ra-2Gnaeus Flaviusvon BülowR. PattaiK. Wielandvon JheringH. Kantorowicz    
 
ANTONI von PERETIATKOWICZ
Methodenstreit
in der Rechtswissenschaft


"Die Stellung der Freirechtler ist mit dem Prinzip der Rechtssicherheit unvereinbar. Vom sozialen Standpunkt sind schlechte, aber bestimmte und feste Regeln besser, als die anarchische Willkür der Richter. Die gewöhnliche Antwort der Freirechtler, daß die traditionelle Methode die Subjektivität ebensowenig vermeidet genügt nicht. Es handelt sich um das  Maß  und die  Grenzen  der Subjektivität. In der traditionellen Schule besteht die Subjektivität in einer verschiedenen Auffassung des Gesetzes, der Zweck aber bleibt hier die genaue Anpassung der Entscheidung an die Gesetzesvorschriften, an die  ratio legis,  an den Geist des Gesetzes. Bei der neuen Auffassung dagegen folgt die Subjektivität aus der Verschiedenheit der sozialen Anschauungen. Im ersten Fall ist sie begrenzt, im zweiten unbegrenzt."


I.

Der heutige Methodenstreit in der Jurisprudenz, der in der letzten Zeit so großen Umfang angenommen hat, knüpft an JHERINGs Anschauungen an. Schon im dritten Teil seines Werkes "Geist des römischen Rechts" finden wir eine Abteilung, welche sich mit der Frage der Überschätzung des logischen Elements im Recht beschäftigt. Diesen Kultus des Logischen, der aus der Jurisprudenz eine Art von juristischer Mathematik machen will, hält er für ein Mißverständnis und eine Verkennung der wesentlichen Natur des Rechts. Nicht das Leben ist der Begriffe halber, sondern die Begriffe sind des Lebens halber da. Nicht das soll stattfinden, was die Logik verlangt, sondern den Erfordernissen des Lebens, des Verkehrs, des Rechtsgefühls soll, ohne Rücksicht darauf, ob begrifflich möglich oder unmöglich, Genüge getan werden. In seinem Buch "Scherz und Ernst in der Jurisprudenz" versucht er sowohl mit Ironie, wie auch in ernster Form die Konsequenzen der herrschenden juristischen Doktrin nachzuweisen, die er  "Begriffsjurisprudenz genannt hat (diese Benennung wurde von vielen aufgenommen und stellt heute die negativ gerichtete Devise der neuen Bewegung dar). Während die römischen Juristen den Weg der konsequenten Durchbildung nur bis zu den Grenzen verfolgen, welche die praktischen Bedürfnisse fordern, und das wirkliche Leben immer vor Augen behalten, will die moderne Jurisprudenz nach JHERINGs Ansicht diese Rücksicht nicht kennen und kommt mithin manchmal zu einem Resultat, das dem Rechtszweck ganz widerspricht. Deswegen proklamiert JHERING im Programmartikel seiner Zeitschrift (1) eine neue Losung: "Durch das römische Recht, über das römische Recht hinaus." Dieser Grundgedanke vom Zweck in jedem Recht wurde zum positiven Leitgedanken der modernen Bewegung.

Die oben erwähnten Anschauungen von JHERING über die sozialen Aufgaben der Jurisprudenz, ein gewisser Skeptizismus gegenüber den "logischen Konstruktionen" wurde von manchen hervorragenden Juristen weiter fortgesetzt. Ich erinnere nur an OSKAR BÜLOW (2), der den schöpferischen Charakter der Richtertätigkeit betrachtete, an RÜMELIN (3), der Subjektivismus und Relativismus der "logischen Konstruktionen" betonte, vor allem aber an GENY (4), der aufgrund von weitgehend theoretischen Erwägungen und eines enormen praktischen Materials aus den französischen Gerichten alle Schwächen der traditionellen Methode hervorzukehren und die großen sozialen Aufgaben der Jurisprudenz aufzuzeigen versuchte. Das waren aber verhältnismäßig seltene Stimmen, im großen und ganzen herrschte die "logische" Methode in der Rechtswissenschaft fast allmächtig. Erst in der letzten Zeit entwickelte sich eine neue Strömung, die sogenannte freirechtliche Bewegung, unter der Losung "die soziale Jurisprudenz" mit solcher Macht, daß sie nicht nur Theoretiker, sondern auch Rechtspraktiker, sogar viele Laien erfaßt hat und zu einer aktuellen Frage wurde. Man sieht immer mehr und mehr Anhänger der neuen (teleologischen, soziologischen) Methode und man könnte sogar sagen, daß die moderne Bewegung zu viele Anhänger hat, daß kritische Gegner vielmehr zur Erläuterung und Vertiefung der neuen Strömung beizutragen vermöchten.

Ich halte es für unnötig, die Geschichte der freirechtlichen Bewegung und die verschiedenen wohlbekannten "sozialen Postulate" darzustellen. Es kommt auch nicht auf die Würdigung vom rechtspolitischen Standpunkt an, auf die Anerkennung der Notwendigkeit einer allgemeinen Einführung der neuen Methode oder auf ihre entschiedene Abweisung. Diese Frage hängt mit dem Menschenmaterial, das den neuen Prinzipien gemäß entscheiden soll, d. h. mit der Reife und Unparteilichkeit des Richterstandes zusammen. Man würde sie, vielleicht, anders in Bezug auf Rußland, anders in Bezug auf Deutschland, Österreich oder Frankreich entscheiden wollen. Eine genaue Kenntnis der faktischen Zustände muß dem Aussagen irgendeines Urteils vorangehen.

Es handelt sich um etwas anderes. Neben dem rechtspolitischen Standpunkt ist auch ein anderer Gesichtspunkt gestattet, es ist wohl möglich die neue Bewegung vom  rechtsphilosophischen  Standpunkt in Bezug auf das Wesen und die Aufgaben des Rechts zu betrachten. Da werden wir sehen, daß die freirechtliche Bewegung, damit sie wirklich eine  juristische  Prägung zu gewinnen vermöchte, einer gewissen Vertiefung, einer gewissen Modifikation unterliegen müsse, aß sie zwar wertvolle Elemente enthält, aber sie nicht genug präzisiert habe, daß sie in der Kritik der traditionellen Methode zu weit geht. Indem man teleologische Elemente beibehält, ist es notwendig, ein objektives Prinzip, welches wenigstens teilweise das Postulat der Rechtssicherheit berücksichtigt, einzuführen. Ich betone jedoch, daß ich in dieser Erörterung nur  den  Flügel der freirechtlichen Bewegung betrachten will, der nach freiem Recht  praeter legem  [am Recht vorbei - wp], nicht  contra legem  [nicht durch eine Norm gedeckt, steht aber auch keiner Norm entgegen - wp] entscheiden will (5). Es handelt sich also um Lücken im Gesetz, Widersprüche, Unklarheiten etc. und um die Methode, nach welcher man sie ausfüllen, bzw. beseitigen soll.

Ohne sich in die metaphysische Spekulation oder in rationalistische Deduktionien einzulassen, allein aufgrund des allgemeinen Rechtsbewußtseins der modernen Zeit dürfen wir konstatieren, daß zu den wesentlichen Rechtselementen nicht nur die sozial-staatliche Sanktion, sondern auch zwei andere Bestandteile, nämlich die  soziale Zweckmäßigkeit  und die  objektive Fixierung  (Stabilität, Berechenbarkeit) der normierenden Vorschriften gehört.

Die schwache Seite der traditionellen Schule war eine gewisse Unterschätzung, eine gewisse ungenügende Berücksichtigung des ersteren von den erwähnten Rechtsfaktoren: der sozialen Zweckmäßigkeit. Es herrschte ausschließlich die Logik, es handelte sich um die Folgerichtigkeit, die Harmonie des Systems, um subtile Begriffsanalysen. Die realen, sozialen Bedürfnisse haben eine doppelte Einbuße erlitten:
    1. weil man den Willen des Gesetzgebers in der Form von abstrakten Kategorien dargestellt hatte, die sich oft den konkreten, faktischen Umständen nicht genügend anpaßten, im Gegenteil, das Leben in den Rahmen einer Formel hineindrückten;

    2. weil zur Basis des Konstruierens und Entscheidens der vermutliche Wille des Gesetzgebers diente, der oft von der heutigen Zeit und den modernen Verhältnissen sehr entfernt war, aus welchem Grund dieser Wille für die heutigen Zustände nicht maßgebend werden konnte. Ich sehe von der Konstruktion "des vermutlichen Willens des Gesetzgebers, wenn er die heutigen Verhältnisse gekannt hätte", ab, denn das ist ein künstliches Verfahren, hinter dem eine Supposition, daß der Gesetzgeber "rational" gehandelt hätte, steckt; dabei legt man in den supponierten Begriff seine eigene Anschauung hinein. (6)
Die schwache Seite der freirechtlichen Bewegung beruth auf einer Verkennung des zweiten Faktors, der für das Recht nicht minder wesentlich ist, nämlich der eindeutigen Fixierung, Objektivierung der gebildeten Normen. Die Freirechtler verlangen die Befreiung des Richters von den Fesseln des Gesetzes, aber sie bestimmen nicht, in welcher Richtung sich seine Tätigkeit bewegen soll, sie geben keine objektiven Richtlinien für die Entscheidung der Streitfragen. Es fehlt zwar unter den Modernisten nicht an Erörterungen und Andeutungen in Bezug auf die Faktoren, die bei der Rechtsschöpfung berücksichtigt werden sollen. Der überwiegende Teil des genannten Werkes von Professor GÉNY stellt eine Analyse von all den Momenten und Umständen dar, die bei der Feststellung der Rechtsnormen eine Rolle spielen sollen. Es läßt sich nicht leugnen, daß sie alle eine gewisse Bedeutung haben, aber man muß sich klar machen, daß sie alle einen subjektiven Charakter tragen. Sogar die Ergebnisse der sozialen Wissenschaften, auf welche Professor GÉNY so sicher rechnet, bekommen einen subjektiven Charakter, wenn sie keine theoretischen Wissenschaften bleiben, sondern zu praktischen werden (d. h. wenn sie nicht das, was ist, sondern das, was sein soll, erforschen). Die "freie", dem Richter anheimgegebene Feststellung der rechtlichen Zweckmäßigkeit und eine Subjektivität des Urteilens sind voneinander untrennbar.

Manche Freirechtler glauben, daß der objektive Charakter des frei gebildeten Rechts auf der Erkennung "der Natur der Dinge" beruth.
    "Die Natur der Dinge, als Quelle des positiven Rechts betrachtet, beruth auf dem Postulat, daß die sozialen Lebensverhältnisse in sich selber die Bedingungen ihres Gleichgewichts tragen und selber, sozusagen, eine Norm, welche sie selber umfassen sollte, entwickeln." (7)
Diese Ansicht stellt eine Spiegelung der philosophisch-soziologischen Theorie dar, die auf französischem Boden unter dem Namen "Solidarismus" entstanden ist. Wir treffen oft in der neuen Literatur diese Anschauung, die jedoch den wesentlichen Charakter der betreffenden Erscheinung verkennt. "Natur der Dinge" nennen wir nicht nur alle faktischen Umstände einer Begebenheit, sondern auch die Beurteilung ihrer Bedeutung vom Standpunkt der Werte und das letzte Moment muß subjektiv werden. Kein Zweifel, daß die Untersuchung der Natur der Dinge, des Wesens der zugehörigen Erscheinungen die Subjektivität insofern vermindert, als sie eine bessere Kenntnis aller einschlägigen Tatsachen herbeiführt, daß also die Werturteile sich auf ein homogenes experimentelles Material gründen und infolgedessen weniger auseinandergehen. Die Vermutung aber, daß die Kenntnis dieser faktischen Umstände nur  eine  objektive Norm des Handelns bilden würde, ist unbegründet. Eine gewisse Subjektivität ist auch in diesem Sinne nicht zu beseitigen.

Andere Freirechtler stellen noch radikaler die Frage. Sie geben keine Richtlinien, sie wollen keine Kriterien. Der Richter soll volle Freiheit haben, in keinem Maß gebunden werden. Von den Fesseln der logischen Konstruktionen befreit wird er er allein die richtigste Norm finden.
    "Dann wird das Ideal der Unparteilichkeit verwirklicht werden, denn die Parteilichkeit des Richters stammt aus nackter Unkenntnis der sozialen Tatsachen und Anschauungen." (8)
Wenn der Richter seine Aufmerksamkeit nicht auf die Theorie, sondern auf das Leben selbst richten wird, dann wird er am besten die wirklichen sozialen Bedürfnisse verstehen und fühlen und die zweckmäßigste Norm bestimmen, das richtige Recht finden.

Kann jedoch diese Stellungnahme eine  juristische  genannt werden? Ist das nicht eine Leugnung des wesentlichen Merkmal des Rechts: der Festigkeit (Stabilität, Berechenbarkeit) der gebildeten Normen? Ist das nicht eine Anerkennung der vollen Willkür, der schrankenlosen Subjektivität des Richters? Würde das nicht eine Anarchie bei der Rechtsprechung hervorrufen? Die Freirechtler glauben, daß die Berücksichtigung der sozialen Bedürfnisse die Objektivität beim Entscheiden verbürgen wird. Das ist eine offenbare Täuschung, der die Erfahrung widerspricht. Bei den Fachleuten sogar, die sich gänzliche den bezüglichen Studien gewidmet haben, treten große Unterschiede in den Anschauungen über die sozialen Bedürfnisse und Rechtsaufgaben in Erscheinung. Ganz zu schweigen von den Laien. Man könnte fast sagen:  quot capita, tot sensus  [So viele Köpfe, so viele Meinungen - wp]. Wenn die Meinung über soziale Politik überhaupt schon so verschieden sind, wieviel mehr wird die Frage bei der Rechtsprechung kompliziert; manchmal ist es schon sehr schwer auch nur zu bestimmen, welche soziale Folge diese oder jene Entscheidung herbeiführen wird. Wenn auch in vielen Punkten eine Übereinstimmung der Ansichten über soziale Bedürfnise bestehen mag, wie groß bleibt doch die Möglichkeit auseinandergehender Meinungen, oft ganz verschiedener prinzipieller Stellungnahmen. Die freirechtliche Richtung in ihren extremen Äußerungen ermöglicht dem Richter (zumindest im Prinzip) ein Entscheiden, das sinnfälligst den Grundlagen der heutigen Rechtsordnung widerspricht (insofern keine ausdrückliche Gesetzesvorschrift den Weg hemmt), das allgemeine Rechtsgefühl brüskiert, nur deswegen, weil die Meinung eines gewissen Richters es so verlangt. Die Stellung der Freirechtler ist mit dem Prinzip der Rechtssicherheit unvereinbar. Vom sozialen Standpunkt sind schlechte, aber bestimmte und feste Regeln besser, als die anarchische Willkür der Richter. Der Mangel an Richtlinien und Grenzen beim Entscheiden bildet eine große Lücke im neuen Programm. Die gewöhnliche Antwort der Freirechtler, daß die traditionelle Methode die Subjektivität ebensowenig vermeidet genügt nicht. Es handelt sich um das Maß und die Grenzen der Subjektivität. In der traditionellen Schule besteht die Subjektivität in einer verschiedenen Auffassung des Gesetzes, der Zweck aber bleibt hier die genaue Anpassung der Entscheidung an die Gesetzesvorschriften, an die  ratio legis,  an den Geist des Gesetzes. Bei der neuen Auffassung dagegen folgt die Subjektivität aus der Verschiedenheit der sozialen Anschauungen. Im ersten Fall ist sie begrenzt, im zweiten unbegrenzt.

Wir stehen also vor einer Alternative zweier Richtungen, von denen jede nur einem der wesentlichen Rechtselemente Genüge tut. Die erste vertritt die Rechtssicherheit, die zweite die soziale Zweckmäßigkeit. Es entsteht aber die Frage, ob diese Kollision, ob die Opferung eines von beiden Elementen unumgänglich ist. Ich glaube, daß diese Notwendigkeit nicht vorliegt, daß die freirechtliche Richtung, ohne ihre real-sozialen Vorzüge zu opfern, einer gewissen Vertiefung, gewisser Modifikation bedarf, damit sie die Eigenschaft, an der es jetzt fehlt, gewinnt, nämlich die Objektivität. Um aber diese Frage zu lösen, müssen wir uns zur faktischen Quelle aller Entscheidungen, zur Grundlage, auf der sie ruhen, zur Psyche des Richters wenden.


II.

Wenn wir eine tiefere Analyse dieser Psyche des Richters in seinem Entscheiden der Streitfragen zu unternehmen versuchen, so finden wir drei Grundelemente, die den drei Seiten unseres geistigen Lebens entsprechen:
    1. Intellekt (logisches Schlußverfahren),
    2. Gefühl und
    3. Wille.
Jedes von diesen Elementen spielt eine gewisse Rolle. Obwohl das psychische Leben des Menschen ein unteilbares Ganzes darstellt, so müssen wir doch zum Zweck der Erforschung dieser psychischen Prozesse einzelne Elemente auf dem Weg der Abstraktion isolieren und auf diese Weise ihren wesentlichen Charakter erläutern.

Das Wirken des  Verstandes  beruth einerseits auf dem Vergleichen des faktischen Zustandes mit den Prämissen, die sich im Gegensatz befinden und auf der entsprechenden Subsumtion, andererseits auf der Ableitung der folgerichtigen Schlüsse aus den gesetzlichen Vorschriften. Das ist ein rein intellektueller Prozeß, der mit logischen Syllogismen operiert. Hierher gehört auch das Suchen nach dem Willen des Gesetzgebers in den Fällen, die nicht ausdrücklich normiert sind. Ich meine nicht die Prüfung mittels der vermutlichen "Richtigkeit, Zweckmäßigkeit" des Willens des Gesetzgebers, denn hier hätten wir mit verschleierter Subjektivität zu tun, wo andere, nicht nur intellektuelle Elemente, mitwirken. Ich meine die Ableitung der Schlüsse aufgrund der allgemeinen Prinzipien, d. h. der Grundlagen, die aus den Normen selbst hervorgehen, aufgrund der  ratio legis,  die man aus den Gesetzen ableitet. Die Richtung dieser Tätigkeit ist der Ableitung unmittelbarer Schlüsse aus den geltenden Vorschriften entgegengesetzt. Im ersten Fall (allgemeine Prinzipien) schließen wir von der Wirkung auf die Ursache, im zweiten (unmittelbare Schlüsse) von der Ursache auf die Wirkung. Das sind die Prozesse der logischen Konstruktion, die von der traditionellen Schule als allein maßgebend anerkannt wurden, intellektuelle Prozesse, ohne die Beimischung fremder Elemente. In der Praxis aber treten sie selten in reiner Form auf, sondern mit anderen psychischen Elementen verbunden.

Neben dem Verstand stellt der  Wille  ein Element dar, das an der Schöpfung der rechtlichen Entscheidung (bewußt oder unbewußt) teilnimmt. Er äußert sich in der Tatsache, daß man den  Zweck  einer bestimmten Entscheidung, einer Individualnorm berücksichtigt, daß man der sozialen Resultate, die eine vom Richter festgestellte Regel herbeiführen würde, bewußt wird, und daß man den  Willen  hat, diese Folgen herbeizuführen. Wenn also der Richter, der einen Streit zwischen Kaufleuten entscheidet, den Einfluß, den diese oder jene Entscheidung auf die Entwicklung des Handelns haben würde, in Betracht zieht, folgt daraus, daß er diese Entwicklung vom rechtspolitischen Standpunkt für wünschenswert erachtet und den "Willen" hat, diese soziale Funktion zu fördern. Wenn er in den Konflikten zwischen Arbeitern und Arbeitgebern die Bedürfnisse der nationalen Industrie berücksichtigt, haben wir wiederum Entscheidungen, die auf dem Moment des "Willens" beruhen. Die traditionelle Schule hat die Existenz des Willenselementes bei den Rechtsentscheidungen prinzipiell negiert, weil sie alles auf die logischen intellektuellen Faktoren, auf die Prüfung des "Willens des Gesetzgebers" ohne Rücksicht auf die Folgen und subjektive Beurteilungen zurückführen wollte. In der Praxis aber geschah es anders und die völlige Elimination der teleologischen Faktors auf diesem Gebiet ist unmöglich. In England gilt die Regel, daß der Richter sogar an das Gesetz, wenn es zu unsinnigen Folgen führt, nicht gebunden ist (9). Es gilt also da die Regel:  lex falsa non est  [Ein falsches Gesetz ist kein Gesetz. - wp]. Auf dem Kontinent gilt im Prinzip die Regel:  lex falso lex est  [Auch ein falsches Gesetz ist ein Gesetz - wp], in der Praxis aber ist sie durch verschiedene Mittel modifiziert und geschieht durch das Wirken des "Willensfaktors".

Vom streng psychologischen Standpunkt aus könnte man einwenden, daß der Wirkung des intellektuellen Faktors (logisches Schlußverfahren aufgrund der Gesetze) auch ein Wille vorangeht, nämlich der Wille zur Anwendung der Gesetze. Dies zugegeben, sehe ich dennoch vom Willen in diesem Sinne gänzlich ab (als einer Selbstverständlichkeit). Ich will dagegen die Bedeutung des Willensfaktors jenseits der Grenzen, die auch die traditionelle Theorie anerkannt hat, hervorheben, nämlich bei den Zweckmäßigkeitserwägungen. Denn alle teleologische Betrachtungen sind in letzter Linie immer auf den Willensfaktor reduzierbar (weil es keine objektiven, allgemeingültigen Kriterien der sozialen Zweckmäßigkeit gibt).

Das dritte Element, das bei der Bildung der Rechtsentscheidung eine große Bedeutung hat, ist der Gefühlsfaktor, nämlich das  Rechtsgefühl Es besteht in der Tatsache, daß wir ganz reflexmäßig und spontan auf menschliche Handlungen vom rechtlichen Standpunkt aus reagieren, daß wir sie für rechtliche oder unrechtliche, den geltenden Normen gemäße oder ungemäße halten. Es unterliegt keinem Zweifel, daß der Richter, der die menschlichen Handlungen als Objekt von Streitfragen betrachtet, einer unwillkürlichen Gefühlsreaktion unterliegt, die ihn (meistens unbewußt) zu dieser oder jener Entscheidung geneigt machen. Sogar ein entschiedener Positivist, wie JHERING, der alles nach dem Prinzip bewußter Zweckmäßigkeit zu erklären geneigt war, anerkennt, daß das "Gefühl des Richtigen der Erkenntnis desselben regelmäßig weit voraus ist." (10) Das Rechtsgefühl hat eine weitgehende Bedeutung in der Dynamik des sozialen Lebens und der Rechtsordnung. Man könnte sich schwer ein normales Zusammenleben der Menschen ohne diesen Faktor vorstellen. Daß die großen Massen der Gesellschaft dem Recht gemäß handeln, geschieht nicht, weil sie die Vorschriften genau kennen (das wäre ja unmöglich), sondern weil sie nach dem Rechtsgefühl, das in sie von der Umgebung eingepflanzt wurde, verfahren. Die soziale Erziehung bildet in unserer Psyche eine ganze Reihe von bezüglichen Impulsen, die unserem Handeln den gehörigen Weg zeigen.

Die Verbindung des Rechtsgefühls mit stetem faktischem, jenem Gefühl entsprechendem Handeln schafft jene komplizierte Erscheinung des "Gewohnheitsrechts", die so verschieden erklärt wurde. Diese "opinio necessitatis", auf welche sich die Erforscher des Gewohnheitsrechts berufen, besteht im Grunde genommen in einer "opinio iuris", ist Rechtsgefühl. Ohne diesen Faktor wäre die Existenz des Gewohnheitsrechts und seine Unterscheidung von Rechtssitten unerklärlich. Diese Auffassung allein ermöglich auch das richtige Verständnis des dispositiven Gewohnheitsrechts. Denn dispositives Recht ist mit "opinio necessitatis" unvereinbar.

Wir können und an dieser Stelle nicht in die Frage der Entstehung des Rechtsgefühls vertiefen. Es ist aber kein Zweifel, daß die Ansicht von JHERING: "Nicht das Rechtsgefühl hat das Recht erzeugt, sondern das Recht das Rechtsgefühl" (11), den Tatsachen nicht entspricht. Anthropologen und Soziologen (TYLOR, MAINE, DÜRKHEIM, WORMS etc.) stellen einstimmig fest, daß alle sozialen Gruppen, auch die auf der niedrigsten Kulturstufe befindlichen, gewisse (nicht zahlreich, aber allgemein gültige) Rechtsnormen besitzen. Eine Gesellschaft ohne Recht kennen wir gar nicht und wir können uns eine solche auch nicht vorstellen. Da aber das ursprüngliche Recht lediglich als Gewohnheitsrecht gilt und das letztere in sich das Element des Rechtsgefühls enthält, können Recht und Rechtsgefühl zeitlich nicht auseinandergezogen werden und die Frage der Entstehung des Rechtsgefühls läßt sich auf die Frage nach der Entstehung des Rechts reduzieren. Die letztere Frage aber kann beim heutigen Stand der Wissenschaft nicht genügend beantwortet werden, denn ungeklärt bleibt das Problem der Abstammung des Menschen und der ersten sozialen Gruppen. Nur die genaue Kenntnis der Abstammung des Menschen und der Entstehung der menschlichen Gesellschaft könnte eine produktive, soziologische Prüfung der Genesis des Rechts und des Rechtsgefühls ermöglichen. In unserem Fall hat dieses Problem aber keine entscheidende Bedeutung. Es genügt für unsere Aufgabe die Feststellung der Tatsache, daß ein Rechtsgefühl in jedem Gemeinwesen in allen Perioden in Erscheinung tritt.

Wir beobachten das Rechtsgefühl bei der Rechtsprechung in verschiedenen Formen. Meistens tritt es unbewußt hervor und geht den Verstandesargumenten voran. Wir wissen aus der Geschichte, daß er berühmte Jurist BARTOLUS erst die Entscheidungen gemacht hat und dann seinen Freund PIGRINUS die zu ihnen passenden Stellen aus dem  Corpus iuris  finden ließ, "weil er wenig Gedächtnis besaß". Sehr oft äußert sich das Rechtsgefühl unter der Maske von "allgemeinen Rechtsgrundsätzen", "Natur der Dinge", "Richtigkeit" usw. Besonders den letzten Begriff verwechselt man oft mit Rechtsgefühl.

Wir wollen auf diese Frage nicht weiter eingehen. Für unsere Zwecke genügt die Feststellung von drei psychischen Faktoren, die bei der Richtertätigkeit eine Rolle spielen:
    1. des Verstandes (logische Anpassung an das Gesetz),
    2. des Rechtsgefühls und
    3. des Willens (teleologische Momente, die Bestimmung sozialer Zwecke und der rechtlichen Mittel).
Es ist klar, daß dabei Rechtsgefühl und Wille  Wertelemente  darstellen, daß der fühlende und wollende Richter ein  wertender  Richter ist.


III.

Wenn wir uns jetzt zur freirechtlichen Bewegung und der traditionellen Schule wenden, wird es nicht schwer sein, das Verhältnis beider Richtungen zu den oben erwähnten psychischen Faktoren klarzulegen. Die traditionelle Schule erkennt bekanntlich nur die logischen Momente an. Die Prüfung des Willens des Gesetzgebers, des ausdrücklichen oder des vermutlichen, soll auf dem Weg des Verstandes mit Ausschließung aller anderen Faktoren geschehen. Die Rechtswissenschaft dürfe sich nur des objektiven Werkzeugs bedienen und das könne nur der Intellekt sein. In der Praxis war es selbstverständlich anders, die Theorie aber hat nur Verstandesoperationen, nur logische Konstruktionen anerkannt. Die Schattenseite dieser Methode (in ihrer reinen Form) ist der notwendige Zwiespalt zwischen sozialen Bedürfnissen und "dem Willen des Gesetzgebers", zwischen modernen Erfordernissen und den Anschauungen in der Zeit der Gesetzesschöpfung. Das Recht muß unter diesem Aspekt starr und morsch werden. Außerdem ist dieser Standpunkt einseitig, denn er will zwei andere Faktoren, die in der Tat, wie wir gesehen haben, eine bedeutende Rolle spielen, gar nicht berücksichtigen.

Der juristische Modernismus stellt in die vorderste Reihe das Gefühl und den Willen. Er hält die teleologischen Momente, die Zweckmäßigkeit der Normen für entscheidend, weil das Recht nur Mittel für soziale Zwecke ist und moderne Bedürfnisse das einzige Kriterium abgeben sollen. Die Freirechtler betonen die Notwendigkeit der Demokratisierung der Rechtswissenschaft, damit eine Harmonie zwischen Rechtsbewußtsein der Gesamtheit und den geltenden Vorschriften besteht und sie glauben, daß dieser Zweck mittels der vollen Richterfreiheit in den Äußerungen seines Gefühls und seines Willens erreicht werden kann.

Der Mangel dieser Richtung ist die volle Beseitigung des intellektuellen Moments (in unserem Sinne), des logischen Zusammenhangs mit dem geltenden Gesetz, mithin eine vollständige Eliminierung des objektiven Faktors. Das Resultat ist ein weitestgehender Subjektivismus, eine schrankenlose Willkür, also Mangel der Rechtssicherheit. Außerdem ist dieser Standpunkt auch einseitig, denn in der Tat die Harmonie, der logische Zusammenhang zwischen Entscheidung und verbindlichen Vorschriften muß bestehen bleiben, wenn die Entscheidungen keinen revolutionären Charakter haben sollen (was die Freirechtler selber gar nicht erwünschen).

Wir sehen also, daß vom rechtsphilosophischen Standpunkt in Bezug auf das Wesen des Rechts, auf seine prinzipiellen Postulate (soziale Zweckmäßigkeit und Objektivität der Normen) beide Richtungen bedeutende Mängel haben; daß die erstere eine Starrheit der Normen (keine Anpassung an das Leben), die letztere die Subjektivität (Willkürlichkeit) herbeiführt. Die richtige Methode soll sowohl die wesentlichen Rechtserfordernisse wie die faktischen Elemente der menschlichen Psyche, die im Leben wirksam sind, berücksichtigen; sie soll diese beiden Seiten der Rechtserscheinungen möglichst miteinander versöhnen. Die richtige Methode hat die Aufgabe  den intellektuellen Faktor zu modernisieren, den Gefühls- und Willensfaktor zu objektivieren. 

Sehen wir zu allererst, ob diese Forderung in Bezug auf das für die neue Richtung entscheidendste Element, nämlich den Willensfaktor, möglich ist. Gibt es Richtlinien, Anhaltspunkte, die dem Richter in objektiver Weise zeigen, welche Verhältnisse er für wertvoll und förderungswürdig anerkennen soll? Gibt es in dieser Richtung allgemeingültige Kriterien oder sind solche überhaupt möglich? Der wesentliche, allgemein anerkannte Zweck ist das soziale Wohl. Aber, wie bekannt, sagt dieser Begriff sehr viel, aber bestimmt auch sehr wenig; er ist relativ und kann verschieden interpretiert werden. Quot capita, tot sensus. [Soviele Köpfe, so viele Meinungen. - wp] Fast jeder Mensch, der an die bezüglichen Fragen denkt, vertritt andere Anschauungen über die rechtlichen Mittel, die zum Gesamtwohl, zum allgemeinen Nutzen führen.

Es gibt zwar Theorien, die für die Gestaltung des Rechts objektive Richtlinien zu liefern glauben. Soll es vielleicht die Gemeinschaft frei wollender Menschen sein (STAMMLERs Formel)? (12) Oder die Entwicklung der Kultur gemäß einer gewissen Zeitperiode (KOHLER)? (13) Oder das Prinzip der Freiheit (BEROLZHEIMER)? (14) Oder die Beurteilung der einzelnen Institute vom Standpunkt der Entwicklungstendenz (LISZT (15), MAKAREWICZ (16))? Oder die Entwicklung der altruistischen Impulse und des Liebesgefühls (PETRAZYCKI)? (17) Oder die Rechtsregel aufgrund der Solidarität (DUGUIT)? (18) Ohne Zweifel viele der Faktoren, auf denen sich diese Theorien gründen, können und sollen berücksichtigt werden. Ich glaube jedoch nicht, daß irgendeine von diesen Direktiven als das einzige Kriterium angenommen werden kann. Das wäre umso schwerer, als die obigen Theorien sich mehr auf die Gesetzgebungspolitik, als auf unsere Aufgabe, die Ausfüllung der Gesetzeslücken, beziehen.

Es ist möglich, daß sich mit der Zeit nach dem Muster der von PETRAZYCKI befürworteten Zivilpolitik auch eine Wissenschaft der Zivil-Interpretationspolitik entwickelt, die dem Richter den richtigen Weg zeigen würde. Es unterliegt auch keinem Zweifel, daß die genaue Kenntnis des sozialen Lebens, die Aneignung der Errungenschaften der modernen Wissenschaft die Unterschiede in den Wertbeurteilungen des faktischen Materials vermindern. Nichtsdestoweniger muß der Faktor der soziale Zweckmäßigkeit, des Willens, mehr oder weniger subjektiv bleiben und dagegen werden die subtilsten philosophischen Konstruktionen nichts ausrichten. In letzter Linie also muß der Takt des Richters entscheiden, dessen Funktion keine Wegweiser und Normen ersetzen können.

Wenn aber der Willensfaktor nicht ganz objektiviert werden kann, wenn es keine allgemeingültigen Kriterien der sozialen Zweckmäßigkeit gibt, so folgt daraus noch gar nicht die Richtigkeit der Forderung der Freirechtler: man überlasse dem Richter die ganze Freiheit. Die unbegrenzte Willkür der Vertreter der Gerechtigkeit darf vom rechtlichen Standpunkt nicht zugelassen werden. Das Resultat der vollständigen Richterfreiheit wären allgemeine Verkehrsunsicherheit, Vorwürfe der Parteilichkeit, Mißtrauen zur unbefangenen Rechtsprechung.

Wenn es keine objektiven, allgemeingültigen Richtlinien für die Richtertätigkeit gibt, so muß man und soll man  die Grenzen  ihrer eigenmächtigen Äußerungen abstecken. Man muß Schranken, Rahmen aufrichten, innerhalb deren die ganze Freiheit bei der Bestimmung der sozialen Zweckmäßigkeit zugelassen wird, aus denen aber (soll die öffentliche Sicherheit nicht gestört werden) sie nicht heraustreten dürfen. Diese Grenzen schaffen die zwei übrigen Faktoren (Verstand, Gefühl), wenn diese richtig verstanden und angepaßt werden.

Der intellektuelle Faktor besteht, wie oben ausgeführt in der Anpassung der Rechtsentscheidungen an die geltenden Vorschriften. Dieser Zusammenhang mit bestehenden Vorschriften muß aufrechterhalten werden, man soll aber darunter nicht "den Willen des damaligen Gesetzgebers", sondern  "die prinzipielle Stellungnahme des modernen Gesetzgebers"  verstehen. Es handelt sich nicht um die künstlichen Konstruktionen, die untersuchen wollen, welche Ansicht der heutige Gesetzgeber in der jeweilig vorliegenden Frage vertritt; dies wäre unmöglich wegen der allzugroßen Zahl von Faktoren (die selber schon sehr kompliziert und schwer berechenbar sein mögen), welche über die Erlassung der Gesetze entscheiden. Man soll vielmehr diese Forderung juristisch verstehen und nach juristischen Methoden realisieren. Man soll die prinzipielle Stellungnahme des modernen Gesetzgebers aufgrund der Gesamtheit der Gesetze bestimmen, wobei mannicht nur Gesetzbücher, sondern auch neuere legislative Äußerungen hinzuziehen muß. Es handelt sich darum, daß man die "ratio iuris", d. h. die Prinzipien und die Rechtsgedanken, die den Ausgangspunkt, die Basis der gesetzlichen Vorschriften darstellen, in Betracht zieht.

Da aber die sozialen Anschauungen und Rechtsprinzipien in ihrem zeitlichen Verlauf einer Evolution und gewissen Änderungen unterliegen, müssen die Ansichten und gesetzgeberische Prinzipien, welche der heutigen Zeit am nächsten stehen, d. h. die "moderna ratio iuris" entscheidend sein. Zu diesem Zweck soll neben dem älteren Grundsatz: "lex posterior derogat priori" [Das jüngere Gesetz hebt das ältere auf. - wp] ein neuer Grundsatz: "ratio iuris posterior derogat priori" [der neuere juristische Verstand hebt den älteren auf. - wp] anerkannt werden. Wenn z. B. der  Code Napoleon  auf dem Standpunkt fast unbegrenzter Freiheit der Verträge steht, während neuere Gesetze eine Wendung in der Richtung des Schutzes der ökonomisch schwächeren Klassen zeigen, so entspricht diese letztere Stellung der  moderna ratio iuris;  mithin soll diese bei der Entscheidung des konkreten Falles, bei der Schöpfung der Rechtsnorm entscheidend werden. Der intellektuelle Faktor, so verstanden, steht in keinem Widerspruch mit den prinzipiellen Postulaten der Freirechtler, was die Berücksichtigung neuer sozialer Verhältnisse anbetrifft, und seine Hinzuziehung hat den großen Vorzug, daß sie eine Gewähr der Rechtssicherheit, die Grenzen der Willkür des Richters schafft.

Analoge Gedanken liegen wahrscheinlich dem ersten Paragraphen des Schweizer Gesetzbuches zugrunde, das im Falle von Gesetzeslücken und Fehlen des bezüglichen Gewohnheitsrechts, dem Richter nach der Regel, die er als Gesetzgeber aufstellen würde, entscheiden erlaubt,  wobei bewährte Lehre und die Überlieferung berücksichtigt werden muß.  Hier handelt es sich um die Harmonie und den logischen Zusammenhang mit den prinzipiellen Grundlagen der bestehenden Rechtsordnung.

Der zweite psychische Faktor, der in den Modernisten-Postulaten in verschiedenen Formen hervortritt, ist das Rechtsgefühl. Das Rechtsgefühl finden wir bei allen Leuten, in allen Gesellschaften, es äußert sich dabei bekanntlich auf sehr verschiedenen Weisen. Nicht nur auf den verschiedenen Kulturstufen, sondern auch in derselben Zivilisationsperiode ist die rechtliche Empfänglichkeit für die menschlichen Handlungen durchaus nicht gleichförmig. Das Rechtsgefühl stellt ein in größtem Maß subjektives Moment dar und kann in der Form, in welcher es von den Freirechtlern postuliert wird, für einen Entscheidungsgrund keine objektive Norm darbieten.

Wir wollen kurz das Wesen und den Charakter des Rechtsgefühls mit Rücksicht auf unsere früheren Betrachtungen in dieser Frage untersuchen. Es ist nicht nur eine psychische, sondern auch eine soziale Erscheinung, die ein Resultat sowohl der Erziehung und sozialen Lebens, wie auch des spezifischen eigentümlichen Charakters des gegebenen Individuums ist. Es folgt daraus, daß das Rechtsgefühl in sich zwei Elemente enthält: individuelles und soziales; deshalb können wir über  Individualrechtsgefühl  und  Sozialrechtsgefühl  sprechen.

Die erstere Erscheinung stellt das Resultat verschiedener Faktoren dar, also nicht nur der sozialen Organisation und der allgemeinen Verhältnisse, in welchen sich die Mitglieder einer sozialen Gruppe befinden, sondern auch der vielen besonderen Umstände, die jedes Individuum betreffen, wie des Einflusses der Familienerziehung, der Gesellschaftsumgebung, der gelesenen Literatur, der Ansichten, des Charakters, der Lebenserfahrung usw. Die Gesamtheit all dieser Faktoren zeitigt die spezifische Psyche eines Individuums, das spezifisch, individual gefärbte Rechtsgefühl. Die letzte Erscheinung ist eine der Ursachen der (manchmal sehr weitgehenden) Verschiedenheit in den Ansichten und der rechtlichen Beurteilung desselben faktischen Materials.

Aber der Mensch ist ein soziales  Wesen  und die in der Gesellschaft zum Durchbruch gelangenden Strömungen können ihm nicht fremd sein. In seine Seele fließen die in der Gesellschaft wirkenden Anschauungen, Gewohnheiten, Sitten und, sich hier spiegelnd, hinterlassen sie unzerstörbare Spuren. Die Erziehung der Kinder von den frühesten Jahren an beruth ganz darauf, daß man sie zu einem Denken, Fühlen und Wollen zu gewöhnen versucht, zu welchen sie selber spontan gewiß nicht kommen würden; diese ganzen Bemühungen zielen darauf ab, daß sie zu  sozialen  Wesen werden. Sogar die am stärksten ausgeprägten Individualitäten können von diesen Elementen und Impulsen, die ihnen die Gesellschaft zuführt, sich nicht los machen. Die Idee des Individualismus selber ist ein Produkt eines langen sozialen Lebens, einer verhältnismäßig höheren Kultur und auf den niedrigsten Kulturstufen ist sie gar nicht bekannt. Sehr treffend sagte COMTE: "Der Mensch entwickelt sich im allgemeinen in der Gemeinschaft, aber punktuell auch individuell." Der Anteil unseres wirklich isolierten  "Ich",  das faktisch von der Gesellschaft unabhängig bleibt, ist so unbedeutend, daß er nur ausnahmsweise bei den hervorragenden Persönlichkeiten eine größere Rolle spielt.

Die Tatsache, daß die sozial-psychischen Erscheinungen in der Gesellschaft wirken und gewissermaßen über den Individuen stehen, ist so offenbar, daß sie die Grundlage der ganzen soziologischen Schule (DURKHEIM (19), BOUGLÉ etc.) wurde, die jedoch zu weit geht, wenn sie diesen Erscheiungen den Charakter eines äußeren Zwangs beimißt und ihnen eine ganz abgesonderte, von der individuellen Psyche unabhängige Existenz zubilligt. Unter den verschiedenartigsten sozial-psychischen Phänomenen ist eins von den bedeutendsten das  soziale Rechtsgefühl.  Es ist ein Resultat der ganzen Rechtsordnung, in der jeder Bürger lebt und sich entwickelt, aller Bedingungen, sowohl gesetzes- als auch gewohnheitsrechtlicher Art, der ganzen Ausgestaltung des sozialen Lebens. Es ist verschieden in verschiedenen Zeitperioden und bei verschiedenen Völkern, aber in einer bestimmten Gesellschaft ist es bei allen ihren Mitgliedern oder zumindest bei der Mehrheit einheitlich.

Der bedeutendste Ausfluß des Sozialrechtsgefühls ist das  Gewohnheitsrecht dessen unentbehrliche Voraussetzung die Überzeugung von der Rechtmäßigkeit des Handelns nicht bei den einzelnen Individuen, sondern bei der ganzen Gesellschaft (bzw. der entsprechenden Kreise) ist. Obwohl Gewohnheitsrecht ohne Sozialrechtsgefühl nicht existieren kann, so ist doch das entgegengesetzte Verhältnis nicht ausgeschlossen. Denkbar ist wohl ein Sozialrechtsgefühl, welches sich in gewisser Richtung bewegt, ohne eine faktische Ausübung zu erlangen (z. B. wegen der gesetzlichen Hindernisse).

Das Sozialrechtsgefühl ist nicht etwa von der Individualseele ganz unabhängig. Es bedeutet nur einen gewissen Komplex von psychischen Elementen, die der ganzen sozialen Gruppe gemeinsam sind. Deshalb ist das Individualrechtsgefühl subjektiv enger als das Sozialsrechtsgefühl, weil es nur ein Individuum betrifft, aber sachlich weiter, als dieses, weil es das Sozialrechtsgefühl umfaßt und außerdem die spezifische Beschaffenheit des Individuums enthält. Man kann vermuten, daß die sozialen Elemente im Rechtsgefühl des durchschnittlichen Bürgers die individuellen überwiegen. Das folgt aus dem Wesen dieses Gefühls, das eine Tendenz hat Normen zu schaffen, die  zwangsweise  alle beherrschen sollen. Auf diesem Weg wirkens sie (Zwangsnormen) auf die Modifikation des spezifischen Rechtsgefühls in Richtung der allgemeinen Anschauungen, mithin in sozialer Richtung.

Aus obigem folgt, daß die psychische Verfassung des Richters (bzw. eines anderen Juristen) in Bezug auf das Rechtsgefühl zwei Elemente enthält (das individuelle und das soziale). Es fragt sich jetzt, welches von diesen Elementen für die Rechtsprechung die ausschlaggebende Bedeutung hat: das persönliche oder das allgemeine, das individuale oder das soziale? Ich glaube, die Antwort unterliegt keinem Zweifel. Die Richter bedeuten etwas für die Rechtsordnung nicht als Träger spezifischer, individuell gefärbter Gefühlsbeschaffenheiten, sondern als Vertreter der allgemeinen Anschauungen, der sozialen Gefühle. Nur das Sozialrechtsgefühl soll bei der Rechtsprechung berücksichtigt werden.

Auf diese Weise wird der emotionale Faktor, der schon heute eine große Rolle spielt, objekti und stellt eine Grenze eigenmächtiger Beurteilungen dar. Das freirechtliche Postulat der Berücksichtigung des Rechtsgefühls muß in der genannten Richtung modifiziert werden, damit er wirklich eine "objektive" Richtlinie und Grenze für die jeweilige Entscheidung bilden könnte. Das ist keine radikale Reform, sondern eine tiefergreifende Auffassung eines Prozesses, der schon heute stattfindet.

Auch hier darf man sich auf den § 1 des Schweizer Gesetzbuches berufen, der im Falle von Gesetzeslücken dem Richter vorschreibt auf das Gewohnheitsrecht Rücksicht zu nehmen. Wenn wir diesen letzten Begriff erweitern, d. h. dabei die Forderung einer ständigen faktischen Aktualisierung des Gefühls ausscheiden, so bekommen wir eben das Sozialrechtsgefühl.

Allerdings, die konkrete Feststellung des Vorhandenseins dieses Elements ist sehr schwierig. Sie verlangt, daß der Richter sich aus seiner Zelle hinauswagt und das wirkliche soziale Leben und die in ihm gährenden Strömungen kennen lernt. Nichtsdestoweniger ist sie als allgemeine Richtlinie eine unentbehrliche Konsequenz des freirechtlichen Postulats, das "Sozialisierung des Rechts" lautet. Es ist möglich, daß die Evolution der Gerichtsbarkeit zu einer größeren Spezialisierung führen und Fachleute schaffen wird, die gewisse Gebiete des sozialen Lebens und die einschlägigen Bedürfnisse gründlich kennen. Die richtige Anwendung des obigen Faktors wie vieler anderen hängt in letzter Linie vom Wissen des Richters und seinem Takt ab.


IV.

Wir kommen also zu dem allgemeinen Resultat, daß einerseits, die Berücksichtigung der modernen sozialen Bedürfnisse seitens der Rechtswissenschaft und Rechtsprechung unbedingt eine freie Beurteilungstätigkeit des Richters voraussetzt, die mehr oder weniger subjektiv bleiben wird; daß aber andererseits die Rechtssicherheit Grenzen der subjektiven Beurteilung verlangt. Diese Grenzen beruhen auf zwei Faktoren:
    1. dem intellektuellen (Anpassung an die existierende Rechtsordnung) und

    2. dem emotionalen (Sozialrechtsgefühl).
Wenn aber die Feststellung der teleologischen Forderungen, d. h. der sozialen Bedürfnisse im konkreten Fall schwerfallen sollte, so geben die obigen Faktoren für den Richter auch die Richtlinien ab, die ihm die Aufgabe erleichtern. Wenn dagegen die Beurteilung des Richters zwar einsichtig aber zu individuell, zu subjektiv gefärbt ist, dann bilden diese Faktoren die Grenzen, innerhalb derer selbständige Äußerungen freigegeben sind, aus denen man aber nicht hinausgehen darf. Das sind Sicherheitsventile im Interesse der Stabilität der Rechtsordnung.

Wir formulieren also unsere Stellung folgendermaßen:
    In den Fällen, die vom Gesetz nicht vorausgesehen wurden, soll der Richter frei und autonom die richtige Norm in einem sozialen Sinn feststellen dürfen; dabei muß er aber den allgemeinen durch Gesetze gezogenen Richtlinien des modernen Gesetzgebers (moderna ratio iuris) und der Richtung des herrschenden Sozialrechtsgefühls folgen.

LITERATUR Antoni von Peretiatkowicz Methodenstreit in der Rechtswissenschaft, Zeitschrift für das privat- und öffentliche Recht der Gegenwart, Bd. 39, Wien 1912
    Anmerkungen
    1) JHERINGs "Jahrbücher für Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts", 1857.
    2) OSKAR BÜLOW, Gesetz und Richteramt, 1885
    3) GUSTAV RÜMELIN, Werturteile und Willensentscheidungen, Prorektoratsrede, 1891
    4) GÉNY, Méthode d'interpretation et sources en droit privé positif, 1899
    5) Vgl. KANTOROWICZ, Die Contralegem-Fabel, Deutsche Richterzeitung, Nr. 8, 1911
    6) Vgl. das wertvolle Buch von RADBRUCH, Einführung in die Rechtswissenschaft, 1910, Seite 64-69 und 118-122.
    7) FRANCOIS GÉNY, Méthode d'interpreation, Seite 469
    8) KANTOROWICZ, Kampf um die Rechtswissenschaft, 1906, Seite 46
    9) Vgl. GERLAND, Die Einwirkung des Richters auf die Rechtsentwicklung in England, 1910.
    10) JHERING, Geist des römischen Rechts, II. Teil, 1875, Seite 353
    11) JHERING, Der Zweck im Recht", Bd. I., Seite X.
    12) STAMMLER, Die Lehre vom richtigen Recht, 1902
    13) KOHLER, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 1909
    14) BEROLZHEIMER, System der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Bd. 1-5, 1904-1908 auch "Die Gefahren einer Gefühlsjurisprudenz", 1911
    15) LISZT, Strafgesetzgebung der Gegenwart, Bd. 1, Einführung (1894) auch "Festschrift zum 26. deutschen Juristentag".
    16) MAKAREWICZ, Einführung in die Philosophie des Strafrechts, 1906
    17) PETRAZYCKI, Die Lehre vom Einkommen, Anhang; auch "Rechts- und Staatslehre", 1907, 2 Bände (russisch).
    18) DUGUIT, L'etat, le droit objectif et la loi positive, 1901.
    19) DURKHEIM, Le régles de la méthode sociologique, fünfte Ausgabe, 1910.