p-4C. HermannE. Meumannvon RozwandowskiH. Schmitt    
 
HEYMAN STEINTHAL
Grammatik, Logik und Psychologie
[und ihr Verhältnis zueinander]
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"Es gibt Krankheiten des Geistes in der Geschichte der Menschheit, die durch die einmal vorhandenen Umstände ebenso notwendig und für die Entwicklung des menschlichen Geistes ebenso heilsam sind, wie körperliche Krankheiten im Leben des Körpers; und diejenigen Männer, welche der klassische Ausdruck dieser Geisteskrankheiten sind, sind sogar groß zu nennen, und wir schicken sie nicht ins Irrenhaus, weil wir dorthin nur die bringen, welche an einer individuellen Krankheit leiden, an einem ihnen eigentümlichen Irrtum, dessen Möglichkeit auf ganz besonderen Verhältnissen beruth, an denen sonst niemand Teil nimmt. Jene Männer aber hegen einen Irrtum, der durch die allgemeinen Zustände vorbereitet ist, dem Tausende erliegen und dem jeder, in diese Zustände versetzt, erliegen würde. Ihr Wahn ist also ein objektiver, kein bloß subjektiver."

"Seit  Bacon und  Descartes schrie jedes Menschenalter: Kritik, Kritik! ja wir, wir sind nicht wie unsere Väter, kein Autoritätsglaube mehr; wir leben im Zeitalter der Kritik, wir sind nicht mehr im Mittelalter, wir! Und indem man zu jeder Zeit so schrie, verurteilte jede die vergangene als unkritisch."


Vorwort

Im Begriff, vorliegendes Buch, des Verfassers erstes Werk von einigem Umfang, der Öffentlichkeit zu übergeben, regen sich in mir, nach den Erfahrungen, die ich bei Gelegenheit meiner kleinen Schriften gemacht habe, mancherlei Befürchtungen rücksichtlich der Aufnahme, die es finden dürfte. Ich habe aber weder die Macht noch die Absicht, allen möglichen Mißverständnissen, Unterschiebungen und ungehörigen Urteilen zuvorzukommen; am allerwenigsten könnte dies in einem kurzen Vorwort geschehen. Denen, die meine Eigentümlichkeit nicht begreifen, werde ich mich nie aufschließen können; und die, welche, von der Sache abspringend, in voreiligster Weise mit einer ethischen Beurteilung bei der Hand sind, muß ich unbeachtet lassen.

So will ich mich also hier nur für diejenigen, die mich verstehen und kennen, über einige Punkte näher erklären.

Was zunäcsht meine hier gegeben Kritik KARL FERDINAND BECKERs betrifft, so muß sie wohl allen, die den Ansichten dieses Sprachforschers anhängen, sehr streng, hart, bitter erscheinen. Aber konnte ich denn wohl anders reden? Ich hätte diesen und jenen Satz unterdrücken, dieses und jenes Wort streichen können; gemildert hätte ich die Sache dadurch keineswegs. Eine Kritik, wie die vorliegende, so gänzlich zerstörend, das Gebäude und den Grund; so vollständig zersetzend, im Ganzen und im Einzelnen; die Fehler von der äußersten Oberfläche bis in die innerste Tiefe aufsuchend - eine solche Kritik kann dem, der von ihr betroffen wird, auch durch die zartesten Redewendungen und die süßesten Worte nicht gemildert werden. Es tut mir leid, es schmerzt mich - wer mich kennt, weiß es - wenn ich Personen verletze; aber ich kann es nicht ändern; denn die Systeme leben in den Personen und bilden ihre Substanz. Wenn der Schmerz das Vorrecht fühlender Wesen genannt worden ist: so ist der Schmerz über vernichtete Gedankensysteme das Vorrecht denkender Personen. Man glaube aber nicht, der Kritiker auf den Trümmern, die er angerichtet hat, sei voll von Siegeslust; er hat höchstens das Gefühl der Befriedigung, das aus dem Bewußtsein entsteht, seine Pflicht getan zu haben, so gut er konnte und wie er konnte.

Auch diese meine Kritik BECKERs ist eine Ehrenbezeugung, die ich ihm darbringe. Weil er einen so umfassenden Raum in der Geschichte der Sprachwissenschaft einnimmt, habe ich ihm so viel Mühe gewidmet. Dem scheint zu widersprechen, daß, nach meiner Kritik BECKERs, nicht nur des Haltbaren in seinem System wenig oder überhaupt kaum etwas zu finden ist, sondern auch daß BECKER selbst - um es kurz zu sagen - fast unverständig erscheint. Daß dies der Sinn meiner Darstellung ist, wie könnte ich das leugnen? Ich habe mir selbst die Frage vorgelegt: wie ist es möglich, daß ein Werk, wie BECKERs Organismus, welches nach deiner Darstellung das leerste Nichts sein soll, das je veröffentlicht wurde, dessenungeachtet seit einem Vierteljahrhundert als Meisterwerk gilt und der Mittelpunkt einer Schule geworden ist, die mehr Anhänger zählt als irgendeine andere? und zwar dies allein und lediglich durch den inneren Einfluß des Buches auf die Geister; denn ich wüßte nicht, welcher äußerliche Einfluß hier obwaltet hätte - ich fragte mich: wie ist es möglich, daß ein Mann einerseits seit Jahrzehnten als Gründer der neuen Grammatik anerkannt wird, und andererseits dir in einem Licht erscheint, daß du Mühe hast, ihn von denen zu unterscheiden, die man geisteskrank nennt?

Und hier ist die Antwort, die ich mir gab. Ist denn dieser Fall BECKERs so einzig? Fragt doch TRENDELENBURG und viele andere, ob sie HEGEL und seine Schule von den Bewohnern [Londoner Irrenanstalt - wp] zu unterscheiden wissen. Noch andere Fälle legte ich mir vor und überhaupt die Schwierigkeit, bestimmt zu sagen, welcher geistige Zustand es ist, den wir als Krankheit bezeichnen. Und weiter sagte ich mir: es gibt, ja es gibt Krankheiten des Geistes in der Geschichte der Menschheit, die durch die einmal vorhandenen Umstände ebenso notwendig und für die Entwicklung des menschlichen Geistes ebenso heilsam sind, wie körperliche Krankheiten im Leben des Körpers; und diejenigen Männer, welche der klassische Ausdruck dieser Geisteskrankheiten sind, sind sogar groß zu nennen, und wir schicken sie nicht ins Irrenhaus, weil wir dorthin nur die bringen, welche an einer individuellen Krankheit leiden, an einem ihnen eigentümlichen Irrtum, dessen Möglichkeit auf ganz besonderen Verhältnissen beruth, an denen sonst niemand Teil nimmt. Jene Männer aber hegen einen Irrtum, der durch die allgemeinen Zustände vorbereitet ist, dem Tausende erliegen und dem jeder, in diese Zustände versetzt, erliegen würde. Ihr Wahn ist also ein objektiver, kein bloß subjektiver.

Als BECKER auftrat, war Organismus das Schlagwort, das in allen Kreisen geistiger Tätigkeit widertönte. Er führte daher dasselbe in die Grammatik ein, und alle, die diese Wissenschaft betrieben, mußten umso eher davon ergriffen werden, je dunkler das Wort blieb. Man glaubte sich zu verstehen, weil man für einen gemeinsamen dunklen Drang ein gemeinsames Wort hatte. So wirken Schlagwörter allemal umso weiter, je weniger sie verstanden werden; und die Parteien zerfallen, sobald sie sich ihr Schlagwort klar machen wollen.

Das ist also das Verdienst BECKERs, einem allgemein herrschenden dunklen Drang ein Wort gegeben zu haben; und dann auch, die alte Grammatik vollendet, auf die Spitze getrieben zu haben; denn die Vereinheitlichung der Grammatik mit der Logik ist ihre Erbkrankheit. Ich will nicht so weit gehen zu leugnen, daß nicht auch manche Mängel BECKERs rein subjektiv sind; jedoch sind sie gewiß unwesentlich, und auch sie fließen ursprünglichst aus den objektiven Schwächen.

Auch diese Kritik BECKERs, wie alle meine übrigen Kritiken, ist eine Kritik meiner selbst: denn teils habe ich selbst BECKERs Fehler gehabt, teils hätte ich sie leicht haben können. Durch meine Kritik BECKERs habe ich mich also teils von wirklichen Fehlern zu befreien, teils mich vor möglichen zu wahren gesucht. Daher die lebendige Erregung meines Innern, die sich in der Darstellung meiner Kritik offenbart. Wie könnte ich meinen Gefühlen Schweigen gebieten, da sie so innig mit meinen Gedanken verschlungen sind!

In meiner Kritik HUMBOLDTs sehe ich eine Art Tragödie, in HUMBOLDT einen  Hamlet, der sich eine große Aufgabe gestellt hat, an deren Ausführung ihn tausend Bedenklichkeiten hindern. Und vorzüglich auch darin ist HUMBOLDT dem  Hamlet, ähnlich, daß, wie dieser schließlich im Augenblick seines Unterganges, sterbend noch sich aufrafft und seine Tat vollführt: so auch HUMBOLDT, nachdem er seine gehaltvolle Anschauung schon der Reflexion aufgeopfert hat, sich mit einem "dennoch" aufgerafft und dieselbe hinstellt allem Vorangehenden zum Trotz. Eine so strenge Tragödie bietet die Kritik BECKERs nicht. Es ist das Schauspiel eines Leichtsinnigen, der ohne alle Vor- und Umsicht handelt. HUMBOLDT ringt fortwährend mit allen Schwierigkeiten; BECKER sieht deren nie und nirgends. Aber ein anziehendes Seelengemälde bietet auch er dar. Wie er Schritt für Schritt in den Abgrund des Nichts fallen mußte, wie ein Irrtum den anderen herbeiführte, und jeder neu hinzugekommene die Rückkehr erschwerte, das Bewußtsein abstumpfte: das glaube ich klar gesehen und gezeigt zu haben. Auch hoffe ich, man werde finden, daß ich meinen Gegner nicht leicht genommen habe. Ich habe mir viel Mühe gegeben, ihn zu erklären und zu verteidigen. Ohne einen Mann im Innersten und Tiefsten zu erfassen, würde man seine Fehler nicht begreifen.

Ich habe mit Lebhaftigkeit dargestellt, weil mich die Sache lebhaft ergriffen hat. Ich hoffe aber, man werde nie finden, daß ich mich so weit hätte hinreißen lassen, die positige Seite BECKERs zu übersehen; ich habe sie hervorgehoben. Ich habe BECKERs Verdienst anerkannt, das freilich nur in seinem Streben liegt. Aber man höre doch auf von Unbescheidenheit zu reden, wo es sich um die Erforschung der Wahrheit handelt. Wissenschaftliche Darstellung verlangt erstens Entschiedenheit und Bestimmtheit des Ausdrucks. Begriffe und Ideen müssen fest begrenzt werden, und man darf die Urteile nicht dem Schwanken und der Willkür der Deutung überlassen. Ferner aber denke ich mit GOETHE:
    "Bescheidenheit gehört eigentlich nur für persönliche Gegenwart ... In alle freien schriftlichen Darstellungen gehört  Wahrheit,  entweder in Bezug auf den Gegenstand oder in Bezug auf das Gefühl des Darstellenden, und, so Gott will, auf beides. Wer einen Schriftsteller, der sich und die Sache fühlt, nicht lesen mag, der darf überhaupt das Beste ungelesen lassen."
BECKER erhält schließlich seine Berechtigung durch den Gegensatz, in welchem er zu seinen Zeitgenossen steht; und diese Berechtigung erstreckt sich, wiewohl mit geminderter Kraft, auch auf seine heutigen Anhänger. Denn wenn auch allerdings seit dem Erscheinen des Organismus nicht bloß HUMBOLDTs letzte umfassende Arbeit ans Licht getreten ist, sondern auch sämtliche deutsche Sprachforscher ein tieferes Gefühl vom Wesen der Sprache in sich tragen, als BECKERs Zeitgenossen hatten; so ist doch die alte Ansicht von einem  reflektierenden Machen  der Sprachen noch nicht völlig, noch nicht allgemein überwunden; und einer so falschen Anschauung gegenüber muß ich BECKERs Begriff vom Organismus der Sprache, so mangelhaft er auch ist, seines Strebens wegen den Vorrang einräumen. Die hier erwähnte, noch nicht ganz verschwundene Ansicht von einem über Mittel und Zweck der Sprache nachsinnenden Machen der Sprachen hat neuerdings wieder ihren Ausdruck gefunden in einem Werk, das nicht verfehlen wird, die Aufmerksamkeit der Sprachforscher auf sich zu ziehen: BUNSEN, Outlines of the philosophy of universal history, applied to language and religion, London 1854, Vol. II. In diesem Werke sind lange Stücke von THEODOR AUFRECHT und noch mehr von FRIEDRICH MAX MÜLLER, dem Herausgeber des  Rigveda;  und er ist es, der das Recht der Beckerianer in usneren Augen klar darlegt. Herr MÜLLER nämlich teilt die Sprachen in drei Klassen ein:  Family-, Nomad- und State-Languages, welche ganz den Klassen der alten Einteilung entsprechen: es sind nämlich die einsilbigen, agglutinierenden und flektierenden Sprachen. Das Semitische und die sanskritischen Sprachen bilden die dritte Klasse, zu der auch das Ägyptische gehört, das nur eine frühe Abzweigung des Semitischen sein soll. Zur ersten Klasse gehört das Chinesische; alle übrigen Sprachen der Erde sollen Nomaden- oder  Turanische  Sprachen sein. Alle Sprachen aber stammen von  einer  Mutter. Nämlich, so lautet der ganz naive Mythos des Herrn MÜLLER, vor vielen Jahrtausenden, oder  Kalpas  [Weltperioden - wp], lebte ein Mann oder ein König - denn er und seine Familie waren noch die einzigen Menschen -, genannt  Feridun.  Er hatte drei Söhne,  Tur, Silim  und  Irij.  Der Mann hatte die Sintflut überlebt und in seinem Haus sprach man nicht mehr die antediluvianische [vorsintflutliche - wp] Sprache, welche bloß aus Wurzeln bestand. Wie der Mythos dies meint, weiß ich nicht. [...]

BUNSEN hat seine frühere Ansicht von der Dreiteilung der Sprachen und Völker nach  Sem, Ham  und  Japhet  der MÜLLER'schen nach  Tur, Silim  und  Irij,  also den semitischen Mythos dem arischen geopfert. Mythos gegen Mythos: ob das wohl der Mühe des Tausches lohnt? - Ich erinnere micht, daß vor mehreren Jahren ein Mann in Berlin lebte, namens SCHWARTZE, welcher in zwei dicken Quartbänden und in einer koptischen Grammatik bewies, daß die ägyptische Sprache weder die Ursprache des Semitischen und Sanskritischen ist, wie BUNSEN ehemals meinte, noch ein bloßer Zweig des Semitischen, wie er jetzt meint; sondern ein Stamm  neben  den beiden anderen Stämmen. Der Mann verstand das Koptische vortrefflich und hatte eine feine sprachwissenschaftliche Bildung.

BECKERs Ansichten fanden bei den historischen Sprachforschern von vornherein Widerspruch, und ein Etymologie, wie POTT, konnte sich keinen Augenblick mit BECKERs Werk über "das Wort" vertragen. Aber ich wüßte doch nicht zu sagen, wie weit wohl die historischen Sprachforscher über diesen bloßen Widerspruch gegen BECKER hinausgekommen sind. Ja, in seiner Sphäre, d. h. in der  allgemeinen  Grammatik, hat man ihn sogar, prinzipiell zumindest, anerkennen müssen; man wollte sich nur nicht von der allgemeinen Grammatik in die besondere hineinreden lassen, und noch weniger die allgemeine als die wichtigere oder gar als die allein wichtige angesehen wissen: da sie doch vielmehr nur ein Organon der historischen Sprachwissenschaft sein sollte. POTTs Verdienste um eine vernünftige Auffassung der Sprache warten nicht auf des Verfassers Anerkennung. Käme es darauf an, daß wir diese besonders aussprechen, wir würden uns wahrlich nicht begnügen, ihn denjenigen Sprachforscher zu nennen, der unter allen die meisten Sprachen kennt; wir würden Besseres von ihm zu sagen wissen; denn er strebt nach höherem Ruhm. Die gemeinsame Grundlage BECKERs aber und der Historiker, auch POTTs, zeigt sich in ihrem gemeinsamen Widerspruch gegen unsere Ansicht, welche den logischen Boden, auf dem beide stehen gänzlich verläßt.

Darum muß es uns bedeutsamer erscheinen, daß ein Sprachphilosoph auf philosophischem Boden sich der BECKERschen Ansicht entgegenstellt. Dies ist HEYSE. Der volle und reine Ausdruck seines Systems ist leider noch nicht veröffentlicht. Jedoch schadet es vielleicht nicht viel, daß es so lange auf sich warten läßt; denn der größte Teil des Publikums scheint noch wenig vorbereitet, seine Ideen zu würdigen. Das hat sich in der Aufnahme seines Wörterbuches und seiner Grammatik der deutschen Sprache gezeigt. Wiewohl diese Werke nicht der strengen Wissenschaft angehören, so hätten sie doch mehr Beachtung verdient, als ihnen gewidmet worden ist. Namentlich würde JACOB GRIMM, wenn er HEYSEs  Wörterbuch  einer näheren Prüfung unterzogen hätte oder bei seiner jede andere ausschließenden Richtung die eigentümlichen Leistungen dieses Sprachforschers überhaupt gehörig zu würdigen vermöchte, jene durchaus selbständige, gründliche Arbeit schwerlich in eine Reihe mit fabrikmäßig angefertigten Auszügen und Kompilationen gestellt und mit diesen in Bausch und Bogen als nutz- und wertlos verurteilt haben. Ich kenne GRIMMs hohe Bedeutung und habe daher seine Schrift "Über den Ursprung der Sprache", die in der Tat nur insofern von Interesse ist, als sie die Unzulänglichkeit des historischen Standpunktes zur Lösung solcher über seinen Gesichtskreis hinaus liegenen Fragen im hellsten Licht zeigt, mit der seinen großen Verdiensten gebührenden achtungsvollen Rücksicht behandelt. Wenn er aber jetzt die Werke meines verehrten Lehrers und Freundes, dessen Streben er verkennt, weil es auf ein ihm fremdes Ziel gerichtet ist, nicht bloß, wie bisher, gänzlich ignoriert, sondern geringschätzig verurteilt: so wird mir kein Unparteiischer verargen, daß ich ihm entschieden entgegentrete.

Ich kann aber noch nichts Näheres über HEYSEs Ansicht sagen, solange sie nicht der Öffentlichkeit angehört. Nur muß ich ausdrücklich bemerken, daß, so oft ich allgemein von der bisherigen Grammatik rede, HEYSE  nicht  mit eingeschlossen ist. Es ist mir nun ein Anliegen, über das Motto dieses Buches einiges zu sagen. "Denken ist schwer": das ist der Wahl- oder Warnspruch der Kritik, wie ich sie verstehe, und welche ich von der Kritik einer gewissen Partei der Sprachforscher geschieden wissen will. Um nicht im Dunkel zu lassen, was und wen ich meine, so will ich einen Vertreter dieser Partei nennen, den sie wohl als solchen wird gelten lassen: Herrn Dr. AUFRECHT. Auch will ich sogleich auf eine spezielle Äußerung Rücksicht nehmen.

Wir waren so glücklich, siebzehn Jahre nach dem Tod HUMBOLDTs noch ein ungeahntes posthumes Werk von ihm zu erhalten, wenn es auch nur ein Brief ist. Wir meinen den in der "Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung" von AUFRECHT und KUHN, Bd. 2 abgedruckten Brief über den Infinitiv. Nun stimmt freilich kein Wort HUMBOLDTs zur Tendenz jener Zeitschrift. Die Aufnahme des Briefes mußte entschuldigt werden; und dies geschieht durch folgende Vorbemerkung des Herrn AUFRECHT: "Wie die Naturwissenschaften erst seit der Zeit zu reichster Entfaltung gelangt sind, seitdem das Experiment in die einzelnen Disziplinen derselben eingeführt wurde." - Seit wann mag denn wohl letzteres geschehen sein? ersteres natürlich erst in unserem Jahrhundert; auch letzteres? Herr AUFRECHT will uns dies glauben machen! Wer wird ihm folgen? Der müßte z. B. nicht bedenken, daß die Chemie als Wissenschaft noch nicht seit einem Jahrhundert existiert, wiewohl man das ganze Mittelalter hindurch viel experimentiert hat und sogar zu allen Zeiten und an allen Orten, selbst unter den Wilden, chemische Erfahrungen hatte. Gerade die Theorie war es, die Verstand und Vernunft in viele Experimente brachte; und vorzüglich auch mit der rationalen Entwicklung der Theorie ist die Chemie zu dieser "reichsten Entfaltung gelangt", deren sie sich heute erfreut. Ebenso, wenn der Fortschritt der Physiologie und der medizinischen Wissenschaft in geradem Verhältnis zu den Experimenten stünde, welche man täglich am Krankenbett macht: wie glänzend würde es um dieselbe stehen! Aber nicht das Experiment allein, sondern auch die Theorie macht den Fortschritt. Auch NEWTON übertrifft Kepler dadurch, daß er zu seiner Beobachtung die Theorie brachte. Doch hören wir nach obigem Wie auch das So: "so wird die Sprachwissenschaft erst dann zu einem wahren Gedeihen gelangen, wenn mehr und mehr das Erfahrungsmäßige in derselben zum Bewußtsein gebracht sein wird." Schwerlich hat sich Herr AUFRECHT klar gemacht, was er hier gesagt hat. Denn wenn die Erfahrung zum Bewußtsein gebracht werden soll, so geschieht dies eben nur durch die Theorie. Herr AUFRECHT wollte freilich sagen, das Heil der Sprachwissenschaft hängt davon ab, daß man weiß, daß sie empirisch ist. So fragen wir also, war etwa die Grammatik nicht zu allen Zeiten empirisch? War es nicht besonders auch die Theorie, welche die neue Sprachwissenschaft schuf? war es nicht die tiefere philosophische Ansicht vom Wesen der Sprache? War BOPP, der Gründer der vergleichenden Grammatik, der erste Sanskritist? Verstand vor GRIMM, dem Gründer der historischen Grammatik, niemand altdeutsch und die beiden klassischen Sprachen? - Herr AUFRECHT fährt fort: "Apriorische Theorien" - gibt es deren denn? - haben von jeher die Wissenschaft nicht gefördert, sondern sie zuweilen ganze Jahrhunderte gehemmt." Ein Beispiel, wenn es beliebt! nur eins! Wo wuchern denn die Theorien? nicht unter den Empirikern? Wenn die Annahme einer besonderen Lebenskraft z. B. der Physiologie geschadet hat, waren es nicht die Empiriker, welche sie hegten? sind es nicht Philosophen, welche sie verbannen?

Schließlich aber, wenn Herr AUFRECHT die Elemente der wahren Kritik kennen würde, hätte er sich nicht fragen müssen, warum sind denn diese falschen Theorien Jahrhunderte lang festgehalten worden? Denn wenn Herr AUFRECHT nicht so abstrakt, d. h. einseitig wäre, wenn er die Sachen konkret, d. h. in ihrer Totalität, allseitig, anzuschauen fähig wäre. So würde er gesehen haben, daß die falschen Theorien nicht die Ursache, sondern der Tatbestand selbst der gehemmten Wissenschaften waren und sind, welcher Tatbestand nun eben erst eine Erklärung verlangt, aber nicht durch die Theorien selbst erklärt werden kann, weil dies ein  idem per idem  [durch dieselbe Sache - wp] wäre.

Wenn man sich auf die Naturforscher berufen will, so muß man sie besser kennen als Herr AUFRECHT sie zu kennen scheint, der z. B. übersehen oder nicht beherzigt hat, was der Physiologe JOHANNES MÜLLER, der doch gewiß "das Erfahrungsmäßige in der Physiologie zum Bewußtsein gebracht hat" (Handbuch der Physiologie des Menschen, Bd. 2, Seite 522) sagt:
    "Die wichtigsten Wahrheiten in den Naturwissenschaften sind weder allein durch Zergliederung der Begriffe der Philosophie, noch allein durch bloßes Erfahren gefunden worden, sondern durch eine denkende Erfahrung ... eine  philosophische  Erfahrung. In allen Wissenschaften kommen Begriffe vor, denn sie sind das wirklich vorhandene Allgemeine, was durch die Sinne selbst nicht mehr erfahren, sondern durch den Geist abstrahiert wird ... aber so weit Begriffe in einer Wissenschaft vorkommen,  aus welchen Erscheinungen abgeleitet werden,  so weit ist sie auch philosophisch."
Auch SCHLEIDEN mögen diejenigen, die ihn für eine hohe Autorität halten, erst recht verstehen lernen; sie mögen von ihm hören (Botanik, Bd. 1, 1849, Seite 7): "Nun aber hat umgekehrt die Naturwissenschaft erst wieder von der Philosophie empfangen." - (Seite 8): "Hier versteckt sich die  empirische Unfähigkeit  immer hinter die Vieldeutigkeit unbestimmter und mangelhafter Abstraktion, über welche die gesunde Empirie selbst keine Macht hat, deren Aufklärung sie vielmehr allein von der Philosophie erwarten muß." Nur ob sie das gerade von der friesisch-kantischen Philosophie zu erwarten hat, sei zu bezweifeln erlaubt.

Wir sind hinaus über den Gegensatz von Theorie und Empirie,  a priori  und  a posteriori. - Herr AUFRECHT hält die Sprachphilosophie für verfrüht. Das will in Wahrheit doch nur sagen, daß  er  das Bedürfnis derselben nicht fühlt, nicht begreift, noch weniger die Mittel kennt, dasselbe zu befriedigen. Statt des Vielen, was hier zur Berechtigung dieses Bedürfnisses, über seinen Umfang und über seine Bedeutung und schließlich über das Streben und die Möglichkeit es zu befriedigen, gesagt werden könnte, stellen wir vielmehr die Frage, ob nicht, nach Herrn AUFRECHTs strenger Ansicht, die Sprachphilosophie auf die griechischen Kalenden [Mondfeiertage - wp] zu verschieben ist.

Wenn jemand bekennt; "ich bilde mir nicht ein etwas Rechtes zu wissen", so ist zu bedenken, wie  Faust  diesen seinen Ausspruch erklärt, indem der weiterhin sagt:
    "Ihr Instrumente freilich spottet mein,
    Mit Rad und Kämen, Walz' und Bügel.
    Ich stand am Tor, ihr solltet Schlüssel sein;
    Zwar euer Bart ist kraus, doch hebt ihr nicht die Riegel.
    Geheimnisvoll am lichten Tag,
    Läßt sich Natur des Schleiers nicht berauben,
    Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag,
    Das zwingst dur ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben."
Wenn ihr GOETHE verstehen wollt, so eignet euch sein "Vermächtnis" an.

Herr SCHLEIDEN hat sich neuerdings noch einmal ganz entschieden dahin erklärt, alle Streitigkeiten in der Wissenschaft rührten bloß von der Methode her; und sobald man sich nur erst über diese verständigt hat, so würde der ewige Friede da sein. Es gäbe nämlich überall nur zwei Methoden: die gute und die schlechte ("im Garten gehen zwei Schafe, ein schwarzes und ein weißes"); die gute ist nach ihm die  naturwissenschaftliche,  die schlechte ist die  historische;  erstere ist Selbstdenken, letztere ist Autoritätsglaube.

Das sogenannte Selbstdenken ist aber vielmehr ein Selbstsehen und Selbstbestasten; und wie könnte es nun an Adepten dieser Doktrin fehlen, die so streng sind, die Existenz Amerikas und Napoleons zu leugnen; denn sie haben beide nicht selbst gesehen.

Es fehlt diesen Herren am ABC der Psychologie und der geschichtlichen Anschauung. Sie bilden sich ein, es genüge, um ein tiefer Selbstdenker zu werden, daß man sich eines schönen Morgens niedersetzt und zu sich spricht: ich will selbstdenken, ich will zweifeln. Da werden dann Sonne, Mond und Sterne verpufft, Himmel und Erde beiseite gezweifelt, um alles sogleich darauf doch wieder anzuerkennen - aber  selbstdenkend! 

Wüßten die Herren etwas von Geschichte, so wüßten sie, daß wir seit BACON und DESCARTES über die Skepsis hinaus sind. Sie würden wissen, daß seit jener Zeit jedes Menschenalter schrie: "Kritik, Kritik! ja wir, wir sind nicht wie unsere Väter, kein Autoritätsglaube mehr; wir leben im Zeitalter der Kritik, wir sind nicht mehr im Mittelalter, wir!" Und indem man zu jeder Zeit so schrie, verurteilte jede die vergangene als unkritisch.

Fern liegt es mir, in eine solche Lächerlichkeit mit einzustimmen! Wir wissen, daß jede Zeit so denkt, wie sie denken kann, denken muß. Die Kritik weiß, daß mit einem solchen Vorsatz, einmal alles zu bezweifeln, noch nicht das Mindeste geschehen ist, und daß man dadurch nicht zur Erkenntnis und Ablegung des kleinsten oder größten Irrtums kommt; daß alle Irrtümer eben ein Erzeugnis des Selbstdenkens sind. Die Kritik weiß: "Denken ist schwer", und vollkommenes, absolutes Denken unmöglich. Behutsam ist der Kritiker, und nennt man dies zweifeln, so betonen wir stark, daß er vor allem rät, am eigenen Zweifel zu zweifeln. Das dürfte jenen Skeptikern wohl nie in den Sinn gekommen sein, daß nichts zweifelhafter ist, als ihr Zweifel.

Ist den nicht, höre ich fragen, die Bezweiflung des Zweifels eine doppelte Negation, also eine Bejahung des Dogmatismus? - Das will uns eine sophistische Dialektik einreden; dem ist aber keineswegs so. Es muß gezweifelt werden, ob der Zweifel gründlich, wert- und gehaltvoll ist; ober er zu einer wirklichen Tat des Denkens geworden, oder bloßes Wort, bloßer abstrakter Vorsatz geblieben ist: das treibt zu sorgfältiger Untersuchung, d. h. zur Kritik.

Ist den Zweifeln so leicht? das Wort auszusprechen, allerdings gar sehr. Aber manchem, der sich Kritiker dünkt, sind tausende der berechtigtesten Zweifel rein unmöglich, weil ihm alle Vorbedingungen dazu fehlen; und tausende der berechtigtesten Sätze will er nicht anerkennen, weil er nicht fähig ist, sie zu begreifen. Man muß viel wissen, sehr geübt sein im Denken, viel Scharfsinn haben, um den Punkt des Zweifels zu entdecken; und der einzelne, noch so hoch Begabte, steht immer noch unter dem Einfluß seiner Zeit und kann gewisse Dinge nicht bezweifeln. Doch genug hiervon! wir haben im Buch selbst Gelegenheit gehabt, von Dialektik zu reden; und der Zweifel, der nicht zur Dialektik, zur Kritik wird, verdient nicht die mindeste Beachtung.

Lernt die Natur des menschlichen Denkens kennen, die Natur des Objekts und der allgemeinen Kategorien; studiert also Psychologie, Metaphysik, Logik. Studiert auch Geschichte, die vorzüglich geeignet ist, uns von Irrtümern zu reinigen und vor der Eitelkeit zu bewahren, daß jeder närrische Gedanke, der uns durch den Kopf fliegt, eine nagelneue Wahrheit ist, indem nämlich die Geschichte lehrt, daß die Erzeugnisse unseres sogenannten Selbstdenkens meist schon vor Jahrhunderten und Jahrtausenden in viel tieferer Weise erdacht, umfassender durchgeführt und schon längst gründlich widerlegt sind.

Mit vorliegendem Werk wollte ich ein doppeltes Versprechen einlösen. Erstens habe ich Herrn POTT öffentlich (siehe meine Abhandlung "Die Entwicklung der Schrift", Seite 19) versprochen, das Verhältnis der Grammatik zur Logik ausführlich zu erörtern; und zweitens war meine Schrift "Der Ursprung der Sprache" ein stillschweigendes Versprechen, die daselbst gestellte Aufgabe zu übernehmen. In einem gegenwärtigen Werk sind beide Punkte dem einen Zweck untergeordnet, das Prinzip der Grammatik zu bestimmen, und nur soweit und insofern sie zu diesem Zweck gehörten, sind sie besprochen worden. Bei der Untersuchung über den Ursprung der Sprache zumal wollte ich die Aufgabe in ihrer größten Einfachheit, in ihrer reinsten Gestalt bearbeiten, abgelöst von allen Problemen, die sich an sie knüpfen, aber wesentlich anderen Gedankenkreisen angehören. Diese Vorsicht war nötig, zumindest ratsam, indem die Sache, wie ich sie faßte, auch so noch unüberwindbare Schwierigkeiten darbot. Ich mußte mich damit begnügen, die Frage nur erst zurecht gerückt und auf ihren wahren Boden gestellt zu haben, und konnte nicht hoffen, indem ich sie in dieser ihrer wahren Gestalt zum ersten Mal angriff, sie zur vollen Befriedigung zu lösen. Wenn ich nun um Nachsicht bitte, so wird zwar mancher glauben, eine solche Bitte stimmt wenig zum Ton, den ich überall anschlage; andere aber, hoffe ich, werden mir wohl die Nachsicht gewähren, deren ich bedarf, indem sie meine Eigentümlichkeit besser verstehen und nicht übersehen werden, wie gewissenhaft ich gestrebt habe, und wie ich in meinem Buch überall das Bewußtsein davon habe: es ist alles angefangen, vollendet nichts.

Die Quellen, aus denen ich geschöpft, die Männer, deren Werke mich angeregt haben, sind im Buch gelegentlich genannt. Den jüngeren Mitarbeitern, die mir Vertrauen schenken, empfehle ich hier besonders die Arbeiten LOTZEs, des größten Denkers unserer Zeit. Seine Metaphysik und Logik sind mir leider erst bekannt geworden, nachdem ich die Handschrift zu diesem Buch schon aus den Händen gegeben hatte. Besonders was ich über die Logik im Allgemeinen gesagt habe, dürfte nach LOTZE besser zu sagen sein.

Die tiefste Anregung erhielt ich durch den HUMBOLDTschen Begriff der  inneren Sprachform;  und das vorliegende Buch ist nur die Erläuterung dieses Begriffs. Ich sehe immer noch HUMBOLDT als den Urheber desselben an, wiewohl ich einerseits nicht zurücknehmen kann, was ich in meiner Kritik HUMBOLDTs (vgl. meine Schrift "Die Klassifikation der Sprachen") überzeugend bewiesen zu haben glaube, daß er nämlich in keiner Grundfrage der Sprachphilosophie zu einer entschiedenen Ansicht und einem klaren Begriff gelangt ist, und andererseits zugestanden werden muß, daß nicht bloß überall und längst die innere Sprachform geahnt worden ist, nicht bloß die neuere vergleichende Etymologie ihren lexikalischen Teil fleißig bearbeitet hat, sondern daß auch innerhalb der historischen Grammatik selbst die  Bedeutungslehre  aufgetaucht ist, die doch wohl nichts anderes sein wird, als die Darstellung der inneren Sprachform. REISIG ist der Urheber dieser Bedeutungslehre, die freilich bei ihm noch einen sehr beschränkten Sinn hat, indem sie nur die Bedeutungen der Wörter zum Gegenstand hat. Wir hoffen, daß es seine Herausgeber und Nachfolger HAASE gelingen wird, das begonnene Werk seines Lehres glücklich fortzuführen. Es steht ihm aber noch die Aufgabe bevor, die Bedeutungslehre wirklich zu begründen, nur erst einmal ihr wahres Wesen und ihren Umfang, wie ihre allseitigen Beziehungen darzustellen, sei es theoretisch, begrifflich, oder am Beispiel einer besonderen Grammatik. POTT und BENARY haben REISIGs Idee sehr bereitwillig anerkannt. BENARY hat ihren Gegenstand erweitert, indem er auch die Bedeutung der Wortformen hineinzog. Es will mir aber kaum scheinen, als hätten sie die Sache richtig erfaßt: sie würden sonst eben den HUMBOLDTschen Begriff der inneren Sprachform besser erkannt haben. Die Bedeutungslehre kann nicht im mindesten apriorisch sein: sie kann gar nichts mit der Logik zu tun haben. Sie wird zunächst ganz individuell und historisch sein, Bedeutungslehre der lateinischen, der griechischen usw. Sprach und wird ferner, in einem allgemeinen Teil, auf allgemeine psychologische Gesetze zu gründen sein. Wir gestehen also nicht bloß eine Verwandtschaft zwischen Bedeutungslehre und innerer Sprachform zu, sondern meinen, die Bedeutungslehre, wahrhaft aufgefaßt, sei eben die Darstellung der inneren Sprachform. Trotzdem schließen wir uns lieber dem Sprachgebrauch HUMBOLDTs an, weil der Begriff HUMBOLDTs doch bestimmter, entwickelter scheint als der REISIGs und selbst der BENARYs, und dies deswegen, weil die Benennung "innere Sprachform", wie ihr Inhalt, sich als Glied eines Systems von Begriffen und Namen kundgibt. Sie weist nämlich sogleich auf den übergeordneten Begriff  Sprachform  hin, worunter, wie in diesem Buch gezeigt ist, HUMBOLDT das individuelle Prinzip einer Sprache versteht, nach welchem der lautliche Bau der Sprache einerseits und ihr System von Vorstellungen und Vorstellungsbeziehungen andererseits gebildet ist - das Prinzip, welches die Sprache zur Einheit, zum Organismus macht und jeder Einzelheit das bestimmte Gepräge aufdrückt, durch welche sie auf das Ganze bezogen wird. All das und das Viele, was damit verknüpft ist und daraus folgt, liegt nicht eben so klar und bestimmt in der Bedeutungslehre: darum spricht sie auch mit weniger Entschiedenheit ihren Unterschied von der Logik aus. Noch ein anderes Verhältnis scheint mir zu beweisen, daß das Wesen der Bedeutungslehre, wie sie jetzt aufgefaßt wird, noch sehr ungenügend bestimmt ist. Man will die Grammatik in drei Teile zerfallen lassen: Etymologie, Bedeutungslehre und Syntax. Diese Einteilung will mir wenig einleuchten. Bedeutungslehre ist kein Begriff, der in derselben Reihe mit Etymologie und Syntax steht, weder als nebengeordnet, noch als Stufenentwicklung, noch als vermittelnd. Man sage statt  Bedeutungslehre  "innere Sprachform", und man wird ebensowohl das Unpassende dieser Dreiteilung fühlen, als auch sogleich das richtige Verhältnis erkennen. Bedeutung und innere Form ist sowohl in der Etymologie, als auch in der Syntax, wie auch in beiden die Lautform ist. Der Unterschied zwischen dem etymologischen und dem syntaktischen Teil der Grammatik liegt doch wohl einfach darin, daß jener die einzelnen Sprachelemente, dieser die Zusammenfügung der Elemente bespricht. Vor diesen beiden Teilen könnte wohl noch ein anderer als erster behandelt werden, nämlich die Lehre von der Sprachtechnik (deren wichtigster Teil die Lautlehre sein würde) oder von den Mitteln, welche eine Sprache hat ihre Formen zu bilden, wie Lautwandel, Reduplikation, Stellung usw. Der zweite, der etymologische Teil, würde zeigen, wie diese Mittel zur Erzeugung wirklicher Formen verwandt sind, die Syntax schließlich, wie sich diese Formen aneinander schließen. Die Lehre von der Technik würde nicht bloß die Formenlehre, sondern auch die Syntax vorbereiten, denn es gibt nicht nur eine etymologische, sondern auch eine syntaktische Technik. Sie würde sich also zu Etymologie und Syntax verhalten, wie die Physik zur Kosmologie, d. h. sie würde die abstrakten Kräfte darstellen, welche in der Erzeugung und Bewegung der Sprache herrschen. In allen drei Teilen der Grammatik aber, in der abstrakten Lehre von der Technik der Sprache, in der Lehre vom Wort und den Wortformen, und in der Syntax, in jedem ist die Bedeutungslehre oder die Darstellung der inneren Form neben der äußeren oder Lautform zu geben. Die Lehre von der Technik bespricht also z. B. die Reduplikation in doppelter Beziehung, sowohl als lautlichen Prozeß, als auch nach ihrer Bedeutung. Reduplikation aber herrscht sowohl in der Etymologie, als auch in der Syntax. Nachdem nun ihr lautliches und inneres Wesen abstrakt festgestellt ist, zeigt die Wortlehre die konkrete Bildung des Perfektums, lautlich und innerlich; und die Syntax zeigt schließlich die Verwendung dieser Form im Satz und Satzgefüge. In der Syntax wird weniger Gelegenheit sein, äußere und innere Form zu scheiden, weil es weniger syntaktisch erst zu bildende Formen gibt. Aber streng genommen läßt sich auch hier die Unterscheidung machen. Denn es ist doch nur ein Lautprozeß, daß neben eine bestimmte Substantivform eine bestimmte Adjektivform gesetzt wird; und es ist Sache der inneren Form oder Bedeutungslehre, daß eine solche lautliche Zusammenstellung das attributive oder prädikative Verhältnis bezeichnet. Hieraus wird also wohl klar geworden sein, daß die Bedeutungslehre nicht ein Teil der Grammatik  neben  oder  zwischen  Etymologie und Syntax ist; sondern daß sie die Grammatik nach ganz entgegengesetzter Richtung durchschneidet, und dieser Durchschnitt sowohl die Etymologie als auch die Syntax trifft, wie auch die Lehre von der Sprachtechnik, die abermals nicht in derselben Linie wie Etymologie und Syntax steht. Und in allen diesen  sechs  Teilen der Grammatik hat jede Sprache ein besonderes, gar nicht logisches, sondern eben sprachliches Prinzip. All dies deutet mir der Name  innere Sprachform  so deutlich an, wie ein Name es nur tun kann; aber nicht ebenso  Bedeutungslehre.  Die dargelegte Verwirrung ihrer Verhältnisse aber zeigt, wie wichtig ein Name sein kann.

Ich habe hier von der Bedeutungslehre gesprochen, wie ich sie, von einer allgemeinen Anschauung und von Begriffen ausgehend, nicht anders auffassen kann, muß aber abwarten, wie ein Mann, wie FRIEDRICH HAASE die Sache ansehen wird, der sich die spezielle Bearbeitung der Bedeutungslehre auf klassischem Sprachgebiet zur besonderen Lebensaufgabe gestellt zu haben scheint. Was er in der "Halleschen Literaturzeitung" von 1838 ausgesprochen hat, nämlich seine Abneigung gegen logisches Schematisieren in der Grammatik und Anerkennung der Individualität der Sprachen, läßt mich hoffen, daß wir zusammentreffen werden, so verschieden auch unsere Ausgangspunkte sein mögen. Es führen viele Wege zur Wahrheit und nicht bloß einer, nicht bloß gerade dieses Buch und dieser Philosoph, wie der Dogmatiker meint.

Was nun schließlich die Darstellung betrifft, so hoffe ich, vorliegendes Buch wird klarer sein, als alles, was ich früher veröffentlicht habe, sowohl wegen der Ausführlichkeit, als auch wegen der besseren Form. Das muß man freilich nie erwarten, daß philosophische Untersuchungen über die schwierigsten Probleme der Wissenschaft im Gewand der gemeinen Umgangs- und Haussprache erscheinen. Die Philosophie, wie jede Wissenschaft, hat ihre Kunstausdrücke, und die strenge Entwicklung von Begriffen, die genaue Verfolgung und sorgfältige Scheidung psychologischer Tatsachen wird immer eine Anstrengung von Seiten des Lesers erfordern. Der leichtsinnige Rezensent, der selbst eingesteht, daß er mich nicht versteht und sich über meinen Hang beklagt "Dinge, die sich einfach mit wenigen Worten sagen lassen, durch philosophischen Phrasenkram aufzustutzen", sollte doch bedenken, wenn er denken könnte, daß er nicht im mindesten wissen kann, ob etwas, was ihm dunkel und unverständlich geblieben ist, sich mit einfachen Worten sagen läßt. MONTAIGNE fragt: "Ne tient-il qu'aux mots, qu'ils n'entendent tout ce qu'ils trouvent par escrit? [Liegt es denn nur an den Worten, daß sie gleich alles verstehen, was da geschrieben steht? - wp] Aber wie kann man von einem solchen Rezensenten verlangen, er solle sich eingestehen, es gäbe Gedanken und Arbeiten, die seiner Fähigkeit unzugänglich sind! Stößt er auf solche, so schiebt er ihnen seine Gedanken unter, die sich freilich "einfach mit wenigen Worten" sagen lassen, am besten aber ungesagt bleiben.
LITERATUR: Heyman Steinthal - Grammatik, Logik und Psychologie, Berlin 1855