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WALTER RIBBECK
Studien über den Pessimismus

"Für  Leopardi  steht es fest, daß in jedem Leben die Summe der Unlust diejenige der Lust, wobei letztere für ihn eigenlich nur eine Abwesenheit der ersteren darstellt, bei weitem überwiegt. Da dieses trostlose Verhältnis zwischen Lust und Unlust etwas ist, was unserem Dasein einmal unausbleiblich anhaftet, so ist gar keine Flucht vor der niederdrückenden Wucht der Unlust möglich, solange wir nicht dieses Dasein selber fliehen, d. h. uns zum Selbstmord entschließen, welcher freilich infolge der uns anerzogenen Unterwürfigkeit gegen menschliche Gesetze und religiöse Dogmen, sowie infolge der von der Natur in boshafter Weise uns mitgegebenen Furcht vor dem Tod uns als unnatürlich, ja als Verbrechen erscheint, und daher nur das stolze Vorrecht einiger weniger freier Seelen ist."

"Die Vernichtung des Willens zum Leben im Allgemeinen aber kann nur dann erreicht werden, wenn auch die Überzeugung allgemein würde, daß es mit dem Leben überhaupt einmal nichts ist und nichts sein kann. Zur Verbreitung dieser Erkenntnis aber kann jeder Einzelne beitragen, nicht indem er sich selber dem Leben feigerweise entzieht, sondern indem er zwar lebt, aber so, als ob er nicht lebte, d. h. sich einer vollständigen Resignation und Willenlosigkeit hingibt. Das Ideal dieser  Verneinung des Willens  ist der Zustand jenes indischen Fakirs, dessen einzige Beschäftigung darin besteht, seine Nasenspitze zu betrachten und dabei das geheimnisvolle  Om  zu murmeln, mittels dessen er sich seine Identität mit dem All-Einen beständig gegenwärtig erhält."


I. Zur Geschichte des Pessimismus

Als einen der beklagenswertesten Auswüchse, welche die sonst so hoch gepriesene Kulturentwicklung unseres Jahrhunderts gezeitigt hat, bezeichnet man vielfach den Pessimismus, der sich von Philosophen und Dichtern gepredigt immer mehr und mehr die Gemüter der Menschen zu unterwerfen scheint. Man betrachtet diese Art der Weltanschauung häufig als das ausschließliche Produkt von Ursachen, die lediglich oder doch hauptsächlich in den Zuständen der Gegenwart ihren Grund haben sollen; bald ist es der Verfall des religiösen Lebens, dem die bestehenden Religionen nicht zu wehren imstande sind, und dem auch kein neu aufkommender Glaube ein Ende machen zu wollen scheint, bald die geistige Ermattung des jetzigen Geschlechts, welches seine alten Ideale verloren und nicht die Kraft und den Jugendmut hat, sich neue zu schaffen, bald der immer beschwerlicher und immer unerträglicher werdende Kampf ums Dasein, dem man die Schuld gibt am Aufkommen einer so verwunderlichen Lehre, wie diejenige von der Schlechtigkeit der Welt der Meinung vieler Leute nach ist. Und wer wollte leugnen, daß der lebhafte Anklang, den pessimistische Ansichten heutzutage in den weitesten Kreisen finden, vielfach auf solche Gründe zurückzuführen ist. Aber im Pessimismus überhaupt ausschließlich eine Modekrankheit und nichts weiter zu sehen, das verbietet uns schon der eine Umstand, daß derselbe kaum zu einer Zeit und kaum bei einem Kulturvolk gänzlich gefehlt hat, wenn diese Art der Weltanschauung auch naturgemäß zu einer Zeit stärker als zu einer anderen hervorgetreten ist, bei einem Volk sich lebhafter als beim anderen geäußert hat. An diese Tatsache, die freilich, besonders infolge der von SCHELLING und EDUARD von HARTMANN gegebenen Nachweise, längst bekannt war, wieder einmal erinnert zu haben, ist das Verdienst eines im vorigen Jahr erschienenen Buches von OLGA PLÜMACHER (1), das den Pessimismus der Vergangenheit und Gegenwart in historisch-kritischer Darstellung behandelt. Erinnert zu haben, sagen wir, denn der Verfasser, dem es doch vorzugsweise um die pessimistischen und anti-pessimistischen Erscheinungen der Gegenwart, namentlich um diejenigen, die sich um die Lehre EDUARDs von HARTMANN gruppieren, zu tun ist, erhebt selber kaum den Anspruch, eine vollständig erschöpfende und gleichmäßig durchgearbeitete Geschichte des Pessimismus zu geben. Namentlich was die früheren Zeiten, das Altertum wie das Mittelalter, betrifft, so hat man öfter den Eindruck, als habe man mehr eine Aneinanderreihung zufällig aufgeraffter Lesefrüchte, als eine organisch fortschreitende Entwicklungsgeschichte vor sich. Sehr charakteristisch dafür ist der Umstand, daß beispielsweise der einzige Philosoph des Altertums, der auf den Namen eines Pessimisten in einem buchstäblichen Sinn Anspruch hat, daß der Kyrenaiker HEGESIAS vollständig mit Schweigen übergangen wird. Immerhin kann uns das erwähnte Buch einen leidlich brauchbaren, wenn auch der Ergänzung vielfach bedürftigen Leitfaden an die hand geben, um die pessimistischen Stimmungen der verschiedenen Zeiten und Völker kennen zu lernen.

Daß der Pessimismus keine ausschließlich moderne und auch keine nur bestimmten Zeiten und Völkern eigentümliche Erscheinung ist, beweist schon der Umstand, daß wir ihn bereits im Altertum, und zwar gerade bei denjenigen Nationen hervortreten sehen, welche in hervorragendem Maß Träger der Kulturentwicklung geworden sind, bei den Indern, Juden und Griechen. In Indien, wo das Leben des Menschen täglich und stündlich von unzähligen Gefahren bedroht ist, und die niederdrückende Wucht des Klimas die Geister in widerstandslose Lethargie versenkt, durchzieht der Pessimisms die gesamte Weltanschauung des Volkes, wie wir dieselbe in den beiden großen Religionen, dem Brahmanismus und Buddhismus niedergelegt finden. Als Grund und Summe allen Übels wird hier die Losreißung der Einzelexistenz vom allgemeinen Urquell, dem All-Einen betrachtet, und die Rückkehr zu demselben, d. h. zu einem Zustand, der zumindest für das menschliche Denkvermögen vom vollkommenen Nichts nicht mehr unterscheidbar ist, gilt als das einzig Erstrebenswerte.

Im Gegensatz hierzu war die Weltanschauung des Judentums von Haus aus eine optimistische, insofern dieselbe das Ergehen des Menschen von seinem Verhalten gegen die Gottheit abhängig und so ihn selber gewissermaßen zum Herrn seiner Geschicke machte. Allein einerseits war es infolge der zunehmenden Veräußerlichung und Verknöcherung der Gesetzesreligionen dem Menschen immer mehr unmöglich gemacht, den an ihn gestellten Anforderungen zu genügen, andererseits zeige die tägliche Erfahrung immer deutlicher, daß das Schicksal des Einzelnen wie des ganzen Volkes keineswegs einen Maßstab für die Frömmigkeit desselben abgeben kann. So gelangte man im Gefühl der eigenen Ohnmacht dem einmal verhängten Geschick gegenüber dazu, entweder mit dem Prediger alles überhaupt für eitel zu erklären, oder mit dem Verfasser des Buches HIOB die Verteilung von Glück und Unglück als etwas anzusehen, was nicht von unserer Macht abhängt und dessen Gründe unserem Verstand nicht durchschaubar sind.

Was aber vielleicht am auffallendsten ist, gerade bei demjenigen Volk, welches der allgemeinen Meinung nach dem Ideal der menschlichen Vollkommenheit und Glückseligkeit am nächsten gekommen ist, gerade bei den durch die Gunst ihres Himmels und die Fülle ihrer natürlichen Anlagen so bevorzugten Hellenen sind selbst zur Zeit der Blüte ihres künstlerischen und staatlichen Lebens die Stimmen überaus zahlreich, welche sich nicht genug tun können im Beseufzen des dem menschlichen Dasein anhaftenden Elends. Von HOMER bis auf SOPHOKLES und EURIPIDES findet sich kaum ein Dichter, dem wir nicht die schwermütigsten Klagen, und zwar nicht etwa nur über die Vergänglichkeit des Irdischen, sondern geradezu über das mit demselben untrennbar verbunden Übermaß von Unlust entnehmen könnten. Soll doch selbst die bildende Kunst der Griechen, und zwar nicht bloß nach dem Urteil des Grafen FRIEDRICH von STOLBERG, den GOETHE dafür mit dem bekannten  Xenion  bedachte, das überall, auch den schönsten Erzeugnissen, zugrunde liegende Gefühl des Mangels, eines tief innerlichen Ungenügens deutlich erkennen lassen!

Auch die griechische Philosophie steht dem Pessimismus keineswegs so fern, als man gewöhnlich anzunehmen geneigt ist. Wohl ist dieselbe größtenteils noch in dem, von HARTMANN sogenannten "ersten Stadium der Jllusion" befangen, welches die Erreichung eines positiven Glücks schon in diesem Leben für möglich hält, wohl meint sie mittels ihrer Vorschriften den Menschen einen mit unfehlbarer Sicherheit auf dieses Ziel hinführenden Weg angeben zu können. Aber einerseits ist sie selber vielfach zur Erkenntnis gelangt, daß das von ihr gesteckte Ziel doch immer nuc wenigen Auserwälten erreichbar ist, andererseits ist das von ihr in Aussicht gestellte Glück doch häufig ein derartiges, daß wir gerechterweise Bedenken tragen dürfen, es mit diesem wohltönenden Namen zu bezeichnen. Daß das Glück etwas von uns Unabhängiges ist, das keines Menschen Macht und keines Philosophen Vorschrift zu erzwingen vermag, das zuzugeben war freilich nur der einzige ARISTOTELES unbefangen genug, wenn er es in Abrede stellte, daß jemand mit den Schicksalen des PRIAMUS glücklich sein kann; doch vor dem Unglücklichsein wenigstens sollte auch seiner Meinung nach die Philosophie, welche in allen Dingen Maß zu halten lehrt, den Menschen bewahren können.

Wieviele Menschen aber sind imstande, dieses rechte Maß zu halten? Ein ARISTIPP, der das Glück zu genießen und das Unglück zu ertragen verstand, der die Dinge beherrschte, nicht sich von ihnen beherrschen ließ, konnte das Streben nach möglichst großer Lust als ethisches Prinzip proklamieren, sicher, daß er für seine Person seine heitere Gemütsstimmung auch durch das größte Unglück sich nicht wird rauben lassen. Aber Einer, der doch aus seiner Schule hervorgegangen war, HEGESIAS, glaubte erkannt zu haben, daß die als Ziel des Daseins hingestellte Lust für den Menschen doch nicht erreichbar, daß das Leben nur eine Quelle von Unlust ist; und ein ägyptischer König mußte seine Vorträge untersagen, damit der  Peisisthanatos  [Hegesias - wp] durch seine herzbeweglichen Schilderungen vom Elend des Daseins nicht allzu Viele in den Tod treibt.

Daß das menschliche Leben, wo nicht mit einem Überschuß an Unlust, so doch mit einem beständigen Schwanken zwischen Glück und Unglück behaftet ist, dieser Erkenntnis vermochten auch andere Philosophen und Philosophieschulen des Altertums sich nicht zu entziehen, aber sie suchten den Grund hiervon ausschließlich in einer ansich durchaus nicht notwendigen Abhängigkeit des Menschen von äußeren Verhältnissen, einer Abhängigkeit, der es denselben um jeden Preis zu entreißen gilt.

Wie verschieden die Ausgangspunkte der späteren Philosophieschulen, Stoiker, Epikureer und Skeptiker auch sein mögen, darin stimmen sie alle überein, daß das einzige Mittel, dem Menschen eine gewisse Glückseligkeit zu sichern, die vollständige Freimachung desselben von allem Äußeren ist, wobei sie freilich, und zwar besonders die Stoiker, zugeben mußten, daß nur äußerst Wenigen, ja, wie die Menschen einmal sind, so gut wie Keinem die vollständige Erreichung dieses Zieles möglich ist. Sollte aber der Mensch wirklich imstande sein, sich eine solche Unabhängigkeit von der Außenwelt zu sichern, so könnte dies nur in der Weise geschehen, daß er lernt, alle Güter und Freuden des Daseins als nichtig und unbedeutend anzusehen, damit er sein Herz nicht etwa an dieselben hängt und durch den Verlust derselben in seinem Gleichmut gestört würde. Wie die Güter des Lebens, so ist auch das Leben selber, dessen Beginn und Ende ja durchaus nicht allein in der Macht des Menschen steht, etwas durchaus Wertloses und das freiwillige Wegwerfen desselben ist nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten, wenn es für den Menschen kein anderes Mittel gibt, sich dem Übermaß der Unlustempfindungen und der ihn infolge dessen bedrohenden Knechtschaft zu entziehen. Die gesamte spätere Philosophie des Altertums, in erster Linie der Stoizismus, ist demnach im Grunde nichts anderes als ein schlecht verhüllter Pessimismus, der, da sein offiziell proklamiertes Ziel doch nur höchst selten oder gar nicht zu realisieren ist, keine andere Rettung aus den Schwankungen des Glückes weiß, als den Selbstmord. Man fühlt sich selten trostloser berührt, als wenn man die Betrachtungen des in gewissem Sinne letzten antiken Philosophen - das von den Neuplatonikern aufgestellte Ziel ist schon kein immanentes mehr, sondern ein transzendentes - des Kaisers MARC AUREL liest. Alles, was wir als wertvoll und erstrebenswert zu betrachten gewohnt sind, wird hier als gleichgültig und nichtig hingestellt, das einzige Positive, was übrig bleibt, ist die blindeste bedingungslose Ergebung in die von den Göttern uns gesetzte Pflicht. Aber auch die Erfüllung dieser Pflicht vermag uns keine Befriedigung zu gewähren, denn wo es keine Dinge gibt, deren Existenz einen gewissen Wert besitzt, da hat auch die auf die Erzeugung dieser Dinge gerichtete pflichtgemäße Tätigkeit jeden Zweck und jeden Inhalt verloren.

In der Verachtung der Welt und ihrer Güter trifft mit der absterbenden griechischen Philosophie das sich jungendkräftig erhebende Christentum zusammen, nur daß dieses als Trost für das Elend des Diesseits wenigstens ein jenseitiges Glück ist Aussicht stellen konnte. Auch in dieser letzteren Beziehung schloß sich dasselbe freilich durchweg an antike Gedanken an, an Gedanken, wie sie schon von PLATO ausgesprochen waren und nachher in der neuplatonischen Philosophie ihre vollständige Ausbildung erlangten. Auch PLATO und noch mehr seine Nachfolger konnten nicht herb genug von der Unvollkommenheit und Verächtlichkeit der Körperwelt reden, welcher sich der Geist durch die vollständige Abwendung von der Sinnlichkeit und eine begeisterte Erhebung zur Welt der Ideen möglichst zu entziehen hat. Was das Christentum vor dieser Richtung voraus hatte, war nur der Umstand, daß die von ihm in Aussicht gestellte ewige Seligkeit als ein viel greifbarerer und auch dem gewöhnlichen Menschen leichter erreichbarer Zustand erschien, als man dies von der platonischen Erhebung zur Ideenwelt oder der von seinen Nachfolgern geforderten Verschmelzung mit dem All-Einen sagen kann.

Aber selbst jenes transzendente Glück, welches vom Christentum als Ersatz für das Elend des diesseitigen Lebens uns verheißen wird, würde, selbst wenn man von allen Zweifeln an der Realität desselben absieht, nicht ausreichen, den Satz des modernen Pessimismus, daß die Summe der Unlust in der Welt diejenige der Lust übersteigt, Lügen strafen. Denn dieses Glück soll doch immer nur wenigen Auserwählten zuteil werden, während die Mehrzahl der Menschen, wenigstens nach der herrschenden Lehre, zu ewiger Verdammnis bestimmt ist. Den allzu schroffen Konsequenzen dieser Prädestinationslehre, die von PAULUS aufgestellt und von AUGUSTINUS weiter ausgebildet wurde, suchten allerdings mehrere Kirchenväter durch die Lehre von der dereinstigen Wiederbringung aller Dinge zu entgehen, und auch die katholische Kirche stellt wenigstens all denen, welche sich zu ihrer Gemeinsachft bekennen, die Seligkeit in Aussicht, was freilich doch immer die Unseligkeit der Mehrzahl der Menschen und demzufolge das Überwiegen der Unlust im Allgemeinen nicht ausschließt. Wie es aber auch um die Verteilung von Lust und Unlust im jenseitigen Leben bestellt sein mag, im Diesseits überwiegt jedenfalls die Unlust und muß nach christlicher Anschauung schon deshalb überwiegen, damit im Menschen die Sehnsucht nach dem Jenseits allezeit wachgehalten wird. Als typisch für diese Anschauung, welche uns natürlich während des Mittelalters immer wieder entgegentritt, können die Ausführungen Papst INNOZENZ III. in seiner Schrift  De contemptu mundi  gelten, der in dieser Beziehung als das christliche Gegenstück zu Kaiser MARC AUREL bezeichnet werden kann. Als die Alleinherrschaft der Kirche über die Gemüter der Menschen mit dem Ausgang des Mittelalters sich zu lockern begann, fing man auch am diesseitigen Leben wieder einen selbständigen Wert und eine selbständige Bedeutung beizumessen. Neben der Wiederbelebung des klassischen Altertums wirkte auch die Reformation wenigstens anfangs, solange dieselbe vom welt- und lebensfreudigen Geist LUTHERs getragen wurde, direkt in dieser Richtung. Später griff allerdings in der lutherischen und noch mehr in der kalvinistischen Kirche eine unsäglich düstere und asketische Weltanschauung Platz, wie die dieselbe der katholischen Kirche der letzten Jahrhunderte, welche wenigstens in der Praxis der Weltfreudigkeit einen ziemlichen Spielraum gelassen hatte, in der Weise völlig fremd war.

Dagegen macht sich in der neu erwachenden Philosophie, die ja zum Teil wenigstens ihre Existenz gleichfalls der Reformation zu danken hat, immer mehr ein lebensfreudiger Zug geltend. Noch DESCARTES freilich weiß dem Menschen nur dann ein gewisses Maß innerer Befriedigung in Aussicht zu stellen, wenn derselbe sich entschließen kann, alles, was nicht von seiner Macht abhängt, gleichmütig zu entbehren, und er erinnert in dieser Beziehung ganz auffallend an die Stoiker. Aber bei SPINOZA, wie schon vor ihm bei GIORDANO BRUNO, tritt die Harmonie und Vollkommenheit des Universums in den Mittelpunkt der Betrachtung, und er steht nicht an, dem Geist, welcher sich dem Anschauen dieser Harmonie selbstlos hinzugeben imstande ist, die höchste Seligkeit zu verheißen. Gleichzeitig machte sich in der Theologie und bei denjenigen Philosophen, welche sich der theologischen Fesseln noch nicht vollständig entledigt hatten, immer mehr das Bestreben geltend, für die Allgüte und Allweisheit Gottes schon in der Einrichtung der diesseitigen Welt Beweise aufzuzeigen, und nichts schien jene beiden Eigenschaften, welche Gott als dem allervollkommensten Wesen einmal notwendigerweise zukommen mußten, mehr zu beeinträchtigen, als wenn man hätte zugeben müssen, daß das Leben, welches der Schöpfer seinen Geschöpfen in Gnade verliehen hatte, für dieselben im Grunde weniger ein Glück, als ein Unglück bedeutete. Der bekanteste dieser Versuche, die Ehre Gottes zu retten, ist LEIBNIZ  Theodizee  [Rechtfertigung Gottes - wp], in der freilich die Stärke und Größe des in der Welt vorhandenen Übels, welches er eigentlich nur als notwendige Schranke des Guten oder gar nur als einen geringeren Grad desselben gelten ließ, bedeutend unterschätzt wurde. Diese optimistische Auffassung findet sich, freilich noch bedeutend vergröbert, auch bei seinem Nachfolger WOLFF und bei fast allen deutschen Philosophen des 18. Jahrhunderts mit Ausnahme von VOLTAIRE, der sich in seinem  Candide  über diese "beste aller Welten" weidlich lustig machte. Gleichzeitig wurde von MAUPERTUIS, der zum erstenmal in exakt wissenschaftlicher Weise geführte Nachweis versucht, daß im Leben die Summe der Unlust diejenige der Lust überwiegt. Besonders wichtig ist dabei die zuerst von ihm aufgestellte, von EDUARD von HARTMANN wiederaufgenommene Behauptung, daß die verschiedenen Arten der Lust sich sowohl voneinander, als auch von denen der Unlust nur quantitativ unterscheiden, daß sie also gegeneinander abgewogen werden können und man von ihnen eine Art Bilanz aufzunehmen imstande ist.

Keiner aber ist jener vertrauensseligen deistischen Anschauung, daß die ganze Welt eigentlich nur um des Glückes der Menschen willen da ist, energischer entgegenzutreten als KANT, der immer wieder darauf zurückkommt, wie es unmöglich die Absicht der Natur mit dem Menschen gewesen sein kann, denselben glücklich zu machen, da sie es in diesem Fall sehr unzweckmäßig angefangen haben würde. Auch die Erfüllung der Pflicht, welche KANT, wie ehemals die Stoiker, als die einzig denkbare Bestimmung des Menschen gelten lassen will, vermag nach seiner Ansicht nicht, wie diese noch glaubten, denselben glücklich zu machen. Daß er andererseits doch wieder in einem zukünftigen Dasein eine allerdings nur in einem unendlichen Fortschritt sich vollziehende Ausgleichung zwischen Würdigkeit und Glück für möglich, ja für gefordert hielt, ist nichts weiter, als eine dem hergebrachten Sittlichkeitsstandpunkt, der einer Pflichterfüllung, welche nichts Wertvolles erzeugt, auch keinen Wert beizulegen vermag, gemachte Konzession, die ihm auch oft genug, am bittersten von FICHTE, als grobe Inkonsequenz vorgehalten worden ist.

Zu einer die Geister beherrschenden macht ist der Pessimismus doch erst in unserem Jahrhundert geworden, und zwar mach sich sein Einfluß nun auf zwei Gebieten des geistigen Lebens in gleicher Weise gelten, in der Dichtkunst und in der Philosophie, zwischen welchen beiden der Dichter-Philosoph LEOPARDI gewissermaßen die Brücke bildet.

Man pflegt LEOPARDI gewöhnlich, wie dies auch neuerdings bei PLÜMACHER wieder geschieht, mit den sogenannten Weltschmerzdichtern, mit BYRON, HEINE und LENAU zusammenzustellen. Aber bei jenen anderen ist der Pessimismus, wie dies schon der Name Weltschmerz ausdrückt, bloße Stimmung und zwar bloße zeitweilige Stimmung, welche nicht sowohl einer unbefangenen Beurteilung der menschlichen Verhältnisse im Allgemeinen, als vielmehr den eigentümlichen Schicksalen entspringt, denen der Lebensgang des betreffenden Individuums unterworfen ist. Für LEOPARDI ist dagegen der Weltschmerz nicht bloße Stimmung, sondern zugleich philosophische Auffassung, wenngleich sich nicht leugnen läßt, daß der Dichter-Philosoph, denn als solchen kann man ihn der Anlage seines Talents nach mit Recht bezeichnen, seine individuellen Erfahrungen zuweilen willkürlich verallgemeinert, wie er dies manchmal selber ganz offen zugesteht. Für LEOPARDI steht es fest, daß in jedem Leben die Summe der Unlust diejenige der Lust, wobei letztere für ihn eigenlich nur eine Abwesenheit der ersteren darstellt, bei Weitem überwiegt. Da dieses trostlose Verhältnis zwischen Lust und Unlust etwas ist, was unserem Dasein einmal unausbleiblich anhaftet, so ist gar keine Flucht vor der niederdrückenden Wucht der Unlust möglich, solange wir nicht dieses Dasein selber fliehen, d. h. uns zum Selbstmord entschließen, welcher freilich infolge der uns anerzogenen Unterwürfigkeit gegen menschliche Gesetze und religiöse Dogmen, sowie infolge der von der Natur in boshafter Weise uns mitgegebenen Furcht vor dem Tod uns als unnatürlich, ja als Verbrechen erscheint, und daher nur das stolze Vorrecht einiger weniger freier Seelen ist.

Mit LEOPARDI ist SCHOPENHAUER darin einverstanden, daß die Summe der Unlust diejenige der Lust an Größe übertrifft und daß die letztere - von einigen Ausnahmen freilich abgesehen - nichts Positives, sondern nur eine Abwesenheit der ersteren, nur die Aufhebung eines Mangels bedeutet. Aber den von LEOPARDI empfohlenen Ausweg aus dem Elend des Daseins, den Selbstmord, verwirft SCHOPENHAUER, weil der Wille zum Leben, der ja nicht nur in einem Individuum, sondern in allen Wesen tätig ist, durch die Selbstzerstörung eines Einzelnen ja doch nicht vernichtet werden kann und bei der Wesenseinheit aller Individuen die egoistische Einzelflucht vor dem allgemeinen Schicksal eine Unsittlichkeit darstellen würde. Die Vernichtung des Willens zum Leben im Allgemeinen aber könnte nur dann erreicht werden, wenn auch die Überzeugung allgemein würde, daß es mit dem Leben überhaupt einmal nichts ist und nichts sein kann. Zur Verbreitung dieser Erkenntnis aber kann jeder Einzelne beitragen, nicht indem er sich selber dem Leben feigerweise entzieht, sondern indem er zwar lebt, aber so, als ob er nicht lebte, d. h. sich einer vollständigen Resignation und Willenlosigkeit hingibt. Das Ideal dieser "Verneinung des Willens" ist der Zustand jenes indischen Fakirs, dessen einzige Beschäftigung darin besteht, seine Nasenspitze zu betrachten und dabei das geheimnisvolle  Om  zu murmeln, mittels dessen er sich seine Identität mit dem All-Einen beständig gegenwärtig erhält.

Die von SCHOPENHAUER geforderte absolute Resignation, die sich von der seitens der Stoiker gepredigten Unabhängigkeit von allem Äußeren wenig oder gar nicht unterscheidet, ist aber ein vollständig leerer und ein deshalb für alle nicht-indischen Naturen so qualvoller Zustand, daß ihm jedes andere, selbst das unlustreichste Leben, unendlich vorzuziehen wäre. Eine Aufhebung des Willens zum Leben überhaupt ließe sich daher auf diesem Weg, sieht man selbst von allen anderen Bedenken hinsichtlich der Zweckmäßigkeit desselben ab, jedenfalls nicht durchsetzen. Um diese auch von ihm angestrebte Aufhebung herbeizuführen, glaubt daher SCHOPENHAUERs Nachfolger, EDUARD von HARTMANN, der mit diesem in der Wertschätzung des Lebens übereinstimmt, wenn er auch im Gegensatz zu ihm zumindest einigen Arten der Lust eine positive Bedeutung zuerkennt, ein anderes Verfahren zur Anwendung bringen zu müssen. Die alle Lebewesen durchdringende Erkenntnis, daß dem Sein als solchem ein Überschuß von Unlust unausbleiblich anhaftet und das Nichtsein deshalb in jedem Fall vorzuziehen ist, diese Erkenntnis kann nach HARTMANN nicht erzielt werden durch eine tatlose Abwendung vom Leben, sondern ganz im Gegenteil durch eine möglichst intensive Förderung der Kulturentwicklung. Denn durch eine möglichst hohe Steigerung der Kultur, welche ja dasselbe bedeutet wie eine Steigerung der menschlichen Intelligenz überhaupt, wird bewirkt, daß die Jllusionen, welchen die Menschen sich bisher in Bezug auf ein in diesem oder in einem zukünftigen Leben für sich oder für andere zu erreichendes Glück hingegeben haben, immer mehr in ihrer Nichtigkeit durchschaut, und infolgedessen die Unlustgefühle zu einer immer unerträglicher werdenden Höhe gesteigert werden. Dies muß allmählich in der Gesamtheit oder zumindest in der Majorität der Lebewesen den festen Entschluß erwecken, allem Sein überhaupt definitiv ein Ende zu machen, womit dann das angestrebte Ziel, die Selbstvernichtung des Willens zum Leben, erreicht wäre.

Auf die Kritik dieser modernsten und von allen bisher dagewesenen, am meisten wissenschaftlich durchgebildete Form des Pessimismus, sowie auf die Betrachtung der bemerkenswertesten literarischen Erscheinungen, welche durch dieselbe direkt oder indirekt hervorgerufen worden sind, werden wir in einem folgenden Artikel zurückzukommen haben.


II. Zur Kritik des Pessimismus

Unzweifelhaft ist, daß wir in der Gestalt, welche der Pessimismus durch HARTMANN erhalten hat, die reifste und wissenschaftlich am meisten durchgebildete Form desselben anzuerkennen haben. Man wird auch in diesem Fall nicht sagen können, daß die düstere Welt- und Lebensanschauung eben nur der eigentümlichen Veranlangung eines von besonders unglücklichen Schicksalen heimgesuchten Individuums oder eines vorzugsweise grillenhaften und melancholischen Charakters entsprungen ist, wie man das Erstere von LEOPARDI, das Zweite von SCHOPENHAUER und manchen seiner Nachfolger, so z. B. von BAHNSEN, mit einigem Recht behaupten kann. Der HARTMANN'sche Pessimismus ist nicht sowohl das Produkt persönlicher Lebensverhältnisse und Stimmungen, als vielmehr das Resultat eines vergleichsweise ruhigen und objektiven Abwägens der möglichen Lust- und Unlustquellen, wobei die Empfänglichkeit für die Lichtseiten des Daseins keineswegs zu vermissen ist. Ja, in Bezug auf einen und zwar einen der wichtigsten Punkte seines Systems kann man dem Philosophen selbst den Vorwurf eines zu großen Optimismus nicht ersparen, nämlich hinsichtlich der von ihm in Aussicht gestellten Erlösung des All-Einen vom Elend des Daseins, wobei er sich die Erlösung davon, wie bemerkt, gewissermaßen durch einen Majoritätsbeschluß aller lebenden Wesen herbeigeführt denkt. Denn wie es möglich ist, daß der bloße Entschluß, nicht mehr leben zu wollen, der als solcher doch etwas rein Geistiges ist, das Aufhören dieser materiellen Welt bewirken soll, dies zu erklären, ist der Philosoph seinem eigenen Geständnis nach nicht imstande. Aber sieht man, seinem billigen Wunsch entsprechend, auch vom "Wie" des verheissenen Weltuntergangs ganz ab, so erscheint doch auch das "Daß" desselben geradezu undenkbar, wenn zumindest der Satz von der Erhaltung der Energie, demzufolge keine einmal wirksame Kraft gänzlich zugrunde gehen, sondern nur eine andere Form ihres Wirkens annehmen kann, seine für uns denknotwendige Geltung behaupten soll. Alles Werden und Vergehen ist für uns überhaupt nur an einem schon *Seienden vorstellbar, das Werden und Vergehen dieses Seins selber aber ist ein für menschliche Fassungskraft unvollziehbarer Gedanke, wie dies schon die griechische Philosophie, und zwar nicht nur der Materialismus eines DEMOKRIT und EPIKUR, sondern ebenso auch ein ARISTOTELES anerkannt hat. Aber selbst die Möglichkeit einer nach des Philosophen eigenem Geständnis jedenfalls in weitester Ferne liegenden Seinsaufhebung zugegeben, was wäre, falls dieselbe wirklich einmal einträte, damit gewonnen? Das HARTMANNsche Unbewußte wäre damit nur wieder genau in denselben Zustand versetzt, in dem es vor Entstehung dieser Welt war, und da ihm das Gedächtnis fehlt, es also durch die Erfahrungen des eben abgelaufenen Weltprozesses auch nicht klüger geworden sein kann, so besitzen wir absolut keine Garantie dagegen, daß nicht das Spiel von vorhin von Neuem losgeht und sich mit Grazie  in infinitum  unzählige Male wiederholt.

Aus all diesen Gründen wird man dem "Miserabilisten" BAHNSEN nicht Unrecht geben können, wenn er in der Lehre von der Welterlösung nur die Eierschale eines noch nicht vollständig abgestreiften Optimismus zu erblicken vermag und den Urheber derselben, welcher sich so viel darauf zugute tut, die "drei Stadien der Jllusion" durchschaut zu haben, als im vierten Stadium der Jllusion befangen bezeichnet. Ist aber die vollständige Aufhebung allen und jeden Seins nach HARTMANNs eigenen Voraussetzungen ein, wenn überhaupt, so doch nur in einem fast endlosen Prozeß zu erreichendes, nach unseren Begriffen dagegen ein unmöglich zu realisierendes Ziel, so verliert die eine vom Pessimismus aufgeworfene Frage, ob das Sein als solches dem Nichtsein vorzuziehen ist oder nicht, jede praktische Bedeutung und sinkt zu einer bloßen Doktorfrage herab. Es bliebe dann freilich noch die Frage übrig, ob im einzelnen Fll das Sein eines Individuums dem Nichtsein desselben vorzuziehen ist, und auch diese Frage steht HARTMANN so wenig wie beispielsweise LEOPARDI an, verneinend zu beantworten, zumindes soweit die eudämonologischen Rücksichten des Individuums ausschließlich in Betracht kommen. Er geht aber nicht soweit wie dieser, nun auch aus dieser theoretischen Einsicht die scheinbar unausweichliche praktische Konsequenz zu ziehen, daß demnach für den Einzelnen der Selbstmord das Gebotene ist, denn er ist mit SCHOPENHAUER der Meinung, daß diese partielle Seinsaufhebung zu nichts führen kann, da dem Willen zum Leben, der sich nicht nur in diesem Einzelnen, sondern in allen Wesen manifestiert, das Leben ja doch gewiß ist. Aber dem Einzelnen kann es ja ganz gleichgültig sein, ob das Sein im Allgemeinen durch seinen Tod nicht berührt wird, wenn er nur selber nicht mehr daran teilzunehmen braucht. Diesen dem Egoismus ganz natürlichen Einwand sucht HARTMANN dadurch zu beseitigen, daß er auf die Wesensidentität aller Individuen mit dem  All-Einen  und untereinander hinweist. Aber diese Wesensidentität bleibt doch für den Einzelnen eine rein theoretische Erkenntnis, wenn man nicht geradezu behaupten will, daß ihr zufolge der Gestorbene die Leiden der Lebenden ferner an seinem Leib mitfühlen muß. Einen von egoistischem Interesse empfohlenen Selbstmord wird der Hinweis auf die Leiden Anderer nur einem bereits zu hoher sittlicher Ausbildung gelangten Individuum gegenüber zu verhindern imstande sein, und auch hier nur dann, wenn sich diesem von Mitleid erfüllten Individuum die Möglichkeit eröffnet, durch das eigene Weiterleben die Leiden der Andern bis zu einem gewissen Grad mildern zu können.

Hat aber diese sittliche Betätigung, der zuliebe der Einzelnen auf die seinem eigenen Interesse so viel mehr entsprechende Rettung verzichten soll, denn überhaupt einen Zweck, vermag sie das Elend der Übrigen in irgendwie wirksamer Weise zu lindern?

Von den Gegner des Pessimismus hört man häufig die Beschuldigung aussprechen, daß derselbe die Sittlichkeit schädigt. Soll dieser Vorwurf besagen, daß beim Pessimisten die altruistischen Rücksichten von den egoistischen in den Hintergrund gedrängt werden, so ist derselbe zumindest HARTMANN gegenüber höchst ungerecht, der, wie wir gesehen hben, den vom egoistischen Standpunkt aus einzig erstrebenswerten Selbstmord mit voller Entschiedenheit als unsittlich verwirft. Alle vom modernen Bewußtsein als sittlich erkannten Forderungen hält er mit Energie aufrecht und sucht ihnen durch ihre Beziehung auf das eine, von der Gesamtheit wie von jedem Einzelnen gleichmäßig zu erstrebende Ziel, eine einheitliche Zusammenfassung und metaphysische Begründung zu geben. Aber insofern dieses Endziel aller Sittlichkeit, als welches wir nach dem Vorherigen uns die Aufhebung des Seins überhaupt zu denken haben, als etwas nicht Erstrebenswertes oder nicht Realisierbares erscheint, verlieren auch die einzelnen sittlichen Forderungen, die in diesem System nur infolge ihrer Beziehung auf das Endziel irgendeine Berechtigung haben, zum großen Teil ihren Sinn, ja die Unterscheidung zwischen dem, was sittlich, und dem, was unsittlich ist, muß für jemanden, der dieses Endziel als illusorisch erkannt hat, im Übrigen aber an den Lehren des Pessimismus festhält, schwankend werden.

Versucht man, die einzelnen vom modernen ethischen Bewußtsein als solche anerkannten sittlichen Verpflichtungen in eine allgemgültige Formel zusammenzufassen, so wird sich als eine solche Formel das Gebot ergeben, darauf hinzuwirken, daß die Summe der in der Welt vorhandenen Lustgefühle gesteigert, die der vorhandenen Unlustgefühle vermindert wird. Diese allgemeine Formel muß den Maßstab abgeben, an den gehalten jede von uns für sittlich erachtete Handlung diese ihre Eigenschaft als vorhanden nachweisen muß. Um diesen Maßstab aber richtig anwenden zu können, muß man ein gewisses Urteil darüber besitzen, was dazu geeignet ist, die Lust in der Welt möglichst zu vermehren und die Unlust zu vermindern, bzw. der Vermehrung der Unlust entgegenzusteuern.

Gerade hinsichtlich dieses letzteren Punktes nun erklärt HARTMANN sich mit der gewöhnlichen Anschauung im Widerspruch zu befinden. Diese nämlich, die er als im dritten Stadium der Jllusion befangen bezeichnet, geht von der Voraussetzung aus, daß für die Gesamtheit als solche ein positives Glück, d. h. ein Überwiegen der sämtlichen in der Welt vorhandenen Lust über die in derselben befindliche Unlust möglich ist und daß diese Steigerung des eudämonologischen Niveaus sich durch die Förderung der allgemeinen Kulturentwicklung erreichen läßt. HARTMANN dagegen ist der Ansicht, daß jeder Fortschritt der Kultur zwar möglicherweise eine Vermehrung der Lustquellen bewirken kann, dafür ber auch umso sicherer eine nicht nur entsprechende, sondern progressiv höhere Zunahme der Unlustquellen zur Folge hat. Denn jeder solcher Fortschritt der Kultur bezeichnet eine Steigerung des Bewußtseins, diese aber bringt es mit sich, daß die Jllusionen, auf welcen das Glück der Menschen zum großen Teil beruth, immer mehr und mehr durchschaut werden und so ihre lusterzeugene Kraft nach und nach einbüßen. Andererseits erfahren im Fortgang der Kulturentwicklung die Bedürfnisse und Ansprüche der Menschen eine beständige Steigerung, ohne daß jedoch die Möglichkeit, dieselben befriedigen zu könenn, damit gleichen Schritt hält. Aus diesen Gründen macht eine Erhöhung des Kulturniveaus den Menschen nicht glücklicher, sondern stets nur unglücklicher. Der verhältnismäßig glücklichste Zustand ist vielmehr nur auf einer möglichst niedrigen Kulturstufe zu finden. Wenn HARTMANN selber einerseits im Gegensatz hierzu die Förderung der Kultur befürwortet, so tut er dies nicht deshalb, weil er mittels dieser eine Erhöhung des eudämonologischen Niveaus für möglich hält, sondern einzig aus dem Grund, weil ihm dieser Weg als der einzige erscheint, um das von ihm angestrebte Endziel, die Aufhebung allen Seins überhaupt, zu erreichen. Erweist sich dieses Ziel nun, wie wir gesehen haben, als ein illusorisches, so verliert auch die Entwicklung der Kultur, welche nur als Mittel für dieses Endziel in Betracht kommen kann, jeglichen positiven eudämonologischen Wert und die einzige mögliche Art und Weie, das Glück der Menschen einigermaßen zu fördern, scheint nur noch in einem Hinarbeiten auf die möglichst schnelle Wiedervertierung derselben gefunden werden zu können. Wem infolge angeborener oder anerzogener Vorurteile dieses Ziel nicht erstrebenswert erscheint, der wird wohl überhaupt auf eine sittliche Betätigung verzichten müssen.

Besteht aber in der Tat der von HARTMANN angenommene diametrale Gegensatz zwischen dem Fortgang der Kultur und der Vermehrung der menschlichen Glückseligkeit?

Zuzugeben ist, daß beides keineswegs notwendigerweise Hand in Hand geht, sowie daß möglicherweise denn einen exakten Vergleich anzustellen sind wir hier nicht imstande - die Tiere und den Tieren nahestehende Völkerschaften sich glücklicher befinden mögen, als die zivilisierte Menschheit. Aber daraus folgt noch mitnichten daß nun auch die letztere auf den Standpunkt der ersteren zurückgedreht werden müßte. Denn selbst angenommen, daß der sogenannte Naturzustand des Menschen sein verhältnismäßig glücklichster Zustand ist, so bringt es doch die dem Menschen eigentümliche und ihn von den Tieren unterscheidende Natur mit sich, daß er - was zumindest bestimmte Rassen und Stämme betrifft - in diesem nicht dauernd verharren kann. Es ist einmal ein notwendiges Gesetz, daß sich die Bedürfnisse des Menschen im Laufe der Zeit steigern und daß auf diese Weise die Kultur immer weiter fortschreiten muß. Da diese Entwicklung keine künstlich gemachte, sondern eine ganz naturgemäß sich vollziehende ist, so muß sie bei einer jeden Rasse, die überhaupt entwicklungsfähig ist, unvermeidlich eintreten. Die gewaltsame Zurückführung des Naturzustandes würde daher, ganz abgesehen davon, daß sie mindestens der zu jener Zeit lebenden Generation, wie auch HARTMANN zugibt, und zwar nicht bloß den begünstigten Klassen derselben, ein unerträgliches Opfer zumutet, gar nichts nützen, da eben dieselbe Entwicklung dann doch wieder von vorn losgehen würde.

An und für sich braucht freilich eine Steigerung der Bedürfnisse und Ansprüche, selbst wenn denselben eine teilweise oder vollständige Befriedigung gewährt werden sollte, keineswegs auch eine Erhöhung des eudämonologischen Niveaus im Allgemeinen zu bedeuten, und daher hatte LASSALLE, wie HARTMANN bemerkt, vom sozial-eudämonistischen Standpunkt aus Unrecht, wenn er den deutschen Arbeitern ihre verhältnismäßige Bedürfnislosigkeit in Vergleich it den englischen und französischen Arbeitern zum Vorwurf machte, ja, er handelte geradezu frivol, indem er künstlich Bedürfnisse zu erregen suchte, ohne doch gleichzeitig die Befriedigung derselben garantieren zu können. Aber sind solche Bedürfnisse einmal vorhanden, so leistet doch derjenige, welcher ein Mittel zur Befriedigung derselben angibt, der Menschheit einen Dienst, vorausgesetzt natürlich, daß nicht höhere Interessen derselben verletzt werden. Eine Vermehrung des Glücks der Menschheit oder zumindest eine Verringerung der aus der Nichtbefriedigung von Bedürfnissen entspringenden Unlust und Steigerung der Kultur sind also keine Gegensätze, sondern fallen in gewissem Sinne zusammen.

Der Mensch mag sich also ruhig ander Förderung der Kulturentwicklung beteiligen in dem Bewußtsein, damit, wo er nicht das Glück seiner Mitmenschen vermehrt, so doch der Zunahme der sie bedrohenden Unlustgefühle entgegenzuarbeiten. Eine andere Frage ist, ob diese seine sittliche Tätigkeit imstande ist, ihm eine vollkommene Befriedigung zu gewähren und ihm für etwa fehldendes eigenes Glück Ersatz zu bieten. HARTMANN selber erkennt vollkommen an, wie ein im Dienste der Sittlichkeit verbrachtes Leben noch das verhältnismäßig erträglichste ist, wenngleich er bestreitet, daß dasselbe eine positives Glück zu gewähren vermag. Daß ein nur dem Wohl Anderer gewidmetes Leben unter Umständen eine volle Befriedigung zu gewähren imstande ist, wird sich aber kaum in Abrede stellen lassen, nur steht es nicht in der Macht eines Jeden, sich diese Befriedigung zu verschaffen. Denn dazu reicht der bloße Wille, sittlich zu handeln, nicht aus, es muß vielmehr noch ein gewisser äußerer Erfolg dieser sittlichen Tätigkeit hinzukommen, jener Erfolg aber hängt nicht vo Willen des Betreffenden ab, sondern erfordert die Mitwirkung noch anderer, von demselben unabhängiger innerer oder äußerer Faktoren, als da sind gewisse, von der Natur mitgegebene Anlagen und eine gewisse Gunst der äußeren Verhältnisse. Ein rein sittliches Leben kann ein glückliches sein, aber das Glück unter allen Umständen zu gewährleisten, dazu ist es allein nicht imstande. Das wird überhaupt dem Pessimismus zuzugeben sein, daß es ein Universalmittel, dessen Anwendung einem Jeden, sei es hier, sei es in einer anderen Welt, ein sicheres Glück in Aussicht stellt, nicht gibt. Die griechischen Philosophieschulen, welche fast sämtlich dem Menschen, der ihren Ratschlägen folgt, ein solches Glück verbürgen zu können glaubten, haben sich doch der Erkenntnis nicht verschließen können, daß das von ihnen empfohlene Mittel nur in einer mehr oder weniger vollständigen Abstumpfung gegen die dem Leben anhaftenden Unlustgefühle zu finden ist, daß aber auch dieses ansich rein negative Resultat sich nur dann erreichen läßt, wenn dementsprechend auch die Empfänglichkeit für die Lust auf ein Minimum heruntergebracht und so das menschliche Dasein jeden Wertes und jeden Inhalts entkleidet wird.

Damit soll aber keineswegs gesagt sein, daß nun niemand auf Glück zu rechnen hat, daß, wie der Pessimismus annimmt, in einem jeden Leben die Summe der Unlust diejenige der Lust notwendig überwiegen muß. Der Standhaftigkeit einer solchen allgemeinen Behauptung scheint vielmehr der Umstand entgegenzusteen, daß das Verhältnis von Lust- und Unlustgefühlen bei den verschiedenen Individuen je nach der Gestaltung ihrer äußeren Schicksale und der Beschaffenheit ihres Temperaments ein sehr verschiedenes ist. Namentlich die letztere im engeren Sinne subjektive Verschiedenheit der Individuen ist von HARTMANN nicht genügend berücksichtigt worden. Stattdessen begnügt er sich damit, die lusterzeugenden Objekte einer Untersuchung zu unterwerfen, und glaubt durch den Nachweis, daß die aus diesen entspringende Lust von dem mit ihrem Besitz oder dem Streben nach demselben untrennbar verknüpften Unlust immer oder doch in weitaus den meisten Fällen überwogen wird, das Überwiegen der Unlust im Allgemeinen dargetan zu haben. Allein ebendasselbe Objekt kann auf verschiedene Subjekte in ganz verschiedener Weise wirken. Freilich ist es richtig, daß bei gewissen äußeren Eindrücken die Empfindungen der von ihnen betroffenen Subjekte ganz oder doch nahezu gleiche sein müssen, wie z. B. die Berührung eines glühenden Eisens bei einem Jeden ein Schmerzgefühl hervorrufen muß. Aber auch in solchen Fällen kann derselbe Schmerz, der bei dem Einen ein unerträgliches Unlustgefühl hervorruft, bei dem Andern durch gleichzeitige seelische Empfindungen zurückgedrängt und überwogen werden. Verbrecher und Märtyrer haben, wenn sie gekreuzigt werden, unstreitig denselben physischen Schmerz zu erdulden, aber das Unlustgefühl des Ersteren ist darum doch weit intensiver, als das des Letzteren.

Andererseits scheint HARTMANN hinsichtlich seiner Beurteilung der lusterzeugenden Objekte der Vorwurf nicht erspart werden zu können, daß er den eudämonologischen Wert derselben nicht immer hoch genug angeschlagen hat. Insbesondere darf dieser Wert nicht nur danach bemessen werden, ob etwa der ruhige Besitz des betreffenden Objekts ansich eine positive Lust zu gewähren oder gar das Leben auszufüllen imstande ist. Vielmehr kann dieser Wert recht gut auch darin bestehen, daß das betreffende Objekt so beschaffen ist, um als Zielpunkt für eine auf die Gewinnung oder Verteidigung desselben gerichtete Tätigkeit dienen zu können. So will HARTMANN Güter wie Freiheit und auskömmliches Dasein nicht als Quellen positiver Lust anerkennen und bezeichnet dieselben gleichsam als den Bauhorizont des Daseins, der vorhanden sein muß, damit sich irgendeine positive Lust darauf aufbauen läßt. Aber zuzugeben, daß der ruhige Besitz dieser Güter wohl die Bedingung für die Erreichung positiver Lust bildet, diese Lust aber ansich nicht zu gewähren vermag, so kann doch das Streben nach einer Erlangung dieser Güter oder das Bemühen um die Verteidigung derselben mit Lust verbunden sein, insofern dasselbe eine zweckbestimmte Tätigkeit darstellt, welche imstande ist, das Leben bis zu einem gewissen Grad auszufüllen. Was das Leben ausfült, ist eben nicht der Besitz, sondern die auf diesen Besitz gerichtete Tätigkeit. Eben darin, daß sie das Leben ausfüllt, und zwar in einer Weise ausfüllt, daß dadurch das auf eine zweckbestimmte Tätigkeit gerichtete Bedürfnis des Menschen befriedigt wird, besteht auch der Wert der Arbeit, die als solche direkt Lust zu gewähren vermag, und nicht, wie HARTMANN geringschätzig meint, eine Unlust ist, die wir nur zur Vermeidung einer noch größeren Unlust auf uns nehmen. Was die Arbeit lustvoll macht, ist die sie begleitende Hoffnung, welche das durch sie erstrebt Ziel schon vorwegnimmt. Auch das erreichte Ziel wird uns freilich immer nur eine gewisse Zeit andauernde Befriedigung gewähren können, aber die Hoffnung ist darum doch keine Jllusion und die Arbeit keine zwecklose gewesen, insofern sie entweder einem vorhandenen oder drohenden Mangel entgegensteuert oder eine wirkliche, wenn auch nur eine gewisse Zeit andauernde Lust erzeugt hat. Ein Zustand, der uns nichts mehr zu wünschen und zu erstreben übrig läßt, der es uns ermöglicht, uns in alle Zukunft einem ungetrübten Genießen hinzugeben, ist eben undenkbar für den Einzelnen so gut wie für die gesamte Menschheit überhaupt. Am glücklichsten ist derjenige, vor dem nach der Erreichung des Ziels sich sogleich ein neues auftut, dem nachzustreben ihm lohnen und aussichtsvoll erscheint. Nicht der Besitz irgendeines Gutes, das hat einer der glücklichsten Menschen, welche über diese Erde gewandelt sind, das hat GOETHE durch den Mund seines  Faust  verkündet, vermag dem Menschen eine bleibende Befriedigung gewähren, sondern das fortwährende Streben nach einem solchen Besitz:
    "Im Weiterschreiten find' er Qual und Glück,
    Er, unbefriedigt jeden Augenblick."
Wenn nun der Pessimismus einwendet, daß ein solches beständiges Weiterstreben allerdings das einmal vorhandene Sein am besten auszufüllen geeignet ist, daß darum aber dieses ausgefüllte Sein doch keineswegs einen Vorzug vor dem Nichtsein zu haben braucht, so ist darauf zu erwidern, daß uns eben die Wahl zwischen Sein und Nichtsein nicht frei steht, sondern daß das Erstere etwas Gegebenes ist, mit dem wir uns, so gut es eben gehen will, abzufinden haben.
LITERATUR - Walter Ribbeck, Studien über den Pessimismus, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 9, Leipzig 1885