p-4ra-1J. ThyrenCzolbeSchubert-SoldernR. LagerborgJ. RehmkeJ. Bergmann    
 
JOHANNES von KRIES
Über die materiellen Grundlagen
der Bewußtseinserscheinungen

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"Wenn die Benennung eines gesehenen Gegenstandes erlernt wird, so geschieht das ja dadurch, daß gleichzeitig oder unmittelbar nacheinander die optische Wahrnehmung des Gegenstandes und die akustische des Namens stattfindet. Die optische beruth darauf, daß Erregungsvorgänge vom Nervus opticus in die Hirnrinde des Okzipitallappens (vielleicht weiter) vordringen, die akustische auf einer durch den Akustikus zunächst im Schläfenlappen bewirkten Veränderung."

Die Geschichte der Wissenschaften hat einige Male die eigenartige Erscheinung dargeboten, daß Probleme, um die sich der menschliche Scharfsinn Jahrhunderte hindurch in immer erneuten Anstrengungen bemüht hatte, schließlich nicht gelöst, wohl aber durch die Einsicht in den Grund ihrer Unlösbarkeit erledigt und sozusagen aus der Welt geschafft wurden. So ist das perpetuum mobile, so die Quadratur des Zirkels definitiv von der Tagesordnung abgesetzt worden.

Der Gegenstand, der in den nachfolgenden Zeilen, wenn auch nur unter einigen speziellen Gesichtspunkten, behandelt werden soll, der Zusammenhang der Bewußtseinserscheinungen mit den materiellen Vorgängen des Zentralnervensystems, hat wohl schon vielfach die Ansicht hervorgerufen, daß auch er ein solches, den Forscher geheimnisvoll verlockendes, aber nie erreichbares, zuletzt versinkendes und erlöschendes Irrlich sei. Daß indessen diese ganz pessimistische, derartigen Bestrebungen alle Aussicht auf Erfolg absprechende Meinung nicht zutreffend sein kann, lehrt schon die Tatsache, daß gewisse zweifellos wertvolle Ermittlungen in Bezug auf jene Fragen doch schon gelungen sind und damit auch die bestimmte Aussicht auf noch weiter gangbare Wege eröffnet ist. Und in der Tat kommt es gerade hier sehr darauf an, welche Seiten des Gegenstandes man ins Auge faßt, in welchem Sinne die Fragen gestellt werden.

Man ist gegenwärtig über die spezielle Art, wie die hierhergehörigen Tatsachen zu nehmen sind, über ihre metaphysische oder, wie ich lieber sagen würde, ihre logische Bedeutung verschiedener Meinung. Es mag hier unerörtert bleiben, ob in dieser Beziehung bestimmte Schwierigkeiten bestehen, ob das solche sind, deren Lösung von weiterer Erfahrung erwartet werden kann oder überhaupt ausgeschlossen ist; der Naturforscher hat einiges Recht, diese den Logiker freiliche interessierenden Erörterungen abzulehnen. Er darf sich sagen, daß seine Ermittlungen, wenn sie auf sorgfältig beobachteten und mit Vorsicht verallgemeinerten Tatsachen beruhen und wenn umfangreiche Erfahrung die aufgestellten Regeln immer wieder und wieder bestätigt haben, jedenfalls ihren Wert behalten, daß sie lediglich, je nach der Beurteilung, die jene logischen Fragen erfahren, anders formuliert, gewissermaßen in eine andere Sprache übersetzt werden müssen. Wissen wir, daß die unerläßliche Bedingung einer jeden Gesichtsempfindung ein bestimmter Prozeß in der Rinde des Hinterhauptlappens ist, so ist damit eine Tatsache festgestellt, deren Wert unabhängig davon ist, ob wir die Empfindung als Begleiterscheinung dieses materiellen Prozesses, als eben diesen Prozeß selbst, von einer anderen Seite betrachtet, als einen durch das materielle Geschehen hervorgerufenen Zustand der Seele oder wie sonst immer auffassen, unabhängig auch davon, ob wir den Wunsch, zwischen diesen Möglichkeiten zu entscheiden, als einen berechtigten und vielleicht erfüllbaren betrachten oder die ganze Fragestellung für illusorisch erklären. Mag also im Hinblick auf eine endgültige Formulierung der Tatsachen jeder Vorbehalt zugestanden werden, so wird doch darüber keine Unsicherheit bestehen, daß die Herbeischaffung dieses Materials ein zwar mühevolles aber nicht aussichtsloses Unternehmen ist; denn eben in dieser Beziehung haben die positiven Erfolge der letzten Jahrzehnte uns so Vieles, so Bedeutungsvolles und auch so Sicheres gelehrt, daß man an der Existenz eines ausgedehnten, der Erforschung zugänglichen Tatsachenmaterials nicht zweifeln kann.

Im großen und ganzen darf man denn auch sagen, daß die wissenschaftlichen Bemühungen, die diesem Gebiet gewidmet werden, das erfreuliche Bild wissenschaftlicher Bewegung, wie es die Auffindung neuer und fruchtbarer Methoden zu begleiten pflegt. In der Tat haben sich die verfeinerten Verfahrensweisen der histologischen [Gewebelehre - wp] Technik, die systematische Untersuchung embryonaler Entwicklungsstadien, die auf zahlreiche Formen erstreckte Durchmusterung der Tierreihe und eine mit großem Material arbeitende, zugleich durch sinnreiche Kombination geleitete Verwertung pathologischer Beobachtungen, die Hand reicht, ihre Resultate gestützt, ergänzt, modifiziert und so zusammenwirkend eine schnelle und stetige Vermehrung unseres Wissens erzielt.

Zusammenfassende Betrachtungen können in einem derartigen Zustand mehr als sonst irgendwo überflüssig erscheinen. Denn Überlegungen, die die Tatsachen selbst zum Gegenstand haben, sind, wo von allem Festzustellenden erst ein kleiner Teil bekannt ist, meist verfrüht; sie laufen Gefahr, durch einige neue Beobachtungen umgestürzt zu werden. Erwägungen über die Methoden erscheinen noch weniger geboten, wo der erfreuliche Fortgang der Untersuchungen die Güte und Zulänglichkeit der gebräuchlichen dokumentiert. Wenn ich gleichwohl in den nachfolgenden Blättern eine Anzahl von Betrachtungen niederlege, die der körperlichen Repräsentation der seelischen Vorgänge gelten, so sind dafür besondere Gründe bestimmend gewesen, die, wie ich hoffe, im Gang der Erörterungen selbst, sowie in einigen abschließenden Bemerkungen genügend klar hervortreten werden.

Einer unbefangenen vergleichenden Überlegung muß gegenwärtig in hohem Grade auffällig das Mißverhältnis erscheinen, in dem bezüglich des Zentralnervensystems der von der Anatomie uns enthüllte Formenreichtum zur, ich möchte sagen, ärmlichen Einfachheit der physiologischen Vorstellung steht, nach denen wir gewohnt sind die Vorgänge und Funktionen aufzufassen und zu beurteilen. Allerdings ist uns ein umfangreiches und wertvolles Wissen physiologischen, die Funktion betreffenden Inhalts, insoweit zugänglich geworden, als es sich um die in Bewegungen hervortretenden und durch Affizierung der Sinnesorgane modifizierbaren Betätigungen des Zentralnervensystems handelt. In diesem Sinne hat auch die physiologische Forschung sich ihrer Errungenschaften nicht zu schämen. Von überraschender Einfachheit sind unsere Vorstellungen aber in Bezug auf die Fundamentalfragen, was denn eigentlich in den Nervenzellen, was in ihren Fortsätzen, was etwa in der Zwischensubstanz geschieht. Daß das so ist, hat auch seinen sehr guten Grund: im vollen Gegensatz zur Sicherheit und relativen Leichtigkeit, mit der wir den Reichtum der Formen durch die anatomischen Untersuchungen an den toten, zerlegten, gefärbten Gebilden aufklären können, steht die fast völlige Unmöglichkeit, dem physiologischen Geschehen durch irgendeine, seine Qualität entschleiernde Beobachtung näher zu kommen. Selbst an demjenigen Gebilde, das am ehesten einer wirklichen Untersuchung seiner funktionellen Eigenschaften zugänglich erscheint, der peripheren Nervenfaser, liegen ja die Dinge so, daß unsere Hilfsmittel zur Zeit nur in  einer  Richtung, nämlich hinsichtlich der elektrischen Eigenschaften uns eine Beobachtung der Funktion an ihm selbst gestatten. Ob nicht diese Beschränktheit der Methodik eine große Gefahr mit sich führt, die Vorgänge sehr einseitig zu betrachten, ist eine wohl zu erwägende Frage. Noch wichtiger aber ist folgendes. Die vielfache, gründliche, ein reiches Tatsachenmaterial zutage fördernde Erforschung der peripheren Nervenfaser hat naturgemäß den hieran entwickelten physiologischen Grundbegriffen eine solche Bedeutung erworben, daß man auch in der Erörterung der ganz andersartigen Vorgänge des Zentralnervensystems zunächst eben jene physiologischen Vorstellungen und Grundbegriffe zum Ausgangspunkt genommen und mit ihnen ausschließlich operiert hat. Hierdurch sind dann die meisten Versuche, welche darauf ausgingen, die materiellen Grundlagen psychischer Erscheinungen zu erforschen, in ein ganz bestimmtes Geleis hineingeschoben worden.

Der Zweck der nachstehenden Ausführungen ist hauptsächlich der, zu zeigen, daß diese physiologischen Grundbegriffe jedenfalls  nicht  als ausreichend betrachtet werden können und daß die Aufgabe nicht umgangen werden kann, nach einer Vervollständigung und Vertiefung unseres Wissens in dieser Richtung, in Bezug auf die fundamentalen Fragen der physiologischen Funktionen zu streben.

Es wird geboten sein, zunächst eine kurze Skizierung desjenigen Vorstellungsmaterials vorauszuschicken, welches, in der Hauptsache, wie gesagt, vom Studium der Nervenfasern herrührend, gegenwärtig auf das Zentralnervensystem angewandt zu werden pflegt. Derjenige Begriff, der hier an die Spitze zu stellen ist, ist ohne Zweifel derjenige  der Erregung  oder der  Tätigkeit. 

Wir sind gewohnt, uns die nervöse Substanz im allgemeinen in einem Ruhe- oder Indifferenzzustand zu denken, der dann durch gewisse Anstöße in einen anderen, eben den der Tätigkeit umgewandelt werden kann. Überall wird zugleich vorausgesetzt, daß diese Tätigkeit oder Erregung an jeder Stelle einen höheren oder geringeren Grad besitzen kann. Es ist für uns hier ohne wesentliche Bedeutung, wenn man die Vorstellung in der Hinsicht kompliziert (gewissermaßen verdoppelt), daß man der nervösen Substanz die Möglichkeit zweier entgegengesetzter Verhaltensweisen zuschreibt, die Indifferenz aber als Gleichgewicht dieser beiden auffaßt.

Der Versuch, die psychischen Erscheinungen an einen so einfachen physiologischen Grundbegriff anzulehnen, hat natürlich nicht gemacht werden können, ohne diesen durch eine sehr wesentliche Hinzufügung zu erweitern. Sie besteht darin, daß das psychische Ergebnis der Erregung je nach der Beschaffenheit der erregten Substanz ein verschiedenes sein sollte. Da über die Natur dieser Substanzen zunächst gar keine einschränkende Voraussetzung zu machen war, man sie sich also in beliebiger Zahl und verschiedensten Qualitäten gegeben denken konnte, so mochte es scheinen, daß diese Vorstellungsweise mit der größten Mannigfaltigkeit psychischer Vorkommnisse, die uns die Selbstbeobachtung kennen lehrt, doch in Einklang zu bringen sein müßte. Die Lehre von den Tätigkeiten führt so von selbst auf einen anderen sehr bekannten und viel erörterten Grundbegriff, nämlich  den der spezifischen Energie,  allerdings in derjenigen Wendung, in der er neuerdings meist genommen worden ist. In der Tat bleibt als das eigentlich Wesentlich des obigen Grundgedankens, sobald er durch die Annahme einer überaus großen Mannigfaltigkeit verschiedener nervöser Substanzen erweitert worden ist, nur das bestehen, daß jedes einzelne Gebilde seine Zustände nur in einer Richtung zu verändern vermag, daß, wie man zu sagen pflegt, seine Zustände eine nur einfach bestimmte Mannigfaltigkeit darstellen. Ist dies der Fall, so wird dann das Gebilde, wie auch immer darauf eingewirkt wird, auch nur eine ganz bestimmte und zwar sehr beschränkte Gesamtheit seelischer Zustände hervorbringen können. Eben das ist es, was das Prinzip der spezifischen Energie behauptet; eine ganz radikale Durchführung dieses letzteren ergibt sich also als die eigentliche Konsequenz jenes Begriffs des Erregungsvorgangs.

Nun erfreut sich allerdings die Lehre von den spezifischen Energien, wie bekannt, keineswegs allgemeiner Zustimmung; sie ist im Gegenteil vielfach bestritten und wir müssen daher gleich hier auch die Erweiterung wenigstens kurz erwähnen, die die obige Lehre durch die Annahme erfährt, daß ein nervöses Gebilde mehrerer verschiedener Arten von Tätigkeit fähig ist, wie das ja namentlich auf dem Gebiet der Sinne vielfach gefordert worden ist. Immerhin stellt auch eine derartige Hinzufügung noch kein eigentliches Aufgeben des Grundgedankens dar; und es genügt daher auf diese Verallgemeinerung als eine von vielen Seiten für erforderlich gehaltene hinzuweisen.

Wir wenden uns sogleich zum weiteren, dem Begriff der Tätigkeit sich unmittelbar anschließenden Gedanken, der, wie man sagen darf, nicht minder aus der Physiologie der peripheren Nervenfaser in die des Zentralnervensystems hinübergetragen worden ist: es ist der der  Leitung.  Es erscheint als eine Fundamentaleigenschaft der nervösen Gebilde, daß sie den irgendwo und irgendwie eingeleiteten Erregungsvorgang nach Maßgabe bestimmter anatomischer Verhältnisse weitergeben. Daß sich diese Dinge zwar in den komplizierten Bildungen der Nervenzellen nicht mit ähnlicher Einfachheit abspielen können wie in der langgestreckten einheitlichen Faser, konnte niemals übersehen werden. An diesem Grundgedanken festhaltend, hatte man indessen nur die Hinzufügung zu machen, daß vielfach der Erregungsvorgang eine Mehrheit von Wegen anträfe und man hat sich wohl im allgemeinen vorgestellt, entweder daß er ausschließlich denjenigen Weg einschlage, auf dem er den geringsten Widerstand finde, oder wohl auch, daß er nach Maßgabe der verschiedenen Widerstände, ähnlich wie nach dem OHMschen Gesetz der elektrische Strom, sich zwischen den verschiedenen Wegen teile. Eine derartige Vorstellung konnte sowohl im Hinblick auf die Verästelungen der als Dendriten bezeichneten Zellfortsätze als auch hinsichtlich der Kollateralen [Nebenäste - wp]langgestreckter Nervenfortsätze als zutreffend und genügend erscheinen. Sie ist auch, wie man wohl sagen darf, durch die Entwicklung der Neuronenlehre zwar etwas modifiziert, aber nicht ernstlich ins Wanken gebracht worden. Denn wenn, wie wir durch diese erfahren, der funktionelle Zusammenhang zweier Nerveneinheiten nicht auf einer anatomisch stetigen Verbindung ihrer Teile beruth, sondern die eine die andere zwar in naher Benachbarung durchflicht oder umfaßt, dabei aber immer noch durch Zwischensubstanz reinlich getrennt bleibt, so geht daraus doch im Grunde nur hervor, daß der Erregungsvorgang diese Zwischensubstanz zu durchsetzen oder zu überspringen vermag; davon aber, daß der ganze Gedanke der Leitung hierdurch in Frage gestellt oder auch nur wesentlich eingeschränkt würde, kann gar keine Rede sein. In der Tat sehen wir ja auch in manchen Fällen die Vorgänge sich in einer Art abspielen, die dem Bild einer Fortleitung aufs genaueste entspricht, wiewohl die Verbindung zwischen dem Ort des Reizes und dem des Effekts tatsächlich aus mehr als einer Nerveneinheit besteht, also ein Übergang von der oben erwähnten Art dabei jedenfalls durchlaufen werden muß. So, wenn die Bewegung von Extremitätenmuskulatur durch Reizung der Hirnrinde hervorgerufen wird, in welchem Fall mindestens einmal, in den grauen Vorderhörnern des Rückenmarks, ein Übergreifen auf eine neue Nerveneinheit stattfinden muß.

Da die Vorstellung von den in gewissen Bahnen laufenden Erregungsvorgängen trotz mancher sogleich zu beredender Ergänzung doch für die übliche Betrachtung des Zentralnervensystens den Angelpunkt abgegeben hat, so mag es gestattet sein, die gesamten hierin gipfelnden und in diesem Kardinalpunkt übereinstimmenden Anschauungen unter dem Namen des  Leitungsprinzips  oder der  Leitungslehre  zusammenzufassen.

In erster Linie würde also demnach anzunehmen sein, daß der Aneinanderschluß verschiedenartigster Vorgänge darauf beruth, daß Erregungsprozesse, gewissen Bahnen folgend, sich von Stelle zu Stelle ausbreiteten. Die Verschiedenheiten des jeweiligen Zustandes hängen ab von der verschiedenen Beschaffenheit der in jedem Zeitpunkt in Aktion versetzten Gebilde. Diese Verschiedenheiten und insbesondere die Gestaltung der die einzelnen Gebilde verknüpfenden Bahnen wäre für das ganze Geschehen maßgebend.

Hieran knüpft sich sodann gleich noch ein Weiteres. Noch in einem Punkt nämlich schienen die betrachteten Grundbegriffe, der Erregungsvorgang und seine an bestimmte Bahnen gebundene Fortleitung sich fruchtbar zu erweisen. Ganz unmittelbar gestatteten sie die Anwendung gewisser noch allgemeinerer physiologischer Vorstellungen, nach welchen wir überall eine allmähliche Beeinflussung der anatomischen Bildungen durch die Funktion selbst erwarten, in dem Sinne, daß die in Tätigkeit gesetzten Gebilde durch die Funktion selbst erstarken und gegenüber den nicht geübten Teilen sich in bevorzugter Weise entwickeln. Dieser Gedanke, auf die erwähnten Teile angewendet, schien in der Tat gewisse, aus der psychologischen Erfahrung längst bekannte Verhältnisse in der glücklichsten Weise aufzuklären. Die allmähliche Ausbildung neuer, die Konsolidierung lockerer Zusammenhänge bildet in der Gesamtheit der psychophysischen Entwicklung eine der auffälligsten Erscheinungen und es ist ja auch bekannt, wie sehr diese, die Erscheinungen der  Assoziation,  lange Zeit im Mittelpunkt des Interesses gestanden haben. Wir bemerken, daß ein Kind mit dem optischen Eindruck eines gesehenen Gegenstandes die akustische Vorstellung des Namens zuerst langsam und unsicher, dann aber, bei häufigerer Wiederholung, immer sicherer verbindet; wir sehen nämlich, daß eine Folge von Worten, die wir uns einprägen, eine Folge von Bewegungen, für die wir uns beim Erlernen einer technischen Fertigkeit einüben, sich anfangs nur unsicher und gleichsam stockend, mit Fehlern und Abweichungen, allmählich aber immer glatter und sicherer aneinander schließt. Alle derartigen Verhältnisse zusammenfassend, durfte man wohl mit einigem Recht fragen, ob sich nicht überall dasselbe einfache Grundgesetz ausspreche, daß gewisse Verbindungswege vermöge der wiederholten Durchlaufung immer leichter und leichter gangbar werden, ein Grundgesetz, das dann nicht nur durch seine allgemeine Bedeutung auf dem Gebiet des psychophysischen Geschehens wichtig war, sondern durch seine vorhin erwähnte Beziehung zu allgemeinen physiologischen Vorstellungen noch mehr Interesse gewannn. So ist es denn wohl gekommen und auch erklärlich, daß die skizzierten Vorstellungen eine gewisse beherrschende Rolle gespielt haben und noch spielen. Wenn alles der allgemeinen Form eingeordnet erscheint, daß sich Erregungsvorgäne in gewissen Bahnen fortplanzen und dadurch diese Bahnen an Wegsamkeit gewinnen, so bleibt zwar immer noch der Detailuntersuchung ein überaus weites Feld offen, teils durch die Frage nach der faktischen Gestaltung jener Bahnen, teils auch durch die Frage nach dem psychischen Wert jener als sehr verschiedenartig vorgestellten Erregungsvorgänge; immerhin aber ist doch jeder spezielleren Untersuchung durch die beherrschende Anschauung von vornherein eine ganz bestimmte Richtung und Betrachtungsweise aufgeprägt. Nun kann zwar gewiiß nicht behauptet werden, daß etwa ganz allgemein jenem Prinzp eine so universale und erschöpfende Bedeutung zugeschrieben werde; in voller Bestimmtheit und Ausdrücklichkeit ist es wohl sogar kaum jemals ausgesprochen worden. Daß es sich aber für die Gestaltung speziellerer Untersuchungen vielfach in einer maßgebenden Weise geltend gemacht hat, wird nicht bestritten werden können.

Ehe ich mich nun der Frage zuwende, wie weit in Wirklichkeit diese Grundvorstellungen als ausreichend gelten könen, ist es noch geboten, einer neueren Lehre zu gedenken, die, wie ich glaube, von außerordentlicher Wichtigkeit ist; sie darf hier angereiht werden, weil sie auf den ersten Blick wenigstens als eine Ergänzung den obigen Grundvorstellungen sich anzuschließen scheint. Allerdings werden wir später sehen, daß sie vielleich schon Fermente enthält, die geeignet sind, über jene hinaus zu treiben.

Es handelt sich hier um das, was von EXNER als Hemmung und Bahnung bezeichnet wird, also, wenn wir ohne sonstige Hypothese sprechen wollen, um eine gewisse Variabilität der Zusammenhänge, oder, wenn wir auf dem Boden der vorher dargelegten Anschauungen bleiben, darum, daß die Widerstände zentraler Leitungen in sehr mannigfaltiger Weise, insbesondere auch sehr schnell, geändert, jetzt bis zu völligen Sperrung erhöht, kurz darauf wieder vermindert werden können. Man darf wohl sagen, daß durch diese Hinzufügung in überraschender Weise die Befähigung des Leitungsprinzips, den psychischen Vorgängen gerecht zu werden, sich zu erweitern schien; denn gerade die Veränderlichkeit der Zusammenhänge kann mit einigem Recht als eines der auffälligsten Merkmale psychischen Geschehens gelten.

Wir sehen, um dies an einem Beispiel zu erläutern, daß die optische Wahrnehmung der Entfernung durch eine Reihe sehr verschiedenartiger Momente (scheinbare Größe, Luftperspektive, Konturenverlauf, Beziehungen der dem rechten und dem linken Auge sich bietenden Bilder) bestimmt werden kann. Jedes derselben ist aber von derart unsicherer Wirksamkeit, daß es, unter Umständen allein maßgebend, unter anderen Umständen wieder durch andere Momente vollständig zurückgedrängt werden und ohne jeden Effekt bleiben kann. (1)

Allerdings erhebt sich wohl auch hier bereits ein gewisser Zweifel, ob diese Wechsel, welche ein bestimmtes Ergebnis bald von diesen bald von jenen Vorgängen abhängig machen, wirklich als Vermehrungen und Verminderungen eines Widerstandes in diesen und jenen Bahnen angesehen werden dürfen. Doch mag dieses Bedenken, welches mit einer Anzahl später zu erörternder Punkte so ziemlich übereinkommt, hier beiseite bleiben. Hingewiesen sei dagegen sogleich darauf, daß bei genauerer Betrachtung die ganze Lehre sich doch eigentlich nicht mehr als eine harmlose Vervollständigung des Leitungsprinzips präsentiert. Dann allerdings wäre das wohl der Fall, wenn wir uns die Wegsamkeit der Bahnen durch Umstände nicht nervöser Natur modifiziert zu denken hätten; nutritive [die Ernährung betreffend - wp] von der Zirkulation bestimmte Einflüsse und dgl.; das ist aber ganz ausgeschlossen; die hemmenden und bahnenden Einflüsse sind zum großen Teil funktioneller Natur. Wenn wir aber dem in einer Faser laufenden Erregungsvorgang den Erfolg zuschreiben, in der Nachbarschaft desjenigen Punktes, woe die Faser etwa zu Ende geht, eine andere Bahn zu öffnen oder zu sperren, so ist damit über die Grundvorstellungen des Leitungsprinzips vollständig hinausgegangen; es ist dann etwas prinzipiell Neues hinzugefügt, eine Vorstellung übrigens, deren genauere Erwägung sogleich ihre Unfertigkeit erkennen läßt. Denn welcher Art muß die anatomische Gestaltung sein, damit der in einer Nerveneinheit laufende Erregungsvorgang solche Veränderungen des Widerstandes bewirken kann? Bewirkt er sie durch eine Beeinflussung der nervösen Elemente selbst oder der Zwischensubstanz?

Indem ich mit dem Hinweis auf die hier noch liegenden Dunkelheiten diesen Punkt verlasse, wende ich mich nunmehr zu meinem eigentlichen Gegenstand, einer Erörterung, wie weit wohl die unter der Bezeichnung des Leitungsprinzips zusammengefaßten physiologischen Grundvorstellungen wirklich als ausreichend gelten können. Diese Erörterungen sollen nicht in systematischer Weise gegeben werden, was beim Stand unserer Kenntnisse schwierig und im Rahmen dieser Abhandlung ganz unmöglich wäre; es soll jene Frage nur an einer Anzahl einigermaßen willkürlich herausgegriffener Probleme geprüft werden. Ich wähle dazu in erster Linie solche, die sich an die Verhältnisse der  Assoziation  anknüpfen, eben jenes psychophysische Verhalten, hinsichtlich dessen das Leitungsprinzip sich auf den ersten Blick als besonders wertvoll und klärend dargestellt hatte. Schon die Betrachtung einfachster Fälle führt uns auf eine Anzahl beachtenswerter Schwierigkeiten. Zunächst, wenn die Benennung eines gesehenen Gegenstandes erlernt wird, so geschieht das ja dadurch, daß gleichzeitig oder unmittelbar nacheinander die optische Wahrnehmung des Gegenstandes und die akustische des Namens stattfindet. Die optische beruth darauf, daß Erregungsvorgänge vom Nervus opticus in die Hirnrinde des Okzipitallappens [hinterer Teil des Großhirns - wp] (vielleicht weiter) vordringen, die akustische auf einer durch den Akustikus zunächst im Schläfenlappen bewirkten Veränderung. Wo ist denn nun jene "Bahn", auf deren zunehmender Wegsamkeit die Ausbildung unserer assoziativen Verknüpfung beruhen soll? Kein Zweifel: das Prinzip erläutert wohl die Verstärkung und Befestigung einer bereits bestehenden Verknüpfung; ist es erst soweit, daß uns beim optischen Eindruck der Name  einfällt  (wenn auch vielleicht noch schwierig und unsicher), so ist die Grundlage gegeben, auf der sich unser Prinzip bedeutungsvoll erweist. Aber für den eigentlichen Anfang, wo jeder der zu assoziierenden Sinneseindrücke durch  seine  Pforte ins Gehirn eindringt, ist es unzulänglich. Man wird auch kaum darauf verweisen wollen, daß beide Erregungen bis in dasselbe neutrale Terrain vordringen und durch ihre Begegnung nun die der Assoziation zugrunde liegende Verbindungsbahn geschaffen werde; denn wie soll es verstanden werden, daß die in einem Augenblick einstrahlenden optischen und akustischen Erregungen sich so begegnen, wie es für die Ausbildung einer Verbindung erforderlich wäre, daß nicht die akustische auf irgendwelche andere optische Elemente aufläuft? Eben dasjenige, dessen Entstehung wir zu erklären wünschen und das wir tatsächlich in der mannigfaltigsten Weise entstehen sehen: es müßte im Grunde immer schon von vornherein präformiert sein. Einer unbefangenen und durch die Vorstellungen des Leitungsprinzips nicht zu sehr voreingenommenen Betrachtung wird daher der Vorgang auch einen ganz anderen Eindruck machen. Strahlen überhaupt optische und akustische Erregungen in ein gemeinsamens, beiden zugängliches und sie verbindendes Gebiet ein, so wird man weit eher der Vorstellung zuneigen, daß jede Erregung des einen und des anderen Sinnes, wie sie auch sei, aus welchen Elementen sie sich auch zusammensetze, das ganze Gebiet in einen gewissen Gesamtzustand versetze und daß die Koexistenz zweier solcher Gesamtzustände einen Zusammenhang zwischen ihnen etabliere, einen Zusammenhang, der freilich in seiner anatomischen oder physikalischen Begründung uns noch dunkel wäre, jedenfalls aber nicht als Herstellung einer Leitungsbahn aufzufassen sein würde.
LITERATUR - Johannes von Kries, Über die materiellen Grundlagen der Bewußtseinserscheinungen, Tübingen und Leipzig 1901
    Anmerkungen
    1) Die auf diesen und anderen Gebieten bestehenden Verschiedenheiten der Auffassung hat man mit Vorliebe als den Gegensatz physiologischer und psychologischer Erklärung bezeichnet, eine Gegenüberstellung, die niemals ganz zutreffend war und bei fortgeschrittener Untersuchung gewiß durch eine neue zu ersetzen sein wird. Denn auch HELMHOLTZ, den man als den Führer psychologischer Theorien zu nennen und anzugreifen pflegt, war wohl nicht der Meinung, daß alles, was er psychologisch auffasste, die physiologische Interpretation definitiv und prinzipiell ausschlösse. Ihm waren nur eine Anzahl von Besonderheiten, namentlich wohl gerade die Veränderlichkeit der Zusammenhänge, der Hinweis auf Vorgänge anderer hoch komplizierter und von den Vorgängen in den Nervenfasernn prinzipiell unterschiedener Art. In der modernen Terminologie könnte man sagen, daß die alten Kontroversenn darauf hinausliefen, wie weit Lokalisation, Kontrast etc. auf subkortikalen [unterhalb der Großhirnrinde - wp] Vorgängen beruhen, wie weit sie mit interkortikalen Vorgängen zusammenhängen. Und überall da, wo spätere Erweiterung und Vertiefung unseres Wissens eine wesentliche Beteiligung interkortikaler [in der Zwischenhirnrinde - wp] Vorgänge mit ihren eigenartigen und komplizierten Gesetzen herausstellen wird oder schon herausgestellt hat, da wird eine zutreffende historische Betrachtung eine Bestätigung dessen anzuerkennen haben, was damals die psychologischen Theorien, freilich noch in anderer Sprache redend, behaupteten.