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HANS VAIHINGER
Die "Philosophie des Als Ob"
[Mitteilungen über ein unter diesem Titel soeben erschienenes
neues Werk. Von dessen Herausgeber H. Vaihinger]


"Die Logik soll eine Theorie der Verstandeshandlungen geben, welche auf allen Gebieten menschlichen Wissens und Vorstellens das formale Band bilden. Die Logik untersucht die Formen des wissenschaftlichen Lebens auf allen Gebieten, und darum kann sie es auch nicht vermeiden, auf den materiellen Gehalt derselben einzugehen."

Der vollständige Titel dieses von mir herausgegebenen Werkes lautet: "Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit aufgrund eines idealistischen Positivismus." Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche. Herausgegeben von H. Vaihinger." (Berlin 1911, XXXVI und 804 Seiten)
Das Werk ist dem IV. Internationalen Philosophischen Kongreß von Bologna überreicht worden und enthält eine darauf bezügliche Widmung des Herausgebers. Wie ich dazu gekommen bin, die Herausgabe dieses schon vor einem Menschenalter verfaßten Werkes auf mich zu nehmen, habe ich in der "Vorrede des Herausgebers" kurz entwickelt, in der ich auch über meine redaktionelle Tätigkeit an dem Buch Rechenschaft gegeben habe.

Was den Verfasser des Werkes betrifft, so hat dieser in einem neugeschriebenen "Vorwort" die Entstehung des Werkes in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts geschildert. Als Ergänzung hierzu diene die in dem Werk selbst nicht mit abgedruckte Vorrede, welche der Verfasser damals (1877) seinem Manuskript voranstellte, aus dem sie hier zum erstenmal abgedruckt wird; sie kann sehr wohl dazu dienen, Ursprung und Ziel des Werkes zu beleuchten, allerdings vom speziellen Gesichtspunkt einer logischen Untersuchung aus, der den allgemein philosophischen Charakter des Werkes nicht ganz erkennen läßt. Doch soll von diesem noch am Schluß dieser Mitteilung die Rede sein.


Vorrede

Zu den folgenden logischen Forschungen bin ich ursprünglich durch eine mehr stilistische Beobachtung veranlaßt worden. Philologische Studien hatten mich auf die Notwendigkeit geführt, dem logischen Wert der Partikeln besonders nachzuforschen; und unter den Partikeln reizten insbesondere die zusammengesetzten meine Aufmerksamkeit, vornehmlich die Partikelverbindung "als ob" und "wie wenn" war mir bei der Lektüre häufig aufgestoßen. "Die Partikeln sind" sagt SIGWART in seiner "Logik", Seite 235, "die sprachlichen Mittel, logische Beziehungen herzustellen." Jene Partikelverbindung ist das Mittel und Symptom einer logischen Beziehung und zwar einer sehr verwickelten Beziehung, nach deren Analyse ich vergeblich in den logischen Lehrbüchern suchte.

Bei einem eingehenderen Studium der Mathematik, der Mechanik und der Philosophie und insbesondere derjenigen KANTs fand ich jene Partikelverbindung häufig angewendet. Insbesondere das Studium der "Geschichte des Materialismus" von F. A. LANGE machte mich von Neuem auf dieselbe aufmerksam. Ich fand, daß jene eigentümliche Partikelverbindung das sprachliche Mittel derjenigen logischen Beziehung von Urteilen ist, welche man hie und da "Fiktion" zu nennen angefangen hat. Ein enzyklopädisches Studium des Gesamtgebietes der Wissenschaft hatte die Ansammlung eines fast unübersehbaren Materials zu diesem Punkt zur Folge. Ich bemerkte, daß man in allen Wissenschaften - in der einen mehr oder weniger als in der anderen - Annahmen machte, welche man sprachlich meisthin mit der Partikel "als ob" einführte, Annahmen, welche man fast durchgängig Hypothesen nannte, und welche sich doch ihrer ganzen logischen Konstitution noch sehr weit von dem unterschieden, was man "Hypothese" nennt. Ich fand also, daß man unter dem Terminus "Hypothese" zwei ganz verschiedene logische Funktionen vereinigt. Späterhin bemerkte ich allerdings, daß vereinzelte Unterscheidungen schon gemacht worden waren: alein in die Lehrbücher der Logik hatte diese Unterscheidung keinen Eingang gefunden.

Besonders bemerkenswert aber war mir die Beobachtung, daß die neuere Erkenntnistheorie, speziell LANGE, eine Reihe von Vorstellungen und Annahmen, welche sowohl das gewöhnliche Bewußtsein als auch die Wissenschaft zu machen pflegen, als nachweislich falsche aufdeckte, jedoch mit der Restriktion, daß sie unentbehrlich oder zumindest sehr nützlich sind trotz ihrer Falschheit. Ich fand, daß diese Annahmen logisch dieselbe Konstitution besitzen mit jenen durch die Partikelverbidung "als ob" eingeführten Annahmen.

So entstand allmählich eine logische Theorie der Fiktionen: ich fand, daß es wissenschaftlich erlaubt, bzw. geboten ist, mit Bewußtsein willkürliche, bzw. falsche Annahmen zu machen, welche trotz ihrer Willkürlichkeit und Falschheit das wissenschaftliche Denken fördern. Diese Annahmen sind keine Hypothesen, sondern Fiktionen; sie werden meistmit der Partikelverbindung: "als ob" bzw. "wie wenn" eingeführt.

Das Wichtigste war nun, die Anwendung auf die Erkenntnistheorie; ich fand, daß eine Reihe von Annahmen und Vorstellungen, welche das diskursive Denken macht oder machen muß, logisch betrachtet solche Fiktionen sind. Diese Anwendung der logischen Theorie auf die Erkenntnistheorie ergab dann das Resultat, daß das diskursive Denken eine Menge von Annahmen machen muß, welche trotz ihrer Falschheit unentbehrlich und nützlich sind; nur sind diese Annahmen nicht von vornherein mit dem Bewußtsein ihrer Fiktivität gemacht, dagegen zeigt sich, daß diese Annahmen auch nach ihrer Aufdeckung als rein fiktiver Vorstellungen nichtsdestoweniger dem Denken unentbehrlich bleiben und also von diesem mit dem Bewußtsein ihrer Falschheit angewendet werden.

Nachdem so Logik und Erkenntnistheorie mitgewirkt hatten, um die Theorie der Fiktionen zu ermöglichen, zeigte sich die Notwendigkeit, durch eine psychologische Analyse zu erklären, nicht nur, wie das Denken überhaupt zu solchen Annahmen kommt, sondern auch, welches der Mechanismus ist, durch den mittels falscher Annahmen Wahres gefunden wird? Die Theorie wurde ergänzt durch die umfassende Beobachtung der Tätigkeit der logischen Funktion in ihrem lebendigen Wirken innerhalb der wissenschaftlichen Praxis der einzelnen Disziplinen. Nichts bietet einen höheren Reiz, als die merkwürdigen und höchst zweckmäßigen Äußerungen der logischen Funktion in den szientifischen Methoden zu verfolgen.

Die Untersuchung der Art und Weise, wie es die logische Funktion angreift, mittels notorisch falscher Annahmen richtige Resultate zu erreichen, mußte in das Gebiet der Abstraktion, der Einbildungskraft, sowie in das Problem der Einteilung der Urteile eingreifen, Punkte, welche dann auch in den vorliegenden Erörterungen soweit als notwendig behandelt sind.

Die eigentliche Wichtigkeit der Fiktion liegt aber auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie. Es eröffnete sich die Perspektive, alte historische und systematische Streitfragen der Philosophie mittels der gemachten Unterscheidung zwischen Fiktion und Hypothese mit einem Schlag zur Entscheidung zu bringen. Es zeigte sich, daß, wenn man den logischen Maßstab an Annahmen legt oder an Vorstellungen, um deren Gültigkeit und Ursprung in der Erkenntnistheorie gekämpft wird, sich diese Annahmen und Vorstellungen nimmermehr als Hypothesen, sondern nur als Fiktionen erwiesen. Nun lag es nahe, zu zeigen, daß die logische Funktion in ihrer Anwendung auf das Wirkliche gezwungen ist, eine Reihe von Annahmen und Vorstellungen zu machen, welche notorisch falsch sind, welche aber doch ebenso nützlich wie unentbehrlich sind. Die unverkennbare Analogie dieser erkenntnistheoretischen Annahmen (besonders der Kategorien) mit jenen Fiktionen, welche die einzelnen Wissenschaften, besonders die Jurisprudenz, die Mathematik und die mathematische Physik machen, eröffnete nun auch die Möglichkeit, die aus diesen Beispielen abstrahierte logische Theorie auch auf jene erkenntnistheoretischen Annahmen auszudehnen und dadurch also einerseits eine Reihe erkenntnistheoretischer Annahmen als spezielle Beispiele und Belege einer logischen Funktion nachzuweisen, und andererseits, wie so die Logik durch Erkenntnistheorie, so auch die Erkenntnistheorie durch die Logik zu bereichern.

Somit zeigte sich, daß das Denken sowohl in seinem vorwissenschaftlichen Stadium, also wesentlich als solches, wie es die Erkenntnistheorie untersucht, als auch in der bewußt wissenschaftlichen Anwendung eine Reihe von solchen Annahmen macht, welche ebenso willkürlich und falsch, wie fruchtbar und unentbehrlich sind. Die Aufgabe der Theorie war es nun, einerseits eine Methodologie der Fiktionen zu geben, also zu zeigen, wann, wo und wieweit solche fiktive Annahmen zulässig sind, und insbesondere andererseits zu erklären, durch welchem Mechanismus es geschieht, daß das Denken mit Hilfe notorisch falscher Annahmen und Vorstellungen zu richtigen Resultaten gelangt.

Das Eigentümliche meiner Betrachtungsweise liegt also vor allem darin, daß wir eine Reihe erkenntnistheoretischer Annahmen und Vorstellungen, also z. B. die Kategorien, die Raum- und Zeitvorstellungen, sowie eine Reihe anderer Grundbegriffe, z. B. die Grundbegriffe der Mathematik vom logischen Gesichtspunkt aus derart betrachten, daß wir fragen: da diese Annahmen und Vorstellungen nicht in der Wahrnehmung gegeben werden, und dennoch vom Denken, von der logischen Funktion auf Veranlassung der Wahrnehmung gebildet worden sind, so fragt es sich, sind diese Annahmen und Vorstellungen logisch betrachtet Hypothesen?

Und wenn sich ergibt, daß die größten Denker aller Zeiten solche Annahmen und Begriffe als subjektiv nachgewiesen haben, daß sie also unwirklich sind, so fragt sich weiter, was sind diese Annahmen dann? Logisch betrachtet sind sie dann Fiktionen.

Daraus erhellt sich, daß das, was der Erkenntnistheoretiker "subjektiv" und "objektiv" nennt, für den Logiker "fiktiv" und "hypothetisch" heißt. Daß aber damit nicht ein bloßer Wechsel der Terminologie erreicht ist, sondern daß durch diese logische Betrachtungsweise erkenntnistheoretischer Fragen ein wirklicher Fortschritt gemacht werden kann, erhellt sich aus Folgendem: Wenn der Erkenntnistheoretiker eine Reihe von Annahmen oder Begriffen subjektiv nennt, so spricht er damit nur aus, daß sie unwirklich sind. Allein wozu dann solche subjektiven Annahmen überhaupt da sind, und warum dann trotz solcher subjektiver Annahmen die logische Funktion praktisch richtige Resultate erreicht, das ist damit nicht ausgesprochen, ja nicht einmal gefragt.

Fiktion ist eine logische Bezeichnung, keine erkenntnistheoretische, nämlich Fiktion in dem Sinn, daß darunter eine wissentlich falsche, aber fruchtbare, nützliche und unentbehrliche Annahme verstanden wird. Wenn wir also diesen Ausdruck in die Erkenntnistheorie einführen, so wenden wir einen, wie es scheint, ganz neuen, logischen Gesichtspunkt auf erkenntnistheoretische Probleme an.

Wenn man erkennt, daß auch in den einzelnen Wissenschaften eine ungeahnte Menge von fiktiven Annahmen gemacht wird, durch welche nichtsdestoweniger praktisch richtige Resultate erreicht werden, so wird man geneigt sein, auch bereitwillig anzuerkennen, daß die logische Funktion dieselben fiktiven Methoden schon bei den elementaren Regungen ihrer Tätigkeit anwendet. Es ist klar, wohin wir mit dieser Bemerkung zielen: der Kritizismus erhält durch diese Betrachtungsweise eine ungeahnte Unterstützung.

Wenn wir also Kategorien zu Fiktionen erklären, so ist darunter ein wesentlich modifizierter Gedanke zu verstehen, im Verhältnis zur Position HUMEs; HUME nennt bekanntlich die "identity" sowie die "relation of cause and effect" - "fictions of blought" [Seifenblasenfiktionen - wp]. Damit will er nur sagen, daß diese Begriffe willkürliche Einbildungen ohne objektive Berechtigung sind.

Hätte schon damals eine logische Theorie der Fiktionen bestanden, insbesondere der mathematischen und juridischen Fiktionen, so wäre die Anwendung dieser logischen Theorie auf jene Erkenntnisbegriffe schon durch diese verwandte Ausdrucksweise nahegelegen. Allein es gab eben keine solche Theorie. Man hatte noch nicht allgemein erkannt, daß das Denken wissentlich falsche Annahmen machen könnte, gerade um das Wahre zu erreichen. Die folgende Betrachtung sucht die logische Funktion als eine zwecktätige, zweckmäßig funktionierende nachzuweisen und zu zeigen, wie und warum dieselbe durch Umwege das Wirkliche sucht und erreicht.

Mein Hauptinteresse war darauf gerichtet, die Identität der formalen Verstandeshandlungen in den äußerlich verschiedensten Fällen nachzuweisen, und so zu zeigen, daß die logische Funktion bei der Bildung von Kategorien genau auf dieselbe Weise verfährt, wie bei der Anwendung gewisser mathematischer Kunstgriffe. Durch diese Anwendung eines logischen Gesichtspunktes auf erkenntnistheoretische Fragen wird die Möglichkeit eröffnet, dieselben viel exakter zu behandeln als bisher.

Man hat öfters die Notwendigkeit betont, die Erkenntnistheorie auf Psychologie zu gründen. Dagegen beruth, so hieß es zumindest, die Logik auf der Erkenntnistheorie. Ich will das letztere keineswegs bestreiten, aber ich glaube, einmal den Versuch machen zu dürfen, umgekehrt die Erkenntnistheorie auch auf Logik zu fundamentieren, und bei der Prüfung der Erkenntnisbegrife diese nicht bloß nach ihrem psychologischen Ursprung oder nach ihrer Realität zu untersuchen, sondern vor allem nach ihrem logischen Wert, nach der logischen Funktion, welche sie selbst vollbringen. Es kommen hier also hauptsächlich zwei logische Begriff in Betracht, die "Fiktion" und die "Hypothese". Mein Bestreben war, die meisten Erkenntnisbegriffe als Fiktionen nachzuweisen, d. h. als willkürliche und falschen Annahmen, welche aber dem Denken nicht bloß etwa negativ unentbehrlich sind (indem sie ein notwendiger, das Denken begleitender Schein sind), sondern welche demselben positiv unentbehrlich sind, indem sie ihm die besten Dienste leisten.

Der Standpunkt, auf den diese Untersuchungen hinauslaufen, in den sie einmünden, ist ein kritischer Positivismus. Ich verstehe darunter diejenige internationale Weltanschauung, welche auf den philosophischen Untersuchungen von HUME, KANT und auch COMTE beruth. Dieser Standpunkt ist innerhalb der folgenden Forschungen nicht von vornherein eingenommen, sondern er wird, allmählich aus dem Hintergrund hervortretend, zum Teil damit begründet.

Ursprünglich liegt in den rein logischen Untersuchungen an und für sich noch nicht die Tendenz, sich zu einer universellen Welt- und Lebensanschauung zu erweitern. Allein die eingehendere Verfolgung rein logischer Fragen führt den Tiefergehenden doch bald mitten hinein in rein erkenntnistheoretische, metaphysische und selbst sozial-moralische Fragen. Dies ist im Wesen der Logik selbst angezeigt: denn sie soll eine Theorie der Verstandeshandlungen geben, welche auf allen Gebieten menschlichen Wissens und Vorstellens das formale Band bilden. Die Logik untersucht die Formen des wissenschaftlichen Lebens auf allen Gebieten, und darum kann sie es auch nicht vermeiden, auf den materiellen Gehalt derselben einzugehen.

Es war mir jedoch keineswegs in erster Liie um die Begründung des kritischen Positivismus zu tun; vielmehr liegt das Hauptinteresse zunächst auf einem rein logischen Gebiet, und dann auf der psychologischen Begründung logischer Formen. Denn die logischen Prozesse sind in allererster Linie psychische Prozesse. Es ist somit meine Untersuchung eine Verbindung logischer, psychologischer und erkenntnistheoretischer Gesichtspunkte, welche aber streng durch ein Band zusammengehalten sind. Sie ist ein Versuchm, die Forschungen in der Psychologie, insbesondere STEINTHALs psychologische Gesichtspunkte mit den logischen Untersuchungen eines LOTZE und SIGWART zu verschmelzen und besonders auf die erkenntnistheoretischen Fragen anzuwenden. In dieser letzteren Hinsicht nenne ich dankbar LANGE und LAAS als diejenigen, deren erkenntnistheoretische Untersuchungen wichtigsten und fruchtbarsten für meinen Gesichtspunkt gewesen sind. Wenn es nicht immer durchgängig gelungen ist, diese Untersuchungen organisch zu verschmelzen und mit dem Eigenes in einen harmonischen Zusammenhang zu bringen, so mache ich besonders dafür die Schwierigkeit und den Umfang des Stoffes verantwortlich. Galt es doch neben diesen theoretischen Untersuchungen das ganze Anwendungsgebiet der logischen Funktion, also die ganze Wissenschaft zu durchsuchen nach Beispielen, um aus der Fülle des Materials meine Theorie zu abstrahieren. Und bei jedem einzelnen Beispiel verlockt wieder die Geschichte eines solchen Punktes zu einer historischen Untersuchung sowohl der allgemeinen Wissenschaftsgeschichte als auch der Geschichte der Philosophie, um bestätigendes Material für die eigene Ansicht in möglichster Vollständigkeit zusammenzufinden. Ist dieses doch doppelt notwendig, da manche der hier entwickelten Ansichten auf den ersten Blick paradox erscheinen möchten, während sie doch faktisch, wenn auch unter anderem Namen, teilweise schon wissenschaftliches Gemeingut sind, teilweise von großen Philosophen ausgesprochen worden sind.

Bei der Fülle des zuströmenden Materials war es notwendig, teilweise eine eigene und neue Terminologie zu schaffen; ich wage die Hoffnung, daß auch diese dazu beitragen möchte, einige wissenschaftliche Fragen aufzuhellen. Zumindest hat der Verfasser der "Geschichte des Materialismus", F. A. LANGE, nicht bloß seine volle Zustimmung zu dem von mir ergriffenen Gedanken mir gegenüber ausgesprochen, sondern auch hinzugefügt: "Ich bin sogar davon überzeugt, daß der von Ihnen hervorgehobene Punkt einmal ein Eckstein der philosophischen Erkenntnistheorie werden wird."


Dem nunmehr nach 35 Jahren gedruckten werk hat dessen Verfasser ein neues Vorwort ausgesendet, in welchem er eingehender darauf hinweist, daß unterdessen 4 Strömungen in der Philosophie aufgekommen sind, welche sich in den in seinem Werk ausgesprochenen Ideen nahe berühren und die daher auch die Rezeption seines Werkes begünstigen können: der "Voluntarismus" von PAULSEN, WUNDT, EUCKEN u. a., die "biologische Erkenntnistheorie" von MACH und AVENARIUS, die Philosophie von FRIEDRICH NIETZSCHE und der "Pragmatismus", bei welchem allerdings die unkritische Richtung desselben scharf abgelehnt wird.

Ich weise dann weiter darauf hin, daß auch eine Menge Einzelbestrebungen unterdessen aufgetaucht sind, welche sich zum Teil mit den Anschauungen meines Werkes decken, dasselbe bestätigen und in demselben ihrerseits Bestätigung und Begründung finden. Ich weise solche koinzidierende Bestrebungen nach in der allgemeinen Erkenntnistheorie z. B. bei MEINONG, BALDWIN u. a.; ferner in der naturwissenschaftlichen Erkenntniskritik z. B. bei LIPPS, J. SCHULTZ, PAUL VOLKMANN, POINCARÉ, ENRIQUES u. a.; sodann in der Ästhetik, speziell bei KONRAD LANGE, dann in der Ethik, besonders bei MARCHESINI, ferner in der Religionsphilosophie, so bei PAULSEN, NATORP, LIPSIUS, im "Symbolo-Fideismus" von SABATIER, im Modernismus, soddann in den neueren Interpretationen der kantischen Ideenlehre, ferner bei den "Neu-Idealisten" und auch im Monismus.

Schließlich nehme ich den Namen eines idealistischen Positivismus für mich in Anspruch, in welchem die in der kantischen Philosophie gebundenen beiden Elemente, der Idealismus und der Positivismus [Laas], in einer etwas anderen Verbindung auftreten, als bei KANT selbst, doch so, daß ich immer noch auf der äußersten Linken des Kantianismus meinen Platz nehmen kann.

Das zeigt sich auch darin, daß der "Als-ob-Betrachtung" bei KANT allein über hundert Seiten gewidmet sind (Seite 613-733). Dieser Abschnitt enthält eine erschöpfende Monographie dieses bis jetzt fast ganz übersehenen Gesichtspunktes bei KANT. Ich stelle mich dabei durchgehend auf die Seite KANTs und adoptiere KANTs Ideenlehre in deren radikaleren Form, die halbkritische, dogmatisierende entschieden ablehnend; gemäß seinem sich durchaus an das Gegebene, Erfahrene haltenden, alles Transzendente leugnenden Positivismus, aber andererseits als Idealist festhaltend an den Ideen als nicht bloß nützlichen, sondern notwendigen Fiktionen der Menschheit. So will auch ich ein "Kantianer" sein, aber ein Kantianer des 20. Jahrhunderts.

Dieser ausführliche Passus über KANT befindet sich im dritten Teil des Werkes, der den Titel führt: "Historische Bestätigungen". Der erste Teil hat den Titel: "Prinzipielle Grundlegung". Der erste Abschnitt gibt die "Aufzählung und Einteilung der wissenschaftlichen Fiktionen", von denen 18 Arten aufgezählt werden:
    1) künstliche Klassifikation
    2) abstraktive Fiktionen
    3) schematische, paradigmatische, utopistische, typische Fiktionen
    4) symbolische (analogische) Fiktionen
    5) juristische Fiktionen
    6) personifikative Fiktionen
    7) summatorische Fiktionen
    8) heuristische Fiktionen
    9) praktische (ethische) Fiktionen
    10) mathematische Fiktionen
    11) die Methode der abstrakten Verallgemeinerung
    12) die Methode der unberechtigten Übertragung
    13) der Begriff des Unendlichen
    14) die Materie und die sinnliche Vorstellungswelt
    15) das Atom
    16) die Fiktionen der Mechanik und der mathematischen Physik
    17) das Ding-ansich
    18) das Absolute.
Ein zweiter Abschnitt gibt dann die "Logische Theorie der wissenschaftlichen Fiktionen"; besonders sei hingewiesen auf Kapitel XX: "Abgrenzung der wissenschaftlichen Fiktion von anderen Fiktionen, besonders der ästhetischen", Kapitel XXI: "Unterschied der Fiktion von der Hypothese", Kapitel XXII: "Die sprachliche Form der Fiktion: Analyse des Als ob", Kapitel XXIV: "Die Hauptmerkmale der Fiktionen", Kapitel XXVI: "Die Methode der Korrektur willkürlich gemachter Differenzen, Methode der entgegengesetzten Fehler", Kapitel XXVII: "Das Gesetz der Ideenverschiebung".

Ein dritter Abschnitt gibt "Beiträge zur Geschichte der Fiktion und ihrer Theorie" bei den Griechen und Römern, im Mittelalter, in der Neueren Zeit, besonders bei KANT, MAIMON, HERBART, LOTZE.

Ein vierter Abschnitt entwickelt "die erkenntnistheoretischen Konsequenzen", besonders in den Kapiteln: "Die Verfälschung der Wirklichkeit durch die logischen Funktionen (logischer Optimismus, Pessimismus und Kritizismus)", "die Kategorien als Fiktionen", "Praktische Zweckmäßigkeit der kategorialen Fiktionen".

In einem zweiten Teil des Werkes sind "Spezielle Ausführungen" zum Bisherigen gegeben in 28 Paragraphen; speziell sei hingewiesen auf § 3 "Adam Smiths nationalökonomische Methode", § 6 "die fingierte Statue Condillacs und Ähnliches", § 10 "die Fiktion der Kraft", § 11 "Materie und Materialismus als Hilfsvorstellungen", § 12 "die abstrakten Begriffe der Fiktionen", § 13 "die Allgemeinbegriffe als Fiktionen", § 18 "die Atomistik als Fiktion", § 20 "die Fiktion des reinen, absoluten Raums", § 21 "Fläche, Linie, Punkt usw. als Fiktionen", § 22 "die Fiktion des Unendlich-Kleinen", § 23 "Zur Geschichte der Infinitesimal-Fiktion", § 26 "der Sinn der Als-Ob-Betrachtung", § 27 "das fiktive Urteil", das als eine bisher übersehene Urteilsform in Anspruch genommen wird.

Der dritte Teil enthält, wie schon bemerkt, "Historische Bestätigungen". Hierbei sind 120 Seiten der "Als-Ob-Betrachtung bei Kant" gewidmet, die schon in dessen vorkritischen Schriften nachgewiesen und dann in den kritischen Schriften sorgfältig bis ins Einzelnste verfolgt wird. Unter diesem Gesichtspunkt werden besonders folgende Schriften KANTs analysiert: Kritik der reinen Vernunft, Prolegomena, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Kritik der praktischen Vernunft, Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Kritik der Urteilskraft, Fortschritte der Metaphysik, Rechtslehre, ferner besonders das "Opus Postumum"; in diesem hat KANT einerseits die Scheidung von Ding-ansich und Erscheinung als eine bloß methodische, subjektive Fiktion erkannt, und andererseits die reine Fiktivität der Gottesidee mit vollster Klarheit und Entschiedenheit unzähligemale ausdrücklich behauptet. Das bisher verkannte Opus Postumum wird damit als eine wichtige Etappe in KANTs Entwicklung erkannt, womit der KANT-Forschung neue Aufgaben gestellt werden.

In einem zweiten Abschnitt wird "Forberg der Veranlasser des Fichte'schen Atheismusstreites und seine Religion des Als-Ob" behandelt. FORBERG erscheint als der legitime Fortsetzer der kantischen Religionsphilosophie; seine bisher vernachlässigten Schriften werden in den Vordergrund des Interesses gestellt. Seine "Religion des Als-Ob" wird als die echteste Interpretation der kantischen Ideenlehre anerkannt.

Als Fortsetzung derselben Richtung wird dann "Langes Standpunkt des Ideals" erkannt, der nun nicht mehr als eine individuelle Idiosynkrasie [Widerwille - wp] LANGEs erscheint, sondern als ein berechtigtes, ja notwendiges Glied der Entwicklung der modernen Religionsphilosophie.

Ein vierter und letzter (erst neuerdings von mir dem Werk zugefügter) Abschnitt behandelt "Nietzsche und seine Lehre vom bewußten Schein". Diese bisher nicht genügend gewürdigte Lehre NIETZSCHEs verfolge ich bis ins Einzelnste und weise nach, daß NIETZSCHEs "Wille zum Schein" im Wesentlichen identisch ist mit der "Philosophie des Als Ob". Ich weise auch die kantischen Wurzeln seiner Lehre nach und zeige, daß NIETZSCHE-Zarathustra auf dem besten Weg war, KANTs Lehre von den notwendigen religiösen Fiktionen der Menschheit wieder aufzurichten, welche KANT speziell in seinem Opus Postumum entwickelt hat, dem er merkwürdigerweise auch den Titel "Zoroaster" geben wollte.


Zum Schluß seien hier die Worte wiederholt, in welche die "Vorrede des Herausgebers" ausklingt: "So wie es nun ist, mag das Werk Manchem das lösende Wort in quälenden Problemen bringen, manch Anderen aus dogmatischer Ruhe in neue Zweifel stürzen, bei Vielen Anstoß erregen, aber hoffentlich auch Einigen neue Anstöße geben."


Erklärung
betreffend meine Autorschaft an
der "Philosophie des Als Ob

Ich bin in den letzten Monaten öfters darüber befragt worden, warum ich mich in der "Philosophie des Als Ob" nicht direkt als Verfasser, sondern nur als Herausgeber genannt habe. Darauf ist die einfache Antwort: weil es mir widerstrebte, ein Werk, das vor 35 Jahren entstanden ist, und dessen Mängel niemandem besser bekannt sind, als mir selbst, ohne Weiteres jetzt noch als mein eigenes Werk dem philosophischen Publikum darzubieten. Streng genommen bin ja auch ich, der nun bald sechzigjährige Professor der Philosophie an der Universität Halle, gar nicht der Verfasser, sondern der Autor ist ein noch nicht 25-jähriger Doktor der Philosophie, der sich mit dieser Schrift im Frühjahr 1877 an der Universität Straßburg im Elsaß habilitiert hat. Der verständnisvollen Einsicht von ERNST LAAS, dessen Urteil über meine Schrift sich ja noch in den Straßburger Fakultätsakten finden muß, verdanke ich es, daß mir auf diese Schrift hin die Venia legendi erteilt wurde. Ich reichte zu diesem Zweck unter dem Titel: "Logische Forschungen: I. Die wissenschaftliche Fiktion" dasjenige ein, was im jetzt vorliegenden Werk als "Erster Teil. Prinzipielle Grundlegung" bezeichnet ist. Nach der Habilitation ging ich an die Umarbeitung des Manuskripts, um es druckfertig zu machen. Dadurch entstanden in den beiden folgenden Jahren die "Speziellen Ausführungen", welche nun als "Zweiter Teil" bezeichnet sind, die aber eigentlich weiter ausgesponnen werden und an die Stelle des ersten Entwurfs hätten treten sollen. Aber Anfang 1879 trat in meiner äußeren Lage durch den Tod meines Vaters eine wesentliche Änderung ein, die mich nötigte, diese Arbeiten abzubrechen und mich einer lohnenderen Beschäftigung zuzuwenden: ich schloß mit dem Verlagsbuchhändler SPEMANN einen für mich günstigen Vertrag ab, durch den ich mich zur Herausgabe eines "Kommentars zu Kants Kritik der reinen Vernunft" zum Jahr 1881 verpflichtete, zum hundertjährigen Jubiläum des Erscheinens dieses Grundwerks der modernen Philosophie. Dieser Kommentar, dessen erster Band 1881/82 erschien, absorbierte von nun an meine ganze Kraft. Ihm verdankte ich auch meine Berufung nach Halle 1884, woselbst ich aber bis zum Jahr 1889 an den Folgen einer nervösen Überanstrengung zu leiden hatte, sodaß ich neben der aufreibenden amtlichen Tätigkeit nichts publizieren konnte. In den Jahren 1890/92 schrieb ich den zweiten Band meines Kant-Kommentars. Herbst 1895 gründete ich die "Kant-Studien", deren Redaktion mich sehr viel mehr Arbeit kostete, als ich gedacht hatte. Trotzdem habe ich damals einen großen Teil des dritten Bandes meines Kant-Kommentars im Manuskript fertiggestellt. Die hundertjährige Wiederkehr des Todestages KANTs im Jahr 1904 stellte an mich die von mir nicht gerne übernommene, aber von mir als meine sittliche Pflicht aufgefaßte Forderung der Gründung der "Kant-Gesellschaft", welche enorme Opfer an Zeit und Kraft kostete. Mittlerweile stellte sich ein Augenleiden ein, das mich veranlaßte, um eine "Enthebung von meinen amtlichen Verpflichtungen" zu bitten.

Jenes Jugendwerk war inzwischen meinem Gesichtskreis niemals entrückt worden, aber bis zum Jahr 1900 hatte ich nicht mehr ernsthaft daran gedacht, es zu veröffentlichen, da ich zu wenig Hoffnung hatte, Verständnis zu finden. So hatte ich ihm schon die Rolle eines Opus Postumum zugedacht. Ich erkannte immer mehr, daß es für das Buch und für mich kein Glück gewesen wäre, wenn ich es um das Jahr 1880 veröffentlicht hätte: außer ERNST LAAS hätte ihm damals wohl niemand ein rechtes Verständnis entgegengebracht. Aber, wie ich schon in der "Vorrede des Verfassers" Seite VII-XVI auseinandergesetzt habe: vom Jahr 1900 an mehrten sich die Anzeichen, daß in der Philosophie, besonders in der jüngeren Generation, Ansichten auftauchten, die sich meiner "Philosophie des Als Ob" sehr näherten. So faßte ich den Entschluß der Veröffentlichung des Buches, und die Bitte um Emeritierung wurde mir erleichtert durch die Aussicht, die gewonnene freie Zeit dieser Herausgabe zu widmen.

Ich mußte aber bald erkennen, daß mein Augenleiden es mir unmöglich machte, dem Werk diejenige Form zu geben, die ich ihm geben müßte, wenn es jetzt abgefaßt werden würde, und insbesondere die ganze seitdem erschienene Literatur hineinzuarbeiten. So kam ich auf die Idee, das Manuskript wesentlich in dem Zustand, in dem es sich befindet, zu veröffentlichen und dem Buch diejenige Form zu geben, die es nun hat, wobei ich insbesondere auch den großen, auf KANTs Als-Ob-Betrachtung bezüglichen Abschnitt aufgrund meiner alten Papiere neu ausarbeitete, welcher nun, nebst anderem, den "Dritten Teil" bildet und den Teil: "Historische Bestätigungen". So bin ich jetzt in der Tat eigentlich nur der Herausgeber des Werkes und so habe ich mich auch zunächst nur als solchen genannt. Ich tat dies aber nicht eta, um den Verfasser zu verbergen - ich habe mich Jedem, der es wissen wollte, sofort als solchen genannt und Jeden gebeten, mich auch Jedem als Verfasser zu nennen - sondern ich tat es aus der natürlichen Scheu, einem Werk, das ich seinem wesentlichen Inhalt nach vor 35 Jahren abgefaßt habe, das ich aber heute in ganz anderer Form abfassen würde, direkt meinen Namen zu geben. So erlaubte ich mir die ästhetisch-literarische Fiktion, als ob Herausgeber und Verfasser verschieden sein könnten. Und sie sind auch verschieden: Denn, wenn ich mich auch heute noch sachlich vollständig zu den Anschauungen der "Philosophie des Als Ob" bekenne, sie offen und energisch vertrete und die volle Verantwortung für das ganze Buch übernehme, so bekenne ich doch gleichzeitig, daß, so wie ich jetzt bin, ich dieses Werk heute in dieser Form nicht hätte schreiben können, mit all den Mängeln, vielleicht aber auch mit all den Vorzügen eines Jugendwerkes, dem es nun aber doch noch, wie es allen Anschein hat, beschieden ist, in meinem Alter eine bedeutsame Rolle zu spielen.

Halle an der Saale, im November 1911
Hans Vaihinger.
LITERATUR - Hans Vaihinger, "Die Philosophie des Als Ob", Kant-Studien, Bd. 16, Berlin 1911