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(1852-1933) Die Philosophie des Als Ob [4/6]
Kapitel II Das Denken als eine Kunst, die Logik als eine Kunstlehre betrachtet(1) Wir nannten das Denken eine organische Funktion. Jede natürliche Fähigkeit, wie dies eine jede organische Funktion ist, kann durch Übung, Entwicklung und Vererbung zur Kunst gesteigert werden. Nur in diesem Sinne kann das Denken eine Kunst sein. Man nennt die Logik hie und da eine Kunstlehre.
Unterschied der Kunstgriffe von den Kunstregeln des Denkens(5) Die bisherige Methodologie hat sich bemüht, die Kunstregeln des Denkens in ihrer Vollständigkeit zu sammeln und systematisch zu verarbeiten. Sie hat es versucht und es ist ihr gelungen, diejenigen technischen Operationen und Manipulationen zu registrieren und zu analysieren und systematisch zu begründen, welche die häufigsten, regelmäßigsten und wichtigsten sind. Gerade diejenigen Operationen, auf deren geschickter Anwendung, kluger Verwertung und rationeller Verfeinerung die Fortschritte der modernen Naturwissenschaft beruhen, sind aus der Praxis in die Theorie erhoben worden und wurden auf die einfachen und primitiven Formen der logischen Funktion zurückgeführt. Die bewunderungswürdigen Methoden der empirischen Wissenschaften, Methode, welche sich ihrem Gegenstand mit einer staunenswerten Geschmeidigkeit anschmiegen und mit jener klugen Benutzung aller Umstände anzupassen wissen, welche wir bei den organischen Wesen beobachten - diese Methoden fanden einen würdigen und vollständig entsprechenden Ausdruck in der modernen Methodologie, welche ihre glänzendsten Vertreter in England, Frankreich und Deutschland fand. Es werden indessen, scheint mir, in der wissenschaftlichen Praxis außerdem Methoden angewandt, welche bisher in der Theorie noch nicht die gehörige Beachtung und Verwertung gefunden haben.
Nachdem die regulären und häufigsten logischen Operationen eine Bearbeitung gefunden haben, welche relativ nichts mehr zu wünschen übrig läßt, scheint es an der Zeit und gerechtfertigt, auch diejenigen Operationen in die logische Diskussion hineinzuziehen, welche bis jetzt ignoriert oder vernachlässigt wurden. Man tat recht daran, diese irregulären Formen solange zu übersehen und auf die Seite zu stellen, bis die logische Theorie durch die Analyse der wichtigsten und häufigsten Operationen diejenige Festigkeit und Sicherheit erlangt hatte, welche absolut notwendig ist, wenn exzeptionellen, irregulären und dem gewöhnlichen Verlauf widersprechenden Phänomenen zu Leibe gegangen werden soll, deren logische Analyse bedeutenderen Schwierigkeiten begegnet als die häufigeren Operationen. Wir unterscheiden Kunstregeln und Kunstgriffe des Denkens, eine Einteilung der Denkmittel, welche wir vorläufig festhalten wollen. Auch bei anderen Funktionen ist diese Unterscheidung von Wert; Kunstregeln sind das Zusammen aller jener technischen Operationen, vermöge welcher eine Tätigkeit ihren Zweck, wenn auch mehr oder weniger verwickelt, so doch direkt zu erreichen weiß und welche aus der Natur jener Tätigkeit und der sie reizenden Umstände unmittelbar folgen, welche insbesondere in keinem Widerspruch stehen mit der allgemeinen Form der bezüglichen Tätigkeit. Auch in der Logik nennen wir solche Operationen, wie vor allem die Operationen der Induktion, Kunstregeln des Denkens. Kunstgriffe aber sind solche Operationen, welche, einen fast geheimnisvollen Charakter an sich tragend, auf eine mehr oder weniger paradoxe Weise dem gewöhnlichen Verfahren widersprechen, Methoden, welche, dem nicht in den Mechanismus eingeweihten, nicht so fertig geübten Zuschauer den Eindruck des Magischen machend, Schwierigkeiten, die das bezügliche Material der betreffenden Tätigkeit in den Weg wirft, indirekt zu umgehen wissen. Solche Kunstgriffe hat auch das Denken; sie sind wunderbar zwecktätige Äußerungen der organischen Funktion des Denkens. Und wie in gewissen Künsten und Handwerken solche Kunstgriffe geheim gehalten werden, so bemerken wir auch dasselbe beim logischen Geschäft. Wir ziehen hier nur einen eklatanten Fall zur Jllustration des Gesagten herbei: als es LEIBNIZ durch einen solchen genialen Kunstgriff - er wird im Folgenden für uns das typische Beispiel sein und einen Hauptgegenstand unserer Analyse bilden - gelungen war, Aufgaben, die bis dahin als unlösbar gegolten hatten, auf eine wunderbar einfache und ingeniöse Weise zu lösen, da suchte er eine geraume Zeit lang diesen logischen Kunstgriff ängstlich geheim zu halten und diejenigen, denen er ihn mitteilte, überraschten die damit nicht bekannt gemachten Mathematiker mit der Lösung schwieriger Aufgaben. Ähnlich verfuhr NEWTON, wie man aus der Geschichte der Mathematik wohl weiß; es ist interessant, wie die Mathematiker wetteifferten, durch ihre geheim gehaltenen Kunstgriff die von anderen für unlösbar gehaltenen Probleme rasch und elegant zu lösen. Auch von der PYTHAGORAS-Schule wird Ähnliches erzählt. Diese historischen Fakta mögen zu dienen, die oben durchgeführte Vergleichung des Denkens mit einer Kunst und gewisser logischer Operationen mit Kunstregeln und Kunstgriffen als mehr, denn eine bloß spielende Vergleichung erscheinen zu lassen. Ist doch der Terminus "Kunstgriff" denjenigen sehr geläufig, welche mit den Methoden der Mathematik vertraut sind; denn in dieser werden schon lange solche Operationen, wie wir sie meinen, Kunstgriffe genannt und sie kommen dort sehr häufig zur Anwendung.
Übergang zu den Fiktionen(6) Wir behandeln also eine eigentümliche Art von logischen Produkten, eine besondere Tätigkeitsmanifestation der logischen Funktion. Schon im Vorhergehenen haben wir darauf hingewiesen, daß diese eigentümliche Tätigkeit sich in den von uns so genannten Kunstgriffen des Denkens äußert, daß ihre Produkte Kunstbegriffe sind. Wir substituieren schon hier, das Resultat antizipierend, für diese Ausdrücke anderer Termini: unser Gegenstand ist die fiktive Tätigkeit der logischen Funktion, die Produkte dieser Tätigkeit sind die Fiktionen. Wir behandeln die Kunstgriffe des Denkens, die Art, wie dieses sich behilft, um sein Ziel indirekt zu erreichen - wir behandeln die Hilfsbegriffe und Hilfsoperationen des Denkens. Die fiktive Tätigkeit der Seele ist eine Äußerung der psychischen Grundkräfte; die Fiktionen sind psychische Gebilde. Aus sich selbst spinnt die Psyche diese Hilfsmittel heraus; denn die Seele ist erfinderisch; den Schatz an Hilfsmitteln, der in ihr selbst liegt, entdeckt sie, gezwungen von der Not, gereizt von der Außenwelt. Der Organismus ist hineingestellt in eine Welt voll widersprechener Empfindungen, er ist den Angriffen einer ihm feindlichen Außenwelt bloßgestellt und um sich zu erhalten, wird er gezwungen, sowohl von Außen als Innen alle möglichen Hilfsmittel zu suchen. An der Not und am Schmerz entzündet sich die geistige Entwicklung, am Widerspruch und Gegensatz erwacht das Bewußtsein und der Mensch schuldet seine geistige Entfaltung mehr seinen Feinden als seinen Freunden. Um größerer Deutlichkeit und Übersichtlichkeit willen muß indessen folgende Bemerkung vorausgeschickt werden: Unter der fiktive Tätigkeit innerhalb des logischen Denkens ist die Produktion und Benutzung solcher logischen Methoden zu verstehen, welche mit Hilfe von Hilfsbegriffen - denen die Unmöglichkeit eines ihnen irgendwie entsprechenden objektiven Gegenstanes mehr oder weniger an die Stirn geschrieben ist - die Denkzwecke zu erreichen sucht; anstatt sich Funktion diese zwitterhaften und zweideutigen Denkgebilde ein, um mit ihrer Hilfe ihre Ziele indirekt zu erreichen, wenn die Sprödigkeit des entgegenstehenden Materials ein direktes Vorgehen nicht gestattet. Mit einer instinktiven, fast möchte ich sagen, verschmitzten Klugheit weiß die logische Funktion diese Schwierigkeiten durch diese Hilfsgebilde zu umgehen. Die speziellen Methoden, Umwege, Fußwege, welche das Denken einschlägt, wenn es auf der Linie des direkten Denkens nicht mehr fortkommen kann - Fußwege, die recht oft durch dorniges Gestrüpp führen, wodurch sich aber das logische Denken nicht aufhalten läßt, selbst wenn es von seiner logischen Reinheit und Unbeflecktheit etwas einbüßt - sind sehr mannifgacher Natur und die Auseinanderlegung derselben ist eben unsere Aufgabe. Es ist hierbei noch die Bemerkung am Platze, daß die logische Funktion in ihrer zwecktätig-instinktiven Klugheit diese fiktive Tätigkeit von den unschuldigsten, unscheinbarsten Anfängen an durch immer feinere und klügere Windungen und Wendungen hindurch bis zu den schwierigsten und kompliziertesten Methoden durchzuführen weiß. Sollte es uns gelingen, eine bisher unbeachtete Funktion der logischen Tätigkeit in ihrem Wirken zu schildern und nachzuweisen, daß und wie die wissenschaftliche Praxis dieselbe anwende zur Gewinnung von Wissen, so wäre (da die Logik immer auf die Erkenntnistheorie einen mitbestimmenden Einfluß ausübt), unsere erste Frage, ob sich diese Funktion nicht auch als eine erkenntnistheoretisch wirksame nachweisen lasse. Wir glauben, diesen Nachweis liefern zu können; die, wenn auch nicht gerade ganz neu entdeckte, so doch zum erstenmal in ihrem ganzen Umfang dargestellte Funktion hat unseres Erachtens für die Erkenntnistheorie eine ganz enorme Bedeutung; sie scheint geeignet zu sein, sowohl auf die bisherigen Gestaltungen der Erkenntnistheorie ein interessantes und aufhellendes Licht zu werden, als auch die zukünftige Ausbildung derselben wesentlich zu beeinflussen. (7)
1) Im Manuskript = § 5. Die dazwischenliegenden § 3 und § 4 sind hier weggelassen. Sie haben die Überschriften: "Die Logik ist die Theorie der wissenschaftlichen Praxis, zu der sich die logische Funktion entwickelt" und "Die Logik geht aus von der Psychologie und mündet ein in die Erkenntnistheorie". 2) Vgl. die ähnlich lautende Bemerkung MILLs betreffs der Ethik in System der Logik III, Seite 361 3) In diesem, von SIGWART mit einem glücklichen Ausdruck technisch genannten Teil handelt es sich um die Methoden, welche dem Denken zu Gebote stehen oder welche es erfindet und ersinnt, um von dem gegebenen primitiven Zustand der gewöhnlichen Wahrnehmung und des populären Denkens aus zu allgemeingültigen Urteilen, zu notwendigen und zwingenden Schlüssen, sowie zu scharfbestimmten Begriffen zu gelangen. 4) Auch hier gilt der Satz: Usus dat methodum. [die Verwendung macht die Methode - wp] 5) Im Manuskript § 7. Nicht abgedruckt ist der dazwischenliegende § 6: "Die logische Theorie ist eine von der wissenschaftlichen Praxis abhängige Funktion". 6) Dieses Kapitel besteht aus Bruchteilen der § 8, 9, 10 des MS: § 8: "Die Erkenntnistheorie ist eine von der Logik abhängige Funktion"; § 9: "Die Notwendigkeit psychologischer Voruntersuchungen"; § 10: "Methode der folgenden Untersuchung". 7) Im MS folgen hier § 11-21 mit der Gesamtüberschrift: "Psychologisch-erkenntnistheoretische Grundlegung". Dieser Teil ist hier weggelassen; einzelne Partien daraus finden später Verwertung. |