfel seiner Entwicklung entfernt als das des Tieres, es wächst nicht nur länger, sondern auch stärker als das der Tiere. Man kann sagen, das Gehirn des Menschen ist viel jünger, wenn es in die Welt tritt, als das tierische. Das Tier wird altklug geboren und handelt sogleich auch altklug. Es gleicht den Wunderkindern, deren Gehirn ebenfalls gleichsam zu alt zur Welt gelangt, um sich, trotz seiner großen Mitgabe, darin noch ebenso reich entfalten zu können, wie ein anderes, minder gut ausgestattetes, aber mit größerer Jugendfrische geborenes. Dem Gehirn des Menschen, wie überhaupt seinem ganzen Körper, ist ein viel weiterer Spielraum individueller Entwicklung gegeben, weil ein relativ großer Teil derselben in die Zeit nach der Geburt fällt. Es wächst heran unter den Eindrücken seiner Umgebung auf seine Sinne und erwirbt unter solchen Verhältnissen in individuell ausgeprägter Weise, das, was dem Tier gleich in fester genereller Gestaltung mitgegeben ist.

Gleichwohl müssen wir selbstverständlich, wie dem übrigen Körper, so auch dem Gehirn des neugeborenen Menschen ein weitgehendes Erinnerungs- oder Reproduktionsvermögen dessen zuschreiben, was schon tausendfach an seinen Ahnen zur Entwicklung kam, und vermöge dessen er die zum Leben nötigen Fertigkeiten, soweit sie ihm nicht schon vollständig angeboren sind, jetzt ungleich rascher und leichter erlenrt, als sonst möglich wäre. Nur erscheint das, was wir beim Tier Instinkt nennen, hier in freierer Form als  Anlage.  Freilich, die Begriffe sind ihm nicht angeboren, aber daß sie aus dem komplizierten Gemisch der Empfindungen so leicht und sicher herauskristallisieren, das verdankt das Kind nicht seiner Arbeit, sondern der vieltausendjährigen Arbeit der Gehirnsubstanz zahlloser Vorfahren. Auch hat die Erfahrung allgemein gezeigt, daß diejenigen Theorien über die Entwicklung des individuellen Bewußtseins, welche jede einzelne menschliche Seele in ihrer Entwicklung gleichsam wieder ganz von vorn anfangen lassen und alles Angeborene leugnen, als ob die Tausende von Geschlechtern, die vor uns waren, ganz umsonst für uns gelebt hätten, immer auffallend mit den Tatsachen der alltäglichen Erfahrung in Widerspruch geraten sind.

Das Gebiet jener Hirnprozesse und Bewußtseinsphänomene, welche den Menschen zum Menschen adeln, hat freilich keine so lange Vergangenheit, wie das der physischen Bedürfnisse. Hunger und Generationstrieb bewegten schon die ältesten und einfachsten Formen der organischen Welt, für sie und für die Mittel, sie zu stillen, hat darum auch die organische Substanz das stärkste Gedächtnis, und die hieruas entspringenden Triebe und Instinkte erfassen noch heute selbst den Menschen mit der Macht einer Elementargewalt. Das geistige Leben wuchs langsam heran, seine schönsten Blüten gehören der spätesten Epoche in der Entwicklungsgeschichte der organisierten Materie an, und noch nicht lange trägt das Nervensystem den Schmuck eines großen und reich entwickelten Gehirns.

Man hat die mündliche und schriftliche Überlieferung das Gedächtnis der Menschheit genannt, und dieser Spruch hat seine Wahrheit. Aber noch ein anderes Gedächtnis lebt in ihr, das ist das angeborene Reproduktionsvermögen der Gehirnsubstanz, und ohne dieses wären auch Schrift und Sprache verewigt, sind nichts für Köpfe, die nicht dazu bestimmt sind; sie wollen nicht bloß gehört, sie wollen reproduziert sein. Und wenn nicht mit dem Reichtum der von Geschlecht zu Geschlecht überlieferten Ideen auch der Reichtum innerer und äußerer Entwicklung des Gehirns fortwachsend sich vererbte, wenn mit dem schriftlich bewahrten Gedanken nicht auch das gesteigerte Vermögen zu seiner Reproduktion auf die kommenden Geschlechter überginge, so wären Schrift und Sprache umsonst. Das bewußte Gedächtnis des Menschen erlischt mit dem Tod, aber das unbewußte Gedächtnis der Natur ist treu und unaustilgbar, und wem es gelang, ihr die Spuren seines Wirkens aufzudrücken, dessen gedenkt sie für immer.
LITERATUR - Ewald Hering, Über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten Materie, Vortrag gehalten in der feierlichen Sitzung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien am 30. Mai 1870, Leipzig 1921