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OLGA PLÜMACHER
Der Pessimismus

"Das Wesen der Religiosität ist einerseits Abwendung von der empirischen Welt und dem natürlichen Leben aufgrund der pessimistischen Beschaffenheit der Welt und der Schwäche des Individuums, und andererseits Hingabe an die als real gelaubte  Idealwelt, die als Korrelat dieser unserer Welt gefordert wird."

"Die rohe Kraft, die im selben Grad nützlich erscheint wie sie einem Gegner zugewand gefährlich und verderblich werden kann, findet noch immer die volle Bewunderung der rohen Massen und erwirbt leicht Ehrfurcht, d. h. die Ehre der Furcht. Und die Bewunderung, die der Pöbel stets dem Reichtum (selbst wo dieser durch zweifelhafte Mittel erworben ist) nicht umhin kann entgegenzubringen (solange sein Neid durch die Verhältnisse zum bloßen Zähneknirschen verurteilt ist), beruth eben auf dem Bewußtsein, daß Reichtum Macht, für ihn unantastbare, unter Umständen vernichtende Macht ist."

"Aller Fortschritt wird durch die pessimistische Auflösung des ideal oder real Bestehenden eingeleitet. Auf dem Gebiet der Kunst nennt Richard Wagner das Genie den nie zufriedenen Geist, der stets auf Neues sinnt. Dies gilt nicht nur innerhalb der Kunst, sondern für alle Gebiete der allgemeinen Entwicklung durch das Vehikel des Menschengeistes und der Menschenkraft."


Vorwort

Die vorliegende Schrift will nichts sein als ein vorläufiger Ersatz der noch nicht geschriebenen "Geschichte des Pessimismus", welche eine Geschichte der Philosophie, eine Geschichte der Religionen, eine Kultur- und Literaturgeschichte umspannen müßte, wenn sie einerseits die zahlreichen Faktoren der Entstehung des Pessimismus und andererseits die Einwirkungen der pessimistischen Anschauungen auf die gesamten Kulturverhältnisse erschöpfend behandeln wollte. Ein solches Werk dürfte einer Zeit vorbehalten sein, wo die jetzt gerade so hochgehenden Wogen des Streits sich beruhigt haben. Dagegen scheint ein vorläufiger Ersatz eines solchen Werkes durchaus nicht überflüssig und zwar nicht  trotz  der in den letzten Jahren so zahlreich erschienenen Schriften über den Pessimismus, sondern gerade  wegen  derselben. Denn gerade diese Flut der Pessimismusliteratur verdunkelt die geschichtliche Kontinuität des modernen philosophischen Pessimismus mit den pessimistischen Geistesströmungen der Vergangenheit, und bekämpft dasjenige wie etwas subjektiv Willkürliches oder pathologisch Zufälliges, was das folgerichtige Produkt eines geschichtlichen Entwicklungsganges im Geistesleben der Menschheit ist. Diesen historischen Zusammenhang klar zu stellen und nachzuweisen, daß die letzterreichte Entwicklungsstufe des Pessimismus zugleich die höchste Gestalt desselben ist, welche die Mängel und Einseitigkeiten der bisherigen Stadien überwunden hat, ist die Aufgabe meines Buches.

Während früher der Pessimismus kaum einer wissenschaftlichen Beachtung gewürdigt wurde, bezeugt die massenhafte Pessimismus-Literatur der letzten 13 Jahre und die Heftigkeit, mit welcher der Streit geführt wird, daß die neueste Gestalt des philosophischen Pessimismus auch von den Gegnern desselben als eine Erscheinung von historischer Bedeutung erkannt worden ist; die neueste Reaktion gegen den Pessimismus ist selbst ein wichtiges Blatt in der Geschichte des Pessimismus, in welcher sie sichtlich einen kritischen Punkt bezeichnet. Der zweite Teil meiner Arbeit dient dem Zweck, eine sachlich geordnete Übersicht all der von den verschiedensten Gesichtspunkten aus geführten Angriffe gegen den Pessimismus zu gewähren und den Wert derselben zu prüfen. Es wird sich dabei ergeben, daß die Gegner des philosophischen Pessimismus wie seine historische Genesis, so auch seine Unterschiede von den früheren unvollkommenen Stufen bald in diesem bald in jenem Punkt verkennen. Die kritische Revue der neuesten um den Pessimismus geführten Streitigkeiten dürfter daher am besten geeignet sein, das wahre Wesen des modernen philosophischen Pessimismus sowohl in seinem historischen Zusammenhang mit, wie auch in seinen spezifischen Differenzen von allen früheren Entwicklungsphasen klar zu stellen. Zugleich dürfte sie manchem Leser zur bibliographischen Orientierung über einen mehr und mehr anwachsenden Zweig der philosophischen Literatur der Gegenwart willkommen sein.



Einleitung
1. "Pessimistisch" und "Pessimismus"

Der moderne philosophische Pessimismus, wie er zuerst von ARTHUR SCHOPENHAUER als unausscheidbares, organisches Glied eines geschlossenen philosophischen Systems hingestellt wurde und dessen hervorragendster Vertreter in der Gegenwart EDUARD von HARTMANN ist, bedeutet das axiologische Urteil:  die Summe der Unlust überwiegt die Summe der Lust; folglich wäre das Nichtsein der Welt besser als deren Sein. 

In dieser Form ist der Pessimismus innerhalb der okzidentalischen Philosophie eine  neue Idee,  die in der Folge zum Ausgangspunkt einer bisher nicht dagewesenen Richtung, sowohl der spekulativen Philosophie (Metaphysik), als auch der Ethik wird.

Das wesentlich neue Moment ist aber das, daß sich an das erste Urteil über das Bilanzverhältnis von Unlust und Lust, die Verurteilung des  Seins überhaupt  knüpft, fußend auf einer Auffassung des Seins, der Existenz, wonach  diese selbst  die Wurzel und der letzte Grund des Übels ist, und zweitens der Auffassung, welche den Begriff "Welt" als die Summe der Existenz (im Gegensatz zur Subsistenz [Substanz sein - wp]) versteht.

Betrachtet man dagegen die "Welt" als einen das Sein, die Existenz nicht erschöpfenden Begriff, versteht man also den Terminus "Pessimismus" nur als Repräsentanten des einfachen Satzes "es ist mehr Unlust als Lust in  dieser unserer  Welt", so ist der Pessimismus in diesem Sinne nichts Neues; vielmehr bildet er recht eigentlich den einen Pol der Geistesreligionen, also auch des Christentums. Außerdem bilden diejenigen Betrachtungen und Erfahrungen, aus deren Synthese das eudämonologisch negative Werturteil der Welt resultiert, den Untergrund, aus welchem die höheren Entwicklungformen des Geisteslebens und dessen kulturelle Niederschläge überhaupt hervorsprossen, und finden wir die Denkmäler des pessimistischen Bewußtseis so weit zurückreichend, als wir überhaupt das Geistesleben zu verfolgen imstande sind.

Bevor wir aber einen orientierenden Blick auf das Gebiet und die Wirkung der pessimistischen Seins- und Lebensbetrachtung werfen, ist eine Verbaldefinition der Terminie "Pessimismus" und "pessimistisch" geboten.

"Pessimismus" ist eine willkürliche Nachbildung zur Bezeichnung des Gegensatzes zum  Optimismus,  wie derselbe durch LEIBNIZ in die Philosophie eingeführt wurde. Die Behauptung der Welt als der  besten aller möglichen Welten,  hängt am brüchigen Faden des religiösen Dogmas von der Allweisheit und Allmacht eines persönlichen Schöpfergottes; die angebliche philosophische Begründung des LEIBNIZ durch den versuchten Nachweis der  reinen Negativität der Unlust,  ist so fadenscheinig, so sophistisch, daß sie wohl kaum noch viele Anhänger zählen wird. Auch die eifrigsten Optimisten versuchen heutzutage nicht mehr die Realität der Unlust anzutasten und ihr Lob der Welt ist vielmehr nur das "trotz alledem und alledem" usw. Der Superlativ des Terminismus "Optimismus" würde daher eigentlich korrekter durch den Komparativ (Meliorismus [Verbesserungslehre - wp]) ersetzt, indem doch weiter nichts als die Meinung ausgesprochen wird: daß die Weltexistenz eine zu Bejahende, das  Sein dem Nichtsein vorzuziehende  sei.

Daß nachdem die Existenz als solche bejaht wird, nun auch  diese  Existenzweise, die Welt mit ihren empirischen, physikalischen und psychologischen Gesetzen als die bestmögliche betont wird, enthält aber einen inneren Widerspruch.

Die Behauptung, daß unsere mit Übeln behaftete Welt, trotz dieser Übel die Bestmögliche ist, setzt voraus, daß das Prinzip der Realität ein so geartetes ist, daß es mit seiner Wirksamkeit (seiner Aktivität) eo ipso auch das Übel (als objektives Korrelat der Unlust) setzt, mittels der Beharrungstendenz der einzelnen Momente, wodurch  der Kampf  die recht eigentliche Urform der Existenz wird. Also nur,  wenn  erstens das Sein  überhaupt  bejaht und zweitens die  Unvermeidlichkeit  der Unlust zugestanden wird, nur dann kann die Welt ungeachtet der zugestandenen eudämonologischen Mängel als die "Beste aller möglichen Welten" bezeichnet werden, weil trotz der Notwendigkeit der Unlust noch schließlich ein überwiegend wertvolles Resultat herauszukommen scheint.

Das Prädikat der "Bestmöglichkeit" in Verbindung mit dem notgedrungenen Zugeständnis des Übels, wird aber zu einem  Armutszeugnis  für die Phantasie des Weltschöpfers. Einmal die  Möglichkeit  vorausgesetzt, daß eine Welt-Realität etwas anderes sein könnte als Willenserscheinung - der Wille ist das eigentliche Welt-Kampf-Prinzip - so ist nicht abzusehen, warum einer göttlichen Phantasie nicht eine Welt zu konstruieren eingefallen sein sollte, in welcher der positive Wert nicht nur  trotz  dessen Gegensatzes, sondern  absolut  ohne Abzug und Schmälerung durch das Übel und die Unlust erreicht worden wäre.

Durch dieses Bedenken erst wird das erfolglose Bemühen des LEIBNIZ, das Übel als etwas Unreales darzustellen, entschuldbar.

So kompliziert sich der Begriff des Optimismus gestaltet, mit dem des Pessimismus steht es noch schlimmer. Beim Optimismus liegt wenigstens  die Absicht vor,  daß der Terminus  verbal wahr  ist; dagegen  meinen  die Pessimisten nicht eigentlich was sie mit dem Superlativ "Pessimismus" aussagen.

Die Pessimisten bekennen sich nämlich zum  Willen als Prinzip der Realität.  Das Willensprinzip aber, obgleich es auch Prinzip der Unlust ist, garantiert auch die unmittelbare relative Berechtigung der Welt; denn  die Welt ist erfüllter Wille zur Existenz.  Mag sie so schlecht sein wie sie will, sie hat doch die relative Berechtigung, der einen Seite der ewigen Natur des in ihr Wesenden genug zu tun; sie ist mit all ihrem Elend die Erfüllung des Willens, der wollen will um jeden Preis. SCHOPENHAUER ist zwar geneigt den Terminus verbal zu nehmen: als Pendant zu LEIBNIZ, der die Unlust als bloße Negation der Lust darstellt, macht er den ebenso verfehlten Versuch, die Unlust für das  allein Positive,  und die Lust für deren Negation zu erklären. Die Erfahrung eines Jeden widerspricht dieser Theorie ebenso sehr, wie ihrem optimistischen Antipoden, ebenso widerspricht ihr die Reflexion über die Natur der ästhetischen Lust, und es liegt auf der Hand, daß, wenn man die Bezeichnung "negativ" und "positiv" für Gemütszuständlichkeiten der Lust und Unlust anwenden will, dies nur in dem Sinne geschehen kann, wie HARTMANN (1) sie gebraucht: nämlich so, daß beiden im  gleichen Maß Realität  zukommt, und die Bezeichnung nur benützt wird, um ihre Stellung im Verhältnis zum "Nullpunkt der Empfindung" (Schmerz- und Lustfreiheit) zu fixieren.

SCHOPENHAUER nimmt zwar auch einen Anlauf den Wortsinn des Standardwortes auf diese Weise zu retten, daß er aufzuzeigen versucht, daß das Naturdasein dieser Welt nur eben notdürftigt zusammenhält, und daß wenn die Welt noch ein bißchen schlechter wäre, sie ganz in die Brüche ginge.

Das Natursein ist aber das sich immer wieder herstellende Gleichgewicht der gesamten Naturkräfte; die Welt schwebt auf dem Gleichgewichtspunkt der jeweiligen Anpassung ihrer konstituierenden Elementarkräfte und der Begriff des Gleichgewichts hat keinen Komparativ [Steigerungsstufe - wp]. - Die betreffende Stelle ist übrigens auch bei SCHOPENHAUER im Gegensatz zu seiner sonstigen Naturanschauung, die durchaus teleologisch ist, und die, auch über die Anerkennung der Zweckmäßigkeit hinaus, durch die  ästhetische  Betrachtungsweise verklärt wird.

So bedeutet dann auch bei SCHOPENHAUER "Pessimismus" nichts anderes als "die Welt ist etwas, was vernünftigerweise besser nicht wäre, weil sie dem Empfindungssubjekt mehr Unlust als Lust verursacht."

Bei HARTMANN kommt es nun zu vollen Explikation dieser unterschiedenen pessimistischen Momente, die sich ergeben aus dem Verhältnis der Welt einerseits zum  empfindenden,  andererseits zum  logisch  und  ästhetisch beurteilenden  Subjekt.

HARTMANN nennt seinen Pessimismus den  eudämonologischen,  in welchem noch Raum ist für einen  evolutionären Optimismus,  d. h. für die Anschauung, daß vermöge der  Logizität  des reinen Formalprinzips gewisse natürliche und soziale Verhältnisse sich zu  wertvolleren  entwickeln können; gegensätzlich zu SCHOPENHAUER, dessen Weltanschauung eine durchaus unhistorische, alle Entwicklung nur für Schein erklärende ist.

Es ist nun leicht zu erkennen, wie die beiden Termini "Optimismus" und "Pessimismus" im Zeitbewußtsein ihrer ursprünglichen Bedeutung  entfremdet  worden sind. Besonders sind es die adverbialen und adjektivischen Formen, in welchen der Begriff  verflacht  wurde.

Während der philosophische Pessimismus SCHOPENHAUERs und HARTMANNs und einiger aus der SCHOPENHAUER'schen Schule stammender Denker noch immer erst die Gesinnung einer  relativ  kleinen Zahl der Gebildeten darstellt und noch beständig von den Vertretern optimistischer Weltanschauungen angefochten wird, ist das Adverb und Adjektiv "pessimistisch" in Jedermanns Mund und wird auf alle möglichen kulturellen Zustände angewandt. In der nichtphilosophischen Sprache des allgemeinen Verkehrs, im Zeitungsjargon und in der Salonsprache bezeichnet "pessimistische Anschauungsweise oder Auffassung" nichts anderes, als entweder eine persönliche Neigung sich vorzugsweise mit den Mängeln und Schattenseiten irgenwelcher Zustände und Geschehnisse zu befassen, oder auch den Mangel des Glaubens an die Verbesserungsfähigkeit gewisser Gestaltungen innerhalb des sozialen oder natürlichen lokalen Lebens. Im ersten Sinn ist es nur eine Veranlagung und eine Betätigungsweise, die zwar zum philosophischen Pessimismus disponiert macht, aber noch nicht notwendig dazu führt; im zweiten Sinne ist es ein untergeordnetes Moment gewisser Formen des Pessimismus. Indem nun sekundär aus dem Adverb und Adjektiv wieder ein Substantiv gebildet wird, ist damit die Gelegenheit zu jenen variantenreichen Verwechslungen zwischen letzteren mangelhaft konstruierten Begriffen und dem Begriff des  philosophischen Pessimismus  geschaffen. Diese Verwechslungen werden nicht nur von Laien, sondern von Philosophen und Kritikern vom Fach geübt, und die Inkonsequenzen des zum philosophischen Pessimismus bloß die  Vor- und Nebenstation  bildenden Standpunkten des Pseudo-Pessimismus dem ersteren in die Schuhe geschoben.

Solcher Vor- und Nebenstationen des philosophischen Pessimismus sind vor allem der  Weltschmerz  und der "Entrüstungspessimismus" des Sozialismus.

Der Weltschmerz ist ein Pessimismus der das eigene Ich als Weltzentrum setzt und als solches beklagt, oder seinen Jammer als Weltjammer empfindet; er ist lyrisch-poetisch und nicht philosophisch. Denn der philosophischen Betrachtungsweise ist das eigene Ich nur ein Objekt unter anderen Objekten; die Philosophie führt aus dem Ich heraus, während der lyrischen Poesie sich alles ins Empfindungssubjekt, als dem poetischen Weltspiegel, konzentriert.

Der Entrüstungspessimismus dagegen ist nicht philosophisch, weil die Philosophie, als das reine Streben nach Objektivität, keinen Raum für die Entrüstung hat. Der "Philosoph" kann sich allerdings entrüstet fühlen, aber nicht  als Philosoph,  sondern als Mensch in seiner Eigenschaft als moralisch, ästhetisch, religiös, human, patriotisch usw. empfindendes und anschauendes Subjekt, welche Empfindungen und Anschauungen ihm aber erst das Material bietet, an dem er sich nunmehr als Philosoph betätigen kann.

Der Entrüstungspessimismu setzt außerhalb seiner Sphäre und dieselbe umschließend einen Optimismus voraus; denn nur über dasjenige kann man sich entrüsten, was man als ein relativ Zufälliges und Willkürliches, und mithin Korrigierbares erachtet, wie es sich deutlich beim Entrüstungspessimismus der Sozialdemokratie zeigt. Derselbe ist  materieller  Optimismus, denn er schreibt den materiellen Gütern einen positiven und eudämonologischen Wert zu, und er ist anthropologischer Optimismus, denn er sieht im menschlichen Leben als solchem ein eudämonologisch Wertvolles, dessen Wert nur dadurch geschmälert wird, daß durch willkürliche Kraftäußerungen die gleichmäßige Verteilung der materiellen Werte gestört ist.

Der Entrüstungspessimismus hält sich an einen begrenzten Komplex von Weltelendssymptomen, und weil er dessen einzelne, isolierte Momente innerhalb begrenzter Zeit- und Raumabschnitte heben kann, so glaubt er, daß der ganze Komplex auch auf die Dauer gehoben werden kann, und entrüstet sich, daß es nicht geschieht. Der soziale Entrüstungspessimismus ist also eine Abzweigung des  sittlichen  Entrüstungspessimismus, denn er sieht mit letzterem die Ursache dazu, daß er sich gezwungen findet Pessimismus zu sein, in der Unterlassung und dem Mangel gewisser Betätigungen und organisatorischen Schöpfungen, die er für sittlich geboten erachtet. Der sittliche Entrüstungspessimismus schließlich tritt seinerseits wieder in Berührung mit dem  religiösen  Pessimismus, der ebenfalls in der kreatürlichen Willkür der Sünde die Wurzel und Ursache des Weltleides sieht. Jedoch gilt dem letzteren die Sünde als idealiter überwunden, nämlich im "Glauben", und demgemäß auch das noch vorhandene Naturübel als relativ nicht mehr vorhanden, d. h.  machtlos  gegen die "Glückseligkeit in der Hoffnung". Alle diese verschiedenen Formen eines partiellen Pessimismus haben die  Opposition  gegen den  philosophischen Pessimismus  gemein: natürlich nicht sofern dieser ihre eigenen Entrüstungsobjekte als Induktionsmaterial in Betracht zieht, sondern sofern er den ihren Hintergrund bildenden  Optimismus  untergräbt, indem er die Ursachen des allseitig zugestandenen Übels als in solchen Tifen des Seins wurzelnde nachweist, daß sie allen Reforbestrebungen unzugänglich erscheinen und die letzten Prinzipien der jeweiligen gegnerischen Weltanschauung über den Haufen werfen.

In den folgenden Blättern werden die verschiedenen Gestaltungen der pessimistischen Betrachtungsweise zu einer detaillierten Erörterung kommen, so daß die hier vorläufig nur nach den Hauptmerkmalen skizzierten Unterscheidungen ihre Begründung finden und hoffentlich vollkommen zur Klarheit gelangen werden. Vorläufig dürfte das Gesagte genügen, um unseren Gebrauch der Termini "pessimistisch" und "Pessimismus" vor einer irrtümlichen Auffassung zu schützen.

Den modernen Pessimismus also, wie er von SCHOPENHAUER als philosophisch begründet aufgestellt wurde und von EDUARD von HARTMANN, sowie, zwar mit wesentlichen Modifikationen aber ebenfalls im Anschluß an SCHOPENHAUER, von JULIUS BAHNSEN, PHILIPP MAINLÄNDER, E. DEUSSEN und anderen vertreten wird, nennen wir in der Folge stets den  "philosophischen Pessimismus",  und wollen damit das  Doppelurteil  verstanden wissen:  Die Summe der Unlust überwiegt im Sein die Summe der Lust, daher das Sein besser nicht wäre. 

"Pessimistisch" (adverbial und adjektivisch) gebrauchen wir im landläufigen Sinn der modernen Sprechweise: als Bezeichnung für die  Reflexion  auf das  Leid  und das  Übel schlechthin.  Wo die Reflexion sich zu einem synthetischen Urteil gestaltet, mithin zu einem ideell-objektiven Gebilde verdichtet, welches als  Motiv  des praktischen natürlichen und sittlichen Handelns, der theoretischen Gestaltung und der religiösen Postulierung zu wirken vermag, da müssen auch wir das Substantivum "Pessimismus" gebrauchen (wenn wir nämlich nicht für solche pessimistische Formen bereits spezielle Bezeichnungen vorfinden, wie "Weltschmerz", "contemtus mundi" usw.); wir werden dabei aber dem Leser mit einem Adjektiv zu Hilfe kommen, das sich auf diejenigen Objekte bezieht, welche im vorliegenden Fall der pessimistischen Reflexion besonders unterliegen. Dadurch mag es dem Leser leichter werden, sich stets gegenwärtig zu halten, daß wir am Wort "Pessimismus" nur eine Schale, ein  Zeichen  haben, welches wir nur aus Not gebrauchen, weil es uns an einem positiven, dem damit zu deckenden Begriff angemessenen verbalen Gebilde mangelt.


2. Die pessimistische Seinsbetrachtung und ihre
Wirkung auf die religiöse und kulturelle Entwicklung

Das Wesen der Religiosität ist einerseits Abwendung von der empirischen Welt und dem natürlichen Leben aufgrund der pessimistischen Beschaffenheit der Welt und der Schwäche des Individuums, und andererseits Hingabe an die als  real gelaubte  Idealwelt, die als Korrelat dieser "unserer Welt" gefordert wird. So ist die pessimistische Erkenntnis von der Unsicherheit des menschlichen Lebens und der Unfähigkeit, dieses und die Güter in dessen Diensten zu sichern und festzuhalten, das beängstigende Gefühl der "schlechthinnigen Abhängigkeit" (SCHLEIERMACHER), der "Druck der Unendlichkeit" (FRIEDRICH MAX MÜLLER) die Bedingung und der Wurzelgrund aller religiösen Entwicklung. Aber die pessimistische Erkenntnis ist das  Sprungbrett,  das, in dem es zum Sprung hilft, gleichzeitig  zurückgeschleudert  wird. Indem die im "Dienst" des religiösen Bedürfnisses tätige Phantasie die Götter produzierte und zwar entsprechend dem Urwollen des Menschen, als die Lebenssichern- und Glück gewähren -Könnenden, sobald der Wille im Glauben Besitz genommen hat von diesen selbstgeschaffenen Wesen, so gewinnt die Welt ein anderes Ansehen. Ihr Haupt- und Urschrecken: die Unbeherrschbarkeit der in ihr wahrnehmbaren Kräfte ist dahin, oder doch ganz erheblich gemindert. Indem der Mensch es in seine Hand gegeben glaubt, die Götter zu bestimmen ihm "das Beste" zu gewähren, so ist die Welt nun das sein Wollen Erfüllende, und es wird vom frommen Gemüt nur der mangelnden Einsicht in den Ratschluß der Götter zugeschrieben, wenn es Anderen, oder in schwacher Stunde ihm selbst, nicht immer so erscheinen will. Jede Religion ist daher  als solche optimistisch,  aber umso optimistischer als Religion, je  energischer die Weltverachtung  in ihr betont ist. Denn je mehr die Schatten der Welt erkannt und gescheut werden, umso rückhaltloser wird die Hingabe an die transzendenten Ergänzungen sein, umso energischer wirkt deren mythologische Gestaltung an der Umgestaltung der empirischen Welt mit.

Wir müssen eben wohl unterscheiden zwischen  Religiosität  und  Religion.  Die erstere ist wesentlich  Sehnsucht  nach vollkommenster und ungehindertster Auswirkung des Lebens und damit Abwendung von der empirischen Welt, als einer diese Sehnsucht nicht erfüllenden, und die Forderung und ideelle Hervorbringung der Abhilfe mittels außerempirischer Mächte.

Hierbei ist es gleichgültig, ob das empfundene Ungenügen für den Menschen auf den unteren Stufen der Entwicklung die materielle Lebensgefährdung ist, oder auf höherer und höchster Kulturstufe jene unstillbare, undefinierbare Sehnsucht, die Sehnsucht des Endlichen zum Unendlichen, des Einzelnen in der Vielheit zur Einheit, welche erst dann klar und unverhüllt hervorzutreten vermag, wenn die äußere, materielle Not durch ein günstiges Zusammenwirken der Naturverhältnisse und der Kultur (dieser Natur in zweiter Potenz) zurückgedämmt ist.

Die  Religion  dagegen ist der objektivierte Niederschlag des religiösen Vorganges; sie ist die  erfolgte Antwort  auf das Postulat. Im weitesten Sinne des Begriffs "Erlösung" ist jede  wirkliche  Religion, d. h. jede Religion, die der Niederschlag einer religiösen Gefühlsentwicklung und nicht bloß Produkt der im Dienst eines theoretischen Bedürfnisses stehenden mythologisierenden Phantasie ist,  Erlösungsreligion,  und als solche optimistisch, weil sie das geglaubte Wissen ist von denjenigen Mächten, welche das Übel, das zur religiösen Weltentfremdung führt, aufzuheben vermögen, samt dem Wissen von den  Mitteln,  um diese Mächte in die gewünschte Aktion zu bringen. Sobald die religiöse Betätigung durch die Fixierung eines Dogmas ihre jeweilige Befriedigung gefunden hat, also zur Religion geworden ist, so schließt sie also nunmehr trotz ihres pessimistischen Wurzelgrundes den  Pessimismus  vorläufig aus, und das Beharren bei demselben muß als  Ketzerei  erscheinen. So ergibt sich aus der Natur der Religion heraus erstens der eigentümliche  Kampf  zwischen Optimismus und  Pessimismus  innerhalb ihrer Entwicklungsgeschichte, und zweitens die von den modernen Optimisten im Streit gegen den modernen Pessimismus geltend gemachte Tatsache: daß die Denkmäler pessimistischer Weltbetrachtung innerhalb der Religionsliteratur so  verhältnismäßig  selten sind.

Die pessimistische Betrachtung wird aber, außer daß sie den ersten Impuls zur anhebenden religiösen Betätigung gibt, auch die  Triebkraft  zur  Weiterentwicklung  der Dogmen, indem sie entweder das empirische Gebiet, das ihrer Betrachtung unterliegt, erweitert, so daß es von den bestehenden Religionsgebilden nicht mehr gedeckt wird, oder indem sie sich  zersetzend  auf die Gestaltungen und Charaktere des Mythos selbst wirft.

Mit dem erweiterten und vertieften pessimistischen Bewußtsein tritt der  Zweifel  an das vorgefundene Objekt des Glaubens und der religiösen Hingabe, und die Unlust des Zweifels treibt nun wieder an zum Versuch der Überwindung des Widerspruchs zwischen dem Geforderten und dem Vorgefundenen. Wenn also manche zeitgenössische Bekämpfer des modernen Pessimismus diesen als den Untergraber der Religion denunzieren, so hat dies nur dann einen Sinn, wenn sie die Religiosität identifizieren mit einer bestimmten  Religionsform,  in unserem Fall mit dem Christentum. Des Letzteren fundamentale Dogmen halten allerdings nicht Stand gegen die Positionen des modernen Pessimismus, sondern es zeigen sich Widersprüche, deren Lösung nur durch die Sprengung des Dogmensystems möglich ist. Dagegen ist die Religiosität nicht nur nicht gefährdet, sondern die Bedingung zur Besitzergreifung derselben durch das Individuum ist damit erst recht gegeben, sobald man unterscheidet zwischen Religiosität als  Sehnsucht nach dem Unendlichen  und den unter dieser Anregung entstandenen Glaubensobjekten.

Eine Jllustration zu der Ansicht, daß die erweiterte Sphäre des pessimistischen Bewußtseins zur Triebfeder der Erweiterung der religiösen Formation wird, bietet das Buch HIOB; dann aber auch die christliche  Gnosis,  nach der Seite hin, wo die  monistischen  ihrer Systeme sich mühen, das  Übel  aus dem Einen, obersten Prinzip heraus zu erklären, wobei in erster Linie die Position des jüdischen und christlichen Gottesbegriffs erschüttert wird.

Es ist aber die Religion nicht allein das Produkt der Sehnsucht des beschränkten Einzelnen nach dem Unbeschränkten und Unendlichen, sowie der auf das Verlangen mit ihren Gebilden antwortenden Phantasie, sondern auch das einer gewissen Stufe der geistigen Entwicklung entsprechende Resultat des  theoretischen Verlangens  nach Erkenntnis des überempirischen Zusammenhangs der Welterscheinungen.

Das theoretische Moment fehlt in keinem die Norm seiner Gattung erreichenden Menschen gänzlich, so gewaltig auch der Spielraum ist zwischen seinen niedrigsten und höchsten Graden.

Man könnte den theoretischen Trieb vielleicht eine Weiterentwicklung des Kausalitätsgesetzes unseres Intellekts nennen: emporgewachsen aus den unbewußten Tiefen der Seele, in der jenes sich betätigt, hinauf in die beleuchtete Sphäre des Intellekts, wo dieser nun mit  bewußtem  Willen des Erkennens, die von jenem  instinktiv ergriffene Außenwelt  zu umfassen strebt.

Schon PLATO nannte die Verwunderung die Mutter der Philosophie. Die Objekte aber, welche den jugendlichen Menschengeist zur theoretischen Verwunderung hinreißen, sind zum Teil dieselben, die auch die religiöse Gemütsbewegung erregen. Nicht das Objekt unterscheidet uranfänglich die keimende Philosophie und Religionstätigkeit, sondern die Fakultäten der Psyche, die an ihm zur Betätigung kommen. In einem Fall folgt der Sensation eine Abschätzung derselben für das Ich; die Reflexion bleibt wesentlich unter der Herrschaft des Gefühls-Ich; das Subjekt bleibt in sich, setzt sich ins Zentrum der Anschauung. Im anderen Fall bleibt die primäre, mit jedem Bewußtseinsakt eo ipso [schlechthin - wp] gegebene Innerlichkeit unreflektiert; die Reflexion geht unmittelbar auf das Objekt, das Subjekt gibt sich auf in der Außenwelt, die  Vorgänge sind für sich selbst da.  Die Philosophie in ihren ersten Anfängen ist aber auch noch die Einheit von den sich später spezialisierenden Wissenschaften der Natur einerseits und andererseits der Metaphysik im weitesten Sinne, als dem Wissen von dem dem empirischen Sein transzendent Existierenden. Der theoretische Trieb, das Verlangen nach Wissen um des Wissens willen, gesellt sich nun insofern wieder sekundär zum religiösen Trieb, als es mit der den Mythos schaffenden Phantasie zusammenarbeitet; und zwar ist das Verhältnis ein doppeltes. Zum einen bietet die wirkliche oder vermeintliche Weltkenntnis der Phantasie einzelne Formelemente zu ihren in die Transzendenz hinausprojizierten Gebilden; zum andern aber ist es auch wieder die Phantasie, die, wo das theoretische Erkennenwollen das jeweilige Gebiet der Empirie überschreiten möchte, eintreten muß, um aufgrund der apriorischen Denkformen aus den empirischen Momenten ein transzendent ergänztes, abgerundetes Weltbild zu schaffen.

Jede einigermaßen ausgebildete Religion enthält auch eine theoretische Weltanschauung im Umriß, welche bei erst lückenhaft entwickelter Wissenschaft gleichzeitig den einzelnen Disziplinen derselben zum Rahmen dient. Bei selbständiger Höherbildung der rein theoretischen Forschung tritt dann ein Moment ein, wo der Rahmen der religiösen Weltanschauung die Wissenschaft nicht mehr zu halten vermag, sondern von dieser zersprengt wird. Mit diesem Kampf zwischen theoretischem Wissen und dem religiösen Dogma ist nun wieder vom Standpunkt des letzteren ein pessimistisches Moment gegeben, denn ohne ein Einschleichen des Zweifels in die Glaubenskreise geht es dabei nicht ab. Damit aber wird der Inhalt der Dogmen selbst ein Objekt pessimistisch-zersetzender Betrachtung und das religiöse Gefühl muß neue Glaubensgebilde postulieren, welche mit den jeweiligen Errungenschaften des theoretischen Wissens wenigstens nicht in so offenem Widerspruch stehen, wie die durch den Zweifel zersetzten.



In den Göttergestalten wie in den Götter- und Weltmythen ist der Einfluß des Pessimismus deutlich erkennbar. Die  Schwäche  der Kreatur ist der erste pessimistische Einheitsbegriff. Im Gegensatz hierzu ist es die über Leben und Tod, Werden und Vergehen herrschende  Macht  (gleichviel, wie roh und verderblich erfunden), welche die sehnsuchtsvolle Bewunderung und Ehrfurcht erweckt. (2)

Ein Moloch, eine Aschera mit ihren blutigen, greuelvollen Kultuen wäre unverständlich, wenn nicht die ältesten Götter dies nicht eben nur wären als die überwältigende Macht. Erst später wurde die Gottheit das (anthropomorphisch-formulierte und durch doppelte Negation gewonnene) Ideal weiterer Eigenschaften, nachdem sich der Begriff des Guten in die Vielheit seiner Formen auseinander zu legen begann, während es anfänglich nichts war als die das Leben frei beherrschen und garantieren könnende Macht.

Im Götter- und Weltmythos aber ist es die Kampfnatur allen Seins, welches als nächst bedeutsames Moment der pessimistischen Einsicht formgebend wurde.

Das pessimistische Bewußtsein erkannte das Leben als einen Kampf und es projizierte die Phantasie diesen auch in die Transzendenz der Götterexistenz hinaus. Dabei ist es für den Grad des pessimistischen Bewußtseins nicht gleichgültig, welche Stellung der Götterkampf  zur Zeit  einnimmt.

In der  griechischen  Mythologie sind die Titanen geschlagen; die intelligenten Mächte haben gesieht über die im blinden Drang und brutaler Überkraft existierenden Elementarwesen. Die ältesten pelasgischen Kultusgötter sind bereits die siegreichen Götter und somit ist der griechischen Religion zum allgemein optimistischen Charakter, der einer jeden naturwüchsigen Religion eigen ist, noch ein besonderes optimistisches Merkmal zugesellt. Das in die Götter hineingedachte Siegesgefühl ist der Reflex des siegesgewissen Gestaltungstriebes, des sich allmählich zur nationalen Einheit und nationalen Kultur entwickelnden Volksgeistes. Man übersieht die Mängel seiner Welt, im Glauben sie zu beherrschen; weil vieles gelingt, scheint alles erreichbar.

In den  iranischen  Mythen und der aus der iranischen Naturreligion sich entwickelnden Lehre des ZARATHUSTRA ist der Kampf zwischen guten und bösen Mächten ein  bestehender.  Die Götter stehen nicht, wie die der Griechen, in heiterer, siegesfroher Ruhe über der Welt (so wenigstens dem anschauenden Geist einen erquicklichen Ruhepunkt gewährend), sondern der irdische Kampf in Natur und Menschenleben ist nur der Widerschein und die sekundäre Wirkung desjenigen im Götterreich. Diese Anschauung entspricht und entspringt einer düsteren Welt- und Lebensbetrachtung. Während aber die griechischen Götter dadurch, daß sie in ihrer Siegesruhe der Menschen nicht bedürfen, ineinem so weltabgelösten Zustand zu denken sind, daß die Menschen einsehen lernen, daß auch sie ihrerseits von den Göttern nichts zu hoffen haben, diese sie folglich sehr wenig angehen und kümmern (prinzipiell von EPIKUR ausgesprochen), so ist hingegen die iranische Idee des Kampfes zwischen den guten und bösen Mächten unendlich viel günstiger, sowohl der Intensität des religiösen Gefühls, als besonders auch der Kräftigung des ethischen Bewußtseins. Der Mensch ist nicht allein das Objekt der Tücke der bösen Mächte, die ihn als Geschöpf der Lichtmacht verfolgen, sondern er ist auch Kämpfer im Dienst des guten Prinzips, und wo er dem Bösen etwas abringt, indem er etwas Schlimmes zum Guten wendet, gleichviel ob es in der Natur geschieht durch einen arbeitkrönenden Sieg über ungünstige Bodenverhältnisse (über Dürre, Versandung usw.), oder im eigenen Herzen durch Besiegung der bösen Lust, immer dient er damit nicht nur sich selbst, sondern seinem guten Gott. Durch diese Einheit der Interessen von Gott und Mensch wird der selbstsüchtige Charakter der Naturreligion veredelt zum Ethizismus. Jeder auf egoistischen, eudämonologischen Postulaten fußende Götterglaube, der seine Götter außerhalb der Sphäre der die Sehnsucht und das Bedürfnis nach ihnen und ihrem Schutz gebührenden Not setzt, wird, wie er durch das pessimistische Bewußtsein geschaffen wurde, auch wieder durch dasselbe gefährdet, sobald letzteres seine Sphäre erweitert; nicht so ein Glaube, der die Götter (oder die Gottheit) für mit in die Not des Lebens und den Kampf gegen das Böse verwickelt erachtet; da wird die Einsicht über die Größe des drohenden Unheils dazu beitragen, daß der Mensch sich umso enger an seine Kampfführer anschließt, ähnlich wie auch ein Volk, welches sich von einem Feind von außen bedroht sieht, sich umso fester mit seinem Herrscherhaus verbunden fühlt.

Auch in den alten  indischen  Mythen, bevor diese vom philosophischen Brahmanismus absorbiert wurden, ist die Welt ein Kampfplatz der guten und verderblichen Naturgötter. Dabei wird aber die Lebensanschauung immer düsterer, bis schließlich die brahmanische Spekulation das ganze Sein inklusive die Götter (das unpersönliche überseiende Brahm ausgenommen) als das Nichtseinsollende verurteilte, wodurch die Religiosität also nicht nur eine  partielle Weltverneinung  zum Zweck der Gewinnung einer "besseren Welt", sondern positive  Daseinsverneinung  wurde.

In der  nordischen  Mythologie sehen wir schließlich den Kampf in der Zukunft; die Götter finden samt der Welt ihren Untergang.

Nur aus einer tief pessimistischen Stimmung konnte jene Lebens- und Todesverachtung und Kampffreudigkeit erwachsen, die Kampf und Wunden auch noch in das Jenseits hinaussetzt; nur aus schmerzlichster Überzeugung heraus, daß Dasein und Leben unvermeidlich nicht nur mit der Not, sondern auch mit der  Schuld  verknüpft sind, konnte der Mythos von der Götterdämmerung hervorgehen. Nur aufgrund einer das Leben in seiner unausweichbaren Schmerzhaftigkeit erkennenden Weltanschauung konnte sich das tragische Genügen an einer Walhalla entwickeln, deren Herrlichkeit darin gipfelt, daß ihre Bewohner mit den Göttern am letzten Kampf teilnehmen dürfen, mit ihnen kämpfen dürfen, um mit ihnen unterzugehen (3). In der nordischen Mythologie hat also bereits der fundamentale Umschlag stattgefunden: von der eudämonologischen Religiosität zum tragischen Verzicht auf die egostischen Instinkte zugunsten der vergöttlichten Idee der Erhabenheit und des (in diesem speziellen Fall nur relativen) sittlichen Ideals.



Was nun die Rolle des pessimistischen Bewußtseins bei der Entwicklung des  sittlichen  Bewußtseins anbelangt, so ist dieselbe eine sehr komplizierte, und in ihren Hin- und Herzügen schwierig zu verfolgende und nachzuweisende, aber unzweifelhaft wirksame. Es sind ja gerade die  Optimisten,  welche die tadellose Beschaffenheit der Welt auch dadurch nachzuweisen suchen, daß sie auf die  Notwendigkeit der Übel  hinweisen, ohne deren Gegensätzlichkeit das sittlich Gute nicht wäre. Es ist aber das Übel in diesem Sinne und in dieser Funktion nur vorhanden, sofern auf die Mängel des Daseins reflektiert wird; unmittelbar empfundene Unlust, verursacht durch Naturwirkungen oder Übergriffe des Selbsterhaltungstriebs des Nächsten ist sittlich unfruchtbar; erst durch die zusammenfassende Reflexion und abstrakte Verallgemeinerung derselben wird sie (in Verbindung mit den zur Natur des Menschen gehörenden sittlichen Trieben) zum Motiv, durch die Negation des Übels und des Bösen hindurch zu der gegensätzlichen Position des sittlich Guten fortzuschreiten.

Was das Leben erhält und seine Sicherung und Förderung begünstigt ist das natürlich Gute, und was das Leben gefährdet ist das natürlich Böse. Indem die dem primitiven und eudämonologischen Verlangen entsprechenden Naturgottheiten ihrem Verehrer gnädig gesinnt sind, so erscheint die diesen letzteren fördernde Handlung seines Nächsten auch in den Augen der Gottheit als gut, während die ihn schädigende auch dem Willen des ihm günstigen Gottes zuwider ist; so wird das Böse zur Sünde. Das heißt also: Der Mensch setzt sich dem ihm aufgehenden Begriff von Gut und Böse zu weiterer Reflexion dadurch gegenüber, daß er das Urteil über eine Tat oder einen Vorgang in das Bewußtsein seiner Gottheit hinausprojiziiert.

Nun ist aber die Gottheit nicht nur  seine  Gottheit - wenn auch dies in erster Linie (4) - sondern auch der seiner Angehörigen und Stammesgenossen, mithin wird auch seine Tat, wenn sie den von der Gottheit protegierten Nächsten schädigt, zur Sünde, und dieser Begriff, den nunmehr ein Jeder auf sein übergreifendes Tun anwenden muß, wird zum Schutz seines Mitmenschen, da wo dieser zu entfernt steht, um unmittelbar durch die Aktion der zu Triebfedern der Sittlichkeit bestimmten Instinkte des Gattungswohles vor den egoistischen Ausschreitungen geschützt zu sein.

Was dem Menschen Gutes geschieht durch den Menschen, geschieht ihm in erster Linie durch das Aktivwerden der sittlichen Instinkte: der Liebe, des Mitleids, der tatkräftig werdenden Dankbarkeit und Pietät. Diese Triebe sind also recht eigentlich das Gute, ihr Mangel das Böse. Mit der religiösen Gestaltung der Begriffe gut und böse, als "gerecht" und sündig", entwickelt sich nun auch der  sittliche  Begriff. Gut ist, was mir selbst oder einem Anderen, dem ich mitfühlend nahe trete, wohl tut, böse ist, was schädigt. Die Handlung, welche die Wirkung  beabsichtigt,  wird nun selbst gut oder böse, und zwar abgesehen von der realen Wirkung, und auch wenn diese durch äußere Umstände einzutreten behindert ist. Wird nun bloß auf den Begriff gut und böse in diesem letzteren Sinn, d. h. ohne die reale eudämonomogisch positive oder negative Wirkung der Tat zu berücksichtigen, reflektiert, so erscheint diese gute Tat zugleich als ein selbständiger Wert, und der Begriff des "gut" und des "Wertes" in sittlichem Sinn ist gefunden.

Es ist nunmehr etwas vorhanden, was gewollt werden kann (eben weil es an und für sich ein Wertvolles ist), ohne eudämonologische Rücksichten, ungeachtet des eudämonologischen Fundamentes, auf welchem das Sittliche erwachsen ist, und nicht ohne, daß die Selbstsucht sich unter Umständen auch wieder auf das Idealgebildet stürzt und das sittlich Gute aus individual-eudämonistischen Absichten zu kultivieren versuchte.

Es beginnt nun ein kaum zu entwirrendes Hin- und Herweben zwischen dem sittlichen und religiösen Bewußtsein. Einesteils werden die sittlichen Begriffe und Postulate in das Bewußtsein der Götter hinausprojiziert, deren Begriff und Vorstellung sich von der außersittlichen Naturmacht zur anthropomorphisch vorgestellten sittlichen Persönlichkeit umwandelte; zum andern werden die in die Gottheit hineingedachten Willensrichtungen maßgebend für Ziel und Inhalt der selbstlosen Willensakte des Menschen. So hebt und erweitert sich die Sphäre des sittlichen Bewußtseins in demselben Maße, wie sich das Gefühl für das Übel schärft, und das willkürlich geschaffene Übel, die Sünde, wird umso so dunkler, je heller das Licht der Sittlichkeit zu leuchten beginnt. Es bauen die Postulate des sittlichen Bewußtseins die Himmel und es gebärt die von Furcht und Schrecken befruchtete Phantasie die Hölle; und wenn auch diese letzteren Vorstellungen im Dienste des Guten wirken, indem sie zu einem engeren Scharen um das Panier des Guten und Göttlichen anregen, so zeugt die Phantasie doch auch wieder neue Leiden und Übel, indem sie zu den realen Mängeln des Lebens noch ihre Schreckensphantome hinzufügt.



Aller Fortschritt wird durch die pessimistische Auflösung des ideal oder real Bestehenden eingeleitet. 

Auf dem Gebiet der Kunst nennt RICHARD WAGNER das Genie "den nie zufriedenen Geist, der stets auf Neues sinnt". Dies gilt nicht nur innerhalb der Kunst,  sondern für alle Gebiete der allgemeinen Entwicklung durch das Vehikel des Menschengeistes und der Menschenkraft.  Aber die Wahrheit ist nur halb ausgesprochen, denn das Genie ist mehr als der unzufriedene Geist; es ist auch die schöpferische Kraft, eine positive  Antwort  zu geben auf die Frage: Gibt es nichts Besseres als dieses Ungenügende? WAGNER sagt also mit diesem Wort dasselbe, was wir darzulegen versuchen: daß der Pessimismus die Triebfeder zur Entwicklung ist, und daß die selbstzufriedene Genügsamkeit die unfruchtbaren Zweige, die tauben Blüten am Baum der Weltnatur darstellen.

Wenn daher die Gegner des modernen philosophischen Pessimismus gegen diesen vorbringen: es sei der Pessimismus stets die Gefühls- und Denkweise einer sich überlebt habenden Kulturperiode gewesen, so ist dies allerdings richtig.  Solche Perioden aber folgen sich leider ununterbrochen;  ihre Begrenzungen lassen sich immer erst erkennen, wenn sie Vergangenheit geworden sind, und jeder Schritt  vorwärts  ist ein Schritt  über  und  auf  Überwundenem. (Ist es aber nicht selbst ein Stück Pessimismus-Material, daß gerade auf dem Gebiet der Kulturformen das Wort des MEPHISTO gilt: daß Alles was besteht, wert ist, daß es zugrunde geht?)

Die Konstatierung obiger Tatsache kann daher auch kein Tadel, keine Minderung der Berechtigung des philosophisch formulierten Pessimismus sein; denn zugestanden, daß gewisse Kulturformen ungenügend sind, so ist die Erkenntnis dieses Zustandes, welches die Erstrebung neuer Formen einleitet, einer verblendeten Konservierungstendenz doch gewiß vorzuziehen. Was aber die Berechtigung der Überwindung alles einst Bestandenen anbelangt, so fragen wir  jeden Optimisten,  ob er eine Zeit und eine Kulturperiode zu nennen weiß, in welcher er mit seinem jetzigen modernen Bewußtsein zu leben vorziehen würde - nota bene [wohlgemerkt - wp]: wenn er  alle Seiten  einer jeweiligen Epoche in Betracht zieht. Bei bloß  einseitiger  Betrachtung allerdings könnte ein Christ vielleicht die ersten Zeiten des Christentums, der Ästhetiker die Zeit des PERIKLES, ein Politiker vielleicht die Zeiten der römischen Republik usw. usf. als seinen Wünschen vollständig entsprechend ansehen. Wenn aber sämtliche Lebensformen einer Kulturepoche berücksichtigt werden, so scheint uns die negative Beantwortung der Frage außer Zweifel zu stehen.

Nun könnte man aber vielleicht einwenden, der Pessimismus sei nur der Totengräber jener überwundenen Periode gewesen, es sei aber der  optimistische  Glaube an das "Bessere" gewesen, der das Neue hervorgebracht hat. Dieser Einwand stützte sich jedoch auch eine Verwechslung zwischen dem partiellen Pessimismus, wie wir ihn  hier  verstehen (und dessen verschiedene Stadien wir in den folgenden Blättern zu zeichnen versuchen wollen) mit dem  quietistischen Verzweiflungspessimismus,  welcher das sekundäre Produkt besonderer metaphysischer Theorien und religiöser Anschauungen ist, und als solcher allerdings unfähig ist, als treibendes Glied im Weltorganismus zu funktionieren. Mit diesem Quietismus haben wir es aber hier nicht zu tun, sondern eben nur mit der  pessimistischen Betrachtungsweise  der verschiedenen Lebensfaktoren und Kulturgestaltungen; diese schließt aber den Begriff des "Besseren" nicht  aus,  sondern, wenn sie das "Bessere" nicht  ideell  zu  antizipieren  vermag, so könnte sie gar nicht zur Verurteilung ihrer empirischen Existenzformen gelangen. Das "Besser" ist ein relativer, komparativer Begriff, der auf jeder Stufe des pessimistischen Bewußtseins Bestand hat, und wie er  Maß der Beurteilung  ist, auch Motiv wird; und zwar ist das "Besser" auch absolut wirksam und wird, so gering auch sein positiver eudämonologischer Wert ist, als Motiv wirken, weil in der Regel das "Bessere" vorläufig auch das  "Beste", das erreichbar  ist, ohne daß das Prädikat "Best" irgendetwas über seinen wirklichen Wert enthält.

Freilich kommt hinzu, daß bei jugendlichen Menschen und jugendlichen Völkern komparative Werte zu eudämonologisch positiven verwandelt werden.



Wenn der "niezufriedene Geist" sich auf diese seine Eigenschaft besinnt und die  Gründe  und die  Rechtfertigung  seins Soseins aufstellt, so kristallisiert sich die  pessimistische  Betrachtung zum  Pessimismus. 

Mit den der Geschichte angehörigen Formen des Pessimismus hat es die  erste Hälfte  unserer vorliegenden Schrift zu tun.

LITERATUR - Olga Plümacher, Der Pessimismus in Vergangenheit und Gegenwart, Heidelberg 1884
    Anmerkungen
    1) EDUARD von HARTMANN, Philosophie des Unbewußten, 7./8. Auflage, II B XIV. Kap.
    2) Wir können auf einem anderen Gebiet noch heute analoge Vorgänge beobachten. Die rohe Kraft, die im selben Grad nützlich erscheint wie sie einem Gegner zugewand gefährlich und verderblich werden kann, findet noch immer die volle Bewunderung der rohen Massen und erwirbt leicht "Ehrfurcht", d. h. die Ehre der Furcht. Und die Bewunderung, die der Pöbel stets dem Reichtum (selbst wo dieser durch zweifelhafte Mittel erworben ist) nicht umhin kann entgegenzubringen (solange sein Neid durch die Verhältnisse zum bloßen Zähneknirschen verurteilt ist), beruth eben auf dem Bewußtsein, daß Reichtumg Macht, für ihn unantastbare, unter Umständen vernichtende Macht ist.
    3) Der Gedanke eines dereinstigen neuen Himmels und neuer Erde kann nicht als eine "Hoffnung", nicht als ein optimistisches, eudämonologisches Moment gelten; denn das neue Sein wurde als ein durchaus Anderes, nicht als eine bloße Metamorphose des bestehenden vorgestellt. Es mag diese Idee vielleicht entstanden sein durch die Ungeneigtheit, sich das der Götterdämmerung folgende Nichts als reine Negation zu denken und durch die Unmöglichkeit sich das Nichts vorzustellen. Freilich ist auch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß der Gedanke einer anderen Götter- und Weltexistenz durch die Bekanntschaft mit anderen Religionen entstand, sowie der Ahnung, daß deren Göttervorstellung der eigenen überlegen sein könnte.
    4) Im Kanton Zürich kann man noch von alten Leuten auf dem Land den Stoßseufzer hören: "O myn Gott und alle Lüte Gott aber myne z'erste" (meiner zuerst).