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SALOMON MAIMON
Über Wahrheit
- Ein Brief des Herrn S. Maimon an seinen edlen Freund K. in Berlin -
"Die Prinzipien einer Fläche z. B. sind keine Flächen; einer Linie, keine Linie usw.; so können auch die Prinzipien der Wahrheit nicht selbst schon Wahrheit sein."

Bester Freund!
Sie haben einst in Ihrer gütigen Zuschrift an ich die Furcht geäußert (wiewohl ich zweifle, daß es Ernst war), daß wohl eine Zeit kommen dürfte, wo die Philosophie keinen Wert mehr haben wird und Sie rieten mir daher wohlmeinend, das Studium derselben mit etwas Einträglicherem zu vertauschen. Ich setzte Ihnen damals entgegen: daß die Philosophie keine Münze sei, die der Veränderung des Wechselkurses unterworfen ist, weil sie sich mit ewigen, notwendigen, keiner Veränderung unterworfenen Wahrheiten abgibt und diese Antwort genügte damals Ihnen und mir. Allein Wahrheit an sich ist von großer Wichtigkeit und Sie, mein Freund, sind ein eifriger Liebhaber und Beschützer derselben (trotz ihren Gegnern); es wäre als unbillig, Sie hier mit einem  loc. comm.  [einer Fußnote - wp] abzuspeisen und ich will daher jetzt diese Materie umständlicher behandeln; ich will das Kriterium der objektiven Wahrheit angeben, woraus zugleich die Frage: ob und inwiefern Wahrheit mit einer Münze zu vergleichen ist, wird aufgelöst werden können.

WOLFF (1) sagt: Wahrheit ist Übereinstimmung unseres Urteils mit dem Objekt und diese ist die logische Wahrheit. Dieses zu erläutern, führt er den Satz als Beispiel an: "Ein Δ (eine dreiseitige Figur) hat drei Winkel." Ich habe aber schon anderswo (2) bemerkt, daß ein  objectum logicum  bloß der Begriff eines Dinges überhaupt ist, das durch keine Bedingungen, so mögen  a posteriori  oder  a priori  sein, bestimmt wird. So ist auch ein logischer Satz oder eine logische Wahrheit nur eine solche, die von einem Ding überhaupt prädiziert werden kann. Ein Dreieck ist also kein logisches Objekt, weil es durch besondere Bedingungen  a priori  bestimmt wird; und der Satz "Ein Dreieck hat drei Winkel," ist kein logischer Satz, indem er nicht das Prädikat eines Dinges überhaupt, sondern eines bestimmten Objektes ist. Überdem wird durch diese Erklärung nicht die Wahrheit im Denken, sondern bloß die Wahrheit im Reden, bestimmt; denn, wenn ich sage: ein Dreieck hat drei Winkel, so drücke ich damit etwas aus, das ich wirklich denke: d. h. ich rede wahr und das Gegenteil wäre falsch. In Ansehung des Denkens aber gibt es hier kein wahres und falsches Denken, sondern bloß ein Denken oder kein Denken, weil ich nur ein Dreieck mit drei, nicht aber mit mehreren Winkeln denken kann. Ich hingegen halte sowohl diesen Satz, als alle anderen synthetischen Sätze für bloß subjektive Wahrheit; d. h. eine mir notwendige Art, ein bestimmtes Objekt zu denken. Sie gelten daher nicht von einem Objekt überhaupt, auch nicht von diesen bestimmten Objekten in Beziehung auf jedes denkende Wesen überhaupt. Hingegen ist der Satz: "Ein Dreieck ist mit sich selbst einerlei," eine objektive Wahrheit; denn ich denke darum ein Dreieck mit sich selbst einerlei, weil nicht nur ich, sondern jedes denkende Wesen überhaupt, nicht nur ein Dreieck, sondern jedes Objekt überhaupt mit sich selbst einerlei denken muß. Ohne dies ist gar kein Denken möglich. Die mathematischen Sätze sind also objektiv wahr, aber nur unter Voraussetzung der Objektivität ihrer Grundsätze (da diese doch möglich ist); sonst sind sie, wie die Grundsätze selbst, bloß subjektiv wahr. Dieses benimmt aber der Rechtmäßigkeit ihres Gebrauchs nichts, weil ihr Gebrauch, so wie ihre Wahrheit selbst, bloß für uns ist. Dem zufolge kann man nicht eigentlich sagen, ein mathematisches Axiom sei objektiv wahr, sondern bloß, es sei reell; d. h. es nützt zur Erkenntnis der Wahrheit und ihrem Gebrauche. Und wie soll es auch anders sein, da die Prinzipien keines Dinges das Ding selbst sind, weil man sonst das Ding schon vor seiner Entstehung voraussetzen müßte. Die Prinzipien einer Fläche z. B. sind keine Flächen; einer Linie, keine Linie usw.; so können auch die Prinzipien der Wahrheit nicht selbst schon Wahrheit sein. Eigentlich zu reden, ist Wahrheit nicht ein nach Gesetzen des Denkens herausgebrachter Satz, sondern die Operation des Denkens selbst, woraus dieser Satz herausgebracht wird, ist Wahrheit. Der Satz ist bloß die Materie oder der Stoff, woraus die Form wirklich wird.

Nachdem ich dieses vorausgeschickt habe, wollen wir sehen, wie fern Wahrheit mit einer Münze zu vergleichen ist. Eine Münze ist entweder idealisch oder reell; die erstere ist Münze im eigentlichen Verstand und bedeutet einen allgemeinen Maßstab, wodurch das Verhältnis des Wertes der Dinge gegen einander bestimmt wird; an sich aber hat es keinen Wert und ist ein bloßes Zeichen; die letztere hingegen hat auch an sich als Ware einen Wert in Ansehung der Materie, woraus sie besteht und noch außer diesem einen Wert als Zeichen, vermöge ihres Gepräges. Da nun das Verhältnis der Dinge gegeneinander veränderlich ist und daher die Münze den jedesmaligen Zustand dieses Verhältnis bestimmen soll; so folgt, daß, wenn der Wert der Materie einer reellen Münze, dem Wert des Gepräges völlig gleich ist, sie alsdann gänzlich aufhört, eine Münze, d. h. ein allgemeiner Maßstab zu sein, weil sie alsdann so gut als jedes andere Ding eine veränderliche Ware ist, folglich ihr Wert selbst durch einen anderen unveränderlichen Maßstab erst bestimmt werden muß. Je mehr hingegen diese beiden Werte von einander differieren, um desto näher kommt die reelle Münze der idealischen; d. h. um desto mehr Münze wird sie, indem der Überschuß des Werts des Gepräges über den reellen Wert eine idealische Münze ist und das geht so lange, bis dieses Differieren ein Maximum wird, d. h. daß sie gar keinen reellen, sondern bloß den idealischen Wert hat. Die idealische Münze hat also einen Vorzug vor der reellen, in Ansehung ihres mittelbaren Gebrauchs, nämlich als Maßstab des Werts; hingegen hat diese einen Vorzug vor jener, in Ansehung ihres unmittelbaren Gebrauchs, d. h. als etwas, das einen Wert an sich hat.

Die Wahrheit vereinigt beide Vorteile in sich; denn erstlich ist sie der Maßstab, wodurch das Verhältnis aller Dinge zu einander bestimmt wird; dazu wird sie aber dadurch geschickt, daß sie kein Objekt, das selbst im Verhältnis mit anderen Dingen gedacht werden kann, sondern bloße Form oder Art, das Verhältnis der Dinge untereinander zu denken, ist, und als eine solche bleibt sie unveränderlich und ist hierin mit der bloß idealischen Münze zu vergleichen. Zweitens, so hat sie auch außer diesem, in Ansehung ihres unmittelbaren Gebrauchs, nämlich als Vollkommenheit eines denkenden Wesens, einen vollen Wert. Je weniger rein aber eine Wahrheit ist, d. h. je mehr Begriffe und Sätze  a posteriori  ihr zum Grunde gelegt werden müssen, um desto weniger ist sie auch geschickt, einen allgemeinen Maßstab vom objektiven Wert aller Dinge untereinander abzugeben; und hierin ist sie der reellen Münze gleich, wo man bei Bestimmung des Zustandes vom Verhältnis der Dinge unter einanander, dem Zustand des Maßstabes selbst (der gleichfalls veränderlich ist), mit in Rechnung bringen muß; und da dieser wiederum durch etwas anderes, das an sich unveränderlich ist, bestimmt werden muß, dieses aber nirgends anzutreffen ist, so kann dadurch nichts bestimmt werden. Daher kann man auch in der Moral nichts anderes zum Maßstab und Bestimmung des Wertes der Handlungen (ihrer moralischen Güte) zu einander gebrauchen, als die reine Vernunft. Mengt man aber noch etwas anderes darunter, Vergnügen, Vollkommenheit und dgl., so hat man keinen allgemeinen unveränderlichen Maßstab, weil der Wert dieses Etwas selbst bei verschiedenen Subjekten unter verschiedenen Umständen verschieden ist. Ich bin also, obwohl nach meinem eigenen Weg, auf KANTs Prinzip der Moral geratn; ich erspare mir aber die ausführliche Behandlung dieser Materie auf eine andere Gelegenheit. Für jetzt ist es hinlänglich, wenn ich bemerke, daß moralisch Gute bloß darum gut ist, weil es wahr ist, d. h. wenn die besondere Maxime der Handlungen mit einer allgemeinen Vernunftregel übereinstimmt.

Nachdem ich die Wahrheit mit einer von dieser Seite verglichen habe, so will ich versuchen, es noch von einer anderen Seite zu tun, wodurch zugleich der Unterschied zwischen der symbolischen und anschauenden Erkenntnis und der Vorzug, den diese vor jener hat, oder auch umgekehrt, in die Augen fallen wird. Bei Erfindung der Wahrheit geht ein ordentlicher Handel vor, denn das Unbekannte wird aus dem Bekannten durch Substitution herausgebracht, d. h. durch einen Tausch. Vor Erfindung der Münze bestand der Handel in einem unmittelbaren Tausch der Waren gegeneinander; da diese aber die Unbequemlichkeit hatt, daß der Handel auf diese Art zu sehr eingeschränkt war, indem er nur alsdann stattfinden konnte, wenn jede der handelnden Personen der Ware des anderen bedurfte und die seinige missen konnte, sonst aber nicht; so hat man dieser Unbequemlichkeit durch Einführung des Geldes abzuhelfen gesucht. Dadurch bekam als der Handel mehr Ausdehnung und wurde allgemeiner, man hat also hierdurch die erste Schwierigkeit gehoben; es entspracng aber hieraus eine neue Schwierigkeit, da nämlich der Wert der Münze bloß durch das Gepräge bestimmt wird; so ist es mit der Zeit dahin gekommen, (aus Mangel an Materie und dgl.) daß der Wert, den das Gepräge anzeigt, weit verschieden vom reellen Wert der Münze, ihrer Materie nach, ist. Dadurch wurde die vorige Allgemeinheit des Handels auf eine andere Art eingeschränkt, weil nämlich eine dergleichen Münze bloß zum inländischen, nicht aber zum auswärtigen Handel gebraucht werden kann. So stehen jetzt die Sachen in Ansehung des Handels. Lassen Sie uns nun sehen, wie es mit der Wahrheit zugeht. Solang man bloß bei der anschauenden Erkenntnis bleibt, geschieht die Erfindung der Wahrheit durch einen unmittelbaren Tausch, d. h. eine unmittelbare Substitution der Gedanken untereinander. Dieses hat zwar den Vorteil, daß man immer vor der Realität der Gedanken sicher sein kann; hingegen hat es diese Unbequemlichkeit, daß man damit in Erfindung der Wahrheit, besonders, wenn sie zu sehr versteckt ist, nicht weit kommen kann. Um dieser abzuhelfen, bedient man sich der symbolischen Erkenntnis, d. h. man substituiert erstlich die Zeichen statt der bezeichneten Dinge; zweitens substituiert ma einem jeden Zeichen, ein ihm gleichgültiges Zeichen usw., wodurch mit dieser neuen Formel eine neue Wahrheit entspringt. Dadurch ist man imstande, ohne viele Mühe gleichsam mechanisch, die allerverborgensten Wahrheiten zu entdecken; es entspringt aber daher eine neue Schwierigkeit; nämlich, man gerät zuweilen auf symbolische Kombinationen oder Formeln, die keine Realität haben, d. h. denen kein reeller Gegenstand entspricht, wie z. B. die imaginären Zahlen Tangens, Cosinus eines rechten Winkels und dgl. in der Mathematik.

Die symbolische Erkenntnis ist also zwar ein vortreffliches Hilfsmittel zur Erfindung der Wahrheit, dessen Gebrauch aber sehr viel Behutsamkeit erfordert; man muß bei jedem Schritt, den man darin tut, sich selbst, nach der Sprache der Politiker, fragen: ob auch diese idealische Münze realisiert werden kann? Tut man dieses nicht, so gerät man auf die allerseltsamsten Ideen, aus denen man sich hernach nicht herauswickeln kann. Die Mathematik hat zwar durch die neuere Analysis viel gewonnen, indem man dadurch auf Entdeckungen geraten ist, die nach der Methode der Alten fast unmöglich waren; aber dadurch sind auch die unbehutsamen Mathematiker auf Schwierigkeiten geraten, wovon die Alten nichts wußten, wie aus den angeführten Beispielen erhellt.

Die Wahrheit hat also, wie die Münze, zweierlei Werte: erstlich, da Wahrheit überhaupt eine bestimmte Form oder eine notwendige Art, die Begriffe zu verknüpfen ist; so können wir hier gleichfalls Materie von Form unterscheiden: die Materien der Wahrheit sind die Begriffe, die als Subjekt und Prädikat in einem Satz verknüpft und dadurch erst eine Wahrheit werden; Begriffe an sich sind keine Wahrheiten, sondern sie sind bloß Realitäten, wenn sie mit dem Objekt übereinstimmen; im entgegengesetzten Fall aber sind sie keine Realitäten; nur die bestimmte Regel, d. h. die Vorstellung der notwendigen Verbindung derselben macht einen Satz zu einem wahren Satz. Jede Wahrheit oder jeder Satz hat daher zwei Werte: erstlich, in Ansehung seiner Materie, wenn sie reell ist und dann auch in Ansehung der Form. Diese ist zwar in Ansehung des bloßen Denkens immer reell, sonst aber ist sie gar keine Form. Dagegen kann sie in Beziehung des Zeichens (der Sprache) auf das dadurch bezeichnete auch nicht reell sein. Diese beiden Werte können so, wie bei einer Münze, zusammen sein; wie wenn man aus reellen Begriffen und synthetischen Grundsätzen, (welche doch keine wahre, sondern nur reelle Sätze genannt werden können, indem sie nicht objektiv nach allgemeinen Gründen des Denkens überhaupt, sondern bloß auch uns unbekannten subjektiven Gründen folgen, und daher ich sie keine allgemeine wahre, sondern bloß wegen ihrer Allgemeinheit bei uns reelle Sätze nenne) neue Sätze herleitet. Sie können aber auch getrennt sein, wie, wenn man z. B. vom Begriff eines Dreiecks oder diesen synthetischen Grundsatz denkt: Ein Dreieck hat drei Winkel und dgl. im Begriff des Dreiecks aber in dem vorerwähnten Satz liegt bloß ein materieller Wert, aber auch noch ohne eine notwendige Form  a priori;  denkt man hingegen ein Dreieck mit zwei rechten Winkeln, d. h. einen nicht reellen Begriff und leitet daher nach der notwendigen Form des Denkens, gewisse Folgen ab, so haben wir eine reelle Form des Denkens aber ohne Materie, wir können also den dadurch herausgebrachten Satz nirgends gebrauchen und doh haben wir durch diese Operation wirklich gedacht und hierin ist eben die Wahrheit verschieden von der Münze, da nämlich bei dieser die Form an sich abstrahiert von der Materie, gar keinen Wert hat, und daher bloß als ein verabredetes Zeichen im Lande, nicht aber allgemein gebraucht werden kann; hingegen die Materie ihren Wert allgemein behält, so ist es mit der Wahrheit gerade umgekehrt, die Form hat einen allgemeinen Wert, insofern dadurch immer ein reelles Denken hervorgebracht wird, die Materie hingegen hat nur bei uns, nicht aber bei jedem denkenden Wesen überhaupt einen Wert.

Fragt mich jemand, wozu nutzt diese oder jene Wahrheit, so weiß ich nichts vorteilhafteres für die Wahrheit zu sagen, als sie nutzt zu Nichts, denn obschon eine Wahrheit im menschlichen Leben nutzen kann, so ist doch dieser mittelbare Nutzen ihr bloß zufällig, ihrer Bestimmung nach hingegen soll sie nicht nutzen, d. h. ein Mittel zu etwas Gutem abgeben, sondern etwas Gutes selbst sein. Das  summum bonum  besteht, man mag übrigens annehmen, was für ein moralisches System man immer will, im höchsten Grad der Tätigkeit, dieser ist aber nur in den Handlungen des reinen Verstandes und der reinen Vernunft anzutreffen, alle anderen menschlichen Handlungen des reinen Verstandes und der reinen Vernunft anzutreffen, alle anderen menschlichen Handlungen aber, enthalten mehr oder weniger passives in sich, je näher also ein Grad der Tätigkeit diesem Höchsten kommt, um so mehr nutzt er, d. h. desto mehr Mittel ist er, zu diesem Höchsten zu gelangen, sobald er aber diesen erreicht, so ist sein Nutzen unendlich, d. h. er hört auf zu nutzen und wird der Zweck selbst, so wie z. B. die Tangente mit dem Bogen immer mehr zunimmt, bis sie den höchsten Grad erreicht hat, alsdann aber hört sie auf Tangente zu sein. Der Nutzen einer Wahrheit ist selten ihrem inneren Wert proportioniert, die Menschen fragen immer nach dem Nutzen, wodurch sie mit sich selbst in einen Widerspruch geraten, denn wenn jedes Ding nur darum gut ist, weil es zu etwas anderem nutzt, so muß dieses andere entweder ansich etwas Gutes sein oder wieder zu etwas Gutem nutzen usw. bis ins Unendliche. Zu behaupten also, daß alles Mittel ist, ohne doch etwas, wozu es Mittel ist, zuzugeben, ist also ein offenbarer Widerspruch, dieses hat schon ARISTOTELES gesagt und dieses sollte von rechtswegen nicht nötig sein, gesagt zu werden, weil es schon im Begriff von Nutzen liegt und doch kann man es noch im 18. Jahrhundert nicht genug sagen. Man macht eine Miene, womit man die höheren, bloß theoretischen Wissenschaft zu verachten scheint, warum? weil sie keinen Nutzen haben. Die wenigen zerstreuten Erfahrungssätze der Elektrizität sagt man, haben einen Nutzen, (man soll dadurch gewisse Krankheiten kurieren) wozu fragt man, nützt aber NEWTONs Weltsystem? Man scheint gleichsam zu vergessen, daß man durch NEWTONs Weltsystem mit weit besserem Erfolg Krankheiten kuriert, als durch die Elektrizität, nämlich Krankheiten des Geistes. Wodurch wird der Aberglaube, (der bloß Schwäche und Eitelkeit zum Grunde hat, indem jene die wahre Natur der Dinge und ihre Verhältnisse nicht einsehen läßt, und diese, um doch nicht unwissend zu scheinen, sich mit der ersten besten Vorstellungsart zu begnügen verleitet) gehemmt, das wahre Verhältnis aller Dinge zum Nutzen des Menschen erkannt und dadurch das Interesse selbst befördert, als durch eine richtige Erkenntnis der Naturgesetze und den wichtigen Gebrauch derselben? Aber, was habe ich mich dabei aufzuhalten; Sie liebster Freund! lieben die Wahrheit als etwas Gutes an sich, Sie sind gewöhnt, ganz nach anderen Gründen zu urteilen, als der gemeine Haufen, sie haben als dieses alles nicht nötig.

Ihr aufrichtiger Freund.
Salomon Maimon
LITERATUR - Salomon Maimon, Über Wahrheit, Berlinisches Journal für Aufklärung, 1789
    Anmerkungen
    1) CHRISTIAN WOLFF, Logik, Teil II, Kap. 1, § 505
    2) MAIMON, Versuch über die Transzendental-Philosophie