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CARL GÖRING
(1841 - 1879)
Zur philosophischen Methode

"Die logische Notwendigkeit, der Ausschluß alles individuellen Beliebens, als das spezifische Merkmal der wissenschaftlichen Methode liegt im Verhältnis des Allgemeinen zum Einzelnen. Nur da, wo beide den gleichen Inhalt haben, findet ein innerer Zusammenhang zwischen ihnen statt, der überhaupt erst dazu berechtigt, den Begriff des Allgemeinen aufzustellen und die logische Notwendigkeit anzunehmen, mit der nunmehr vom einen auf das andere geschlossen werden kann."

"Insofern Kant jede dogmatische Methode für unschicklich erklärt und seine Vernunftkritik als warnende Negativlehre bezeichnet, da sie für das Wissen nur negative Ergebnisse hat: demgemäß würde man wohl am Passendsten von seiner negativen Methode reden."

Neuerdings ist oft hervorgehoben worden, daß die Spezialwissenschaften in einen sicheren Gang gebracht worden und stetig gewachsen sind, sobald sie sich der richtigen Methode versichert hatten. Wenn demnach die Methode als dasjenige erscheint, was wissenschaftliche Erkenntnis bewirkt, so liegt die Nutzanwendung auf die Philosophie nahe, daß auch diese sich vor Allem der richtigen Methode zu versichern hat, um die Sicherheit der wissenschaftlichen Erkenntnis zu erreichen. In der Tat ist diese Einsicht gegenwärtig bei den meisten Philosophen fast aller Richtungen vorhanden und führt zu lebhaften Kontroversen über die richtige Methode zu philosophieren. Die Empiriker glauben mit der wissenschaftlichen Behandlung der Philosophie dadurch Ernst zu machen, daß sie die allgemein anerkannte Erkenntnisweise der Wissenschaften auch auf die Bearbeitung der philosophischen Probleme anwenden oder sich der allgemein wissenschaftlichen Methode bedienen; ihre Gegner pflegen die Wissenschaftlichkeit ihrer eigenen Philosophie eifrig zu versichern, nehmen aber für diese eine besondere Methode in Anspruch, da sie ihre besonderen Objekte hat. In dieser Begründung des Anspruchs auf eine eigenartige Methode zeigt sich ein relativer Fortschritt des Denkens, insofern der unzertrennliche Zusammenhang von Erkenntnisobjekten und Methode erkannt und damit die Einsicht gewonnen ist, daß nur durch die Verbindung von wirklichen, nicht bloßen Scheinobjekten und richtiger Methode eine wissenschaftliche Erkenntnis erreicht werden kann. Hiermit ist zugleich implizit ausgesprochen, daß ein methodisches Verfahren an und für sich nur die sogenannte formale Wahrheit verbürgt, d. h. die Übereinstimmung der methodisch gewonnenen Resultate mit den Voraussetzungen, aus welchen sie abgeleitet werden. Sind nun diese Voraussetzungen falsch, so sind es begreiflicherweise auch die aus ihnen gezogenen Schlußfolgerungen. Weiter ergibt sich aus der obigen Forderung der Satz, daß die Beschaffenheit der Methode durch die Beschaffenheit der Objekte bedingt ist. Aufgrund dieser Zugeständnisse dürfte es gelingen, den Streit über die philosophische Methode zum Austrag zu bringen.

Ein neuerer Nichtempiriker, FRIEDRICH HARMS, sagt, "Die Philosophie in ihrer Geschichte", Bd. 1, Seite 31: "Jede Methode des Erkennen ist ein Verfahren nach Grundsätzen, aus deren Anwendung Erkenntnisse entstehen sollen." Gegen diese Bestimmung wird kaum von irgendeiner Seite her ein Einwand erhoben werden, weil mit dieser Definition der Kernpunkt des Streites noch gar nicht berührt ist. Denn dieselbe prinzipielle Verschiedenheit der Meinungen, welche hinsichtlich der Methode besteht, kehrt wieder, sobald es sich um die richtige und maßgebende Auffassung der Grundsätze handelt. Zwar werden alle Parteien darin übereinstimmen, daß ein Grundsatz etwas allgemein Gültiges sein soll, oder, worauf es hier allein ankommt, etwas Allgemeines ist, aber über die Beschaffenheit des Allgemeinen, näher über das Verhältnis des Allgemeinen zum Einzelnen gehen die Ansichten nach entgegengesetzten Richtungen auseinander. Es sind nun hier drei verschiedene Standpunkte möglich: man kann nach der unverfälschten metaphysischen Auffassung das Einzelne vom Allgemeinen oder vom konsequenten Empirismus aus das Allgemeine vom Einzelnen abhängig machen, drittens endlich das Allgemeine und das Einzelne koordinieren, das letztere wenigstens in abstracto; denn faktisch wird von diesem Standpunkt aus, sobald es überhaupt zu einem irgendwie methodischen Verfahren kommt, doch das Eine vom Andern abhängig gemacht werden müssen, da ohne eine solche Subordinierung kein Grundsatz und keine Methode festgestellt werden kann. Es handelt sich also bei unserer Untersuchung nur um den Gegensatz zwischen Metaphysik und Empirismus, auf welche beiden Theorien jeder philosophische Standpunkt, insofern hierunter eine logisch verbundene und systematisch geordnete Gedankenreihe verstanden wird, unschwer zurückgeführt werden kann.

HARMs, welcher hier wohl als im Namen aller konsequenten Metaphysiker redend angeführt werden darf, kennt ein Denken, welches ein "schlechthin Allgemeines" denkt (Seite 24); dieses Denken ist nach ihm spekulativ oder metaphysisch, daher auch die Grundsätze, nach welchen beim Erkennen verfahren werden soll, "metaphysischer Art" sind (Seite 30). Insofern also die Metaphysik oder spekulative Philosophie methodisch verfährt, legt sie ein "schlechthin Allgemeines" zugrunde, d. h. nach HARMs Erklärung, kein formales, sondern ein "reales" Allgemeines. Leider hat HARMs, wie freilich bisher alle Metaphysiker, unterlassen anzugeben, was er sich unter diesem schlechthin oder realen Allgemeinen denkt: und der Empiriker kann darin keine andere, als die rein negative Bestimmung entdecken, daß es nichts bloß Gedachtes, nicht die Zusammenfassung des Einzelnen im Denken sein soll.

Daß nun ein derartiges Allgemeines existiert, wird von den Metaphysikern ebensowenig bewiesen, als sein Inhalt von ihnen präzisiert wird. Die Annahme desselben ist freilich sehr alt und sehr oft in der Geschichte der Philosophie wiederholt, aber auch als gänzlich unbegründet und unhaltbar erwiesen worden; solange daher für die Existenz jenes Allgemeinen keine Begründung beigebracht wird, außer der, daß man bestimmte Allgemeinheiten, wie Absolutes, Ewiges, Unveränderliches usw. dogmatisch annimmt und im Anschluß daran weiter behauptet, es gebe ohn das schlechthin oder reale Allgemeine keine Philosophie, d. h. keine spekulative Philosophie oder Metaphysik, keine Erkenntnis des "Ewigen, Absoluten, Unveränderlichen" usw., solange ist man berechtigt, es für ein Phantasiegebilde zu halten, mag es nun mit irgendeinem empirisch aufgenommenen, aber aus seinem objektiven Zusammenhang gerissenen Inhalt erfüllt, oder, weil allen Inhalts entbehrend, ein bloßes Wort sein. Weil nun aber gerade dieses Allgemeine das Objekt der spekulativen Philosophie, oder diese, wie HARMS sagt, die "Wissenschaft" dieses Allgemeinen ist, deshalb zieht dieses ganz besondere Objekt auch eine besondere Methode nach sich; denn begreiflicherweise kann es durch die Methode der Wissenschaften nicht gewonnen und ebensowenig nachträglich begründet werden. Da man dennoch an ihm festhält und auch den Anspruch erhebt, es beweisen zu können, so muß man zu diesem Zweck eine Methode annehmen, deren Anwendung zu jenem Objekt führen oder doch die Notwendigkeit seiner Annahme irgendwie begründen soll. Die hierzu dienende Methode heißt nun zwar per abusum [durch Mißbrauch - wp], aber der Überlieferung gemäß gewöhnlich die deduktive oder Deduktion; wozu sie angewandt wird, hat ebenfalls HARMS mit schätzenswerter Deutlichkeit angegeben:
    "Die Deduktion strebt aus dem Bleibenden das Veränderliche, aus dem Ewigen das Endliche, aus Gott die Welt zu begreifen." (Philosophische Einleitung in die Enzyklopädie der Physik I, Seite 190)
Daß HARMS weiterhin Deduktion und Spekulation ausdrücklich gleichsetzt, kann hiernach nicht mehr befremden; es ist vielmehr die einzig richtige Auffassung.

Wozu diese "Methode" dient, ist klar; nämlich ganz unbegründete Voraussetzungen, Phantasiegebilde, deren Inhalt nicht in der Erfahrung angetroffen wird, nachträglich zumindes scheinbar dadurch zu stützen, daß man sie zum "Begreifen" würde, oder daß sie Mittel zum Zweck des Begreifens sind. Hierauf beruth ihre relative "Notwendigkeit", durch welche sie aber natürlich keineswegs irgendwie sachlich begründet werden; denn dazu müßte vor allem nachgewiesen werden, daß der Zweck, dem jene Voraussetzungen als Mittel dienen, ein wissenschaftlich berechtigter ist. Hiervon findet aber das direkte Gegenteil statt; denn die Art des "Begreifens", welche jene Phantasiegebilde zuerst naiv produziert hat und in ihrer Verfeinerung bewußter Weise festzuhalten behmüht ist, erweist sich vor der wissenschaftlichen Kritik als gänzlich unberechtigt und irreleitend. Wenn sonach jene Objekte nicht eher als wissenschaftlich berechtigt anerkann werden können, als bis man sie irgendwie objektiv begründet hat, so fällt mit ihnen auch die "Methode der Deduktion oder Spekulation"; denn man kann nicht vernünftigerweise zwei unbegründete Voraussetzungen sich gegenseitig begründen lassen.

Die wissenschaftliche Methode dient nicht irgendwelchen beliebigen Zwecken und Absichten, sondern schließt eben das individuelle Belieben aus; dies ist ihr charakteristisches Merkmal der wissenschaftlichen Methode, logische Notwendigkeit und dadurch Ausschluß der Willkür zu bewirken; vielmehr ist sie selbst ganz und gar willkürlich und wird daher richtiger als "Spekulation" bezeichnet. Wenn nicht die Gewohnheit so stark wirkte, so würde, seitdem die wissenschaftliche Methode existiert, jene spekulative Methode überhaupt nicht mehr angewandt werden. um Wissen zu erzeugen, am allerwenigsten aber, um "aus dem Bleibenden das Veränderlich usw. zu begreifen". Denn hierbei handelt es sich um nichts Geringeres, als einen Gegensatz aus dem andern zu "begreifen", woraus sich zunächst die sehr nötige Einsicht ergibt, daß dieses Begreifen etwas ganz Anderes ist als Wissen. Denn Gegensätze führen zur Aufhebung des Wissens, wie auch die spekulative Philosophie früher sehr wohl wußte. Freilich kann dies durch die gewohnte Ideenassoziation verdeckt, und die Gegensätze können scheinbar vermittelt werden, indem man sie in das gewohnte Schema von Ursache und Wirkung bringt. Daß nun aber die Wirkung aus der Ursache nicht rein logisch abgeleitet, also nicht spekulativ oder a priori deduziert werden kann, hat schon KANT in seiner vorkritischen Periode, speziell auch an "Gott und Welt", sehr deutlich gezeigt. Wie man aber einen Gegensatz aus dem anderen begreifen will, wenn nicht durch diese bloße Gewohnheit häufiger Ideeassoziation, dies mag angeben wer es kann; wer es aber nicht kann, der soll auch nicht behaupten, daß eine Methode dazu führt. Denn die bloße psychologische Notwendigkeit, in der gewohnten Ideenassoziation zu verharren, oder die Unfähigkeit, durch bewußtes Denken die letztere zu überwinden, ist von jedem wirklich methodischen Verfahren soweit wie möglich entfernt. Solange man nun in der angegebenen Weise spekuliert, d. h. unbegründete Voraussetzungen zu philosophischen Objekten erhebt, so lange wird man freilich auch den Anspruch auf eine eigenartige philosophische Methode nicht aufgeben; es dürfte aber angemessen sein, von diesem Verfahren abzugehen und der Philosophie nicht beliebige, sondern nur solche Objekte zuzuteilen, deren Existenz hinlänglich bewiesen werden. Wenn so die Philosophie die allgemein wissenschaftliche Grundlage gewonnen hat, dann wird sie auch die wissenschaftliche Methode nicht nur als ausreichend, sondern auch als einzig berechtigt für das Philosophieren anerkennen.

Die Wissenschaft und die wissenschaftliche Philosophie kennt kein schlechthin oder reales Allgemeines mit irgendeinem selbständigen, d. h. nicht aus Einzelobjekten entnommenen Inhalt; denn jeder Inhalt, er sei, was auch immer, stammt von einem Einzelnen. Wer diesen Satz nicht anerkennt, hat irgendeine Gegeninstanz beizubringen, durch welchen seine Gültigkeit aufgehoben wird, also ein Allgemeines aufzuzeigen, dessen Inhalt nicht vom Einzelnen hergenommen ist.

Auf der Tatsache, daß das Allgemeine denselben Inhalt hat wie das Einzelne, beruth die logische Notwendigkeit und mit ihr jedes wirklich methodische Verfahren. Denn "Methode" ist zugestandermaßen ein Verfahren nach Grundsätzen, und diese sind etwas Allgemeines; die logische Notwendigkeit, der Ausschluß alles individuellen Beliebens, als das spezifische Merkmal der wissenschaftlichen Methode liegt im Verhältnis des Allgemeinen zum Einzelnen. Nur da, wo beide den gleichen Inhalt haben, findet ein innerer Zusammenhang zwischen ihnen statt, der überhaupt erst dazu berechtigt, den Begriff des Allgemeinen aufzustellen und die logische Notwendigkeit anzunehmen, mit der nunmehr vom einen auf das andere geschlossen werden kann; denn die den Objekten rein äußerliche oder zufällige Verbindung in der Ideenassoziation wird wohl Niemand bei einiger Überlegung mit einer logischen Verknüpfung verwechselt. Die letztere oder der innere Zusammenhang zwischen Allgemeinem und Einzelnem beruth nun eben darauf und zwar allein darauf, daß beide denselben Inhalt haben, daß das vom einzelnen Subjekt Prädizierte zum Prädikat aller Subjekte derselben Gattung = des Allgemeinen, erhoben wird; wo diese Bedingung nicht erfüllt ist, findet keine Subsumtion des Einzelnen unter das Allgemeine statt, das Allgemeine ist entweder ohne Inhalt, ein bloßes Wort ohne Sinn und Bedeutung, oder es hat einen anderen Inhalt und gilt dann von anderen einzelnen Objekten.

Diesen notwendigen inneren Zusammenhang, die Gleichheit des Inhalts des Allgemeinen und Einzelnen kann man nun auf doppelte Weise herstellen: erstens, indem man das Einzelne dem Allgemeinen, und zweitens, indem man das Allgemeine dem Einzelnen gleich macht. Das erstere ist das "deduktiv-spekulative" oder "apriorische", das zweite das "induktive" oder "aposteriorische" Verfahren; im ersteren Fall sollen sich die Tatsachen, im zweiten die Gedanken fügen. Wer es nun noch für zulässig hält, daß man über Tatsachen willkürlich verfügt, der wird natürlich kein Bedenken tragen, das Einzelne dem Allgemeinen gleich zu machen, indem er dem Einzelnen den Inhalt gibt, welchen nach seiner unbegründeten Voraussetzung das Allgemeine hat; mit ihm ist nicht weiter zu streiten, da die für einen Erfolg der Diskussion notwendige gemeinsame Grundlage zur Verständigung fehlt. Indessen wird sich gegenwärtig ein Philosoph wohl nur noch aus Opposition und ohne sorgfältige Überlegung zu der Behauptung hinreißen lassen, daß apriorischen Gedanken im Kollisionsfall mit empirischen Tatsachen die größere Sicherheit zukommt; für wen aber das Gegenteil feststeht, nämlich, daß eine Tatsache unter allen Umständen "das Höchste ist, was wir erreichen können" (BAUMANN), der wird sich konsequenterweise nun auch dazu bekehren müssen, das Allgemeine, als bloßen Gedanken, dem Einzelnen gleich zu machen. Denn ein neben und außer dem Einzelnen angenommenes Allgemeines wird man solange für ein bloßes Wort halten müssen, auch wenn es als "real" oder "schlechthin" Allgemeines auftritt, wie der Inhalt desselben nicht klar und deutlich angegeben ist. Ein derartiges Allgemeines mag zur Spekulation nötig und dienlich sein, für ein methodisches Verfahren oder eine wissenschaftliche Deduktion ist es gänzlich unbrauchbar. Denn diese ist nur dadurch möglich, daß eine logische Notwendigkeit Allgemeines und Einzelnes verknüpft. Da nun erfahrungsgemäß das Einzelne, die Tatsache, sich nicht nach unserem Belieben, dem willkürlich angenommenen Allgemeinen richtet, so bleibt demnach nichts anderes übrig, als unser Denken mit den Tatsachen, also das Allgemeine mit dem Einzelnen in Einklang zu setzen. Wenn man auf diese Weise zu allgemeinen Sätzen und Grundsätzen gelangt ist, hat man der wissenschaftlichen Methode die materielle Grundlage gegeben; das Weitere, Formale, ist Sache der logischen Konsequenz.

Bei diesem Verfahren bilden die Tatsachen der Erfahrung den festen Punkt und das Kriterium, an welchem die Richtigkeit der Denkoperationen, wie die der Voraussetzungen gemessen wird, von denen sie ausgehen. Denn nur diese beiden Faktoren in Gemeinschaft bewirken wissenschaftliche Erkenntnis; vgl. WHEWELL, Geschichte der induktiven Wissenschaften, Bd. 1, Seite 20: "Die strengste schulgerechte Methode konnte ohne Erfahrung keine Wissenschaft erzeugen." Streng methodisch gelangt man von richtigen Grundsätzen aus zu richtigen, von falschen Grundsätzen aus zu falschen Resultaten. Daß man durch unlogisches oder unmethodisches Verfahren auch von falschen Grundsätzen aus zu richtigen Resultaten gelangen und so durch Gedankensprünge Wahrheit erreichen kann, kommt natürlich hier nicht in Betracht, da es sich eben darum handelt, derartige Zufälle auszuschließen und den sicheren Gang der Wissenschaft zu begründen.

Die nachkantischen Dogmatiker legten mit Ausnahme HEGELs und seiner Schule wenig Gewicht auf die Methode des Philosophierens; erst seitdem die Sicherheit der spezialwissenschaftlichen Resultate die Bedeutung der Methode in das rechte Licht gesetzt hat, wird ihre Notwendigkeit auch von den Philosophen allgemein anerkannt. Namentlich die neukantische Schule pflegt gegenwärtig die Methode stark zu betonen und bemüht sich, auch ihrem Meister nicht nur eine besondere, sondern sogar die philosophische Methode kat exochen [schlechthin - wp] zu vindizieren. Dies ist zunächst nur ein deutlicher Beweis dafür, wie sehr in neuerer Zeit die Methode zum allgemein wissenschaftlichen Vorurteil geworden ist; denn im kantischen Kritizismus selbst tritt sie so wenig hervor, daß man früher kaum etwas von KANTs Methode wußte.

SCHOPENHAUER dürfte der Erste gewesen sein, welcher von "Kants Methode" geredet hat; er läßt sie darin bestehen, daß KANT "von der mittelbaren, reflektierten Erkenntnis ausging". Freilich soll dieser "Grundsatz seiner Methode KANT nur sehr undeutlich vorgeschwebt haben, daher man denselben doch erst noch zu erraten hat"; aber dennoch "ist diese Methode ein glänzender Gedanke". Die übrigen Philosophien waren gewöhnlich im besten Fall der Ansicht, daß "die Methode Kant nur sehr undeutlich vorgeschwebt" hat, daher sie nicht weiter davon redeten. Dies gilt auch von denen, welche im Übrigen auf die Methode besondere Rücksicht nehmen, wie z. B., um zwei neuere Philosophen zu nennen, von HARMS und LEWES. Erst seitdem COHEN in seinem Buch "Kants Theorie der Erfahrung" ausführlicher über den Unterschied des kritizistischen vom dogmatischen Verfahren gehandelt hat, finden sich in den Büchern über KANTs Philosophie besondere Abschnitte über deren Methode, zu deren allgemeiner Charakteristik wir das Urteil eines modernen Kantianers hier wiedergeben, JACOBSONs "Über die Beziehungen zwischen Kategorien und Urteilsformen", Seite 4:
    "Vielleicht ist kein Problem der kantischen Philosophie der Tummelplatz so widersprechender Ansichten, vor allem so verkehrter Auffassungen Kants geworden, wie das Grundproblem der Methode; umso notwendiger ist hiher der Versuch, einen ebenen, ruhigen Weg durch das Getümmel des Widerstreits und der Mißverständnisse zu bahnen".
Am notwendigsten erscheint jedoch die Vorfrage, ob überhaupt von einer Methode KANTs geredet werden kann, d. h., ob KANT, um zu seinen Resultaten zu gelangen, ein Verfahren angewandt hat, an welchem die wesentlichen Merkmale der wissenschaftlichen Methode nachgewiesen werden können.

COHEN hat in seinem obene zitierten Buch sehr klar auseinandergesetzt, was er unter "Kants Methode" versteht: Transzendental nennt KANT die Erkenntnis, welche sich mit unseren Begriffen a priori von Gegenständen beschäftigt; die transzendentale Erkenntnis hat keine anderen Objekte, als die metaphysische, aber der Methode, der Art nach ist sie von dieser unterschieden: sie erweist das a priori erst in seiner Möglichkeit (Seite 35 und 36). Späterhin spricht er von einem methodischen, formalen Wert des Begriffs transzendental (Seite 61) und von der "methodischen Richtung" der Lehre:
    "Sie fragt nach der Möglichkeit eines a priori überhaupt; durch diesen einzigen Gedanken wird die Metaphysik zur Kritik" (Seite 79).
Man wird wohl den wesentlichen Inhalt dieser Sätze COHENs wiedergeben, wenn man sagt: für ihn besteht die Methode der kantischen Philosophie darin, daß diese eine Transzendentalphilosophie ist. Diese Auffassung wird bestätigt durch die Terminologie COHENs in seinem neuesten Werk "Kants Begründung der Ethik", wo er einfach von der "transzendentalen Methode" KANTs spricht. Demnach identifiziert er Inhalt und Methode: weil KANT im Gegensatz zum Dogmatismus ein formales a priori lehrte von transzendentaler, nicht transzendentaler Art, deshalb hat der Begriff transzendental einen "methodischen, formalen" Wert, und deshalb ist die transzendentale Erkenntnis der "Methode, der Art" nach von der dogmatischen unterschieden; es scheint somit die Annahme gerechtfertigt, daß "methodisch und formal", ebenso wie "Methode und Art" hier etwa dasselbe ausdrücken sollen. Es ist "ein einziger Gedanke, durch welchen die Metaphysik zur Kritik wird", und in diesem einzigen Gedanken, die Möglichkeit des a priori zu erweisen, besteht zugleich die Methode des Kritizismus im Unterschied von der des Dogmatismus: weil KANT zu anderen Resultaten, dem "Transzendentalen", gelangt, deshalb soll er eine andere Methode, nämlich die "transzendentale Methode" haben.

Diese Terminologie entspricht dem Sprachgebrauch KANTs, welcher in der "transzendentalen Methodenlehre" ebenfalls Inhalt oder Resultat und Methode identifiziert, indem er von "dogmatischer" und "skeptischer" Methode spricht. Zugleich hat KANT dort noch ein unterscheidendes Merkmal seines Kritizismus angegeben, insofern er jede "dogmatische Methode für unschicklich erklärt und seine Vernunftkritik als "warnende Negativlehre" bezeichnet, da sie für das Wissen nur "negative" Ergebnisse hat: demgemäß würde man wohl am Passendsten nach KANTs Vorgang von seiner "negativen" Methode reden, oder auch mit Rücksicht auf den "einzigen Gedanken, durch welchen Metaphysik zur Kritik wird", von seiner "möglichen" Methode. Wer diese Bezeichnungen für unzulässig hält, mag seine Gründe dagegen mitteilen.

Wenn man weiß, in welchem Sinn KANT das Wort Methode gebraucht, so wundert man sich nicht mehr darüber, daß er die "Kritik der reinen spekulativen Vernunft einen Traktat von der Methode" nennt; denn diese Kritik ist als "warnende Negativlehre" die Methode, das Wissen aufzuheben, um für den Glauben Platz zu bekommen. Über diese Methode, das Glauben gegen alle Angriffe zu schützen, hat KANT sich in der transzendentalen Methodenlehre ziemlich ausführlich verbreitet; vgl. den ersten Artikel "Über den Begriff der Erfahrung", Bd. 1 dieser Zeitschrift, drittes Heft). Mit dieser Erörterung stimmt eine gelegentliche Äußerung KANTs vollkommen überein, in welcher er die Methode als ein "Verfahren nach Prinzipien der Vernunft" bezeichnet (Bd. IV, Edition HARTENSTEIN, Seite 275): bei der Verteidigung des Glaubens muß man "von den Prinzipien der Vernunft, nicht von den zufälligen Factis der Erfahrung" ausgehen, oder wie KANT an einigen anderen Stellen noch deutlicher sagt: Über das Dasein Gottes und die künftige Welt muß die Vernunft zuerst sprechen, sonst gerät man in "Atheisterei"; ferner: die Theologie ist der gemeinen Menschenvernunft ebenso begreiflich als den Philosophen, ja diese müssen sich an jener orientieren.

Hieraus erhellt sich nun die nähere Beschaffenheit des Verfahrens, welches KANT in seinen erkenntnistheoretischen Untersuchungen anwandte; bevor er diese beginnt, kennt er bereits das Ziel, bei welchem sie unter allen Umständen anzulangen haben. Dieses Ziel sind die "Vernunftideen", die "eigentlichen Objekte aller Metaphysik", für deren Annahme das "zufällige Faktum" genügt, daß sie als Ideen bei einem Teil der Menschen vorhanden sind. Um sie gegen den "Skeptizismus" zu sichern, nimmt KANT zu den beiden Stämmen der Erkenntnis, Sinn und Verstand, mit denen er in seiner vorkritischen Periode ausgereicht hatte, später noch die Vernunft als das Vermögen der Ideen" an, und teilt diese nun wieder ein in die theoretische und praktische Vernunft; denn, wie er selbst nachdrücklich einschärft, es gibt zwar keinen theoretischen wohl aber einen praktischen Glauben an das Übersinnliche. Sinn und Verstand müssen demgemäß so eingeschränkt werden, daß sie über die "höchsten Angelegenheiten des Menschengeschlechts", die Vernunftwahrheiten, nicht mitreden können; deshalb beziehen sich ihre Erkenntnisse nur auf Phänomena, weisen jedoch über diese auf die Noumena hinaus. Hierin liegt der eigentliche "methodische Wert" des formalen oder transzendentalen a priori, und die eigentliche "methodische Richtung" dieser Lehre. Hiernach kann es nicht befremden, daß, wie COHEN in der Vorrede zu "Kants Begründung der Ethik" sagt "bei den Männern der Wissenschaft transzendental noch immer im Geruch des Transzendenten steht", oder, um weiter in seiner Sprache zu reden, daß sie zwischen der transzendenten Methode des Dogmatismus und der "transzendentalen Methode" des Kritizismus keinen wesentlichen Unterschied finden. Denn beide überschreiten die Erfahrung in gleicher Weise; KANT hebt zwar das "notwendige" Wissen des Dogmatismus auf und behält nur den Inhalt desselben als "möglich" bei, aber auch bei ihm ist die Erfahrung dieser Möglichkeit untergeordnet, wie im Dogmatismus der Notwendigkeit. Dies ergibt sich schon aus der "immer wiederkehrenden Versicherung der absoluten Sicherheit und in Sonderheit der apodiktischen Gewißheit" des a priori (JACOBSON, a. a. O., Seite 3). Daß der Dogmatismus ein materiales, der Kritizismus ein formales a priori hat, kann in Bezug auf die Methode nur für diejenigen einen Unterschied begründen, dem, wie COHEN a. a. O., Seite IV. "der Satz der transzendentalen Methode als wissenschaftliche Wahrheit von der gleichen Bedeutung wie einer der logischen Grundsätze gilt", weil er nämlich in der "apriorischen Erfahrung" des Kritizismus die ganze philosophische Wahrheit zu haben glaubt, welche als Ganzes für ihn nicht weiter diskutierbar zu sein scheint. Wer dagegen für Gründe überhaupt noch zugänglich ist, wird zwar die Aufhebung der dogmatischen Metaphysik durch KANT als epochemachend der dogmatischen Metaphysik für die deutsche Philosophie anerkennen und dem Gedanken einer Kritik oder kritischen Theorie der Erkenntnis (freilich nicht des Erkenntnisvermögens) großen Wert für die philosophische Entwicklung beilegen, aber er wird zugleich zugestehen müssen, daß die kantische Ausführung dieses Gedankens auch ihrer Methode nach dogmatisch ist, weil sie den Hauptzweck des Dogmatismus, wenn auch auf besondere Weise, ebenfalls erreichen wollte. Daher wird man die Behauptung COHENs, daß durch den einzigen Gedanken, nach der Möglichkeit des a priori zu fragen, Metaphysik zur Kritik wird, dahin modifizieren müssen, daß eine richtige Antwort auf diese Frage die Unmöglichkeit des a priori ergeben hätte, und daß durch ein wahrhaft methodisches Verfahren an die Stelle der Metaphysik eine kritische "Theorie der Erfahrung", aber keiner "apriorischen Erfahrung" getreten wäre. Stattdessen mußte KANT für seinen Zweck die apodiktische Gewißheit des Apriori von vornherein annehmen, und seine Vernunftkritik wurde daher lediglich von dem Bestreben geleitet, dieses a priori zu beweisen, nicht aber eine voraussetzungslose Untersuchung über die "Möglichkeit desselben anzustellen. Die berühmte Frage: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? nebst der dem Inhalt nach gleichwertigen: wie ist "Erfahrung" möglich, d. h. eine Erfahrung, welche synthetische Urteile a priori enthält? erhält nur dann einen kritischen Anstrich, wenn man vergißt, daß der Schwerpunkt ausschließlich im "Wie liegt, weil das Daß von vornherein feststeht; orientiert man sich dagegen aus den Beantwortung über die dogmatischen Voraussetzungen, aus welchen die Frage hervorgegangen ist, so findet man, daß die "transzendentale Fragestellung" ganz ebenso dogmatisch ist wie die "transzendentale Methode".

Das charakteristische Merkmal allen dogmatischen Philosophierens ist das "Verfahren nach Prinzipien der Vernunft", oder weniger euphemistisch xmit anderen Worten dasselbe sagen - wp] dafür aber sachlicher ausgedrückt, das Verfahren der Untersuchung , unbegründete Voraussetzungen unwissenschaftlicher Art zugrund zu legen, welche als das absolut oder apodiktisch Gewisse das A und O, den Ausgangs- und Zielpunkt aller Erörterungen und Beweise bilden. Es handelt sich dabei gar nicht darum, die Wahrheit zu finden oder Gewißheit zu erreichen, sondern etwas vor aller methodischen Untersuchung Feststehendes irgendwie zu "beweisen"; den nervus probandi [entscheidender Beweisgrund - wp] bildet eine beliebige Annahme, welche aber das einzig Feste und Respektierte der ganzen Theorie ist, während man über alles Übrige willkürlich verfügt, wobei die entgegenstehenden Tatsachen ignoriert oder umgangen werden. Ob nun dieses Verfahren transzendent oder transzendental heißt, auf die Objekte oder auf die Erkenntnis der Objekte sich richtet, macht keinen hier in Betracht kommenden Unterschied; die transzendente Methode verwendet das vorausgesetzte materiale a priori, notwendige Existenzen, als "Prinzipien", die transzendentale Methode die vorausgesetzten notwendigen Formen der Anschauung und des Denkens, das formale a priori, das "apodiktisch Gewisse", dessen "Möglichkeit" sie erst nachträglich aus faktischen Erkenntnissen zu erweisen sucht: "Glücklicherweise trifft es sich, daß Mathematik und reine Naturwissenschaft synthetische Urteile a priori enthalten." (Prolegomena) Den Nachweis der Notwendigkeit, bei KANT Möglichkeit seiner Annahmen führt der Dogmatismus dadurch, daß er ihnen entsprechende "Vermögen" des Intellekts erfindet, welche, wenn auch selbst unbewiesen, doch die Richtigkeit jener verbürgen sollen, wie dies bei KANTs "Vermögen der Ideen", der "Vernunft" ganz besonders deutlich hervortritt. Die psychologische Untersuchung entdeckt in ihrem methodischen Gang nichts von einem solchen Vermögen; deshalb muß "Vernunft zuerst sprechen" und nun rückwärts wieder durch den praktischen Glauben an ihren Ideen sich selbst sicher stellen - der bekannte circulus vitiosus [Teufelskreis - wp], nur noch gefährlicher durch das Hineinziehen praktischer Momente. Zugleich zeigt sich hierbei recht deutlich, daß es von den Tatsachen so wenig einen Zugang zu den "Vernunftprinzipien" KANTs gibt, wie umgekehrt von den letzteren zu den ersteren; denn sowie KANT selbst die "zufälligen Fakta" zurückdrängte, weil sie auf das Gegenteil seiner feststehenden Absicht führen, ebenso blieben die Resultate seiner von den "Vernunftprinzipien" beherrschten Erkenntnistheorie außerhalb allen Zusammenhangs mit den psychologischen und erkenntnistheoretischen Tatsachen. Für KANT selbst handelte es sich auch gar nicht darum, Tatsachen und Wirklichkeit zu erreichen; er wollte in erster Linie die Möglichkeit der drei Vernunftideen sicherstellen, und seine auf die diesseitigen Objekte gerichtete Erkenntnistheorie gipfelte in seiner "möglichen Erfahrung". Daß zu diesem Zweck seine apriorischen Formen notwendig waren, daß sie auch möglich, d. h. denkbar sind, kann man unbedenklich zugestehen; dadurch werden sie aber noch nicht wirklich. Wer nun die Möglichkeit über die Wirklichkeit stellt, der kann sich ja hiermit begnügen; tut er es nicht, so zeigt er eben damit, daß ihm die Wirklichkeit doch für gewisser gilt als eine Möglichkeit, womit er den Boden des kantischen Kritizismus verlassen hat. Denn dieser geht von der Möglichkeit aus und gelangt auch ganz konsequent wieder zur Möglichkeit, wie man ja überhaupt a priori rein logisch oder analytisch, um mit dem vorkantischen Dogmatismus zu reden, nur von Gleichem zu Gleichem gelangen kann. Diese Einsicht war der alten Metaphysik geläufig und wurde von ihr mit guten Gründen verteidigt; erst KANT hat durch die "dem Kritizismus unentbehrlichen" synthetischen Urteile a priori diese Grundbedingung alles wirklich methodischen Verfahrens aufgehoben und dadurch in logischer und methodischer Beziehung einen entschiedenen Rückschritt eingeleitet, der freilich bei ihm selbst weniger deutlich als bei seinen Nachfolgern sichtbar wurde.
LITERATUR - Carl Göring, Zur philosophischen Methode, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 3, Leipzig 1879