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MORITZ SCHLICK
Allgemeine Erkenntnislehre
[Wirklichkeitsprobleme]
[3/6]

"Es ist nun wahr, und wird wohl auch allgemein zugestanden, daß bei der Rückkehr auf den unmittelbarsten, der philosophischen Reflexion vorhergenden Standpunkt, das Problem vom Verhältnis des Seelischen zum Körperlich in der Tat verschwindet, denn diese Unterscheidung wird zweifellos erst durch eine begriffliche Bearbeitung hineingetragen in den Ablauf der Erlebnisse, in welchem die Welt ursprünglich für uns besteht. Es ist nur nötig, die gedankliche Abstraktion, welche die Trennung des Physischen vom Psychischen vollzieht und beiden seine Grenze anweist, hinterher von allen Fehlern zu reinigen und ihren wahren Sinn festzustellen. Es gibt keinen anderen Weg, dem Problem Herr zu werden."

"Ein Körper ist mir nur gegeben, wenn zwischen seinen Elementen und denen meiner Sinnesorgane bestimmte Beziehungen bestehen. Es ist gänzlich sinnlos, sie aus diesen Beziehungen loslösen zu wollen. Populär ausgedrückt: es ist ein Widerspruch, zu fragen: Wie sieht ein Ding aus, wenn niemand es sieht? Die Frage also: Welche Elemente bilden einen realen Gegenstand, während er nicht wahrgenommen wird? muß als sinnlos von vornherein abgelehnt werden."

"Der Begriff des Realen kann nicht auf unwirkliche Begriffe zurückgeführt, er muß dem Erleben entnommen werden. Begriffe und Realitäten sind nun einmal unvergleichbar verschieden und können nicht ineinander übergeführt werden. Nur die Anerkennung dieser Unterscheidung macht logisches Denken möglich, und jede Verwischung des Unterschiedes führte zu großen Fehlern der historischen metaphyischen Systeme."


A. Die Setzung des Wirklichen
24. Kritik des Immanenzgedankens

Ich behaupte also: Wirklich ist alles, was zu einer bestimmten Zeit seiend gedacht werden muß.

Der Kundige ermißt mit einem Blick die außerordentliche Tragweite dieses Satzes. Er weiß, wie ungeheuer weit uns der Satz über die Welt des unmittelbar Gegebenen hinausführt. Sobald sich für irgendeinen Gegenstand ergibt, daß die Regeln der einzelwissenschaftlichen Forschung dazu zwingen, ihm einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit zuzuerkennen, so ist seine reale Existenz auch in einem philosophischen Sinn damit gesichert; er ist mehr als eine bloße Hilfsannahme oder Arbeitshypothese. Wenn man z. B. von den Atomen nach strengen Forschungsregeln ihr Wo und Wann eindeutig und bestimmt angeben kann, so existieren sie eben, unbekümmert auch darum, was man sonst etwa über ihr "Wesen" aussagen kann, d. h. unter welche Begriffe sie sich außerdem noch subsumieren lassen.

Über Raum und Zeit selbst setzt unser Kriterium zunächst gar nichts voraus (außer daß sie irgendwie die Möglichkeit einer Orts- und Zeitpunktbestimmung im besprochenen Sinn begründen); es ist aber klar, daß ihnen die Realität im Sinne unseres Kriterium selbst nicht zugesprochen werden kann, denn die Zeit ist nicht zu einer bestimmten Zeit, der Raum nicht an einem bestimmten Ort. Auch hierin ist der Anschluß an das naive und das wissenschaftliche Denken auf das Beste gewahrt, denn niemand betrachtet die reine Zeit oder den bloßen Raum als etwas Wirkliches in demselben Sinn wie die Feder in meiner Hand oder die Freude in meinem Herzen.

Solche Gegenstände nun, deren Wirklichkeit behauptet wird, ohne daß sie schlechthin gegeben wären (in unserem oft festgelegten Sinn), nennt man Dinge-ansich. Zumindest ist dies die Bedeutung, in der wir den Terminus fortan gebrauchen wollen. Diese Definition scheint mir das Problem, das sich an den Begriff knüpft, am Reinsten hervortreten zu lassen. Der Leser möge während des Folgenden keinen Augenblick vergessen, daß der Ausdruck "Ding-ansich" nur in der hier festgelegten Weise zu verstehen ist.

Man kann den Terminus ja noch in manch anderem Sinn nehmen. Man kann z. B. mit ERNST MACH ("Analyse der Empfindungen", Seite 5) glauben, es müsse damit ein Etwas gemeint sein, das da übrig bleibt, wenn man von einem Ding alle seine Eigenschaften weggenommen denkt. Damit haben wir nichts zu schaffen. Wenn wir für das Ding ansich eintreten, so soll damit nur gesagt sein, aß man von realen Gegenständen sprechen darf, ohne damit zu meinen, daß sie einem Subjekt als Objekt in unserem Sinn "gegeben" sind; es soll also nicht ein verborgener unbekannter "Träger" vvon Eigenschaften postuliert werden, nicht ein "Absolutes" in irgendeinem metaphysischen Sinn. Wie es sich mit dem Ding-ansich in diesen Beziehungen verhält, darüber wollen wir vorläufig gar kein Urteil fällen. Deshalb treffen auch die Gründe, durch die man das Ding-ansich neuerdings so oft von vornherein in Verruf gebracht hat, für den hier formulierten Begriff desselben gar nicht zu.

Wird also der Begriff in dieser Weise festgelegt, so folgt nach den soeben gemachten Bemerkungen aus unserem Kriterium allerdings die Existenz von Dingen-ansich, denn es müssen eben auch viele Gegenstände zeitlich bestimmt gedacht werden, die nicht zum unmittelbar Gegebenen gehören. (Wollte man freilich hieraus den Schluß ziehen, daß die Zeitlichkeit in einem kantischen Sinn eine Eigenschaft der Dinge-ansich sein muß, so wäre das ganz ungerechtfertigt; doch davon später.) Gegen die transzendenten Dinge (auch so kann man sie bezeichnen, da sie sich ja außerhalb des Reichs der Gegebenheit befinden) wird nun in neuerer Zeit, wie man weiß, von allen Seiten Sturm gelaufen, besonders von vielen Positivisten und Neukantianern. Die Dinge-ansich in Schutz zu nehmen, gilt fast als eine Rückständigkeit, die nur mit einem nachsichtigen Lächeln bedacht werden kann. Das soll uns aber nicht hindern, der Frage mit vollkommener Ruhe auf den Grund zu gehen.


Diejenigen Philosophen, welche das Ding-ansich ablehnen, wollen wir als Vertreter des Immanenzgedankens bezeichnen, insofern sie alle mehr oder weniger streng die Forderung stellen, man müsse in der Sphäre des Gegebenen oder Vorgefundenen bleiben und die Transzendenz verbieten. Die einzelnen Schulen dieser Richtung weichen weit voneinander ab, mehr aber noch in ihrer Terminologie als in ihren sachlichen Behauptungen. Einige haben ihre Gedanken selbst als Immanenzphilosophie bezeichnet (SCHUPPE, SCHUBERT-SOLDERN u. a.). Sofern man betont, daß alle unmittelbaren Daten Bewußtseinscharakter tragen, kann man (mit KÜLPE) auch von einem "Konszientialismus" reden. Viele Gegner der Dinge-ansich würden aber damit gar nicht einverstanden sein, z. B. AVENARIUS; bei ihm kommt der Begrif und das Wort Bewußtsein eigentlich überhaupt nicht vor, und die Bezeichnung "Bewußtseinsinhalt" für alles Vorgefundene würde er als ganz unzweckmäßig ablehnen. Dagegen wollen die Neukantianer der Marburger Schule (COHEN, NATORP und viele andere) ihrerseits mit dem "Gegebenen" überhaupt nichts zu tun haben; bei ihnen ist die Sphäre der "transzendentalen Logik" das Reich, in dem sie verharren und das sie mit dem Reich des wirklichen Seins identifizieren wollen, von dem die fiktiven Dinge-ansich ausgeschlossen sind. Mit ihrem Standpunkt brauchen wir und jedoch an dieser Stelle noch nicht auseinanderzusetzen (vgl. unten § 38).

Mit weningennn Worten dürfen wir die Lehre jener Denker abtun, welche den Immanenzstandpunkt in der Weise auffassen und in der Weise als den einzig möglichen darlegen wollen, daß sie den Gedanken eines Gegenstandes, welcher nicht Inhalt eines Bewußtseins wäre, für widersprechend und damit das Ding-ansich für unmöglich erklären. In den oft zitierten Worten SCHUPPEs (19):
    "Der Gedanke, der sich auf ein Ding richtet, macht dieses Ding zu einem gedachten; folglich ist der Gedanke eines nicht gedachten Dings ein undenkbarer Gedanke."
Dasselbe Argument findet sich bekanntlich schon bei BERKELEY und einer Reihe anderer Denker.

In der modernen erkenntnistheoretischen Literatur ist mehrfach zwingend gezeigt worden, daß dieser Schluß auf einer Äquivokation beruth, auf einem Doppelsin des Wortes "Denken", und daher ungültig ist. Der Ausdruck "gedachtes Ding" kann nämlich erstens einen Gegenstand bedeuten, der durch das Denken geschaffen, d. h. eine Vorstellung innerhalb meines Bewußtseins ist; er kann aber zweitens auch einen Gegenstand bedeuten, der im Denken nur gemeint ist, d. h. der durch eine Vorstellung meines Bewußtseins bezeichnet, dem ein Gedanke meines Bewußtseins zugeordnet wird. Wenn wir von einem Ding-ansich reden, so ist es natürlich im zweiten Sinn "gedacht"; daraus folgt aber auf keine Weise, daß es auch gedacht im ersten Schritt wäre. Jener Schluß verwechselt aber beides. (20) Aufgrund der frühere Betrachtungen lösen sich diese Scheinargumente für uns ganz besonders leicht auf, denn wir haben uns ausdrücklich klar gemacht: Denken in dem Sinn, welcher für die Erkenntnis in Betracht kommt, bedeutet nichts als ein Bezeichnen der Gegenstände. Daß aber ein Gegenstand nicht erst dadurch erzeugt wird, daß wir ihn bezeichnen, sondern davon ganz unabhängig ist, und also auch existieren kann, ohne daß wir ihm ein Zeichen, eine Vorstellung zuordnen, das liegt im Begriff des Bezeichnens selbst, und niemals hätte man auf jenen Fehlschluß verfallen können, wenn man die beiden Bedeutungen des Wortes Denken durch verschiedene Termini auseinander gehalten hätte.


Von vornherein ist also der Begrif des Dings-ansich gewiß nicht widerspruchsvoll. Es gibt aber noch andere Motive, die der Annahme eines transzendenten Seins entgegenstehen und viele Philosophen veranlassen den Begriff der Wirklichkeit auf das Reich des Gegebenen (oder des "Vorgefundenen" oder der "Bewußtseinsinhalte" oder wie man es sonst nennen mag) einzuschränken.

Diese Motive müssen nun geprüft werden. Sie sind, wie bei jeder ernsthaten wissenschaftlichen Annahme, darin zu suchen, daß man glaubt, die entgegengesetzte Ansicht führt schließlich zu Widersprüchen, oder sie stellt zumindest eine völlig überflüssige, durch nichts geforderte, unzweckmäßige Hypothese dar. Es wird also behauptet: die Setzung von Wirklichkeiten jenseits des Gegebenen führt bei näherer Prüfung entweder zu unauflösbaren Problemen, oder wenn etwa dies nicht geschieht, so trägt sie doch nichts bei zur Lösung der sich auch sonst ergebenden Probleme.

Am radikalsten ist natürlich die erste Behauptung, und sie muß deshalb zuerst ins Auge gefaßt werden. Ist es wahr, daß unlösbare Probleme, d. h. unaufhebbare Widersprüche mit den Forderungen und Regeln der Einzelwissenschaften entstehen, wenn man als wirklich nicht nur das einfach Gegebenee betrachtet, sondern alles, wofür sich aus eben jenen Forderungen und Regeln der Wissenschaften eine bestimmte räumliche und zeitliche Orientierung ergibt? Ist es wahr, daß jene Widersprüche sich nur vermeiden lassen, wenn man den Begriff des Wirklichen einschränkt durch ein Zurückgehen auf seinen ersten Ursprung, nämlich das unmittelbar Erlebte?

Ganz zweifellos wirdd durch das Zurückziehen auf den Immanenzstandpunkt eine Reihe von philosophischen Kämpfen verhütet und unnötig gemacht. Jeder ernste Denker hat wohl gelegentlich die Versuchung gespürt, die quälenden Probleme dadurch loszuwerden, daß er sich auf diesen Standpunkt stellt. Wie HERBART meinte, daß jeder tüchtige Anfänger der Philosophie Skeptiker sein muß, so kann man vielleicht hinzufügen, auch durch das Stadium der Immanenzphilosophie muß der gewissenhafte Denker sich hindurcharbeiten. Der Standpunt macht es möglich, Probleme überhaupt zu verhindern, Denkkonflikte gar nicht erst entstehen zu lassen, und das scheint eine viel bessere Methode zu sein, als die voll ausgebrochenen nachträglich zu heilen. Und dieses prophylaktische Verfahren scheint immer anwendbar zu sein, denn es ist ja klar: was ursprünglich von der Welt gegeben, was vor aller denkenden Beurteilung da ist, das muß widerspruchsfrei sein. Tatsachen widersprechen sich nicht, unser Denken muß schuld sein an allen Konflikten, es muß sie durch irgendwelche Fehltritte herbeigeführt haben. Richtige Gedanken über vorliegende Tatsachen können nie zu Widersprüchen führen; alles schlechthin Vorhandene ist positiv und erst durch den Akt der Verneinung wird Widerspruch möglich (siehe oben). So kommt man zu dem positiven Wunsch, überhaupt beim schlechthin Tatsächlichen stehen zu bleiben, Denkzutaten ängstlich zu vermeiden und es einfach bewenden zu lassen bei der bloßen Beschreibung des Vorhandenen durch Urteile, ohne Hypothesen hinzuzufügen.

Es versteht sich aber leider von selbst, daß die pedantisch strenge Durchführung dieses Programms einen Verzicht auf Erkenntnis überhaupt bedeuten würde. Erkennen setzt eben Denken voraus, und dazu bedarf es der Begriffe, und sie können nur gewonnen werden durch eine Bearbeitung des Tatsachenmaterials, welche sofort die Möglichkeit von Fehlern und Widersprüchen schafft. Die wissenschaftliche Beschreibung, welche eine Erklärung ist, besteht ja darin, daß mit Hilfe von Wiedererkennungsakten die Tatsachen aufeinander bezogen und durcheinander gedeutet werden (21).

So hebt sich also dieser extreme Standpunkt bei strenger Durchführung von selbst auf; man kann aber doch hoffen, seine Vorteile auch dann noch zu genießen, wenn man ein Minimum von Denkzutaten gestattet. Es ist nun eben die Behauptung des Immanenzgedankens, daß zu diesem Minimum nicht die Annahme eines Dings-ansich gehört. Deswegen will er sich vom Kriterium der zeiträumlichen Bestimmung abwenden und zurückkehren zu einem ursprünglichsten Standpunkt, der auch in der Weltanschauung des naiven Individuums bereits verlassen ist.

Es werden nur die elementarsten Voraussetzungen von solcher Einfachheit zugelassen, daß sie tatsächlich allen Ausgangspunkten gemeinsam sind und von niemandem in Zweifel gezogen werden. AVENARIUS erwähnt z. B. als eine solche Voraussetzung die "empiriokritische Grundannahme einer prinzipiellen menschlichen Gleichheit ("Der menschliche Weltbegriff", § 14). Ebenso treten bei MACH einfache Analogieschlüsse [machanal] auf, nach welchen wir z. B. unseren Nebenmenschen Gefühle und Vorstellungen ähnlich unseren eigenen zuschreiben dürfen, obwohl sie uns nie gegeben sind. Diese Annahmen, gegen die ja ganz gewiß nichts einzuwenden ist, kann man getrost zulassen, ohne daß dadurch allein jene gefürchteten Probleme entstehen, vor denen man die Flucht ergreift.

Welches sind nun diese Probleme?

Es ist eigentlich gar keine Mehrheit von Problemen, sondern im Grunde nur ein einziges, oder zumindest gipfeln in diesem einen alle anderen und werden mit ihm zugleich gelöst: es ist das Problem, welches seit DESCARTES im Mittelpunkt der gesamten neueren Metaphysik steht: die Frage nach dem Verhältnis des Psychischen zum Physischen. Die Zurückverfolgung der verschiedenen Gedankengänge zeigt leicht, daß es wirklich dieses Problem ist, vor dem man sich auf die Festung der Immanenz flüchtet, um nicht in den metaphysischen Positionen des DESCARTES'schen Dualismus, eines GEULINX'schen Okkasionalismus [Philosophie der Gelegenheitsursachen - wp] oder der LEIBNIZ'schen Monadologie und prästabilierten Harmonie den Sturmangriffen der Kritik ausgesetzt zu sein. Selbst wenn einer der hervorragenden Vertreter der zu besprechenden Ansicht nicht ausdrücklich erklärt hätte, daß es sich so verhält (22), so kann man es doch dem Immanenzgedanken in allen seinen Formen leicht anshen, daß er aus dem Wunsch hervorgeht, dem psychophysischen Problem zu entfliehen.

Es ist nun wahr, und wird wohl auch allgemein zugestanden, daß bei der Rückkehr auf den unmittelbarsten, der philosophischen Reflexion vorhergenden Standpunkt, das Problem vom Verhältnis des Seelischen zum Körperlich in der Tat verschwindet, denn diese Unterscheidung wird zweifellos erst durch eine begriffliche Bearbeitung hineingetragen in den Ablauf der Erlebnisse, in welchem die Welt ursprünglich für uns besteht. Es ist nur nötig, die gedankliche Abstraktion, welche die Trennung des Physischen vom Psychischen vollzieht und beiden seine Grenze anweist, hinterher von allen Fehlern zu reinigen und ihren wahren Sinn festzustellen. Es gibt keinen anderen Weg, dem Problem Herr zu werden. Auch KANT löst es, indem er zeigt, daß die ganze Schwierigkeit eine "selbstgemachte" ist (23) und aus einer "erschlichenen" dualistischen Vorstellung entspringt (24). Zwei so verschieden gerichtete Denker wie KANT und AVENARIUS sin (wie ich noch näher zeigen werde - unten § 32 -) im Prinzip zur gleichen Auflösung - oder vielmehr Aufhebung - des Problems gelangt: das ist gewiß höchst bemerkenswert und ein schönes Anzeichen dafür, daß hier wirklich die Wahrheit gefunden und eine hemmende Schwierigkeit endgültig ihrer Schrecken beraubt ist.

Hätte KANT mit seiner Philosophie recht, so würde sein System beweisen, daß die Bewältigung des psychophysischen Problems sich mit der Annahme von Dingen ansich ohne Widerspruch vereinigen läßt, denn bei ihm finden wir ja beides. Es würde dann also das wichtigste Motiv für den Standpunkt der Immanenz wegfallen; seine Vertreter könnten uns nicht mehr sagen:
    "Seht, ihr müßt auf unsere Seite treten, wenn ihr das Verhältnis des Körperlichen zum Seelischen restlos in Klarheit schauen wollt!"
Aber es ist gewiß kein ausreichendes Argument, sich hier einfach auf KANT zu berufen, denn gerade ihm ist oft genug der Vorwurf gemacht worden, das Ding-ansich sei die Quelle unlösbarer Widersprüche in seinem System. Es muß also besonders und ausdrücklich geprüft werden, ob die Behauptung des Immanenzgedankens zu Recht besteht, daß jede Transzendenz über irgendwie Gegebenes hinaus unaufhebbare Widersprüche in die Welterklärung hineinbringt.

Ich bestreite diese Behauptung und muß also nachweisen, daß die Annahme transzendenter Größen, d. h. die Existenz nicht unmittelbar gegebener Größen zu keinerlei Unverträglichkeiten führt. Dies geschieht am Besten auf indirektem Weg, indem ich zeige, daß gerade die immanenten Systeme an Widersprüchen kranken, deren Grund in der Unmöglichkeit liegt, die Leugnung der Dinge-ansich mit der Rechtmäßikeit der empirischen Forschungsmethoden und ihrer sichersten Grundsätze zu vereinen.

Ich drehe also den Spieß um und bezichtige den Immanenzstandpunkt des Widerspruchs, indem ich behaupte, daß unter seinen Voraussetzungen die Anwendung der Prinzipien der wissenschaftlichen Einzelforschung (auf welche gerade von dieser Seite so großes Gewicht gelegt wird) ihren guten Sinn verliert und innerhalb seines Gedankenkreises nur dadurch gerechtfertigt erscheinen kann, daß versteckte Annahmen eingeführt werden, welche in Wahrheit der Setzung eines Dings-ansich gleichkommen.

In der reinsten Form finden wir die zu besprechende Ansicht bei AVENARIUS und bei MACH. Im Anschluß an diese Denker sei daher hier das Wesentliche des Immanenzstandpunktes dargestellt und kritisch beleuchtet. In der Heraushebung der Grundsätze will ich dabei der Darstellung MACHs folgen, die den Vorzug großer Anschaulichkeit hat; wo es aber auf die genaue logische Analyse der entscheidenden Punkte ankommt, halte ich mich an die Formulierungen von AVENARIUS, welche in ihrer peinlichen Exaktheit diejenigen von MACH bei weitem übertreffen.


Die Lehre der Immanenzphilosophie ist also nun Folgende: Streifen wir alle ungerechtfertigten und überflüssigen Denkzutaten ab, so erkennen wir, daß die Welt ein Zusammenhang von Farben, Tönen, Gerüchen, Geschmäcken, Drucken usw. ist. Diese "Elemente" (so bezeichnen sie MACH und AVENARIUS, während z. B. THEODOR ZIEHEN von "Gignomenen" redet) sind immer in irgendwelchen Verknüpfungen untereinander gegeben; sie können niemals ganz aus ihnen losgelöst werden, und es hat keinen Sinn zu fragen, wie sie etwa "ansich" beschaffen sind, abgesehen von allem Zusammenhang mit anderen Elementen. Jene Verknüpfungen sind immer wechselnd, aber es treten in ihnen doch relativ beständige Zusammenhänge hervor, die sich vom mehr Veränderlichen abheben, in besonderen Vorstellungen zusammengefaßt werden und eigene Namen erhalten. Was wir z. B. Körper nennen, sind relativ konstant verknüpfte Komplexe von Farben, Drucken usw.
    "Als relativ beständig zeigt sich ferner der an einen besonderen Körper (den Leib) gebundene Komplex von Erinnerungen, Stimmungen, Gefühlen, welcher als Ich bezeichnet wird." (Analyse der Empfindungen, Seite 2) "nicht die Körper erzeugen Empfindungen, sondern Elementenkomplexe (Empfindungskomplexe) bilden die Körper".
Ebensogut wie in meinem Ich können die Elemente auch in anderen Ichen zusammengeballt sein: "Ganz unwillkürlich führt das Verhältnis zum Bild einer zähen Masse, welche an mancher Stelle (dem Ich) fester zusammenhängt" (a. a. O., Seite 14). Die Wissenschaft hat nun die Aufgabe, die Abhängigkeit der Elemente voneinander auf die einfachste, möglichst ökonomische Art zu beschreiben. Untersuche ich die Abhängigkeit von Elementen untereinander, die den Komplexen "Körper" angehören, so treibe ich Physik, untersuche ich aber die Abhängigkeit irgendwelcher Elemente von solchen, die dem (natürlich niemals scharf abgegrenzten) Komplex "Ich" angehören, so treibe ich Psychologie.
    "Nicht der Stoff, sondern die Untersuchungsrichtung ist in beiden Gebieten verschieden." (Seite 14) "In der sinnlichen Sphäre meines Bewußtseins ist jedes Objekt zugleich physisch und psychisch." (Seite 36).
Die Elemente sind an den Orten, wo sie räumlich lokalisiert wahrgenommen, erlebt werden, nicht etwa im Gehirn, von wo sie erst in den Raum hinausprojiziert werden.

Es ist ein großzügiges Weltbild von erstaunlicher Einfachheit, das uns hier entworfen wird, scheinbar notwendig widerspruchslos, denn es ist ja alles ausgemerzt, das nicht der über allen Zweifel erhabenen Region des schlechthin Gegebenen angehört. Alle Bedürfnisse der Wissenschaft, scheint es, werden in ihm vollkommen befriedigt, denn man muß sich nur klar machen,
    "... daß nur die Ermittlung von Funktionalbeziehungen für uns Wert hat, daß es lediglich die Abhängigkeiten der Erlebnisse voneinaner sind, die wir zu kennen wünschen". (Seite 28)
Die letztere Behauptung enthält natürlich etwas Richtiges, denn alle Wahrheit - und um Wahrheit allein ist es ja der Wissenschaft zu tun - offenbart sich uns nur in bestimmten Erlebnissen der Verifikation (siehe oben II, § 20).

In dieser Weltansicht hat das Ding-ansich keinen Platz, und der Immanenzphilosoph ist froh, dieses, wie es ihm scheint, überflüssige und wertlose Phantasiegebilde los zu sein; im Übrigen aber kann man sagen - und mit diesen Worten läßt ein scharfsinniger Kritiker (25) MACHs dessen Philosophie Gerechtigkeit widerfahren:
    "Nichts Wertvolles fehlt diesem Weltbild, nicht das fremde Ich, nicht die Welt, d. h. eine unendliche Mannigfaltigkeit von Elementen, nicht Ordnung und Gesetzmäßigkeit in dieser Welt, nicht die Realität dieser Welt, nicht ihre Entwicklung ..."
Der Standpunkt für den Aufbau dieses Weltbildes ist so günstig gewählt, daß der Immanenzphilosoph gleich weit entfernt bleibt von den Gefahren des Dualismus und Materialismus, wie vom subjektiven Idealismus mit seiner steten Gefahr, die Verbindung mit der Außenwelt ganz zu verlieren und in den Abgrund des Solipsismus hinabzugleiten. Um die beschriebene Ansicht prüfen zu können, muß man sich ganz in sie einleben, und wer sie ohne eine solche Vorbereitung angreift, wird meist sein Ziel verfehlen (vgl. die treffende Abwehr unzureichender gegen MACH gerichteter Argumente, in der soeben zitierten Arbeit. Die Einfühlung in ein philosophisches System besteht nun aber darin, daß man sich bei jeder einzelnen Frage und Aussage des Lebens und der Wissenschaft genau vergegenwärtigt, welchen eigentlichen Sinn jene Frage oder Aussage innerhalb des Systems annimmt. Macht man sich die Immanenzgedanken in dieser Weise zu eigen, so bemerkt man bald, daß sich gewisse Schwierigkeiten ergeben bei der Deutung all derjenigen Sätze, in denen von Körpern oder Vorgängen die Rede ist, deren Elemente niemandem gegeben sind; ja auch dort schon, wo die Elemente des Gegenstandes mehreren Individuen auf einmal gegeben sind.


Ich betrachte zunächst den ersten Fall.

Daß wir in alltäglichen wie wissenschaftlichen Urteilen immerfort von körperlichen Gegenständen rede, die keinem Bewußtsein gegeben sind, ist fraglos. Ich spreche von den Manuskripten, die sich jetzt in meinem Schreibtisch befinden, ohne daß sie von mir oder irgendjemand anderem erlebt werden; durch den Tisch hindurch kann ich sie ja nicht wahrnehmen. Freilich waren die Elemente, deren Komplexe sie nach MACH sind, mir oft genug gegegeb, und ich kann sie mir jederzeit wieder zur Gegebenheit bringen, ich brauche dazu nur die Schublade aufzuziehen und meinen Augachsen eine bestimmte Richtung geben, oder meine Hände bestimmt Tastbewegungen ausführen zu lassen. Und ähnliches gilt von allen Gegenständen des täglichen Lebens. Das naive Individuum interessiert sich nur für Dinge, die von ihm selbst oder seinesgleichen wahrgenommen werden, wurden oder noch werden können. Die Wissenschaft aber geht darüber hinaus zu Dingen, von denen es nach ihren eigenen Prinzipien ausgeschlossen ist, daß sie nur einem einzigen Menschen gegeben sind. Sie fällt Urteile über das Innere der Sonne, über Elektronen, über magnetische Feldstärken (für die wir ja kein Sinnesorgan besitzen) usw. ... welcher Sinn kommt diesen Aussagen zu?

Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Jene nicht gegebenen Gegenstände werden entweder als wirklich bezeichnet oder nicht.

Wer die zweite Möglichkeit annimmt, erklärt damit die Begriffe von jenen Gegenständen für bloße Hilfsbegriffe ohne unmittelbare reale Bedeutung. Auf diese Position werde ich sogleich zu sprechen kommen. Vorher aber will ich die erste Möglichkeit ins Auge fassen, die in der Tat meist bevorzugt wird, obgleich dadurch eigentlich ja schon die deutlichste Verletzung ddes Grundprinzips aller Immanenzgedanken begangen ist. Der Immanenzphilosophe sucht aber die natürliche Weltansicht soviel wie nur irgend möglich beizubehalten, ja nach AVENARIUS ist gerade er es, der diese Weltansicht in ihrer völligen Reinheit bewahrt und herausstellt; und da muß er sich eben eine gewisse Transzendenz gestatten. Wir haben ja auch festgestellt, daß wohl alle Weltanschauungen sich darüber einigen können, gewisse nächstliegende Analogieschlüsse unbedenklich zuzulassen, auch wenn eine Transzendenz mit ihnen verbunden ist. Durch die Annahme einer realen Vergangenheit, ja mit jedem Urteil transzendieren wir doch bereits über das schlechthin Gegebene; und wenn der Immanenzphilosoph sein Grundprinzip so verallgemeinert fassen kann, daß auch die Setzung gewisser nicht gegebener Gegenstände als real nur diese unschuldige, und keine andersartige und weitergehende Transzendenz erfordert, so wird er sie sich gestatten dürfen, ohne sich eines Verstoßes gegen seine Grundtendenz schuldig zu fühlen. Doch weiter!

Nach der jetzt zu besprechenden Ansicht existieren reale Gegenstände auch, ohne irgendwie direkt wahrgenommen zu werden. VAIHINGER, der diesen Standpunkt als "kritischen Positivismus" bezeichnet, sagt z. B. (26):
    "... wirklich heißen wir auch solche Wahrnehmungskomplexe, welche nicht bloß etwa einmal in die Wahrnehmung treten, sondern stets wahrnehmungsfähig sind."
Da die realen Gegenstände nichts sind als Komplexe von Elementen, so müssen demnach auch Elemente Wirklichkeit besitzen, welche nicht "gegeben" sind. Hier erhebt sich aber eine gewaltige Schwierigkeitf. Bei kurzer Überlegung wird man gewahr, daß ein Körper überhaupt gar nicht aus dem Zusammenhang ganz bestimmter Elemente bestehen kann. Wir sahen ja, daß ihm nur eine relative Konstanz zugeschrieben werden darf. In der Tat, wenn ich die Blätter aus meinem Schreibtisch nehme und sie betrachte, so sind es je nach Art und Standpunkt der Betrachtung gänzlich verschiedene Elemente, deren Miteinander das Wesen der Papierblätter ausmacht: bei direktem Aufblick andere als bei seitlichem, bei künstlicher Beleuchtung anders als am Tag; jeder kleine Schatten, jede Bewegung ändert die Elemente erheblich; niemals wird es vorkommen, daß mir ein und derselbe Körper auch nur zweimal als genau derselbe Elementenkomplex gegeben ist. Welcher jener unendlich vielen Elementenkomplexe existiert also nun eigentlich, wenn niemad das Papier wahrnimmt? Natürlich nicht etwa ihre Gesamtheit, denn die ist unendlich mannigfach und enthält einander widersprechende Elemente, und während mir der Körper gegeben ist, besteht er doch in einem bestimmten Zeitpunkt immer nur aus einem ganz bestimmten Komplex. Der nicht gegebene Körper kann aber auch nicht aus irgendeinem derjenigen Komplexe bestehen, die ihn bilden, wenn er gegeben ist, denn es fehlt der zureichende Grund, warum der eine als der andere von diesen Komplexen den Vorzug haben sollte. Keine von beiden Annahmen also ist haltbar, und eine dritte willkürlich zu wählen hat der Immanenzphilosoph auf seinem Standpunkt vollends kein Recht.

Er kann gegenüber dieser Frage nur eine Haltung einnehmen: er muß sie als falsch gestellt zurückweisen und muß sagen, daß wir mit unserer Frage die Körperelemente in unerlaubter Weise loslösen aus den Verbindungen, in welchen sie sonst immer vorgefunden werden. Sie treten doch stets nur auf in Verknüpfungen mit Elementen von "Ich"-Komplexen; ein Körper ist mir nur "gegeben", wenn zwischen seinen Elementen und denen meiner Sinnesorgane bestimmte Beziehungen bestehen. Es ist gänzlich sinnlos, sie aus diesen Beziehungen loslösen zu wollen. Populär ausgedrückt: es ist ein Widerspruch, zu fragen: "Wie sieht ein Ding aus, wenn niemand es sieht?"

Die Frage also: Welche Elemente bilden einen realen Gegenstand, während er nicht wahrgenommen wird? muß als sinnlos von vornherein abgelehnt werden. Dieser unvermeidliche Schritt, der von MACH und AVENARIUS natürlich auch vollzogen wird, bedingt aber eine nicht unwesentliche Modifikation der MACHschen Formulierung (bei AVENARIUS findet sie sich daher auch nicht), der Körper selbst besteht aus zu einem Komplex vereinigten Elementen.

Ehe ich aber auf diese notwendige Modifikation eingehe, will ich zur Sicherheit noch einen Versuch mancher Philosophen betrachten, jene Formulierung aufrecht zu erhalten.
    "Alle Schwierigkeiten", sagt nämlich Joseph Petzoldt (27), "die Elementenverbände der optischen und taktilen Qualitäten auch unabhängig von ihrer Wahrnehmung noch existierend zu denken, rühren nur daher, daß man sich so schwer von der Vorstellung eines absoluten Seins losmacht und sich nicht genügend in den Gedanken einer relativen Existenz versenkt."
Daß seine Ansicht sich nicht in Widersprüche verwickelt, sucht er ddann durch folgende Ausführungen darzulegen (28):
    "Im bloßen Weiterbestehenlassen der Dinge auch nach ihrer Wahrnehmung - von den ihnen beizulegenden Qualitäten abgesehen - liegt kein Widerspruch: sie füllen ja ihren besonderen Raum aus und stören meine gegenwärtigen Wahrnehmungen nicht im Geringsten. Der Widerspruch könnte also nur in den Qualitäten liegen, mit denen ich sie fortexistierend denke, und allerdings würde er sich sofort geltend machen, wenn ich eine absolute, für jeden gleiche Fortexistenz dächte. Denke ich aber die Dinge genau wie schon bei der Wahrnehmung durch verschiedenartige Individuen auch bei der Fortexistenz für jede Individualität anders, anders für den Farbenblinden, anders für den Tauben, anders für den völlig Blinden, anders für eine etwaige, von der menschlichen überhaupt abweichend organisierte Intelligenz, so woll da nur ein Widerspruch, etwas Undenkbares liegen?"
Leistet diese Argumentation wirklich die versprochene Beseitigung des Widerspruchs? Ich muß es leider verneinen. PETZOLDT sagt und zeigt nur, daß keine Ungereimtheit darin liegt, ein Ding für verschiedene Individuen verschieden zu denken, und er hätte doch zeigen müssen, daß ein und dasselbe Ding für verschiedene Wesen Entgegengesetztes sein kann, rot und nichtrot, hart und nichthart, und zwar unabhängig von seinem Wahrgenommenwerden, denn darum handelt es sich ja gerade. Beides fiele nur zusammen, wenn Sein und Gedachtwerden (Vorgestelltwerden) dasselbe sind; und nicht nur ich leugne das Recht, diese Identifikation zu vollziehen, sondern der Autor versichert uns ja selber, daß hier von eine Dasein unabhängig vom Beobachter die Rede ist. Er bestätigt noch einmal (a. a. O., Seite 145), daß "Dasein ... nicht nur im Wahrgenommenwerden besteht. Er erklärt in Bezug auf die Urzeit der Erde, die keines Menschen Auge sah
    "die Vorstellung jener entlegenen Periode durchaus von uns abhängig. Keineswegs aber wird jene Zeit damit zur bloßen Vorstellung von uns. In ihrer Existenz ist sie vielmehr von uns völlig unabhängig."
Ist also Existenz nicht mit dem Wahrgenommenwerden und nicht mit einem Vorgestelltwerden identisch, fallen esse und percipi auseinander, so bleibt der Widerspruch unaufgelöst, der darin besteh, das Wesen ein und desselben G gleichzeitig in unendlich vielen Elementenkomplexen K1, K2, K3, ... zu suchen, die sich mir und allen nur denkbaren Individuen unter allen nur denkbaren Bedingungen darbieten würden und die folglich alle zugleich und alle in gleicher Weise real sein sollen, während niemand den Gegenstand wahrnimmt. Man wird vielleicht sagen, es könnten doch ohne Widerspruch all die Urteile G = K1, G = K2 usw. zugleich als wahr angenommen werden. Das ist nur dann richtig, wenn nicht jedes dieser Urteile eine völlige Identität aussprechen soll: gerade dies aber ist hier tatsächlich der Fall. Jedes der K soll ja das Wesen des G vollständig angeben, G soll nichts neben oder außer oder hinter K sein, sondern ganz in K aufgehen, das macht ja eben bei PETZOLDT den Begriff der relativen Existenz aus. Nur lehrt aber die Logik, daß alle jene Urteile nur dann Identitäten sind, wenn alle K ein und dasselbe bedeuten; und das ist gegen die Voraussetzung. Bedeuten sie aber nicht dasselbe, so sind die Urteile keine Identitäten, G ist nicht identisch mit K, sondern dann sind die K eben Eigenschaften oder Beziehungen oder wie man es sonst auffassen mag, und damit sind wir beim Begriff des Dings angelangt, welches nicht mehr bloß ein Elementenkomplex ist: G ist nicht mehr eins der K, es liegt höchstens den K zugrunde. Die K sind alle verschieden; woher also das Recht, sie alle als ein und dasselbe G zu bezeichnen? Auf dem dargestellten Standpunkt existiert dieses Recht schlechterdings nicht. Kurz: die Formulierung, ein nicht gegebener realer Gegenstand ist nichts als ein Elementenkomplex, muß, wie gesagt, modifiziert werden.


Wenn ich Beleuchtung und Stellung wechsle, also die Beziehung eines Körpers zu mir und zur Umgebung ändere, oder wenn nicht ich, sondern ein Farbenblinder ihn ansieht, so sind es neue Elemente, die zu einem neuen Komplex zusammentreten, und doch rede ich noch von demselben Körper. Der eine Gegenstand wird unter anderen Bedingungen von anderen Elementen gebildet. Daraus folgt, ddaß ich auf die Frage: welche Elemente bilden den Körper? immer noch die Gesamtheit der Bedingungen angeben muß, damit die Frage einen Sinn erhält. Was ist aber dann das Konstante, das mich berechtigt, die Abwandlungsreihe der Elementenverbände unter dem Begriff des einen Körpers zusammenzufassen?

Nun, offenbar die Gesetzmäßigkeit ihres Zusammenhangs. Diese Gesetzmäßigkeit, dieser Inbegriff von Beziehungen macht also - zu dieser Folgerung sieht sich die besprochene Lehre gedrängt - das wahre Wesen des Körpers aus. Auf unser Beispiel angewandt: wenn ich die Existenz der Papierblätter in meinem Schreibtisch behaupte, so sage ich damit nicht das Vorhandensein bestimmter Elemente "ansich" aus, sondern meine Erklärung bedeutet, daß sich unter ganz bestimmten Bedingungen an bestimmten Orten bestimmte Elemente einstellen werden. Wenn ich den Schubkasten aufziehe, wenn ich meinen Kopf in die und die Lage bringe, wenn die Beleuchtung so und so beschaffen ist, dann tritt an der und der Stelle das Element "weiß" auf, daneben das Element "grau" (wo das Papier mehr beschattet ist); wenn ich meine Hand ausstrecke, so treten bestimmte andere Elemente (Tastempfindungen) hinzu, usw.

Die Behauptung der Existenz eines nicht wahrgenommenen Dings bedeutet also hiernach nicht, daß gewisse Elemente jetzt tatsächlich da sind, sondern nur, daß sie auftreten würden, sobald bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Hier haben wir aber genau denselben Gedanken vor uns, welcher die Theorie der permanenten Empfindungsmöglichkeiten von MILL ausmacht; zu ihr führt der entwickelte Standpunkt mit unausweichlicher Konsequenz. Er ist daher auch genau den gleichen Einwänden ausgesetzt wie jene.

Man kann diesen Einwänden nicht dadurch entgehen, daß man das Wort "Möglichkeit" vermeidet und statt dessen von "Funktionalbeziehungen" redet. MACH sagt an einer Stelle (Analyse der Empfindungen, Seite 296:
    "Dagegen muß ich bemerken, daß für mich die Welt keine bloße Summe von Empfindungen ist. Vielmehr spreche ich ausdrücklich von Funktionalbeziehungen der Elemente. Damit sind aber die Mill'schen Möglichkeiten nicht nur überflüssig geworden, sondern durch etwas weit Solideres, den mathematischen Funktionsbegriff, ersetzt."
Logisch betrachtet ist nun allerdings der mathematische Funktionsbegriff solide genug, aber gerade vom Gesichtspunkt der Realitätsfrage doch wiederum etwas recht Schemenhaftes, denn er ist ja eben nichts Wirkliches, sondern ein Begriff. Darüber müssen wir uns klar sein: Wenn es heißt, ein Körper besteht in gewissen Abhängigkeiten, in gewissen Funktionalbeziehungen der Elemente voneinander, so bedeutet dies, falls man fortfährt, von ihm als etwas Wirklichem zu reden, daß man bloße Begriffe, nämlich reine Funktionalbeziehungen, in das Reich der Realität erhebt und hypostasiert [vergegenständlicht - wp]. Dieses Verfahren ist aber natürlich unter allen Umständen zulässig.

Halten wir uns doch vor Augen, was es mit dem mathematischen Funktionsbegriff und seiner Anwendung auf die Wirklichkeit auf sich hat! Wenn wir ein Stück Papier hin und her wenden oder es zusammenrollen, so wechseln die Elemente des Komplexes "Papierblatt" (und auch diejenigen meiner das Blatt haltenden Hand usw.) dabei in ganz bestimmter Weise. Mit der Änderung der einen gehen Änderungen der anderen einher, in der Dunkelheit verschwinden die optischen Elemente ganz und es bleiben nur die haptischen bestehen; diese Abhängigkeit könnten wir uns durch ein Gesetz mit Hilfe mathematischer Funktionen dergestalt denken - tatsächlich darstellen können wir sie freilich in Wahrheit niemals, aus prinzipiellen Gründen, auf die wir später zurückkommen -; dieses Gesetz ist dann eben eine begriffliche Schöpfung, eine Abstraktion. Wirklich sind nur die Elemente und ihre Änderungen. Dies gilt von jedem Gesetz, jeder allgemeinen Abhängigkeitsbeziehung. Das Gravitationsgesetz NEWTONs kann nimmermehr als etwas wirklich Seiendes bezeichnet werden, nur als etwas "Geltendes" [lotzgelt] in der Ausdrucksweise LOTZEs, es ist nicht irgendwo oder irgendwann; wirklich ist allein das Verhalten der Körper, das wir durch die Formel NEWTONs nur beschreiben.

Es ist ferner zu beachten: Solange das Papier wahrgenommen wird, könnte man wohl sagen, sein Wesen besteht in einem Zusammenhang der Elemente weiß, glatt, viereckig usw., denn solange die Elemente selbst da sind, ist ja auch ihr Zusammenhang etwas Reales; während der Wahrnehmungspausen aber, in welchen kein Auge das Papier erschaut, keine Hand es ertastet, ist das gewiß nicht mehr erlaubt, denn jene Elemente existieren ja jetzt gar nicht mehr. Nun wird man sicherlich nicht die Absicht haben, etwas Wirkliches definieren zu wollen als eine Beziehung zwischen unwirklichen Größen; es bleibt also nur übrig, den Körper (das Papier) in diesem Fall aufzufassen als eine Funktionalbeziehung zwischen den gerade jetzt tatsächlich gegebenen Elementen, also z. B. meinen Händen, die ja in der Tat, wenn sie gewisse Manipulationen vornehmen, das Papier zum Vorschein bringen werden. Eine derartige Auffassung könnte man durch den Hinweis zu legitimieren suchen, daß doch alle Elemente mit allen anderen irgendwie zusammenhängen; aber ökonomisch und mit dem natürlichen naiven Wirklichkeitsbegriff vereinbar wäre sie selbst dann nicht, wenn es anginge, das Wesen der Realität überhaupt in Funktionalbeziehungen zu suchen.

Das geht aber nun durchaus nicht an. Der abstrakt logische Konditionalsatz, daß bestimmte Elemente auftreten, wenn gewisse Bedingungen erfüllt sind (vielleich werden sie aber nie erfüllt), dieser Satz kann unmöglich als der ganze Inhalt einer Existentialbehauptung eines Körpers verstanden werden; dann würde ja die Gültigkeit abstrakter Sätze mit dem Sein realer Dinge identifiziert werden: das läge ganz gewiß nicht im Sinne der Immanenzphilosophie und widerspräche ihrer Grundidee. Wir hätten eine neue Metaphysik, die Begriffe zu Wirklichkeiten macht wie nur irgendeines der alten verpönten Systeme.

Wer da sagt, ein Ding der Außenwelt ist ein gesetzmäßiger Zusammenhang von Elementen, der auch besteht, wenn die Elemente selbst nicht gegeben sind (29) und dann glaubt, den Dingen damit dieselbe Realität zugesprochen zu haben, wie sie etwa ein Sinnesdatum besitzt, der hat das Gesetz dadurch verdinglicht, und seine Begriffsbildung ist identisch mit dem Begriff der Kraft, wie er in einer nunmehr überwundenen Phase der Naturwissenschaft herrschend war. Die Gesetzlichkeit des Zusammenhangs ist ihm tatsächlich zu einer Macht geworden, welche gewisse Elemente einfach erzeugt, sobald gewisse Bedingungen vorhanden sind. "Das Gesetz als objektive Macht anerkannt, nennen wir Kraft", schrieb HELMHOLTZ im Jahr 1881 (in den Anmerkungen zu seiner Schrift über die Erhaltung der Kraft). Was im Begriff der permanenten Möglichkeiten der Empfindungen oder in einem "objektiv existierenden Gesetz" gedacht wird, ist ganz genau dasselbe, was man sonst unter dem Begriff der Kraft zu denken pflegte - wenn man sich auch nicht entschließen will, es so zu nennen. Damit ist der beschriebene Standpunkt zum Dynamismus geworden; die Welt der Außendinge ist für beide ein System von Kräften. Sie bezeichnen es zwar mit verschiedenen Worten, aber darauf kann es doch nicht ankommen; sachlich besteht kein Unterschied zwischen beiden Positionen. Der Immanenzstandpunkt ist auf diese Weise jedenfalls verlassen. Und eben dies mußte hier gezeigt werden.

Der Fehler besteht eben darin, daß hier unternommen wird, die Wirklichkeit eines Körpers zu definieren; alle diese Versuche müssen zu Ungereimtheiten führen, sie laufen auf die Erklärung des Wirklichen durch das Mögliche bei MILL hinaus. Der Begriff des Realen kann nicht auf unwirkliche Begriffe zurückgeführt, er muß dem Erleben entnommen werden. Begriffe und Realitäten sind nun einmal unvergleichbar verschieden und können nicht ineinander übergeführt werden. Nur die Anerkennung dieser Unterscheidung macht logisches Denken möglich, und jede Verwischung des Unterschiedes führte zu großen Fehlern der historischen metaphyischen Systeme. Es ist aber einer der charakteristischen Züge des immanenten Positivismus, daß er reale und rein begriffliche Verhältnisse miteinander vermengt. MACH sagt (Analyse der Empfindungen, Seite 296):
    "Für den Naturforscher (?) ist die Kluft zwischen der anschaulichen Vorstellung und dem begrifflichen Denken nicht so groß und nicht unüberbrückbar."
Gewiß kann dieser Satz auch in einem Sinn verstanden werden, in welchem er vollständig richtig ist, aber er ist falsch in jedem Sinn, in dem er dazu verführen kann, die Wirklichkeit aus mathematischen Funktionsbegriffen zu konstruieren.
LITERATUR - Moritz Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre, Berlin 1918