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GUSTAV STÖRRING
Einführung in die Erkenntnistheorie
[Eine Auseinandersetzung mit dem Positivismus
und dem erkenntnistheoretischen Idealismus]

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"Der Logiker hat es mit dem richtigen Denken zu tun. Die Psychologie stellt fest, wie tatsächlich gedacht wird, die Logik interessiert sich dafür nicht, sie fragt nach dem richtigen Denken. Sie hat Kriterien für richtiges Denken aufzustellen. Damit ist der Logik eine Aufgabe gestellt, welche abseits von der Aufgabe der Psychologie liegt."


E i n l e i t u n g
Die Stellung der Erkenntnistheorie in der
Philosophie und speziell zur Logik

Zur Einleitung in die Behandlung der Grundprobleme der Erkenntnistheorie ist es zweckmäßig, die Beziehung der Erkenntnistheorie zu den übrigen philosophischen Disziplinen zu bestimmen. Um aber die Stellung der Erkenntnistheorie in der Philosophie zu erkennen, muß man sich die Aufgaben der Philosophie klar machen. Die Anschauungen über die Aufgaben der Philosophie treten uns in den Definitionen entgegen, die von der Philosophie gegeben sind.

Die Definitionen der Philosophie, welche wir in der Geschichte der Philosophie vorfinden, weichen beträchtlich voneinander ab. Und auch in der Gegenwart sind diese Definitionen noch different.

Wir wollen uns über die wichtigsten Definitionen der Philosophie, wie sie in der Gegenwart gegeben werden, orientieren und aus der Kritik derselben unsere eigene Auffassung entstehen lassen.

Die Philosophie findet man in der Gegenwart von einigen Autoren als Wissenschaft von der inneren Erfahrung definiert, wobei sie in einen Gegensatz gesetzt ist zur Naturwissenschaft als der Wissenschaft von der äußeren Erfahrung. Auf innerer Erfahrung beruhen Psychologie, Logik, Ethik, Ästhetik. Dabei wird die Psychologie als die allgemeine philosophische Disziplin hingestellt, Logik, Ästhetik und Ethik gelten als spezielle philosophische Disziplinen.

Eine solche Definition der Philosophie ist besonders deshalb mangelhaft, weil bei ihr die Erkenntnistheorie und die Metaphysik in der Philosophie keine Stelle finden.

Es gehört aber jedenfalls zu den Aufgaben der Philosophie, die Voraussetzungen, mit denen die Einzelwissenschaften arbeiten, begrifflich zu fixieren und nach ihrer Gültigkeit zu fragen, nach der Gültigkeit unseres Kausalbegriffs, unserer Raumvorstellung, unserer Zeitvorstellung, der Annahme der Existenz einer Außenwelt und dgl. Mit solchen Fragen beschäftigt sich die Erkenntnistheorie. Von jeher, seit diese Probleme aufgeworfen werden, hat man sie zur Philosophie gerechnet. Es ist ein großer Unterschied, ob ich nach der Entstehung dieser Vorstellungsweisen oder ob ich nach ihrer Gültigkeit frage. Es ist aber nicht Sache der Psychologie, die Frage nach der Gültigkeit dieser Vorstellungsweisen zu behandeln.

Die Metaphysik sodann sucht eine allgemeine Weltanschauung zu gewinnen. Die Metaphysik alter Schule behandelt die rationale Psychologie, die Kosmologie und die rationale Theologie, fragt also nach dem Wesen der menschlichen Seele, nach dem Wesen der Materie und erörtert die Frage nach der Existenz Gottes. Neben diesen Disziplinen behandelt sie in einer allgemeinen Disziplin, der Ontologie, die Lehre vom Sein überhaupt. Solche metaphysischen Anschauungen sind der Monismus und der Dualismus, der Materialismus und der Spiritualismus. Der Monist sagt, daß das, was uns als Körper und Geist erscheint, in Wirklichkeit nur eins ist. Während der Materialist das, was uns als Geist erscheint, auf materielle Prinzipien zurückführt, behauptet der Spiritualist, daß das, was uns als Materie erscheint, im letzten Grund auch etwas Geistiges ist. Der Dualist hingegen läßt das, was uns als Geistiges erscheint, als Geistiges gelten, und das, was uns als Körperliches erscheint, als Körperliches.

Autoren nun, welche die Auffassung von der Philosophie als der Wissenschaft von der inneren Erfahrung haben, könnten sagen: wenn bei unserer Bestimmung der Philosophie als Wissenschaft von der inneren Erfahrung die Metaphysik in derselben keine Stelle findet, so schadet das nichts, ihr gebührt darin auch keine Stelle, sie ist überhaupt als Wissenschaft nicht möglich. Darauf ist zu antworten: Die metaphysischen Untersuchungen entspringen, wie KANT sich ausdrückt, einem "unhintertreibbaren Bedürfnis der menschlichen Natur", bedürfen also jedenfalls einer wissenschaftlichen Untersuchung. Die Metaphysik würde eine wissenschaftliche Disziplin selbst dann bleiben, wenn sich bei näherer Untersuchung ergäbe, daß wir über solche Dinge nichts wissen können. In neuerer Zeit ist man meist der Anschauung, daß die Sache sogar viel günstiger steht. Wenn man die Weltanschauungslehre auf die Einzelwissenschaften gründet, so kann man sehr wohl Bestimmungen über diese Fragen machen - allerdings nur solche von sehr hypothetischer Natur. Das sei aber doch nicht gefährlich, wenn man sich des Grades der Hypothesis dieser Bestimmungen stets bewußt bleibt.

So muß uns also die Definition der Philosophie als Wissenschaft von der inneren Erfahrung schon deshalb ungeeignet erscheinen, weil die Erkenntnistheorie und die Metaphysik darin keine Stelle finden.

Einer anderen Reihe von Autoren erscheinen durch die Definition der Philosophie als Wissenschaft von der inneren Erfahrung Disziplinen in die Philosophie aufgenommen, die nicht zu ihr gehören. Sie stellen die Philosophie als Lehre vom Erkennen in einen Gegensatz zu den Einzelwissenschaften.

Die Philosophie, so sagen sie, hat es mit den Prinzipien des Erkennens zu tun. Der Einzelwissenschaftler ist erkennend tätig, ohne das Erkennen selbst zu untersuchen. Das Erkennen selbst zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung zu machen, fällt folglich einer allgemeinen Wissenschaft zu, der Philosophie. Die Philosophie ist hiernach die Lehre vom Erkennen, sie ist Logik und Erkenntnistheorie. Sie behandelt in der Logik die Methode des Erkennens und in der Erkenntnistheorie die beim einzelwissenschaftlichen Erkennen gemachten Voraussetzungen. Das ist jedenfalls eine sehr plausible Betrachtungsweise.

Von diesen Autoren werden Psychologie, Ästhetik und Ethik als einzelwissenschaftliche Disziplinen betrachtet.

Ich habe gegen diese Betrachtungsweise geltend zu machen, daß hier die Metaphysik wie bei der erstbesprochenen Definition keine gehörige Würdigung findet. Sodann wird sich uns später zeigen, daß es zweckmäßig ist, auch die Ethik zur Philosophie zu rechnen.

Andere Bestimmungen über die Aufgabe der Philosophie machen Autoren, die sich an AUGUSTE COMTE anschließen. Nach COMTE soll die Philosophie Gesamtwissenschaft sein, die in enzyklopädischer Weise eine systematische Darstellung der Hauptfaktoren der Einzelwissenschaften gibt, die Gesetze der Entwicklung der Wissenschaften bestimmt, worauf sie eine Klassifizierung der Wissenschaften gründen muß, und welche die Hauptmethoden der Einzelwissenschaften untersucht.

Man darf sich nicht mit Untersuchungen metaphysischer Art befassen, das führt, wie COMTE meint, stets zu Spitzfindigkeiten, man muß sich eng an die Tatsachen halten, die nächsten Ursachen für die gesetzmäßigen Veränderungen bestimmen - oder noch genauer: die nächsten Bedingungen für die gesetzmäßigen Veränderungen, denn man darf nicht mit dem Begriff von Ursachen operieren, durch welche gewisse Veränderungen hervorgebracht werden.

Bei dieser Auffassung kommt nicht bloß die Metaphysik zu kurz: in seiner Polemik gegen dieselbe hat er eine Weltanschauungslehre im Auge, welche durch Begriffskonstruktionen Bestimmungen über das Sein macht, ohne sich um die Einzelwissenschaften zu kümmern, nicht eine Metaphysik, die sich auf die Einzelwissenschaften gründet. Viel schlimmer ist noch, daß der Autor die Aufgaben einer Theorie des Erkennens übersieht; derartige Probleme liegen COMTE offenbar ganz fern.

Die Ethik wird bei dieser Betrachtungsweise zu einem Teil der Soziologie.

Eine merkwürdige Stellung nimmt die Psychologie ein. Sie fällt der Biologie und der Soziologie zu. COMTE hat nämlich die Anschauung, daß eine Selbstbeobachtung unmöglich ist, da sie eine Selbstverdoppelung in sich schließt, kann das Ich nicht Subjekt und Objekt der Beobachtung zugleich sein. Deshalb kann man die psychischen Phänomene nur untersuchen, indem man sich an ihre Wirkungen und an ihre Ursachen hält. Man ist deshalb, wenn man Aufschluß über die psychischen Phänomene haben will, angewiesen, einerseits das Gehirn und seine Funktionen zu untersuchen, andererseits die geistigen Erzeugnisse.

Eine Kritik dieser Auffassung habe ich an einem anderen Ort gegeben. (1)

COMTEs Bestimmung der Aufgaben der Philosophie zeigt also erhebliche Mängel.

Bevor ich zur Behandlung derjenigen Auffassung übergehe, die mir am meisten den gegebenen Tatbeständen gerecht zu werden scheint, einer Auffassung, welche eine Ergänzung der hier zu zweit behandelten Bestimmungen darstellt, will ich noch die interessante Anschauung WINDELBANDs über die Aufgabe der Phhilosophie erwähnen. Nach ihm ist die Philosophie die Wissenschaft von den absoluten Werten. Solche absolute Werte kommen in der Logik, der Ethik und in der Ästhetik zur Behandlung. Nach WINDELBAND hat es für die Philosophie keinen Sinn, zu fragen, welche Bestimmungen auf den Gebieten der logischen, ethischen und ästhetischen Beurteilungen etwa wirklich allgemein gelten, oder zu untersuchen, "welche sich mit psychologischer und kulturgeschichtlicher Notwendigkeit immer geltend machen oder geltend gemacht haben".
    "In keiner von beiden Richtungen findet man ein Kriterium dessen, was gelten sollen. Die Masse oder gar die Majorität ist nicht das Tribunal, vor dem der absolute Wert entschieden wird, und der Nachweis der Ursachen ihres Verhaltens ist keine Begründung ihrer Berechtigung ... Wir glauben an ein höheres Gesetz als das der naturnotwendigen Entstehung aller unserer Beurteilungen, - an ein Recht, das ihren Wert bestimmt. ... Überall also, wo das empirische Bewußtsein diese ideale Notwendigkeit dessen, was allgemein gelten soll, in sich entdeckt, stößt es auf ein normales Bewußtsein, dessen Wesen für uns darin besteht, daß wir überzeugt sind, es solle wirklich sein, ohne Rücksicht darauf, ob es in der naturnotwendigen Entfaltung des empirischen Bewußtseins wirklich ist. ... Nichts anderes nun ist die Philosophie als die Besinnung auf dieses Normalbewußtsein, als die wissenschaftliche Untersuchung darüber, welche von den Inhaltsbestimmungen und Formen des empirischen Bewußtseins den Wert des Normalbewußtseins haben. Im empirischen Bewußtsein des Individuums, der Völker, der Menschen kommen sie ebenso notwendig, wie alle Torheit, alle Verworfenheit, alle Geschmacklosigkeit zustande! Und die Aufgabe der Philosophie ist es, aus diesem Chaos individueller oder tatsächlich allgemeiner Werte diejenigen herauszufinden, denen die Notwendigkeit des normalen Bewußtseins anhaftet. Diese Notwendigkeit ist in keinem Fall irgendwo abzuleiten, sie kann nur aufgewiesen werden; sie wird nicht erzeugt, sondern nur zu Bewußtsein gebracht. Das einzige, was die Philosophie tun kann, besteht darin, dieses Normalbewußtsein aus den Bewegungen des empirischen Bewußtseins hervorspringen zu lassen und auf die unmittelbare Evidenz zu vertrauen, mit welcher seine Normalität sich, sobald sie einmal zu einem klaren Bewußtsein gekommen ist, in jedem Individuum ebenso wirksam und geltend macht, wie sie gelten soll." (2)
Ich gebe WINDELBAND zu, daß mit der Aufweisung der Ursachen einer Vorstellungsweise oder einer Wertschätzung kein Nachweis der Berechtigung derselben erbracht ist und es ist wichtig, dies zu betonen - aber die Aufweisung von Ursachen kann uns Handhaben geben, einen solchen Beweis zu erbringen. Was die Ethik betrifft, so würden psychogenetische Bestimmungen über sittliche Wertschätzungen doch sicherlich dann wertvolle Handhaben zur Entscheidung der Frage geben, ob gewisse Wertschätzungen für die Menschen bleibende Bedeutung haben, wenn sich zeigen ließe, daß sie von solchen allgemeinen psychischen Funktionen des Menschen abhängen, wie der Eigenschaft des menschlichen Bewußtseins, mit Empfindungen Gefühlszustände zu verbinden, wie der Fähigkeit, diese Gefühlszustände zu reproduzieren und von ähnlichen allgemeinen Eigenschaften des menschlichen Bewußtseins. Denn dann würde man sagen: die mit der Entwicklung dieser allgemeinen psychischen Funktionen des Menschen gesetzten Wertschätzungen bleiben, solange die menschliche Natur keine fundamentale Umgestaltung erfährt, sind also gültig für den Menschen unter den verschiedensten Lebensbedingungen. Ob es solche Wertschätzungen gibt, das kann ich hier nicht untersuchen. WINDELBAND hätte beweisen müssen, daß es sie nicht gibt, sonst ist seine Behauptung nicht bewiesen, daß psychogenetische Untersuchungen keine Bedeutung für die Rechtfertigung des Pflichtbewußtseins haben. Daß es tatsächlich solche Wertschätzungen gibt, glaube ich in meinen "Ethischen Grundlagen" gezeigt zu haben (3).

Der Hinweis auf das Normalbewußtsein berücktsichtigt sodann bezüglich des sittlichen Tatbestandes nicht genug den Wechsel der sittlichen Vorstellungsweisen und den Umstand, daß hier möglicherweise illusionäre Momente eine Rolle spielen, die uns veranlassen, etwas als zum Tatbestand des "normalen Bewußtseins" gehörig anzusehen, was nicht als solches gelten sollte.

Man kann also auf dem Gebiet der Ethik nicht mit einer Aufstellung bleibender Normen beginnen, sondern man muß zunächst die Abhängigkeitsbeziehungen des sittlichen Tatbestandes aufsuchen und kann dann im günstigsten Fall nach der Erledigung dieser Untersuchung bleibende Normen aufstellen.

Auf dem Gebiet der Logik und Erkenntnistheorie sind allerdings psychogenetische Betrachtungen von geringerer Bedeutung. Aber es wird sich uns später herausstellen, daß psychogenetische Untersuchungen auf diesen Gebieten durchaus nicht ohne Bedeutung sind. Sodann ist die Behauptung nicht zu halten, daß die Logik es nur mit Werturteilen zu tun hat, daß in allem Erkennen ein Billigen und Mißbilligen steckt (4).

Wir werden später Gelegenheit haben, diese Behauptung genauer zu prüfen. Da wird sich uns zeigen, daß ein Billigen und Mißbilligen nicht zum Sinn der Urteile gehört, daß hier eine Verquickung der Logik mit Psychologie vorliegt und zwar mit psychologischen Anschauungen, die nicht zu Recht bestehen. Hier muß ich mit damit begnügen, darauf hinzuweisen, daß schon SIGWART (5) mit guten Gründen gegen diese Position Front gemacht hat.

Ich sagte, daß ich noch eine Auffassung über die Aufgaben der Philosophie kritisch betrachten will, welche eine Ergänzung zur Definition der Philosophie als Lehre vom Erkennen darstellt. Sie besteht darin, daß man die Philosophie als allgemeine Wissenschaft bestimmt, die als solche einmal die Lehre vom Erkennen und sodann die Lehre von der Weltanschauung, die Metaphysik, zu behandeln hat. Die Metaphysik ist eben auch eine wissenschaftliche Disziplin, die nicht Einzelwissenschaft ist, sie setzt die Einzelwissenschaften voraus, gründet sich auf dieselben und sucht auf Grundlage derselben eine widerspruchslose Weltanschauung zu entwickeln; sie gehört also zur allgemeinen Wissenschaft, wie die Lehre vom Erkennen.

Hat man von der Metaphysik gesagt, daß sie eine Verarbeitung der einzelwissenschaftlichen Resultate zu einem widerspruchslosen Ganzen vornimmt, so muß die Einschränkung gemacht werden, daß die Metaphysik eine Verarbeitung derjenigen Resultate der Einzelwissenschaften vollzieht, die Bedeutung für die Feststellung der allgemeinen Eigenschaften der Körper (der leblosen und belebten Materie) und des Geistes haben - zum Zweck der Charakterisierung der leblosen Materie gegen die belebte und beider gegen den Geist.

So wäre also die Philosophie als allgemeine Wissenschaft definiert, die in der Erkenntnistheorie die Voraussetzungen des Erkennens und die in der Metaphysik Resultate der Einzelwissenschaften zu einer Weltanschauung zu vereinigen sucht. Nennen wir diese Disziplinen kurz Wissenschaftslehre.

Sollen wir uns damit nun zufrieden geben? Es drängt sich uns die Frage auf: wie steht es aber mit der Ethik? Soll die Philosophie darauf verzichten, neben der Weltanschauung eine befriedigende Lebensanschauung (6) zu geben, worin nach SOKRATES der Kernpunkt allen Philosophierens liegt?

Das philosophierende Individuum wird sich tatsächlich immer wieder auch zur Lösung dieser Aufgabe hingezogen fühlen. Wir müssen uns deshalb klar machen, worin diese Neigung begründet liegt.

Die Ethik ist eine allgemeine Wissenschaft gegenüber den einzelnen praktischen Wissenschaften in ähnlicher Weise wie die Wissenschaftslehre allgemeine Wissenschaft gegenber allen Einzelwissenschaften ist. Allerdings ist die Ethik nicht in demselben Sinn allgemein zu nennen wie die Wissenschaftslehre. Das Sittliche und Unsittliche stellen bestimmte Formen des Wollens oder einer Disposition zum Wollen dar, die sich in allen praktischen Gebieten realisieren, es tritt also als allgemeine Eigenschaft in den verschiedenen Gebieten des Handelns auf. Die verschiedenen Gebiete des praktischen Handelns sind aber Gegenstand verschiedener praktischer Wissenschaften, man denke an die Nationalökonomie, die Pädagogik, die Technik. Die Ethik hat es also mit einem Allgemeinen zu tun, welches sich in den verschiedenen Gegenständen der praktischen Wissenschaften findet. Dagegen hat es die Wissenschaftslehre mit einem Allgemeinen zu tun, welches sich nicht in den Gegenständen der Wissenschaften findet, sondern mit einem Allgemeinen, welches in den Wissenschaften selbst steckt, mit ihrer Methode, ihren Voraussetzungen, ihren Resultaten.

Ist es nun vielleicht dieser Charakterzug des Allgemeinen, der universalistische Zug, (7) welcher das philosophierende Individuum veranlaßt, sich nicht bloß mit Wissenschaftslehre, sondern auch mit Ethik zu befassen?

Jedenfalls ist er es nicht allein. Es kommt daneben noch ein anderer Faktor in Betracht. Wenn die Disziplinen der Wissenschaftslehre sich auch zum Teil nicht auf Psychologie stützen (Logik und Erkenntnistheorie), so werden sie doch durch Psychologie, zumindest in heuristischer Beziehung, gefördert. Das philosophierende Individuum wird also in der Psychologie zuhause sein müssen.

Ist dies aber der Fall, so ist dasselbe dazu ausgerüstet, sich auf dem Gebiet der Moralpsychologie zu betätigen, welche die Vorhalle der eigentlichen Ethik darstellt.

Daneben wirkt vielleicht auch noch der Umstand mit, daß die Ethik unter den praktischen Wissenschaften auch insofern eine exzeptionelle Stellung einnimmt, als sie es mit den höchsten Werten zu tun hat.

Daß dasselbe Individuum sich zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit so differenten Disziplinen, wie die Wissenschaftslehre und Ethik beschäftigt, ist also wesentlich durch mehr äußere Faktoren bedingt.

Ich würde es hiernach für zweckmäßig halten, die Philosophie als allgemeine Wissenschaft und Wissenschaft von den sittlichen Werten zu bestimmen. Die Psychologie und die Ästhetik würde ich als Einzelwissenschaften auffassen und zwar die Psychologie als die erste Hilfswissenschaft der philosophischen Disziplinen.

Meine Charakterisierung der Philosophie stellt, wie man sieht, keine Definition im Sinne der Angabe eines genus proximum [höchsten Artbegriffs - wp] und einer differentia specifica [spezifischer Unterschied - wp]. So wird uns verständlich, daß KÜLPE sagen kann, die Philosophie läßt sich im eigentlichsten Sinn des Wortes nicht definieren (8).

Will man eine Definition in jenem strengen Sinn des Wortes, dann mag man bei der Definition der Philosophie als allgemeine Wissenschaft stehen bleiben.

Mein darüber hinausgehender Versuch einer Charakterisierung der Philosophie ist auch in diesem Fall nicht umsonst gemacht, er hat dann dazu beigetragen, die Beziehung klarzumachen, in der die meist als philosophische geltenden Disziplinen zu einander stehen.

Diesen Beitrag muß ich aber in einer Beziehung noch ergänzen; es wird zweckmäßig sein, die Beziehung zwischen Logik und Erkenntnistheorie noch näher ins Auge zu fassen.

Die Logik hat es jedenfalls in irgendeiner Weise mit dem Denken zu tun. Aber nicht jede wissenschaftliche Behandlung des Denkens wird als logische Untersuchung gelten können. Das Denken bildet ja doch auch einen Gegenstand der Psychologie. Es fragt sich also: inwiefern das Denken Gegenstand der Psychologie und inwiefern es Gegenstand der Logik ist.

Die Psychologie hat es mit der Analyse der Bewußtseinserscheinungen zu tun und mit dem Aufweis ihrer Abhängigkeitsbeziehungen. So wird dann wohl die Psychologie des Denkens das, was man Denkvorgänge nennt, analysieren und auf seine Abhängigkeitsbeziehungen untersuchen.

Was bleibt dann aber noch für den Logiker bezüglich der Untersuchung des Denkens zu tun übrig? Man wird vielleicht antworten: Der Logiker hat es mit dem richtigen Denken zu tun. Die Psychologie stellt fest, wie tatsächlich gedacht wird, die Logik interessiert sich dafür nicht, sie fragt nach dem richtigen Denken. Sie hat Kriterien für richtiges Denken aufzustellen. Damit ist der Logik eine Aufgabe gestellt, welche abseits von der Aufgabe der Psychologie liegt.

Ich gebe zu, daß die Logik es mit einer Feststellung der Kriterien richtigen Denkens zu tun hat. Damit ist aber die Aufgabe der Logik nicht erschöpft. Sie behandelt auch noch darüber hinaus das richtige Denken. Wenn die Logik z. B. verschiedene Arten an Urteilen unterscheidet, etwa Behauptungen, von denen man das kontradiktorische Gegenteil nicht denken kann, und Behauptungen, bei denen man das kontradiktorische Gegenteil in jedem Fall denken kann, wenn sie verschiedene Arten von Schlüssen unterscheidet, so tut sie doch offenbar mehr als nur Kriterien richtigen Denkens aufweisen. Sie behandelt also das richtige Denken noch in anderer Weise. Aber in welcher Weise?

Beschreibt sie etwa das richtige Denken? Beschreibt sie die Urteils- und Schlußprozesse, in denen richtig gedacht wird? Das kann nicht gut der Fall sein, denn ihre Feststellungen haben zumindest zum großen Teil eine ganz andere Dignität als die Beschreibungen der Psychologie, so wenn ich in der Logik Bestimmungen mache über die Beziehung der kontradiktorisch entgegengesetzten Urteile wie: alle C haben die Eigenschaft P und sage: wenn die Behauptung richtig ist, daß alle S die Eigenschaft P haben, so ist die Behauptung falsch, daß einige S nicht die Eigenschaft P haben, und wenn die Behauptung richtig ist, daß einige S nicht die Eigenschaft P haben, so ist die Behauptung falsch, daß alle S die Eigenschaft P haben; ist die Behauptung falsch, daß alle S die Eigenschaft P haben, so ist die Behauptung richtig, daß einige S nicht die Eigenschaft P haben, und ist die Behauptung falsch, daß einige S die Eigenschaft P haben, so ist die Behauptung richtig, daß alle S die Eigenschaft P haben.

Das sind jedenfalls Bestimmungen, an deren Richtigkeit kein Mensch zweifeln wird, von denen niemand zweifeln kann, daß sie mit dem Fortschreiten der Wissenschaft sich nicht ändern, während wir das von psychologischen Behauptungen natürlich nicht sagen können.

Angesichts solcher Tatbestände wird man auf die Frage, ob die Logik es mit der Beschreibung des richtigen Denkens zu tun habe, vielleicht antworten, die Logik habe es nicht mit der Beschreibung richtiger Urteils- und Schlußprozesse zu tun, sondern ihr kommt es nur auf den Sinn richtiger Urteile an, auf das, was mit den richtigen Urteilen gemeint ist. Über den Sinn eines Urteils, das man vollzieht, kann man sich ganz im Klaren sein, auch wenn man nicht in der Lage ist, die Prozesse psychologisch zu beschreiben, die dem Urteil zugrunde liegen, die in ihm gegeben sind.

Aber auch die Bestimmung, daß wir es bei der Logik mit dem Sinn richtiger Urteile, mit dem, was in ihnen gemeint ist, mit anderen Worten: mit ihrem Gegenstand zu tun haben, mit dem, worauf das Denken gerichtet ist, ist noch keine ausreichende. Mit dem Sinn, den Gegenständen der Urteile, haben es doch wohl die ganzen Naturwissenschaften zu tun! Diese Bestimmung ist also für die Logik noch zu wenig charakteristisch.

Um nun die Logik gegenüber diesen Einzelwissenschaften abzugrenzen, wird man vielleicht sagen: die Logik behandle die Gegenstände der richtigen Urteile in formaler Weise und dadurch hebe sie sich jenen Einzelwissenschaften gegenüber ab.

Nun, daß die Logik eine formale Wissenschaft ist, mag richtig sein, aber dann ist es noch nötig anzugeben, in welcher Beziehung sie formal ist. Wenn ich die Gegenstände der Urteile nach zeitlichen Beziehungen betrachte, so ist dies doch sicherlich auch eine formale Betrachtung, aber es ist keine logische.

Die Beziehungen, auf die es mir in der Logik ankommt, sind Beziehungen der Gegenstände richtigen Denkens untereinander, sofern sie im Denkgeschehen gesetzt sind (9). Ich könnte auch sagen, wir haben es in der Logik mit dem richtig Gedachten als Gedachtem zu tun.

Ich sagte, daß die Erkenntnistheorie es mit den Voraussetzungen zu tun hat, welche die Einzelwissenschaften machen. So arbeiten die Naturwissenschaften, wie sich uns zeigen wird, mit der Annahme der Existenz einer von unseren psychischen Vorgängen unabhängigen Außenwelt, mit der Annahme der Gültigkeit des Kausalsatzes, mit der Annahme der Realität der räumlichen und zeitlichen Beziehungen und dgl. Die Erkenntnistheorie hat diese Voraussetzungen begrifflich zu fixieren und die Frage nach der Gültigkeit derselben zu behandeln.

Sie berührt sich mit der Logik bei der begrifflichen Fixierung der Voraussetzungen der Einzelwissenschaften.

Da die Logik Urteile behandelt, wie die: Ein Ding hat die und die Eigenschaft, ein Ding steht in der und der räumlichen Beziehung zu einem anderen Ding, ein Vorgang steht in der und der zeitlichen Beziehung zu einem anderen Vorgang, ein Vorgang ist abhängig von einem anderen Vorgang und dgl., so hat es die Logik offenbar auch mit kategorialen Bestimmungen zu tun: mit räumlichen Beziehungen, zeitlichen Beziehungen, kausalen Beziehungen, Inhärenzbeziehungen und dgl.

Es fragt sich nun, ob man der Logik oder der Erkenntnistheorie die begriffliche Fixierung dieser Vorstellungsweisen zuweisen soll. Darauf möchte ich antworten: Die Logik kamm sich mit einer eindeutigen Angabe der beim richtigen Denken der Einzelwissenschaften gemachten Voraussetzungen begnügen, während die Erkenntnistheorie eine möglichst weitgehende begriffliche Fixierung dieser Voraussetzungen zu geben hat. Habe ich es z. B. mit Urteilen über räumliche und zeitliche Beziehungen, über Inhärenzbeziehungen zu tun, so ist es leicht, eindeutig anzugeben, was man meint, es ist leicht, den Sinn des Urteils zu bestimmen, jeder versteht mich, wenn ich von solchen Beziehungen spreche, aber es ist ein anderes Geschäft, das nicht so leicht zu vollziehen ist, die Begriffe der räumlichen Beziehung, der zeitlichen Beziehung, der Inhärenzbeziehung zu analysieren, sie begrifflich möglichst weitgehend zu fixieren.

Das ist die eine Beziehung zwischen Logik und Erkenntnistheorie. Eine zweite ergibt sich daraus, daß der Logiker sich der Voraussetzungen, die beim richtigen Denken gemacht werden, bewußt werden muß. Indem er sich aber diese Voraussetzungen zu einem klaren Bewußtsein bringt, bestimmt er der Erkenntnistheorie ihre Aufgaben.
LITERATUR - Gustav Störring, Einführung in die Erkenntnistheorie, Leipzig 1909
    Anmerkungen
    1) Störring, Vorlesungen über Psychopathologie in ihrer Bedeutung für die normale Psychologie, Seite 6f.
    2) Windelband, Was ist Philosophie, Präludien, zweite Auflage, Seite 45f.
    3) Seite 317f
    4) Windelband, a. a. O., Seite 31f.
    5) Sigwart, Logik I, zweite Auflage, Seite 235.
    6) Wundt, System der Philosophie, zweite Auflage, Seite 1.
    7) Dilthey, Das Wesen der Philosophie, in Hinneberg (Hg), Kultur der Gegenwart, Systematische Philosophie, Berlin und Leipzig, 1921, Seite 24f.
    8) Oswald Külpe, Einleitung in die Philosophie, dritte Auflage, Seite 327f.
    9) siehe Benno Erdmann, Logik, zweite Auflage, Seite 27f; Riehl, Logik und Erkenntnistheorie, in Hinneberg (Hg) Kultur der Gegenwart, Systematische Philosophie, Seite 75f; Külpe, Immanuel Kant, Seite 94.