p-4cr-2ra-1 J. GuttmannTh. NagelP. SternG. TeichmüllerE. König    
 
RICHARD BAERWALD
Die Objektivierung
der subjektiven Vorstellung

[Darstellung und Geschichte eines
erkenntnistheoretischen Denkfehlers]

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"Die empirische Realität, d. h. die Gesetzmäßigkeit der Erscheinung verleiht derselben in der Tat eine erhöhte Bedeutung, indem sie sie über das Reich der Phantasmen und Träume erhebt; und in der Tat hat auch Kant erst der Erscheinung Achtung zu zollen begonnen, als er die Entdeckung machte, daß Zeit und Raum der Sinnlichkeit angehören, und demnach auch die so streng gesetzmäßige Mathematik von der Erscheinung handelt."

"Fichte ist zu der Behauptung veranlaßt, daß es nur ein Sein für uns geben kann, ist das Problem, wie man denn wissen kann, daß ein Ding auch ohne unser Wissen besteht, da wir das Ding doch eben wissen müßten, um zu wissen, daß es besteht."

"Es ist nicht einzusehen, warum man statt Objekt nicht ebensogut Vorstellungsinhalt, statt Realität oder Objektivität oder Wahrheit nicht ebensogut (innere) Gesetzmäßigkeit", statt erkennen und wissen nicht ebensogut haben, hervorbringen, produzieren oder mit einem mustergültig klaren Terminus Fichtes setzen sagen sollte."


VII. Das "Weltwerden" der Erscheinung

§ 62. Auf die bedeutsame Wandlung, welche die "Phaenomena" des LEIBNIZ bei KANT durchgemacht haben, ist schon so oft nachdrücklich aufmerksam gemacht worden, daß ich mich bei ihrer Formulierung kurz fassen darf. Diese Wandlung besteht darin, daß aus der Erscheinung, der psychischen Vorstellung die wirkliche "Welt" (6), aus den die Erscheinung beherrschenden und begründenden, individuellen "angeborenen Ideen" "überindividuelle Funktionen" (7), "metakosmische Gesetze" (8) werden. (KANT selbst gebraucht hierfür das Wort "transzendental".

In der "Kritik der reinen Vernunft" findet sich das "Weltwerden der Erscheinung" an vielen Stellen angedeutet, z. B. in der "Deduktion" (A, Abschnitt II, Ende), wo KANT den "Inbegriff der Erscheinungen" mit der "Natur" identifiziert.

§ 63. "Die Erscheinung wird Welt, Natur, Universum, die angeborenen Ideen Weltgesetz." Was soll man eigentlich unter diesen Worten verstehen?

Diese Frage könnte ebensogut lauten: Was ist eigentlich kantische Philosophie? Denn das Weltwerden der Erscheinung zusammen mit dem ihm eng verbundenen Begriff der immanenten Wahrheit, sind das Neue, welches der "transzendentale Idealismus" vor den übrigen idealistischen Systemen voraus hat, wie sie schon Jahrtausende vor KANT bestanden haben.

Es ist einleuchtend, daß es nicht innerhalb unserer so viel bescheideneren Aufgabe liegen kann, die Grundformel des Kantianismus zu finden. Nur diejenige Seite des Weltwerdens der Erscheinung wollen wir daher betrachten, welche für uns von Interesse ist und nicht danach fragen, ob diese Wandlung noch andere Seiten hat.

§ 64. Dasjenige nun, was uns an ihr besonders angeht, ist die Veränderung, welche sich von LEIBNIZ auf KANT in der Beziehung vollzogen hat, in der die Erscheinungswelt zum realistischen Gefühl steht, d. h. zu jenem Gefühl oder Bedürfnis, welches uns zwingt, ein Wirkliches anzunehmen.

Bei LEIBNIZ waren die Phaenomena etwas fast völlig Subjektives, welches dem realistischen Gefühl keine Befriedigung bieten konnte; das Wirkliche, wonach dieses verlangte, wurde vielmehr vertreten durch die intelligible Welt der Monaden. Diese war die eigentliche, die wirkliche Welt oder Natur.

Bei KANT dagegen findet das Wirklichkeitsgefühl schon bei der sogenannten "Erscheinung" sein Genügen; diese hieß nunmehr Welt, Natur, Universum. Denn diese Worte bedeuten eben dasjenige, wonach der Wirklichkeitstrieb verlangt. In ihrer Beziehung zu diesem tritt KANTs Erscheinungswelt an dieselbe Stelle, welche bei LEIBNIZ von der Monadenwelt ausgefüllt wurde.

Am deutlichsten offenbart sich die Gefühlsverschiebung an der Verschiedenheit der Aufgaben, welche LEIBNIZ und KANT der Wissenschaft stellen. Bei ersterem ist es das Ziel der höchsten und fundamentalsten Wissenschaften, und speziell der Metaphysik, die Geheimnisse der intelligiblen Monadenwelt zu ergründen. Bei KANT dagegen ist die gesamte Wissenschaft auf die Erscheinung beschränkt, und doch meint er nicht, daß sie dadurch an Würde verliert. Was aber Gegenstand der Wissenschaft ist, ist zugleich dasjenige, was unserem Wirklichkeitsbedürfnis Genüge tut; denn reine, von praktischen Interessen freie Wissenschaft ist nichts als die systematische Befriedigung des Erkenntnistriebes, dessen wesentliches Ingrediens [Zutat - wp] eben das realistische Gefühl bildet. Ist also bei KANT, wie gesagt, die Erscheinung das Objekt der Wissenschaft, so ist sie es auch, in welcher sein Trieb nach Wirklichkeit Befriedigung findet. Daher wird sie bei ihm zur "Welt" oder "Natur".

§ 65. Diesen Wandel im Wesen der Erscheinungswelt betrachte ich, wie gesagt, als eine Wirkung der OdsV; ja, er ist eigentlich mit diesem Denkfehler identisch, denn was ist derselbe anderes als ein der subjektiven Vorstellung unrechtmäßig geliehener realistischer Schein, als die Befriedigung des Wirklichkeitsbedürfnisses durch die bloße Erscheinung.

Daß die OdsV geeignet ist, das "Weltwerden" der Erscheinung zu bewirken, wird wohl ohne weiteres zugestanden werden. Daß sie dasselbe aber wirklich bewirkt hat, diese Behauptung wird sicherlich auf Widerspruch stoßen, und gewichtige Gründe werden geltend gemacht werden, denen es weit eher als dem genannten Denkfehler zuzuschreiben ist, daß die "Erscheinung" sich zur "Welt" gewandelt hat.

§ 66. Zunächst scheint es, daß der bloße Idealismus, das bloße Fortfallen der "wirklichen Dinge" diese Veränderung bewirken kann. Solange die objektive Außenwelt dem Ich gegenübersteht, ist dieses samt seiner Erscheinungswelt nur Teil eines großen Ganzen. Wird aber jene Außenwelt aufgehoben, so wird das "Ich" allumfassend und "überindividuell". Es darf nun gar nicht mehr "Ich" oder "Subjekt" heißen, denn diese Ausdrücke weisen noch auf ein Nichtich und Objekt hin; die einzige Bezeichnung, die ihm daher zukommen kann, ist "Welt".

Das mag zugegeben werden, aber damit ist doch eigentlich nur das Wort "Welt" für die Erscheinung gewonnen. Was uns interessiert, ist aber nicht dieses bloße Wort, sondern die Frage: Ist die Erscheinung nach dem Fortfall der objektiven Außenwelt auch imstande, das realistische Gefühl ebenso zu befriedigen, wie es vordem jene getan hat? Dehnt sich die Erscheinung in dem durch das Verschwinden der "wirklichen Dinge" leerwerdenden Raum aus und tritt an ihre Stelle, wird sie gewichtiger durch den Fortfall des beschränkenden Gegengewichts?

Daß dem nicht so ist, erkennen wir sofort, wenn wir einen Blick auf die Geschichte der Philosophie werfen. Schon PROTAGORAS und andere Skeptiker und Idealisten des Altertums leugneten oder bezweifelten die Außenwelt oder unser Wissen von derselben. Aber wurde ihnen deswegen die Erscheinung zur "wirklichen Welt", stieg sie an Geltung? Im Gegenteil, die Erscheinung, welche ihren Zweck, Abbild eines äußeren Seins zu sein, verfehlt hatte, schien nunmehr ganz wertlos und sank zum bloßen Schein herab; die Leugnung der äußeren "wirklichen Dinge" führt nicht zur Realität der Erscheinung, sondern zur Skepsis.

§ 67. Dieser Einwand war also nicht stichhaltig; aber sogleich erhebt sich ein anderer, der auf viel mehr Wahrscheinlichkeit Anspruch erheben darf: Warum die Erscheinungswelt bei KANT unser realistisches Gefühl befriedigt? Nun einfach deshalb, weil sie empirische Realität, d. h. innere Gesetzmäßigkeit besitzt. Die Einsicht, daß Zeit, Raum und Kategorien der Erscheinung objektive Gültigkeit verleihen, machte es KANT möglich, daß er nach der Aufgabe des "wirklichen Dings" nicht den oben gekennzeichneten Weg der Skeptiker zu gehen brauchte; sie war es also auch, die die Erscheinung zum Rang der Welt, der Natur erhob.

Die Behauptung, daß die Erscheinungswelt wegen ihrer empirischen Realität das realistische Gefühl befriedigt, klingt sehr plausibel und selbstverständlich und selbst derjenige, der sich hier nicht durch den Gleichklang der Worte bestechen läßt, wird ihr einige Berechtigung zugestehen müssen. Die empirische Realität, d. h. die Gesetzmäßigkeit der Erscheinung verleiht derselben in der Tat eine erhöhte Bedeutung, indem sie sie über das Reich der Phantasmen und Träume erhebt; und in der Tat hat auch KANT erst der Erscheinung Achtung zu zollen begonnen, als er die Entdeckung machte, daß Zeit und Raum der Sinnlichkeit angehören, und demnach auch die so streng gesetzmäßige Mathematik von der Erscheinung handelt (9).

Allein "erhöhte Bedeutung erhalten" und "das realistische Bedürfnis befriedigen" ist noch nicht dasselbe. Und was die anscheinende Selbstverständlichkeit des Gesetzes betrifft, daß die empirische Realität der Erscheinung das Realitätsbedürfnis befriedigen muß, so tritt uns hier doch ein Bedenen und eine Frage entgegen. KANTs "Erscheinung" besitzt nur immanente Realität; ist es aber wirklich diese, nach welcher unser Wirklichkeitstrieb verlangt?

Wir wollen diese Frage hier noch offen lassen, obwohl wir ihre Beantwortung eigentlich schon in § 58 antizipiert [vorgenommen - wp] haben; sie ist für uns von fundamentaler Bedeutung, und wir wollen daher eine bessere Gelegenheit als die hier gebotene abwarten, um sie eingehender zu erörtern, als es an dieser Stelle der Fall sein könnte.


VIII. Das "Göttlichwerden" des
Dings-ansich

§ 68. Wenden wir uns nun zum zweiten Akt der bei KANT eintretenden Gefühlsverschiebung, zu der Veränderung im Charakter des "wirklichen Dings". Bei LEIBNIZ war, wie wir sahen, die Erscheinung nicht viel mehr als ein bloßer Schein, das "wirkliche Ding" dagegen spielte die Rolle des erforderlichen Realen. Bei KANT übernahm die Erscheinung diesen Posten, was wurde also nun aus dem "wirklichen Ding?"

Es erhielt gewissermaßen eine Wirklichkeit in der zweiten Potenz, es wurde "Göttlich". Es war nicht mehr der Gegenstand des realistischen Gefühls, dafür wurde es derjenige des moralischen und religiösen Verehrungsgefühls.

§ 69. Der Nachweis dieser Veränderung ergiebt sich aus einer einfachen Vergleichung von LEIBNIZ und KANT. Auch bei LEIBNIZ gehörten zwar zu den Angelegenheiten des Verstandes, dessen Domäne ja bekanntlich die "wirklichen Dinge" waren, auch Fragen der Theologie, aber nicht deshalb, weil das Göttliche den eigentlichen Gegenstand der Spekulation bildete, sondern darum, weil LEIBNIZ die Annahmen des Glaubens und der Offenbarung nebenher durch das Wissen bestätigt zu sehen wünschte. Das eigentliche Objekt des Denkens aber und demgemäß das Reich der "wirklichen Dinge" wird gebildet durch die Monadenwelt, welche nur auf einer wissenschaftlichen Hypothese beruth und keinen wesentlichen religiösen Beigeschmack hat. LEIBNIZ hält sie für wahr, aber nicht für heilig.

Was aber gehört bei KANT zu den Dingen-ansich? Gott, Freiheit, Unsterblichkeit, das freie, intelligible Ich, die höchsten sittlichen Gesetze; lauter Gegenstände des moralischen und religiösen Achtungsgefühlsö, mit einem Wort, das "Göttliche". Und diesen Charakter behielt das Ding-ansich in der Folgezeit; es ist nur eine konsequente Weiterentwicklung des Begriffs, wenn bei FRIES und SCHOPENHAUER (10) das Reich der Dinge ansich um die neue Provinz des "Schönen" vermehrt wird; auch dieses ist ja ein Göttliches.

§ 70. Wie das "Weltwerden der Erscheinung" bei KANT im Wort "transzendental" (im Gegensatz zu "psychologisch") seinen Ausdruck findet, so das Göttlichwerden des Dings-ansich im Wort "transzendent" oder, genauer gesprochen, in der besonderen Schattierung, welche dasselbe bei KANT erhält. Zunächst bedeutet das Wort nur "darüber hinausgehend" und kann in dieser Bedeutung auch von der Monadenwelt des LEIBNIZ ausgesagt werden; denn auch diese geht ja über die Erscheinung hinaus wie jedes "wirkliche Ding". Allein bei KANT erhielt das Wort eine ähnliche Nebenbedeutung, wie etwas das Wort "überirdisch" oder "übernatürlich", welches ansich nur sagen will "über die Erde, über die Natur hinausgehend", weiterhin aber auch das Eintreten in die göttliche Welt bezeichnet. Diesen religiösen Beigeschmack hat das Wort behalten bis auf unsere Tage. (11)

§ 71. Wir haben oben angenommen, daß das "Weltwerden der Erscheinung" das "Göttlichwerden des Dings-ansich" verursacht hat; daß die Erscheinung, indem sie an die Stelle der "wirklichen Welt" tritt, das Ding-ansich, welches dieselbe vorher inne hatte, aus derselben herausdrängte und zu Etwas machte, was noch hinter der "wirklichen Welt" lag. Dieses Kausalverhältnis durch Stellenangaben nachzuweisen, dürfte allerdings schwer oder unmöglich sein, aber es läßt sich erschließen. Wenn es für das "Göttlichwerden" des Dings-ansich keinen anderen Grund gab, so hatte das "Weltwerden" der Erscheinung die Tendenz, es zu bewirken; solche anderen Gründe lassen sich aber kaum auftreiben (12), es sei denn der ganz allgemeine, daß KANT vermöge seiner Erziehung und Geistesrichtung geneigt war, das Moralische und Religiöse innerhalb der Dinge ansich besonders zu betonen. Im Übrigen ist es eine für uns ziemlich gleichgültige Spezialfrage, ob die beiden Gefühlsverschiebungen bei KANT selbst in einem kausalen Zusammenhang standen: bei seinen Nachfolgern und Lesern war dieser Zusammenhang sicher wirksam, um ihnen das Göttlichwerden des Dings-ansich, den neuen Begriff des Transzendenten plausibel und annehmbar zu machen. Man prüfe nur die eigene Auffassung der kantischen Philosophie in dieser Hinsicht! Uns aber interessiert hier nicht der einzelne historische Vorgang, sondern die allgemeine Erscheinung.


IX. Der Fortfall des Dings-ansich
in Kants theoretischer Philosophie

§ 72. Wenngleich oft und viel darüber Klage geführt worden ist, daß KANT sich über die Annahme oder Ablehnung des Dings-ansich fast auf jeder Seite seiner "Kritik der reinen Vernunft" widerspricht, so dürfen wir es doch als seinen allgemeinen Standpunkt annehmen, daß er in seiner theoretischen Philosophie keinen Zusammenhang des Dings-ansich mit dem Erkennen mehr aufrecht erhält, und daß dieser Begriff nur noch in der praktischen Philosophie zu Recht eine Rolle spielt, freilich ohne seinen Namen noch zu verdienen (siehe § 7). Nur unter dieser Voraussetzung darf man ja von KANTs "transzendentalem Idealismus" sprechen.

§ 73. "Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen" (Vorrede zur zweiten Auflage der Kr. d. r. V., Absatz 14). In diesen Worten gibt KANT einen der Gründe, und vielleicht den hauptsächlichsten an, welche ihn zur Ausscheidung des Dings-ansich aus der "theoretischen Philosophie" bewogen haben.

Was aber konnte KANT veranlassen, für das Ding-ansich den Glauben dem Wissen als Erkenntnismittel vorzuziehen? Was anderes als der göttliche, "transzendente" Charakter den das Ding-ansich bei ihm gewonnen hatte. Er wollte das Heilige, Unantastbare der Autorität des nüchternen Verstandes entziehen, wollte "Moral und Religion aus den Wirren des metaphysischen Zankes herausgehoben und auf die Basis des natürlichen Gefühls gestellt" sehen, und folgte hierin einer weit verbreiteten Zeittendenz, nämlich jener Reaktion gegen die Aufklärung, welche von ROUSSEAU ihren Ausgang nahm und in der deutschen Romantik ihren Höhepunkt erreichte (13). Das Göttlichwerden des Dings-ansich also war es, welches sein Herausfallen aus der theoretischen Philosophie, welches den kantischen Idealismus teilweise verursachte.

§ 74. Diese Ansicht nun scheint mit den Untersuchungen zu disharmonieren, welche WINDELBAND in seinem Aufsatz "Über die verschiedenen Phasen der kantischen Lehre vom Ding-ansich" anstellt. Dort motiviert er den Abfall des Dings-ansich durch Gründe der Erkenntnistheorie (14) - wogegen übrigens nichts einzuwenden ist, denn das Göttlichwerden des Dings-ansich gilt ja auch uns nur als einer der Gründe - und behauptet weiterhin, das praktische Bedürfnis habe KANT gezwungen, die verlorene Welt der Dinge-ansich doch wieder aufzubauen, und zwar auf dem Boden der Ethik. (15) Hiernach nun hat es den Anschein, als habe nicht das Göttlichwerden des Dings-ansich den Abfall desselben bewirkt, sondern als sei es umgekehrt selbst erst von ihm veranlaßt worden. Das Kausalverhältnis wird auf diese Weise geradezu umgekehrt.

Demgegenüber nähert sich die schon erwähnte Stelle in WINDELBANDs "Geschichte der neueren Philosophie" (Bd. II, Seite 26-27) unserer Auffassung. Dort heißt es: "Er erwartete von ihr (der Metaphysik) die wissenschaftliche Begründung der religiösen und moralischen Überzeugung. - In diesem Sinn war er in die Metaphysik verliebt." Nun wird auseinandergesetzt, daß KANT im Anschluß an ROUSSEAU die erwähnten, heiligen Überzeugungen auf das natürliche Gefühl statt auf die Metaphysik gründen wollte, und weiterhin heißt es:
    "Je mehr sich diese Trennung des theoretischen und des praktischen Elements in Kants Überzeugung befestigten, umso wertloser mußte ihm die Metaphysik erscheinen."
In diesen Bemerkungen, die sich noch auf eine ziemlich frühe Zeit der Entwicklung des kantischen Denkens beziehen, erscheint das Reich der Religion und Moral zwar noch nicht mit dem der Objekte der Metaphysik, d. h. mit dem der Dinge-ansich, ganz identisch, aber es bildet doch schon den wesentlichen Bestandteil des letzteren, und sein Herausfallen aus der theoretischen Philosophie infolge seines göttlichen Charakters ist ziemlich gleichbedeutend mit dem des Dings-ansich selbst; denn was von ihm und der Metaphysik noch bleibt, ist wertlos.

Folgendes ist demnach anzunehmen, wenn man die verschiedenen Äußerungen WINDELBANDs zu kombinieren sucht: Das Göttlichwerden des Dings-ansich war zunächst nur ein teilweises; es bewirkte das Herausfallen des Dings-ansich aus der theoretischen Philosophie oder half es zumindest bewirken und diese Veränderung vervollständigte wieder rückwirkend den moralisch-religiösen Charakter des Dings-ansich.

Ich glaube, man kann sich dieser Gestaltung des Gedankens anschließen, zumal sich für sie noch andere Gründe geltend machen lassen als die von WINDELBAND gebotenen. Ein näheres Eingehen auf dieselben würde uns hier zu weit führen.


X. Subsumtion des betrachteten kantischen
Entwicklungsgangs unter die allgemeine
Wirkungsweise der OdsV.

§ 75. Wir hatten ein gesetzmäßiges Wirken der OdsV angenommen und erwarteten demnach dieselben Formen desselben bei KANT anzutreffen, welche wir bereits bei LOCKE und BERKELEY festgestellt hatten. Hat uns nun nicht die soeben beendete Auseinandersetzung in unserer Erwartung getäuscht? Sie scheint doch etwas völlig Neues zu bieten.

Allein bei näherem Hinblicken werden wir auf bekannte Züge aufmerksam, und zuletzt finden wir in dem soeben durchlaufenen Entwicklungsprozeß des kantischen Denkens die gesamte typische Wirkungsweise der OdsV wieder.

"Die OdsV erhebt die subjektive Vorstellung zu einem Pseudo-Objekt." Die weltgewordene, scheinbar das realistische Gefühl befriedigende Erscheinung ist die sehr vervollkommnete Gestalt dieses Pseudo-Objekts, (womit nicht gesagt sein soll, daß sie weiter nichts ist; KANT zu korrigieren und den Begriff des Transzendentalen als unberechtigt hinzustellen ist keineswegs unsere Absicht). Das Dazwischentreten des Pseudo-Objekts entfernt das ursprüngliche Objekt vom Subjekt und macht es zu einem geheimnisvollen Etwas hinter dem Pseudo-Objekt. (siehe § 22) Wir erkennen diese Wandlung im Charakter des alten Objekts in einem Göttlichwerden des Dings-ansich bei KANT wieder. "Die Entfernung des alten Objekts vom Subjekt wird einer der Gründe für das Zerreißen der sie verbindenden Erkenntnisbeziehung, das "wirkliche Ding", zuerst nur mysteriös, wird ganz unerkennbar oder fällt fort." Wir beobachteten diesen Zusammenhang soeben bei KANT. (Vgl. § 40).

§ 76. Nur eine der früher betrachteten Wirkungen der OdsV haben wir hier noch nicht berücksichtigt. Das Pseudo-Objekt soll ja das alte Objekt nicht nur aus der Erkenntnisbeziehung hinausdrängen, sondern auch dasselbe ersetzen.

Bei KANT bedurfte die Sinnlichkeit eines solchen Ersatzes nicht mehr, denn sie stand schon ohnehin mit dem Ding-ansich in keiner Verbindung. Das Denken aber, welches ursprünglich das Erkenntnisorgan für die Dinge-ansich gewesen war, wurde jetzt gleichfalls auf dem Gebiet der Erscheinungswelt beschäftigt; sein Amt bestand nunmehr darin, dieselbe objektiv zu machen, und daß es hierin sein Genüge, einen völligen Ersatz für das frühere Anschauen der Dinge-ansich fand, dafür sorgte eben die Umgestaltung der Erscheinung zu der unser realistisches Bedürfnis befriedigenden Welt.

§ 77. Werfen wir hier nochmals (16) die Frage auf: Wenn KANT die OdsV nicht gehabt hätte, wenn sein Trieb nach Wirklichkeit nicht mit dem realistischen Schein der Erscheinungswelt abgefunden worden wäre, hätte er dann ein Erkennen ohne Ding-ansich ertragen können, trotz all der Gründe, welche für die Verneinung des "wirklichen Dings" in der theoretischen Philosophie sprechen?

Der Realist würde diese Frage mit "Nein", der Idealist mit einem vielleicht bedingten "Ja" beantworten. Wir wollen sie offen lassen.


Fichte

§ 78. Es ist eine Tatsache, die uns in Erstaunen setzen muß, daß die OdsV, nachdem sie bei KANT ihren Höhepunkt erreicht hat, plötzlich umkehrt und bei seinen nächsten Nachfolgern fast jede Bedeutung verliert. Sie findet sich noch bei REINHOLD und MAIMON, aber weit seltener als bei KANT, und im Grunde auch nur dann, wenn sie sich direkt an diesen anschließen. Auch scheint sie sich bei ihnen immer nur in denselben Formen wiederzufinden, die uns schon in der kantischen Philosophie entgegengetreten sind. Fast ganz frei von ihr aber ist FICHTE. Eine wirklich klare OdsV und einen Einfluß derselben auf sein System kann ich bei ihm nur in einer seiner Schriften entdecken, und zwar bezeichnenderweise gerade in der, in welcher er sich mit der kantischen Philosophie auseinandersetzt. Ich meine die "Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre." [WL2]

§ 79. FICHTE behauptet hier, es kann kein anderes Sein geben, als ein "Sein für uns" und fügt Nr. 2, Absatz 3 hinzu: "Die aufgestellte Frage: Wie ist ein Sein für uns möglich? abstrahiert von allem Sein." Das heißt auf gut deutsch: "Ein Sein ohne uns ist Unsinn."

Welche Folgerung aber FICHTE hieraus zieht, zeigt die vorangehende Stelle (Nr. 2, Absatz 2):
    "Da diese Frage von der Bemerkung, daß das unmittelbare Objekkt des Bewußtseins doch lediglich das Bewußtsein selbst ist, ausgeht, so kann sie von keinem anderen Sein als einem Sein für uns reden."
Das Sein für uns soll also selbst Bewußtsein, Vorstellung sein, es soll zugleich ein Sein in uns bedeuten.

Was FICHTE zu der Behauptung veranlaßt, daß es nur ein Sein für uns geben kann, ist das Problem, wie man denn wissen kann, daß ein Ding auch ohne unser Wissen besteht, da wir das Ding doch eben wissen müßten, um zu wissen, daß es besteht. Diese Frage erledigt sich, wenn man die Differenz der Zeiten in Betracht zieht. Ich kann jetzt sehr wohl denken, daß das Papier, auf dem ich schreibe und an das ich denke, gestern bestand, ohne daß ich daran dachte. Mein Wissen um das Papier findet heute statt, mein Nichtwissen gestern. Darum ist es kein Widerspruch, wenn ich sage, ich weiß, das Papier hat ohne mein Wissen bestanden. Auf diese Weise kommen wir zu der Überzeugung, daß die Dinge nicht bloß ein Sein für uns haben, daß sie auch selbständig bestehen können.

Fichte nun kommt über diese Schwierigkeit nicht hinweg und meint, man könne nicht wissen, daß etwas ohne unser Wissen ist; und weil man es nicht wissen kann, hat man auch keinen Grund, es anzunehmen. Darum gibt es nur ein von unserem Wissen begleitetes Sein, nur ein Sein innerhalb der Erkenntnisbeziehung, nur ein "Sein für uns".

Dieses Seine für uns könnte ganz gut noch ein äußeres Sein bedeuten. Ich könnte mir ja doch denken, daß durch eine seltsame prästabilierte Harmonie dieses Papier immer da wäre, sobald ich darauf blicke, aber sofort verschwindet, sobald ich den Blick fortwende. Aber auch diese Möglichkeit läßt FICHTE außer acht. Das Sein für uns ist ihm ohne Weiteres ein Sein in uns, ein Sein, das nur im Bewußtsein ist. Sein in uns oder, was dasselbe sagt, realistisches Objekt im Subjekt ist aber ein hölzernes Eisen; es gehört zur Begriffsbestimmung des Seins, daß es außerhalb des Subjekts ist. Sein in uns also ist nur das Sein eines Denkfehlers, einer Objektivierung der subjektiven Vorstellung oder einer Subjektivation des Objekts, wie man nun will. Denn hier liegt der in § 17 besprochene Vorgang vor, daß das Objekt, das Sein, in das Subjekt hineingezogen, also subjektiviert wurde, dabei aber immer Objekt blieb und seinen Titel "Sein" fortführte.

80. Anders sieht es mit einer Stelle in der "Bestimmung des Menschen" (Sämtliche Werke I, Bd. 2, Seite 228/29), in der anscheinend eine neue Form der OdsV vorliegt. FICHTE scheint hier auszusprechen, daß wir den Raum, obgleich er unser Geistesprodukt ist, uns gegenüberstellen, unsere Vorstellungen in ihn hineinprojezieren, sie darauf anschauen und so, während sie einerseits Subjekt bleiben, auf der anderen Seite zum Objekt machen.
    "Du selbst bis - vor dich selbst hingestellt und aus dir herausgeworfen; und alles was du außerhalb von dir erblickst, bist immer du selbst. - Das Bewußtsein ist ein tätiges Hinschauen dessen, was ich anschaue, - ein Heraustragen meiner selbst aus mir selbst. Ich sehe - mein Sehen."
Hier scheint der Prozeß, mittels dessen die subjektive Vorstellung Objekt wird, geradezu vor unseren Augen vor sich zu gehen.

Indessen liegt hier nun ein schlechter, nachlässiger Ausdruck, kein wirklicher Denkfehler vor - es sei denn wieder die schon bei BERKELEY konstatierte Verwechslung von Objekt und Materie bzw. von Subjekt und Geist, von räumlichem und erkenntnistheoretischem "Draussen", welche uns hier nnichts angeht. Denn wenige Seiten später (ebd. Seite 238) sagt FICHTE:
    "Durch dieses Denken entsteht dir nun erst ein Zusammenhang zwischen deinem Zustand und dem Raum, du denkst in den letzteren den Grund des ersteren hinein."
Das Wort "Hineindenken" ist wichtig. Das Projizieren war also kein Hineintun der Vorstellung in den Raum, sondern ein Hineindenken derselben. Das Ich denkt nur, sie sei außen, sie ist es aber nicht. Und ebenso muß dann hier wie anderwärts bei FICHTE das Anschauen dieses gedachten Äußeren auch nur ein gesetztes Anschauen sein. Es liegt hier also keine OdsV des Philosophen, sondern höchstens eine solche des von ihm geschilderten Ich vor.

Nichtsdestoweniger ist die angeführte Stelle für uns wichtig, denn die darin ausgesprochene Projektionstheorie wurde für Spätere eine Veranlassung zur OdsV. In DEUSSENs "Elemente der Metaphysik" heißt es (§ 88):
    "Unausgesetzt ist unser Verstand beim Umschauen damit beschäftigt, die verschiedensten Wirkungen, die seine Affektionen sind, in den Raum und in die Zeit zu projizieren."
Auch hier ist ja zunächst das Projizieren nur ein Hinausdenken, kein Hinaustun gemeint: es ist nicht so gemeint, als ob sich im Raum nach der Projektion nun wirklich Ursachen befinden, die unsere Eindrücke hervorrufen. Wenn aber DEUSSEN sonst diese gedachte Ursache, die Materie, wirklich und nicht nur in der Vorstellung anschauen läßt, wenn er sie zum Pseudo-Objekt der OdsV macht, dann verwandelt er nachträglich das Projizieren doch in ein wirkliches Hineintun in den Raum. Hier also, und wahrscheinlich noch bei vielen anderen, neueren Philosophen, ist die Projektionstheorie ein neuer Weg zur OdsV geworden.

Bei den idealistischen Klassikern ist sie es noch nicht. KANT wehrt sich sogar in gewissem Sinn gegen sie, indem er in der "Kritik des vierten Paralogismus" (Absatz 9) einen scharfen Unterschied macht zwischen dem empirisch (räumlich) und transzendental (erkenntnistheoretisch) äußerlichen Gegenstand. Das räumliche "Draussen" ist bei ihm noch immer im Subjekt, und was auf diese Weise draussen ist, kann also noch nichts Angeschautes, noch nicht Objekt sein. - Die soeben erwähnte kantische Stelle ist übrigens, wenn nicht der einzige, so doch wahrscheinlich der erste bisherige Protest gegen die von uns bekämpfte Verwechselung von Geist und Subjekt, Materie und Objekt.


Schopenhauer

81. Nächst dem kantischen System ist keines von der OdsV so stark beeinflußt worden wie dasjenige SCHOPENHAUERs. Wir wollen sie zunächst wieder formell bei ihm nachweisen, ohne uns an die möglicherweise anzunehmende immanente Wortbedeutung zu kehren.

Schon am Anfang der "Welt als Wille und Vorstellung" tritt uns die OdsV entgegen:
    "Es wird ihm (dem Menschen) dann deutlich und gewiß, daß er keine Sonne kennt und keine Erde; sondern immer nur ein Auge, das eine Sonne sieht und eine Hand, die eine Erde fühlt."
SCHOPENHAUER versteht hier unter "Auge" die Eindrücke des Sehens und unter "Hand" die des Fühlens. Aber selbst wenn wir dies in Betracht ziehen, hat die Stelle noch immer etwas so Gefühlverletzendes, daß es aussieht, als habe SCHOPENHAUER hier die OdsV selbst kennzeichnen wollen. Hier liegt wieder eine Verwechslung von Substantialität und Erkenntnisbeziehung vor. Der Mensch hat das Auge, aber er (er)kennt es nicht, zumindest nicht so, wie es SCHOPENHAUER meint. Die Sonne dagegen hat er nincht, er kann sie nur erkennen, wenn es für SCHOPENHAUER ein Erkennen gäbe.

Eigentlich berührt es den Leser, wenn SCHOPENHAUER in § 5 Absatz 1 dem Realismus vorwirft, daß er die OdsV nicht begeht. Er sagt dort:
    "Der realistische Dogmatismus - will - Vorstellung und Objekt, die eben eins sind, trennen und - ein Objekt ansich annehmen, unabhängig vom Subjekt: etwas völlig Undenkbares; denn eben schon als Objekt setzt es immer schon das Subjekt voraus und bleibt daher immer nur dessen Vorstellung."
Warum soll denn das Objekt immer schon das Subjekt voraussetzen? Deswegen, weil nach SCHOPENHAUER das Objekt nie außerhalb der Erkenntnisbeziehung vorkommen kann. Wir erkennen hier FICHTEs "Sein für uns" wieder. Und wie bei FICHTE verwandelt sich auch hier dasselbe in ein Sein in uns, in Vorstellung. Aus der Subjektivierung des Objekts und dem Objektbleiben der so entstehenden neuen subjektiven Vorstellung entsteht auch hier dasselbe Pseudo-Objekt wie sonst durch die OdsV.

Denselben Gedankengang erkennen wir in § 1 Absatz 1:
    "Alles, was irgendwie zur Welt gehört, - ist unausweichbar mit diesem Bedingtsein durch das Subjekt behaftet und ist nur für das Subjekt da. Die Welt ist Vorstellung."
Ähnliches findet sich in Bd. II, Kapitel 1, Absatz 4.

82. Fragen wir, wie SCHOPENHAUER zu der Ansicht kam, daß das Ding oder Objekt nine ohne das Subjekt, nie außerhalb der Erkenntnisbeziehung dasein kann, so gibt er uns selbst die Antwort in § 2 seines Hauptwerks. Dort heißt es:
    "Diese Hälften (d. h. Subjekt und Objekt) sind daher unzertrennlich, selbst für den Gedanken. Denn jede von beiden hat nur durch und für die andere Bedeutung' und Dasein, ist mit ihr da und verschwindet mit ihr."
Also weil "Subjekt" und "Objekt" Korrelate, Beziehungsbegriffe sind, darum kann das durch diese Worte Bezeichnete nie allein und ohne den anderen Teil bestehen! Ebenso richtig könnte SCHOPENHAUER sagen, wenn der Sohn stirbt, muß auch der Vater mit verschwinden, denn Sohn und Vater sind Korrelate. Er bedenkt nicht, daß mit der Beziehung und ihren Teilbegriffen das Bezogene nicht solidarisch ist, daß es auch nach dem Verschwinden der Beziehung als Absolutes, d. h. Unbezogenes fortexistieren kann. Nach dem Tod des Sohnes ist der Vater kein Vater mehr, aber er lebt noch als Mensch. Nach dem Fortfall des Subjekts ist das realistische Objekt auch kein Objekt mehr, aber es besteht noch als einfaches Ding.

Diese Auffassung, daß Subjekt und Objekt als Korrelate unzertrennlich sein müßten, war aber eine neue Veranlassung der OdsV bei SCHOPENHAUER. Wenn nur ein solcher Begriff Objekt heißen durfte, der nicht ohne das Subjekt bestehen kann, so verdient einzig und allein die subjektive Vorstellung diesen Titel. Das realistische Objekt aber verdient ihn nicht, denn seine Existenz war auch ohne das Subjekt denkbar. Siehe hierzu die oben zitierte Stelle § 5 Absatz 1.

Die Beispiele für das formelle Vorkommen der OdsV bei SCHOPENHAUER ließen sich beliebig häufen, aber ohne uns wesentlich Neues zu bieten. Wenden wir uns also zu der das Obige ergänzenden Betrachtung, wie weit sich die OdsV bei SCHOPENHAUER durch die Entwicklung immanenter Erkenntnisbegrifffe korrigiert hat.

83. Zunächst findet sich bei SCHOPENHAUER der kantische immanente Objektbegriff wieder, nur weit deutlicher und ausgesprochener als bei KANT selbst. So definiert SCHOPENHAUER in der Abhandlung "Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grund" (§ 19, Anmerkung) die realen Objekte als "die anschaulichen, zum Komplex der - empirischen Realität verknüpften Vorstellungen.

Einen weiteren Beweis für das Vorhandensein und die Fortentwicklung des immanenten Objektbegriffs bei SCHOPENHAUER scheint mir der Ausdruck zu erbringen, die Vorstellung zerfalle in Objekt und Subjekt" (WaWuV § 1) oder dieselben seien ihre "zwei wesentlichen, notwendigen und unzertrennbaren Hälften" (ebd. § 2). Diese Worte, sowie das in § 6 der "Welt als Wille und Vorstellung" enthaltene Beispiel für die Art, wie SCHOPENHAUER sich das Zerfallen der Vorstellung denkt, scheinen mir darauf hinzudeuten, daß hier der Vorstellungsinhalt Objekt, der Vorstellungsakt Subjekt (besser wäre "subjektive Vorstellung") genannt wird. Ist diese Auslegung richtig, so hat sich bei SCHOPENHAUER eine bedeutsame Klärung und Fortbildung der immanenten Erkenntnisbegriffe vollzogen (siehe § 51).

Hieraus könnte nun leicht der Schluß gezogen werden, daß bei SCHOPENHAUER die immanente Bedeutung der Worte Objekt und Realität vollständig an die Stelle der alten, realistischen Begriffe getreten ist, daß es also bei ihm keine OdsV mehr gibt und die oben erwähnten Stellen für den Einsichtigen einen fehlerhaften Sinn enthalten.

84. Doch derartige optimistische Auffassungen werden widerlegt durch eine Stelle, welche sich im zweiten Band der WaWuV, Kapitel 1, Absatz 8 findet. Dort sagt SCHOPENHAUER:
    "Nichts wird so anhaltend, allem was man sagen mag, zum Trotz, und stets wieder von Neuem mißverstanden wie der Idealismus, indem er dahin ausgelegt wird, ,daß man die empirische Realität der Außenwelt leugnet. Hierauf beruth die beständige Wiederkehr der Appellation an den gesunden Verstand."
Wenn SCHOPENHAUER hier nichts weiter behaupten würde, als daß auch der Idealismus seine (empirische) Realität hat, so könnte man dies zugeben; er hat ja in der Tat eine Realität, nämlich die immanente. Aber in der angeführten Stelle liegt doch noch etwas mehr, was man zwischen den Zeilen zu lesen hat. Wenn die Realisten sich beim Idealismus über den Verlust der Realität beschweren, warum tun sie dies? Welches Interesse haben sie an der Erhaltung derselben? Offenbar dasjenige, ihr realistisches Bedürfnis zu befriedigen. Wenn also Schopenhauer erklärt, die Realisten hätten dem Idealismus gegenüber keinen Grund zur Klage über den Verlust der Realität, so spricht der implizit die Behauptung aus, der dem Idealismus eigene immanente Realitäts- und Objektbegriff genüge dem menschlichen Wirklichkeitsbedürfnis.

85. Ist das wahr? Befriedigt wirklich die immanente Realität den realistischen Trieb? Das ist hier die entscheidende Frage.

Indem wir sie aber aufwerfen, kommen wir zugleich auf jene andere Frage zurück, welche wir bei der Behandlung der kantischen Philosophie offen gelassen haben (§ 67): "Läßt sich das Weltwerden der Erscheinung bei KANT allein aus ihrer immanenten Realität erklären?" Denn auch dieses "Weltwerden" lief ja für uns auf die Befriedigung des realistischen Triebes hinaus. Man erkennt, wie mancherlei Gedankenfäden in diesem Punkt zusammenlaufen, wir befinden uns in einem der Zentren unserer Untersuchung.

86. Um die aufgeworfene Frage zu lösen, wollen wir zunächst betrachten, wie beschaffen denn eigentlich jener "Wirklichkeitstrieb", jenes "realistische Bedürfnis" ist, welches uns auf unserem Weg schon mehrfach begegnet ist.

Definieren läßt es sich ebensowenig wie alle anderen elementaren psychologischen Erscheinungen, zumindest nicht, ohne daß man einen Zirkel begeht. Aber es läßt sich begrifflich einordnen. Man pflegt die Triebe in zwei Gruppen zu teilen, in egoistische und altruistische oder soziale. Unter den letzteren sind solche Triebe zu verstehen, welche das Ich zum Glied eines großen Ganzen zu machen streben, wobei letzteres nicht notwendig die menschliche Gesellschaft zu sein braucht; das Wort "sozial" ist für diese Bedeutung etwas zu eng und darum leicht irreführend.

Zu welcher der beiden Gattungen gehört nun der realistische Trieb? Offenbar zu der der sozialen Triebe, denn er strebt, das Ich in Verbindung zu setzen mit der großen, allumfassenden "Welt".

Diesen seinen Charakter bestätigt das Wirklichkeitsbedürfnis sowohl in dem, was es flieht, wie auch in dem, was es sucht. Was es flieht, ist die Verneinung der dem Ich gegenüberstehenden Welt. Nimmt man diese fort, so empfindet man mit Schaudern, wie das Ich - oder besser dasjenige, was zur "Ich" hieß - allein dasteht in einem großen, leeren Nichts. Welcher selbstdenkende Philosoph hat nicht zumindest einmal mit dieser verzweifelten Stimmung gerungen, in der alles um uns herum zu wanken scheint, und die sich nur mit der Gemütsverfassung des religiösen Menschen vergleichen läßt, dessen Gottesglauben am Felsen der Wissenschaft zerschellt!

Läßt man aber die uns gegenüberstehende Welt bestehen, so wird das Ich durch das realistische Bedürfnis getrieben, sich gleichsam in sie zu stürzen und in ihr aufzugehen. Dieses sich selbst vergessende Solidaritätsgefühl mit der Welt bildet ein Hauptkennzeichen des enthusiastischen Strebens nach Wahrheit, dessen wesentliches Ingrediens der Wirklichkeitstrieb ist. Auch hierin wieder ähnelt dieser oder der von ihm beeinflußte Erkenntnistrieb dem religiösen, welcher in Gott aufzugehen strebt. Die klassische Verbindung dieser beiden verwandten Strebungen des Willens ist SPINOZAs "amor dei intellectualis".

Doch wozu erst umständlich beschreiben, was jedem die eigene Anschauung zeigt. Darauf aber möchte ich noch hinweisen, daß ich das obige BVild des Wirklichkeitstriebes nach der Anschauung gekennzeichnet habe. Keineswegs mache ich mir meine Aufgabe so leicht, daß ich zuerst das realistische Bedürfnis als das Streben nach äußerer Realität definierte und daraus wieder ableitete, nur die äußere Realität befriedigt es. Ich definiere hier überhaupt nicht, sondern ich schildere, was ich in mir finde und was wohl auch andere in ihrem eigenen Innern beobachten werden.

87. Kann nun der soziale, nach Anschluß an eine äußere Welt verlangende Wirklichkeitstrieb sein Genüge finden in immanenter Realität, in innerer Gesetzmäßigkeit des Erkennens? Kann das Ich sich weniger einsam fühlen, wenn es weiß, daß seine Erscheinungen notwendig verlaufen? Wo ist denn hier eine gedankliche Brücke zwischen dem Geforderten und dem Erhaltenen? Ich sehe keine und glaube daher, die Antwort auf unsere Frage muß lauten, daß die immanente Realität das realistische Gefühl nicht befriedigen kann.

87. Kann nun der soziale, nach dem Anschluß an eine äußere Welt verlangende Wirklichkeitstrieb sein Genügen finden in einer immanenten Realität, in innerer Gesetzmäßigkeit des Erkennens? Kann das Ich sich weniger einsam fühlen, wenn es weiß, daß seine Erscheinungen notwendig verlaufen? Wo ist denn hier eine gedankliche Brücke zwischen dem Geforderten und dem Erhaltenen? Ich sehe keine und glaube daher, die Antwort auf unsere Frage muß lauten, daß die immanente Realität das realistische Gefühl nicht befriedigen kann.

88. SCHOPENHAUER aber scheint sich, nach der oben zitierten Stelle zu schließen, mit ihr zufrieden zu geben und verlangt auch, daß die Realisten es tun. Wie war das nur möglich? War bei ihm etwa der Wirklichkeitstrieb anders organisiert als bei anderen Menschen? Schwerlich, und es läßt sich daher für SCHOPENHAUERs Satz keine andere Erklärung finden, dals daß der realistische Schein des Wortes Realität ihn getäuscht hat. (17) Der neue Begriff der immanenten Realität war eben noch nicht ganz klar, d. h. er war es vielleicht schon seinem Inhalt nach, aber da er sich aus dem der realistischen Realität allmählich und unbewußt gebildet hatte, so wurde er von diesem noch nicht scharf genug geschieden. So war es möglich, daß er noch dann und wann in ihn hinüberspielte, daß er realistisch schillerte und also dem Anschein nach das realistische Bedürfnis befriedigte.

Hatte sich aber der neue Begriff der immenanten Realität oder Objektivität noch nicht ganz aus seiner realistischen Puppenhüle befreit, so galt dasselbe auch vom entsprechenden Begriff des immanenten Objekts. Die Erscheinung trug demnach auch bei SCHOPENHAUER noch die allerdings schon verschwimmenden Züge des Pseudo-Objekts der OdsV, welche daher bei ihm noch nicht als beseitigt gelten darf.

89. Die oben erwähnte Stelle von SCHOPENHAUERs Hauptwerk ist außerordentlich wichtig für uns, schon deshalb, weil der darin enthaltene Gedanke zahllose Male wiederholt worden ist; ja der Verdacht ist nicht ganz von der Hand zu weisen, als werde die apriorische Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen überhaupt nur deshalb Realität genannt, um den Idealismus scheinbar den menschlichen Bedürfnissen anzupassen. Was dem realistischen Gefühl hier geboten wird, ist im Grunde nur das Wort "Realität"; denn der Begriff der dem Idealismus eigenen Realität hat mit dem verlangten Realitätsbegriff kaum etwas gemein. Mit diesem Wort hinterging man das realistische Bedürfnis der Menschen und speiste es ab; auf dieses Wort gestützt wollte man ihnen einreden, es sei ja Alles beim Alten geblieben, die Welt, die Wirklichkeit sei noch da, nur fester und sicherer als zuvor. Kein Wunder, daß sich gegen diese Behauptung der "gesunde Menschenverstand", das jedem Denkenden innewohnende feine Wahrheitsgefühl auflehnt. Denn der gesunde Menschenverstand, wenn auch in vieler Beziehung inkompetenter als die Wissenschaft, hat doch den großen Vorzug, sich gewöhnlich nicht durch Worte blenden zu lassen; zweideutigen Sophismen setzt er, auch wenn er den in denselben enthaltenen Fehler nicht ausdrücklich anzugeben vermag, ein beharrliches "Es ist aber doch so" entgegen. Gegen den Einspruch des gesunden Menschenverstandes nun pflegt, wie es auch SCHOPENHAUER tut, mit Vorwürfen geantwortet werden: "Man versteht eben Kant nicht, man begreift nicht, was der Idealismus will." Ich glaube der Fehler liegt hier doch wohl auf der anderen Seite; man versteht den Realitätsbegriff nicht, um den es sich bei dieser ganzen Frage handelt.

Auch noch in anderer Beziehung ist die Stelle bei SCHOPENHAUER und der in ihr enthaltene Gedanke für uns wichtig. In der Behauptung, daß der Idealismus die Realität nicht verloren hat und darum allen Ansprüchen genügt, besitzen wir ein Kriterium dafür, daß bei einem Philosophen die immanenten Erkenntnisbegriffe noch nicht voll entwickelt sind, noch realistisch schillern und bei gebotener Gelegenheit in ihre frühere, realistische Form zurückspringen; wir besitzen damit zugleich ein Kriterium für das Vorhandensein der OdsV.

90. Mit wenigen Worten müssen wir hier noch einmal des Weltwerdens der Erscheinung bei KANT gedenken. Es wird wohl noch in Erinnerung sein, daß wir dasselbe als Folge der OdsV bezeichnet haben, ob es nicht auch eine Wirkung der empirischen Realität der Erscheinung sein kann, zunächst offen gelassen haben.

Wir können sie jetzt in gewissem Sinn verneinen, denn wir haben ja gesehen, daß die immanente Realität den Wirklichkeitstrieb nicht zu befriedigen vermag. Aber wir bezweifeln damit nur, daß die immanente Realität einen objektiven Grund abgeben kann für das Weltwerden der Erscheinung; wohl aber kann sie bei KANT eine subjektive, psychologische Veranlassung zu der Gefühlsverschiebung gewesen sein, es ist möglich, ja sogar höchst wahrscheinlich, daß auch bei KANT3 der immanente Realitätsbegriff realistisch schillerte und deshalb der Satz: "Die Erscheinung besitzt Realität" ihn bewog, die Erscheinung zur "Welt" oder "Natur" zu erheben, d. h. zu glauben, daß sie das realistische Gefühl befriedigen kann.

Doch damit haben wir nur in neuer Form unser altes Resultat erreicht, wir haben aufs Neue das Weltwerden der Erscheinung als Folge der OdsV erkannt. Denn was ist das realistische Schillern der immanenten Erkenntnisbegriffe anders als eben dieser Denkfehler?

91. Die Folgen der OdsV bei SCHOPENHAUER sind im Allgemeinen dieselben wie bei KANT: Das Pseudo-Objekt in der Form der weltgewordenen Erscheinung, dreigliedrige Erkenntnisbeziehung, Göttlichwerden des "wirklichen Dings", (zumindest insoweit, als dieses zum Gegenstand der Ethik wird), schließlich ein Herausfallen desselben aus der Erkenntnisbeziehung, (in welchem Fall SCHOPENHAUER freilich nicht konsequent bleibt), inmittelbares Erkennen des Pseudo-Objekts und in der inneren Wahrnehmung überhaupt. SCHOPENHAUER eigentümlich ist nur die Hervorhebung gerade dieses letzten Punktes; die unmittelbare Anschauung hat bei ihm ihre höchste Ausbildung erlangt, ja sie hat sogar, wohl im Anschluß an SCHELLINGs "intellektuelle Anschauung" auf SCHOPENHAUERs Metaphysik Einfluß gehabt. Da wir nämlich, wie er glaubt, unser eigenes Ich, den Willen, unmittelbar und wie er ansich ist, anschauen, so bietet dies eine Brücke, um überhaupt in die Welt der "wirklichen Dinge" hinüber zu gelangen. Während also KANT und FICHTE für ihre Metaphysik ein neues Erkenntnisorgan, den Glauben, annahmen, stützt SCHOPENHAUER die seine ganz auf die unmittelbare Selbstanschauung.

92. Daß die unmittelbare Anschauung der Erscheinung, des Pseudo-Objekts, Folge der OdsV ist, hatten wir schon gesehen. Daß aber auch die Unmittelbarkeit der Selbstanschauung diesem Fehler zuzuschreiben ist, dafür sind wir noch den Nachweis schuldig.

Aber derselbe ist nicht eben schwer zu führen. Warum glaubt den SCHOPENHAUER, daß wir uns selbst unmittelbar erkennen (während wir doch tatsächllich uns selbst schlechter beobachten können als die Außenwelt)? Nun, deshalb, weil wir uns selbst haben; denn das Haben ist immer unmittelbar, zwischen Substanz und Akzidenz ist keine Kluft wie zwischen Subjekt und Objekt (18). Auf dem Grund der unmittelbaren Selbstanschauung finden wir also jene wohlbekannte Verwechslung von Haben und Erkennen wieder,, die eben das Wesen der OdsV ausmacht.

Somit erstrecken sich die Wirkungen dieses Fehlers bei SCHOPENHAUER bis in seine Metaphysik.


Die OdsV in der Gegenwart

93. Da unsere Aufgabe kein rein historische ist, so kann es nicht auf ihrem Weg liegen, das Auftreten der OdsV bei jedem einzelnen Philosophen, seien es auch nur die hervorragendsten, zu untersuchen. Die Arbeit wäre auch eine ziemlich fruchtlose, denn der Denkfehler zeigt im Großen und Ganzen stets dieselben gesetzmäßig wiederkehrenden Formen und Wirkungen.

Werfen wir also nur einen allgemein orientierenden Blick auf die Philosophie der Gegenwart, so läßt sich sagen, daß die reine Ausbildung der immanenten Erkenntnisbegriffe oder, was dasselbe ist, die Korrektur der OdsV hier und da Fortschritte gemacht hat. Ja manche haben sich in den Begriff des immanenten Objeks so sehr eingelebt, daß es ihnen kaum noch zu Bewußtsein kommt, wie jung derselbe noch ist und wie ungewohnt dem Sprachgefühl unserer Zeit. Bei solchen Lesern hat die vorliegende Schrift mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen; denn für sie hat der Satz: "Ich erkenne meine Vorstellungen, sie sind meine Objekte" einen durchaus richtigen Sinn und sie werden kaum noch verstehen, wie man denselben falsch auffassen kann. Nichts ist ja natürlicher, als daß man die eigene, richtige Erkenntnis auch dem Gelesenen oder Gehörten unterschiebt.
    "Liest doch nur Jeder
    Aus dem Buch sich heraus, und ist er gewaltig,
    so liest er
    In das Buch sich hinein, amalgamiert sich
    das Fremde."
Namentlich aus diesem Grund habe ich mich veranlaßt gesehen, auf die Entstehungsgeschichte der immanenten Erkenntnisbegriffe einen so großen Wert zu legen und mit allen mit zu Gebote stehenden Mitteln nachzuweisen, daß das immanente Objekt bei LOCKE und BERKELEY noch gar nicht vorhanden, bei KANT und SCHOPENHAUER aber noch nicht voll entwickelt war.

94. Aber mehr als das: Auch in der Gegenwart fehlt noch viel an der vollendeten, klaren Durchbildung der immanenten Begriffe; was schon von SCHOPENHAUER gesagt wurde, gilt auch hier: Die neuen Begriffe sind ihrem positiven Inhalt nach vollkommen entwickelt, aber sie werden nicht scharf von den alten geschieden. Was KANT getan hat, wird vielfach so aufgefaßt, als habe er die Objektivität auf eine neue Basis gestellt, nicht so, daß er eine ganz neue Objektivität geschaffen hätte; eine Regel, von dder es freiich rühmliche Ausnahmen gibt. (19)

Aus all dem geht hervor, daß die OdsV nicht nur ein historisches, sondern auch ein aktuelles und wegen der Notwendigkeit ihrer Bekämpfung zugleich ein praktisches Interesse beansprucht.

Namentlich zwei Kennzeichen sind es, an denen das Vorhandensein der OdsV in der Gegenwart erkannt werden kann.

Zunächst gehören hierher die beständig wiederkehrenden Versuche, den Einspruch des gesunden Menschenverstandes, das will sagen des realistischen Gefühls gegen den Idealismus durch den Hinweis auf dessen empirische Realität zu beschwichtigen. Wir haben diesen Punkt bereits eingehend genug erörter, und die Anführung besonderer Belegstellen können wir uns bei der großen Zahl derselben ersparen.

95. Noch deutlicher zeugt das zweite Kennzeichen für die Unklarheit der neuen Begriffe und das Vorhandensein der OdsV. Es werden nämlich häufig mit dem immanenten Objekt Bezeichnungen und Ausdrücke verbunden, welche sich schlechterdings nur auf das realistische anwenden lassen.

So heißt es z. B. oft, das kantische Objekt, im immanenten Sinn des Wortes korrespondiere dem Subjekt oder dem Erkennen, oder es sei ihm proportional. Nun vergegenwärtige man sich einmal, wie der Vorstellungsinhalt, das immanente Objekt, korrespondieren kann dem Vorstellungsakt, welcher doch hier allein als das Erkenntnismittel, als die subjektive Vorstellung aufgefaßt werden kann! Was haben die Bestimmungen des Vorstellungsaktes, als das sind Aufmerksamkeit, Gefühlston, Dauer, Kontinuität usw. des psychischen Vorgangs, Gemeinsames, Ähnliches, Proportionales mit der Farbe, Gestalt usw. des im Vorstellungsinhalt gesetzten Dings? Offenbar nichts. Aber vom realistischen Objekt kann man sagen, es korrespondiere dem Subjekt oder der subjektiven Vorstellung, denn die realistische Erkenntnisbeziehung stützt sich ja eben auf die Gleichheit oder Ähnlichkeit von Objekt und Erkenntnis. Offenbar also liegt hier ein Rückfall des neuen, immanenten Objektbegriffs in seine alte, realistische Form vor.

Und nicht weniger schief ist es, wenn vom immanenten Objekt gesagt wird, es sei dem Subjekt "objiziert" oder es "stehe ihm gegenüber". Das Subjekt und die subjektive Vorstellung, zu der ja auch der Vorstellungsinhalt, das immanente Objekt, gehört, stehen zueinander im Verhältnis der Substantialität - zumindest ist dies die gewöhnliche Annahme, welche bei der Begriffsbildung allein in Frage kommt. Nun ist es doch aber wohl klar, daß man vom Akzidens nicht sagen kann, es sei der Substanz "objiziert"; denn nächst der Beziehung der Identitäät ist die der Substantialität der direkteste Gegensatz des "Auseinander" oder "Gegenüber". So paradox es auch klingt, so ist es doch wahr, daß das immanente Objekt kein ob-jectum, der immanente Gegenstand kein Gegen-stand ist. Darin kann man übrigens einen neuen Beweis erblicken für die Tatsache, daß das populäre Bewußtsein und die ältere Philosophie, welche jene Termini geschaffen haben, noch nichts vom immanenten Objektbegriff wissen, dieser vielmehr erst eine Bildung der neuesten Zeit ist. Sie kennen bloß den realistischen Objektbegriff, der ja in der Tat dem Subjekt "objiziert" und "gegenüber" ist. Auf das immanente Objekt können diese Bezeichnungen nur dann angewendet werden, wenn es noch realistisch schillert.

96. Die Zweideutigkeit der Worte Objekt, Realität, Wahrheit usw. infolge des Ineinanderspielens der realistischen und immanenten Begriffe bewirkt übrigens nicht bloß die OdsV, sie hat noch eine andere, sehr üble Folge. Bei ihrer komplizierten, abstrakten und leicht der Verwirrung ausgesetzten Natur bedürfte gerade die Erkenntnistheorie eines Apparates an Worten und Begriffen, so fein und exakt wie eine Präzisionsmaschine. Stattdessen sind nun gerade die wichtigsten beständig schwankend und zweifelhaft. Verwirrung und Mißverständnisse sind die Folge, und die Verständigung in der Diskussion wird außerordentlich erschwert. (20)


Mittel zur Beseitigung der OdsV

97. Wie nun lassen sich die Grenzüberschreitungen der immanenten Erkenntnisbegriffe steuern, oder, was dasselbe ist, wie kann man die so häufigen und folgenschweren Fehler der OdsV dauernd beseitigen? Beide Fragen sind in der Tat identisch, denn ohne das realistische Schillern der immanenten Begriffe wäre ja, wie wir gesehen haben, schon längst die Selbstkorrektur des Denkfehlers eingetreten.

98. Dasjenige Mittel, welches am sichersten zum Ziel führen würde, bestände jedenfalls darin, die ursprünglich realistischen Worte Objekt, Realität usw. nicht mehr für die immanenten Begriffe zu verwenden. Denn wenn dieser Gebrauch der Worte überhaupt einen Zweck hat, so ist es der, daß innerhalb des Idealismus noch von Objekt und Realität geredet werden kann, d. h. eine Hintergehung und Scheinbefriedigung des realistischen Gefühls. Außer diesem illegitimen und nicht zu billigenden Zweck aber läßt sich kaum einer finden, denn es ist nicht einzusehen, warum man statt "Objekt" nicht ebensogut "Vorstellungsinhalt", statt "Realität" oder "Objektivität" oder "Wahrheit" nicht ebensogut "(innere) Gesetzmäßigkeit", statt "erkennen" und "wissen" nicht ebensogut "haben", "hervorbringen", "produzieren" oder mit einem mustergültig klaren Terminus FICHTEs "setzen" sagen sollte. Die letzteren Worte sind kaum umständlicher als die ersteren, und sie haben den Vorzug, daß sie eindeutig sind und sich dem allgemeinen Sprachgebrauch ohne Schwierigkeit einfügen, während der Schüler und Laie erst umlernen muß, ehe er die Worte Objekt usw. in einem immanenten Sinn aufzufassen und anzuwenden versteht.

Meint man aber, daß man sich von den altgewohnten Terminis nicht loszureissen imstande ist, so gebrauche man wenigstens die Vorsicht, welche wir hier anzuwenden versucht haben, und spreche konsequent von einem realistischen und immanentem Objekt, von realistischer und immanenter Realität usw. Bequem ist das freilich nicht, aber es ist notwendig, wenn man Mißverständnisse und Denkfehler vermeiden will.

99. Überhaupt sollte in der Erkenntnistheorie nie der Bequemlichkeit der Sprache ihre Klarheit und Unzweideutigkeit geopfert werden. Aus diesem Grund ist auch z. B. zu verwerfen, wenn man von einem "gesehenen" oder "gefühlten" oder "vorgestellten" Baum redet oder von dem "Baum, wie ich ihn sehe" oder "wie er mir erscheint", und wenn man mit diesen Ausdrücken einen Empfindungs- oder Vorstellungsinhalt bezeichnen will. Denn unter einem "gesehenen Baum" versteht der allgemeine Sprachgebrauch das äußere, realistische und nicht das immanente Objekt, den wirklichen Baum, welcher meine Gesichtsempfindung veranlaßt, und nicht diese selbst. Man sage nicht, es komme auf den Ausdruck nicht an, wenn nur das Richtige dabei gedacht wird; denn aus den Worten schleicht sich eine Zweideutigkeit nur zu leicht in das Denken hinüber. Die Bezeichnung, "der gesehene Baum" für einen Empfindungsinhalt ist, wenn nicht selbst eine OdsV, so doch der Keim zu einer solchen. Unzweideutige, anstelle der obigen zu wählende Ausdrücke wären: "Der Baum in meiner Empfindung", oder wenn von einem Vorstellungs- und nicht bloß von einem Empfindungsinhalt die Rede ist, "der gesetzte Baum".

Es sind nicht bloß ästhetisch anstößige "Sprachdummheiten", gegen die wir hier ankämpfen; eine Reinigung der Sprache bedeutet in diesem Fall eine Reinigung des Denkens selbst.


Formulierung des Gesamtresultats

100. Unser Ziel bestand darin, die Gesetzmäßigkeit im Verhalten und Wirken der OdsV nachzuweisen. Haben wir es erreicht?

Von unseren Einzeluntersuchungen mögen so manche zu nur hypothetischen oder wenig überzeugenden Resultaten geführt haben; aber aus der Fülle des Einzelnen scheint sich doch das allgemeine Gesetz, auf das es uns ankommt, mit etwas größerer Sicherheit und Bestimmtheit hervorzuheben. Versuchen wir nun zum Schluß, dasselbe auf eine zusammenhängende Formel zu bringen und damit dem Grundgedanken dieser ganzen Schrift Ausdruck zu verleihen!
    Die Objektivierung der subjektiven Vorstellung, unterstützt durch die Subjektivierung des Objekts (unmittelbares Erkennen) bewirkt einen Pseudo-Idealismus mit realistischem Objekt, indem sie

      1. ein realistisches Scheinobjekt in die Erkenntnisbeziehung einführt und dieselbe dadurch dreigliedrig macht;

      2. durch die Einschiebung dieses Scheinobjekts das wahre Objekt vom Subjekt entfernt und schließlich ganz aus der Erkenntnisbeziehung hinausdrängt.

      3. das fortfallende durch das Scheinobjekt ersetzt und die Zweifel, welche bei jenem vorlagen, bei diesem aufhebt.
LITERATUR: Richard Baerwald, Die Objektivitation der subjektiven Vorstellung, Jena 1893
    Anmerkungen
    6) Es ist schon öfter bemerkt worden, daß der Ausdruck "Erscheinung" bei KANT eine Inkonsequenz ist und seine "Welt" durch denselben degradiert wird. (Vgl. LIEBMANN, "Kant und die Epigonen", § 27) WINDELBAND "Über die verschiedenen Phasen der kantischen Lehre vom Ding-ansich", Viertelsjahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. I, Seite 358). KANT selbst scheint den Namen Erscheinung nur für den "unbestimmten Gegenstand" gewählt zu haben (Ästh. § 1), so daß für den bestimmten Gegenstand, die synthetisierte Vorstellungswelt, ein anderer Ausdruck nötig geworden wäre; doch er ist sich hierin nicht treu geblieben.
    7) siehe WINDELBAND, Geschichte der neueren Philosophie, Bd. II, § 76. Doch scheint die Stelle der "Präludien", Seite 140-141 zu beweisen, daß WINDELBAND das "Weltwerden" der Erscheinung nicht durchgehend angenommen hat.
    8) siehe LIEBMANN, Analysis der Wirklichkeit, Seite 224, 238, 240, 245.
    9) Vgl. WINDELBAND, Geschichte der neueren Philosophie, Bd. II, § 31-32.
    10) Man könnte auch SCHELLING nennen, doch kann dessen "Absolutes" wenn es auch mit KANTs Ding-ansich Beziehungspunkte hat, nicht schlechthin als Ding-ansich bezeichnet werden.
    11) Um hier nur ein Beispiel anzuführen, vgl. die Anwendung des Wortes "transzendent" in PAULSENs "Ethik" (zweite Auflage, Seite 370).
    12) Über einen von WINDELBAND angeführten siehe § 74.
    13) siehe WINDELBAND, Geschichte der neueren Philosophie, Bd. II, Seite 26-27.
    14) Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 1, Seite 241.
    15) a. a. O. Seite 262.
    16) Vgl. §§ 32 und 35.
    17) An anderen Stellen allerdings läßt SCHOPENHAUER durchblicken, daß die Erscheinungswelt mit ihrer eminenten Realität den Wirklichkeitstrieb doch nicht voll befriedigen kann, daß erst das äußere Objekt, der Wille, dies vermag. (vgl. WaWuV, Bd. 1, § 1, vorletzter Absatz). Doch das widerlegt die hier gegebene Ausführung nicht. Es ist nur einer der mehrfachen Belege für die Tatsache, daß in SCHOPENHAUERs Brust zwei Seelen lebten, als er das erste Buch seines Hauptwerkes schrieb: Eine von KANT übernommene idealistische und eine eigene realistische. Diese letztere Richtung, anfangs unterjocht, emanzipiert sich später (Bd. II, Kapitel 7, Absatz 6 vom Ende) auf geradezu revolutionäre Weise.
    18) Daß das Wort "Haben" hier eigentlich nicht Substantialität, sondern die verwandte Beziehung der Identität ausdrückt, ändert am Wesen der Sache nichts.
    19) So sagt z. B. WINDELBAND (Geschichte der neueren Philosophie, Bd. II, Seite 46): "Die erste Vorbedingung für das Verständnis der kritischen Philosophie ist deshalb die Einsicht in den Unterschied, welchen Kant zwischen Objektivität und Realität im Sinne des gewöhnlichen Denkens macht." Ähnlich spricht er sich Seite 61 aus.
    20) vgl. z. B. COHEN, Kants Theorie der Erfahrung, zweite Auflage, Seite 162. TRENDELENBURG versteht hier das Wort objektiv in einem realistischen, COHEN in einem immanenten, kantischen Sinn.