p-4E. FränkelH. EngW. MackensenG. StörringH. Spitzer    
 
BENNO ERDMANN
Methodologische Konsequenzen
aus der Theorie der Abstraktion

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"Die Vorstellung eines räumlich ausgedehnten Körpers, z. B. eines Tisches, schließt eine Masse von einzelnen Beobachtungen ein. Es liegt darin inbegriffen die ganze Reihe von Bildern, welche dieser Tisch mir gewähren würde, wenn ich ihn von verschiedenen Seiten und aus verschiedenen Entfernungen her betrachten würde, ferner die ganze Reihe von Tasteindrücken, welche ich erhalten würde, wenn ich meine Hände nacheinander an die verschiedenen Stellen seiner Oberfläche legen würde. Eine solche Vorstellung von einem einzelnen Körper ist also in der Tat schon ein Begriff, welcher eine unendliche Anzahl von einzelnen, in der Zeit aufeinander folgenden Anschauungen unter sich begreift, die alle aus ihm abgeleitet werden können."

Daß die nächstliegenden Beispiele für die Einzelabstrakta den vielfachen Verzweigungen der Geistes- oder Kulturwissenschaften zu entnehmen sind, ist kein Zufall. Da sie außerdem ohne weiteres einleuchten, werden wir darauf hingewiesen, daß die Einzelabstraktion in diesen Wissenschaften eine durchgreifende Bedeutung besitzt. Eben dies bezeugt auch der Umstand, daß die Logik von alters her unbedenklich gewesen ist, eine Gliederung der Einzelgeschehnisse in Perioden anzuerkennen, obgleich jede Einteilung Umfangsbeziehungen, und somit in diesen Fällen abstrakte Einzelvorstellungen voraussetzt. In der Tat verlangt die Aufgabe aller Geschichte im eigentlichen Sinne, die wir hier als Prototyp der Geisteswissenschaften überhaupt nehmen dürfen, daß das Augenmerk auf die Rekonstruktion des individuellen und kollektien Einzelnen gerichtet ist. Es ist eine alte Weisheit, daß auf geschichtlichem Gebiet nichts schon dagewesen ist und nichts wieder da sein kann. Deshalb wurzelt die Methode aller Geschichtsforschung in der Einzelabstraktion. Dies scheint mir das logisch Zutreffende auch in den Ausführungen zu sein, die neuerdings zur Annahme einer "anschaulichen" Abstraktion in der Geschichtswissenschaft geführt haben. Es liegt, wie wir gesehen haben, im Wesen der Einzelabstraktion, daß sie unter sonst gleichen Bedingungen anschaulicher, bildhafter bleibt als die Abstraktion des Allgemeinen.

Bedeutsamer ist eine andere Konsequenz, die für alle Geisteswissenschaften gleicherweise zutrifft. Ist die Einzelabstraktion trotz ihrer durchschnittlich größeren Anschaulichkeit nur eine Art der Abstraktion überhaupt, so ergibt sich, daß die grundlegende Begriffsbildung in den Kulturwissenschaften im Prinzip keine andere sein kann, als in den übrigen Wissenschaften von Tatsachen, also in den naturwissenschaftlichen Disziplinen.

Folgendermaßen läßt sich diese Behauptung für die Geschichte im engeren Sinn genauer begründen.

Die Aufgabe der Geschichte geht auf den Bestand und den Entwicklungsverlauf der menschlichen Gemeinschaften, also auf kollektive Inbegriffe. Die für den Historiker letzten Glieder dieser Inbegriffe sind die Individuen, die historischen Persönlichkeiten im weiteren Sinne. Die Beziehungen, welche die Individuen zu Gliedern dieser Gemeinschaften miteinander verknüpfen, entspringen den interindividuellen Einflüssen, welche die Individuen aufeinander ausüben, den überindividuellen, die den Gemeinschaften eigen sind und sie voneinander abhängig machen, ferner den wechselseitigen Einflüssen zwischen Individuen und Gemeinschaften und schließlich den Einflüssen des Milieus, der Ort- und Zeitlage, denen die Gemeinschaften wie ihre Glieder unterstehen. Daraus ergeben sich für jede allgemeine Geschichtsbetrachtung entsprechende, nur künstlich voneinander trennbare Probleme antinomischen Charakters, d. h. solche, die neben den extrem empiristishen und rationalistischen Lösungsversuchen die verschiedenartigsten Zwischenformen zulassen. Jede dieser Fragen mündet - wo es nicht schon selbstverständlich ist, daß alle Entwicklung der menschlichen Gemeinschaften durch die uns eigene psychophysische Organisation bedingt und alle menschliche Gemeinschaft letztenendes eine geistige ist - in die philosophischen Fragen nach dem Ursprung jener Beziehungen aus unserer geistigen Natur und nach ihren Einflüssen auf unsere geistige Konstitution.

So weit diese Betrachtung reicht, bleiben die grundlegenden Begriffsbildungen der historischen Disziplinen offenbar durchaus innerhalb des Rahmens der Tatsachenwissenschaften. In der Begriffsbestimmung der kollektiven Inbegriffe sind sie sogar auf dem Gebiet der allen Wissenschaften gemeinsamen formalen Grundbegriffe fundiert. Die methodische Grundlage der historischen Begriffsbildung ist in allen Verzweigungen des historischen Denkens ebenso wie in den Naturwissenschaften die beobachtungsmäßige Feststellung dessen, was die Sinneswahrnehmung darbietet. Denn die primären historischen Quellen sind mit dem Einschluß der literarischen als Produkte reagierender Bewegungen durchweg Gegenstände, die vor allem weiteren der Feststellung ihres sinnlich wahrnehmbaren Bestandes bedürfen.

Allerdings trennen sich die Forschungswege in beiden Wissenschaftsgruppen schon beim ersten Schritt, der über die Einzelabstraktionen dieses Beobachtungsstandes hinausführt. Auch in den historischen Disziplinen der Naturwissenschaft, der Geographie, der Geologie, der Astronomie und der Biologie, soweit sie entwicklungsgeschichtliche Probleme behandeln, ist die Einzelabstraktion, die das Beobachtungsmaterial bestimmt, zumeist nur die Vorstufe zu einem Übergang auf allgemeine Abstrakta. Denn in ihrem Ziel unterstehen sie der Herrschaft der allgemeinen, exakten oder Gesetzeswissenschaften der Natur. Die Glieder ihrer Inbegriffe sind zudem, wenn wir von einem deskriptiven Teil der naturwissenschaftlichen und der historischen Geographie sowie der Geologie absehen, in der Regel, obschon nichts weniger als ausschließlich, nicht die Individuen, sondern die Spezies, welche durch die Individuen repräsentiert werden. Die Untersuchung der Geschichtswissenschaft bleibt dagegen, wenn sie auch selbstverständlich der abstrakten Allgemeinvorstellungen nicht entraten kann, um die Einzelabstrakta des konkreten Verlaufs unserer Kultur orientiert. Nur in der Geschichte der Massenerscheinungen werden auch hier die Individuen lediglich zu Repräsentanten der Spezies homo.

Dazu kommt ein zweites Moment, das für alle kulturwissenschaftlichen Methoden charakteristisch ist. In allen Naturwissenschaften ist die Untersuchung zuletzt auf die Erkenntnis des gesetzmäßigen oder kausalen Zusammenhangs der Außenwelt gerichtet. In allen Disziplinen der Geisteswissenschaft geht sie dagegen, selbst wenn die äußeren Bedingungen, Formen und Wirkungen unserer Kulturentwicklung in Frage stehen, auf die Erkenntnis der inneren, geistigen Kausalität des historischen Geschehens.

Aber auch dieser Unterschied der Forschungsrichtungen bedingt noch keine methodologische Differenz der grundlegenden Begriffsbildungen. Man kann ihn dadurch bezeichnen, daß man den Naturwissenschaften ein Erkennen, den Geisteswissenschaften ein Verstehen zuschreibt, bei ihnen speziell von Nacherleben und Einfühlung in ein fremdes geistiges Wesen redet. Aber man darf darüber nicht vergessen, daß das Verstehen logisch wie psychologisch nur eine Art des wissenschaftlichen Erkennens ist, solange unter einem wissenschaftlichen Erkennen die begriffliche Bestimmung des Wirklichen verstanden wird. Auf die psychologische Analyse der Vorgänge, die in beiden Fällen das Erkennen bedingen, bin ich bei einer früheren Gelegenheit eingegangen; eine Ergänzung, die aus der Erkenntnisfunktion der Einzelabstraktion abfolgt, wird zum Schluß dieser Erörterung besprochen werden. Die logische Normierung der so fundierten Gleichartigkeit hat davon auszugehen, daß die historischen Disziplinen ebenso wie die naturwissenschaftlichen genötigt sind, jeden Schritt über das Beobachtete hinaus durch Hypothesen kausalen, also induktiven Charakters zu erkaufen. Die Induktionen, durch die wir die vergangene Kultur rekonstruieren, sind allerdings nicht in erster Linie verallgemeinernde, sondern ergänzende und Analogieschlüsse. Aber es gibt eben außer der verallgemeinernden Induktion eine ergänzende; und hier wie dort formulierten die Analogieschlüsse nur die Vermittlung der einzelnen Induktionsstufen. Alle Arten des induktiven Denkens entnehmen ferner ihre Gültigkeit dem Denkgesetz, das für jedes Geschehen zureichende Ursachen seiner Wirklichkeit, also für die gleichen Ursachen die gleichen Wirkungen fordert, sowie der Erwartung, daß in einem induzierten Wirklichen die gleichen Ursachen gegeben sein werden wie im beobachteten.

Es bleiben demnach nur die methodologischen Unterschiede, welche daraus abfließen, daß die historische Kausalität die geistige, und zwar in einem weiten Umfang - nichts weniger als durchwegs - eine willensmäßige ist. Erst damit sind tiefergreifende methodologische Differenzen der beiden Forschungswege gegeben. Die Kausalität des Willens ist eine teleologische. Sie ist durch Zwecksetzungen vermittelt, die dem geistigen Wesen der historischen Individuen entspringen, auf diese also als verantwortliche Urheber bezogen werden müssen. Diese Zwecksetzung schafft die Normen aller Art, die das Leben jeder Kulturgemeinschaft zu jeder Zeit regeln und durch ihre innere und äußere Verbindlichkeit jeden Einzelnen verpflichten. Sie erzeugt somit die Welt der Werte, aus deren Ideen heraus sich die Normen jeder Art, von den religiösen und ethischen bis hin zu den wirtschaftlichen, politischen und technischen gestalten. Erst durch diese Werte und ihre normativen Gestaltungen, die gleichfalls der Welt der Naturwissenschaften fremd sind, wird die natürliche beseelte Gemeinschaft unseres Geschlechts zu einer durch Kultur organisierten. Ihre höchste Idee bleibt der Gedanke der organisierten, durch Kultur vereinheitlichten Menschheit. Diese darf nur nicht mißverstanden werden. Sie fordert weder für die einzelnen Gemeinschaften, noch für deren elementare Glieder, die Individuen, durchgängig gleiche Pflichten und Rechte. Eine solche Gleichförmigkeit wäre das Widerspiel der Organisation. Sie widerspräche der natürlichen Ungleichheit der Individuen und der daraufhin örtlich wie zeitlich bedingten Ungleichheit aller Arten menschlicher Gemeinschaften. Sie ließe auch kein historisches Verständnis für die Verschiedenheit der normativen Gestaltung der Wertideen erreichen, selbst wenn wir voraussetzen, daß diese Ideen Variationen einiger weniger sind, die Allgemeingültigkeit beanspruchen dürfen. Gleichheit gebührt den Individuen, die sich den organisierenden Bedingungen fügen, lediglich in den Pflichten und Rechten, die aus der allen gemeinsamen menschlichen Natur abfließen.

Dem Reichtum eigenartiger, von einem naturwissenschaftlichen Denken weitab liegender Probleme, die aus dieser Besonderheit der Gegenstände und Aufgaben der kulturwissenschaftlichen Forschung abgeleitet werden können, entspricht die Fülle und Eigenart der speziellen historischen Methoden. Zu voller Gegensätzlichkeit gegen Aufgabe und Methode der Naturforschung können sich beide Eigenarten steigern, sobald in die historischen Lösungsversuche dieser Probleme geschichtsphilosophische Betrachtungen eingeschaltet werden. Dann macht sich der oben schon angedeutete Gegensatz geltend, der auch auf historischem Gebiet die rationalistische und die empiristische Denkweise voneinander scheidet. Die methodischen Unterschiede des historischen und des naturwissenschaftlichen Denkens können dann so verschiedenartig erscheinen, daß die Meinung hat entstehen können, sie müßten schon in den grundlegenden Formen der Begriffsbildung gesucht werden. Gerade gegenwärtig ist jener Gegensatz durch die Wirkungen zahlreicher Reibungsflächen in besonderem Maß verschärft.

Die vorstehende Skizze von der Eigenart der in einem engeren Sinn historischen Forschungsrichtungen ist in ihrer Linienführung durch die Annahme bestimmt, welche die biologische Analyse der Willenskausalität an die Hand gibt. Ihr zufolge sind die äußeren Willenshandlungen nur die individuell und emotional entwickelten, also die höchst differenzierten Arten der reagierenden Bewegungen, die in den unwillkürlichen sensorisch ausgelösten ihre eigentliche Stammform haben. In analoger Weise werden für sie die inneren Willenshandlungen lediglich Verwicklungen eben jener seelischen Grundbedingungen. Die Willensfreiheit, die wir uns zuzuschreiben gewohnt sind, ist von diesem Standpunkt aus nur der Ausdruck des reaktiven Wahlbewußtseins, das jene Verwicklungen mit sich bringen. Im weiteren Verlauf einer solchen Deutung werden die leitenden Ideen und normativen Gestaltungen der Welt der Werte sowie alle Arten von Kulturgemeinschaften zu Produkten der Entwicklung, die den Menschen kraft seiner psychophysischen Organisation als Kulturträger ausweist. Die Anerkennung von Wertideen, die für alle Variationen ihrer Ausgestaltung die Maßstäbe liefern, weil sie Menschheitswerte repräsentieren, bleibt dadurch unangefochten. Die überindividuelle Realität der menschlichen Gemeinschaften ferner und ihr Einfluß auf die Individuen versteht sich auch hier von selbst. Allerdings wird diese Realität nur in kausalen und teleologischen Beziehungen gesucht, welche die Einzelnen zu Gliedern der Kulturgemeinschaften verbinden.

Anders verläuft die rationalistische Deutung der Kausalität, die auch den Historikern zumeist näher gelegen hat als irgendeine biologisch orientierte, geschweige denn die empiristische, wie sie zuletzt der Sozialismus ausgebildet hat. Wurde die teleologische Kausalität eben der durchgängigen Kausalität des Geschehens als deren höchst entwickelte Art untergeordnet, so wird sie bei einer rationalistischen Deutung als intelligible oder Kausalität durch Freiheit der Kausalität der Natur entgegengesetzt und zugrunde gelegt. Die Willensfreiheit des Wahlbewußtseins ist dann nicht mehr der Inbegrif der geistigen Glieder in der Kette des einen kausalen Verlaufs, nicht eine Art der Reaktivität. Sie wird vielmehr zur Spontaneität, welche die geistigen Wesen, und damit weiterhin den geistigen Zusammenhang der historischen Inbegriffe aus der Natur heraushebt. ist so ein erster Schritt von der Geschichtsphilosophie in eine Metaphysik der Geschichte getan, so wird der zweite nicht mehr schwer: die Annahme eines transzendenten Ortes für den Ursprung der Ideen, die sich im Verlauf der Geschichte realisieren, sei es einer absoluten Vernunft oder einer absoluten, als erkennbar vorausgesetzten Substanz, sei es, bei einer Vorherrschaft religiöser Motive, die göttliche Persönlichkeit in anthropopathischen Bestimmungen. Daran schließt sich der Gedanke, daß auch die Geltung der grundlegenden Wertideen einen absoluten, also transzendenten Charakter aufweist. So geschlossen ist der Zusammenhang dieser Deutungen, daß jede dieser Bestimmungen oder eine ihrer Konsequenzen den Ausgangspunkt bilden und die Reihenfolge der Ableitungen ebenso verschieden sein kann.

Es ist hier nicht der Ort, in einer eingehenderen Begründung zu diesen beiden entgegengesetzten Deutungen Stellung zu nehmen. Es war nur nötig sie zu skizzieren, weil klar werden sollte, daß auch eine rationalistische Deutung die grundlegenden Begriffsbildungen, durch welche die Kulturwissenschaften den Tatsachenwissenschaften eingeordnet werden, nicht aufzuheben vermag. Die besondere Richtung der historischen Einzelabstraktion, die mit der Beobachtung der Quellen anhebt und daraufhin den konkreten Bestand und Verlauf der vergangenen Kultur rekonstruierbar macht, verpflichtet nur dazu, die Eigenart der historischen Methoden anzuerkennen, gibt aber nirgends das Recht, eine elementare historische Begriffsbildung anzunehmen, aus der sich diese Methoden zusammensetzen. Es gibt nur eine Methodenlehre, keine Logik der Geschichtswissenschaften, so wenig wie eine Logik des naturwissenschaftlichen Denkens; so wenig auch wie eine spezifisch historische Psychologie möglich ist, sondern nur eine Anwendung der allgemeinen Psychologie auf die speziellen Probleme psychologischen Charakters, die sich der Geschichtsforschung darbieten.

Das wird noch deutlicher, wenn wir beachten, daß die Funktionen der Einzelabstraktion, wennschon sie sich in den grundlegenden Begriffsbildungen der geschichtlichen Disziplinen am leichtesten aufweisen lassen, doch nicht auf dieses Gebiet beschränkt sein können. Sie müssen vielmehr für alle Wissenschaften von Tatsachen, auch für die naturwissenschaftlichen Disziplinen, die Grundform der Begriffsbildung liefern, selbst für die physikalisch-chemischen Gesetzeswissenschaften, die mit den Geisteswissenschaften gar nicht in einen direkten Vergleich gestellt werden dürfen.

In der Tat ist die begriffliche Abstraktion das Fundament aller wissenschaftlichen Beobachtung, wie die schematische alle Wahrnehmungen des entwickelten Bewußtseins durchsetzt.

Wir erörtern ihren Bestand und ihre Funktionen hier nur für das Gebiet der Sinneswahrnehmung, da die Übertragung der so gewonnenen Resultate auf die Selbstwahrnehmung keine Schwierigkeiten bietet.

Nur beim ersten Anblick kann es scheinen, als ob die Sinneswahrnehmungen des entwickelten Bewußtseins die Einzelabstraktion nicht zulassen. Nach dem oben Erörterten folgt eine Mitwirkung der Residuen abstrakter Allgemeinvorstellungen beim sinnlichen Wahrnehmen schon daraus, daß jede solche Wahrnehmung ein wahrnehmendes Erkennen, wenn auch unter Umständen von weitgehender Unbestimmtheit ist. Die analoge durchgängige Mitwirkung abstrakter Einzelvorstellungen ergibt sich zunächst als Konsequenz aus einem anderen Moment. Die Sinneswahrnehmung ein und desselben Gegenstandes von koexistierendem Bestand ist kaum jemals ein momentaner Akt, fast stets vielmehr ein Vorgang wiederholten Wahrnehmens. Sie wird zu einer Reihe von Vorgängen immer da, wo sich die Wahrnehmung zur Beobachtung steigert, also mit Aufmerksamkeit erfolgt. Häufig ist sie schon unter diesen Voraussetzungen eine diskontinuierliche Reihe, deren einzelne Wahrnehmungsglieder durch Zwischenzeiten voneinander getrennt sind. Schon damit also sind die Bedingungen eines wiederholten Wahrnehmens gegeben, die zu abstrakten Einzelvorstellungen führen und jede folgende von den Residuen des Wahrnehmungsbestandes der vorhergehenden dispositionell oder, wie wir sagen wollten, durch eine apperzeptive Verschmelzung abhängig machen. Die Gegenstände der Wahrnehmung sind also nur ausnahmsweise, lediglich in Grenzfällen, konkrete. In besonderem Maß haben unsere Wahrnehmungen abstrakte Einzelvorstellungen im Gefolge, wenn die Beobachtung nicht durch eine zeitlich eng begrenzte Wahrnehmungsreihe vollzogen wird, sondern sich aus verschiedenen Reihen dieser Art zusammensetzt, die durch größere Zwischenräume voneinander getrennt sind, aus Gruppen von Wahrnehmungen also, wie sie die Regel wissenschaftlicher Beobachtung bilden. Denn wir bedürfen solcher Zwischenpausen, wo immer es sich um neue verwickelte Wahrnehmungsinhalte handelt: auch dann, wenn ein Teil dieses Wahrnehmungsbestandes durch eine induktive Instrumentierung unseres Wissens vorweg bestimmt ist. Nur ausnahmsweise können wir uns bei einer solchen Verwicklung mit einer geschlossenen Wahrnehmungsreihe begnügen; wir brauchen fast stets mehrere solche Reihen, um des Ergebnisses, das unsere Erwartungen bestätigt, sicher zu werden, und ebenso oft die determinierenden Wirkungen jeder vorhergehenden, um diese Sicherheit durch den Bestand der folgenden zu festigen. Entspricht gar der Tatbestand, den wir prüfen, unserer Erwartung nicht vollständig oder überhaupt nicht, so sind wir stets genötigt in Intervallen zu arbeiten, um eine kritische Prüfung durchführen zu können.

Nirgends zeigt sich dieser Tatbestand deutlicher als auf dem Feld der für alle wissenschaftliche Beobachtung grundlegenden optischen Wahrnehmungen. In der physiologischen Psychologie der Gesichtswahrnehmung ist dann auch die Einzelabstraktion seit dem Anfang des experimentellen Aufbaus dieser Grenzdisziplin der Sache nach als eine wesentliche Bedingung der Sinneswahrnehmung anerkannt worden. Allerdings nicht unbeschränkt und weder psychologisch so analysiert, noch logisch so formuliert, daß sie ohne weiteres als Einzelabstraktion erkennbar würde. Wir haben deshalb die hierhergehörigen Daten dem vorliegenden Zusammenhang einzuordnen.

HELMHOLTZ war wohl der erste, der sie unbefangen gewürdigt hat. Schon in der ersten Auflage seiner "Physiologischen Optik" erklärt er:
    "Die Vorstellung eines räumlich ausgedehnten Körpers, z. B. eines Tisches, schließt eine Masse von einzelnen Beobachtungen ein. Es liegt darin inbegriffen die ganze Reihe von Bildern, welche dieser Tisch mir gewähren würde, wenn ich ihn von verschiedenen Seiten und aus verschiedenen Entfernungen her betrachten würde, ferner die ganze Reihe von Tasteindrücken, welche ich erhalten würde, wenn ich meine Hände nacheinander an die verschiedenen Stellen seiner Oberfläche legen würde. Eine solche Vorstellung von einem einzelnen Körper ist also in der Tat schon ein Begriff, welcher eine unendliche Anzahl von einzelnen, in der Zeit aufeinander folgenden Anschauungen unter sich begreift, die alle aus ihm abgeleitet werden können; ebenso wie der Gattungsbegriff Tisch wiederum alle einzelnen Tische in sich begreift, und deren gemeinsame Eigentümlichkeiten ausspricht."
Diese Erörterung fehlt in der zweiten Bearbeitung des Werkes. Aber der Gedanke ist auch in ihr enthalten und tritt ebenso in der Einleitung zu den nachträglich veröffentlichten Vorlesungen über theoretische Physik zutage. In der zweiten Auflage des genannten Hauptwerks führt HELMHOLZ aus: Die "Kenntnis" eines bestimmten Objekts "braucht sich nicht auf einzelne perspektivische Bilder" desselben
    "zu beschränken, sondern kann auch die Gesamtheit der perspektivischen Bilder umfassen und vereinige, welche nacheinander durch eine Betrachtung von verschiedenen Gesichtspunkten aus gewonnen werden können. In der Tat finden wir, daß wir von wohlbekannten Gegenständen eine Vorstellung ihrer körperlichen Form in uns tragen, welche die Gesamtheit aller einzelnen perspektivischen Bilder, die wir von verschiedenen Gesichtspunkten aus dahin blickend gewinnen können, vertritt. Denn mit der Kenntnis der körperlichen Form des Objekts ausgerüstet, können wir uns die sämtlichen perspektivischen Bilder, die wir bei der Ansicht von dieser oder jener Seite zu erwarten haben, deutlich vorstellen; und in der Tat nehmen wir sogleich Anstoß, wo ein solches Bild unserer Erwartung nicht entspricht, wie es z. B. geschehen kann, wenn durch die Änderung der Lage des Gegenstandes eine Änderung seiner Körperform eintritt. ... In der Tat ist die körperliche Form eines festen Objekts eine Größe, die viel mannigfaltigere konstante Beziehungen zwischen ihren verschiedenen Teilen und Dimensionen darbietet, als jedes einzelne perspektivische Bild derselben; und aus der ersteren ist daher bei bekannter Lagenänderung die Änderung jeder perspektivischen Ansicht sicher herzuleiten, weil dies unter dem Eindruck eines ganz festen, wenn auch räumlichen Vorstellungsbildes geschehen kann, welches das konstant bleibende Ergebnis aller einzelnen Flächenansichten zusammenfaßt, während eine einzige perspektivische Ansicht nicht die nötigen Daten liefert, um eine ganz sichere und unzweideutige Vorstellung von der Form des Ganzen und seiner wechselnden Ansichten von anderen Seiten her zu gewinnen. Die auf die festere und einfachere Gesetzmäßigkeit gestützte Vorstellung erweist sich hier also auch als die, welche die sichere Anschauung gibt."
Auch bei
    "stereoskopischen Bildern mit etwas verwickelter Führung der Grenzlinien ... bewährt sich ... die Gesamtauffassung der Körperform als die Regel für die Vorstellung, nach welcher man die beiden Blicklinien zu führen hat, um fortdauernd auf korrespondierenden Punkten beider Zeichnungen zu bleiben."
Diese leicht vermehrbaren Belege aus HELMHOLTZ' Wahrnehmungstheorie sichern allerdings die Behauptung, die sie hier erläutern sollen, nicht vollständig. Sie beziehen sich ausschließlich auf die sichtbaren und tastbaren Raumformen der Gegenstände der Sinneswahrnehmung, nicht auf die Empfindungen, die in diesen Raumformen wahrgenommen werden. Das ist kein Zufall. HELMHOLTZ kennt selbstverständlich die abstrakte Allgemeinvorstellung der Empfindung überhaupt sowie deren modal und qualitativ verschiedene Arten. Er setzt also Gedächtniswirkungen auch von den Empfindungen voraus. In seinen wiederholten Erörterungen über die von ihm sogenannten zusammengesetzten Empfindungen, speziell über die viel erörterten, noch immer nicht völlig geklärten Daten der subjektiven Klanganalyse und in vereinzelten anderen Fällen hat er solche Gedächtniswirkungen sogar ausdrücklich anerkannt. Im Allgemeinen aber hält er nach dem Vorbild von KANT und JOHANNES MÜLLER stillschweigend daran fest, daß die Empfindungen von allen Einflüssen seelischer "Tätigkeiten" mit Einschluß des Gedächtnisses, das er diesen seelischen Tätigkeiten bestimmt zuordnet, unberührt bleiben. Dem Gedanken, daß
    "die Lichtempfindung immer noch kein Sehen ist, zum Sehen erst wird, wenn wir durch sie ... aufgrund mechanisch eingeübter, auf unwillkürlicher Ideenverbindung beruhender Schlüsse ... zur Kenntnis der Gegenständer der Außenwelt gelangen",
die Empfindung also "verstehen" lernen, ist er stets treu geblieben.

Anders und zutreffender hat in diesem Punkt HERING geurteilt. Ihm ist es schon früh (1873) sicher gewesen, "daß die Lichtempfindung" - und damit natürlich auch die Empfindungen überhaupt -
    "nicht bloß eine Funktion des Reizes und der zunächst getroffenen nervösen Teile ist, sondern auch abhängt von der Beschaffenheit der zum Sehakt in Beziehung stehenden Hirnteile, in welchen die optischen Erfahrungen des ganzen Lebens gleichsam organisiert sind."
Speziell in Bezug auf die Unterschiede des Hellen und Dunklen bedeutet ihm dies,
    "daß wir zunächst nur solche Empfindungen miteinander vergleichen sollen, welche in analoger Weise von uns ausgelegt werden."
In einer wenig späteren Ausführung dieses Gedankens, in der Arbeit über den "Raumsinn und die Bewegungen des Auges" (1879), zieht er mit Recht aus der "Tatsache, daß überhaupt Reproduktionen früherer Empfindungskomplexe ohne das entsprechende Netzhautbild möglich sind", den Schluß,
    "daß die Empfindungen oder vielmehr die ihnen entsprechennden psychophysischen Prozesse Spuren im nervösen Apparat zulassen und daß der letztere durch den Prozeß der Empfindung selbst eine, wenn auch noch so geringe Änderung erleidet, welche sich durch eine erhöhte Disposition zur Wiederholung desselben Prozesses und somit auch der entsprechenden Gliederung verrät."
Schon ein zweiter gleicher Sinnenreiz "bringt einen Apparat in Tätigkeit, der nicht mehr genau derselbe ist", den die erste Reizung vorfand, so daß die zweite Empfindung "nicht mehr genau dieselbe ist." Analoges findet ihm zufolge bei wiederholten Reizen statt, die einander "nur ähnlich sind". HERING unterscheidet bei ihnen die "elektive" Reproduktion, die durch die Nachwirkungen der gleichen Bestandteile der ähnlichen Reize ausgelöst wird, und die "ergänzende", unter krankhaften Bedingungen illusionierende, welche Bestandsstücke früherer Empfindungskomplexe trifft, für die gegenwärtige Reize fehlen. Er bezieht die elektive Reproduktion in erster Linie auf Unterschiede der Lebhaftigkeit der Empfindungen; aber er schließt, wie nach seinen Erörterungen über die "Theorie der Nerventätigkeit" (1899) selbstverständlich ist, ausdrücklich auch qualitative Differenzen ein.

Direkte Betätigungen dafür, daß die Empfindungen auch ihrer Qualität nach durch zentrale Auslösungen mitbestimmt sind, finden sich in den Daten für die Theorie der Gedächtnisfarben, die HERING in den "Grundzügen der Lehre vom Lichtsinn" (1905) entwickelt hat. Er versteht hier unter der Gedächtnisfarbe eines Dings diejenige, in der wir ein Außending überwiegend oft gesehen haben, die sich demnach "unserem Gedächtnis unauslöschlich einprägt und so zu einer festen Eigenschaft des Erinnerungsbildes wird", das also, "was der Laie die Wirklichkeitsfarbe eines Dings nennt". HERING meint offenbar die Gedächtnisresiduen dieser Farben, wenn er ohne genauere Analyse des hier eintretenden Gedächtnisprozesses erklärt:
    "Wie die Gedächtnisfarbe eines Dings immer mitaufwacht, wenn durch ein beliebiges anderes Merkmal desselben oder auch nur durch das Wort, mit welchem wir das Ding bezeichnen, ein Erinnerungsbild desselben geweckt wird, so wird sie ganz besonders wachgerufen, wenn wir das bezügliche Ding wiedersehen oder auch nur zu sehen meinen, und sie ist dann für die Art unseres Sehens mitbestimmend. Alle Dinge, die uns bereits aus der Erfahrung bekannt sind oder die wir für etwas uns nach seiner Farbe schon Bekanntes halten, sehen wir durch die Brille der Gedächtnisfarben und deshalb vielfach anders, als wir sie ohne dieselbe sehen würden."
Schon dieses Zitat, erst recht der Zusammenhang, in dem es steht, macht deutlich, daß die Gedächtnisfarben hier in erster Linie als Einzelabstrakta gedacht sind, daß ferner die "Brille", die wir in unserer Sprache als apperzeptive Verschmelzung zu deuten haben, die Residualverschmelzung dieser Einzelabstrakta verbildlicht. So wird ihm
    "die angenäherte Konstanz der Farben der Sehdinge trotz der großen quantitativen oder qualitativen Änderungen der allgemeinen Belichtung des Gesichtsfeldes eine der merkwürdigsten und wichtigsten Tatsachen auf dem Gebiet der physiologischen Optik."
In polemischen Ausführungen gegen HELMHOLTZ' Übertragung der Hypothese von den unbewußten Schlüssen auf das Farbensehen (in den Verschmelzungsprozesse auch für HELMHOLTZ eine hier nicht zu erörternde Rolle spielen) kehrt der Gedanke bei HERING wieder, wenn auch ohne eine Unterscheidung der abstrakten Einzel- von den Allgemeinvorstellungen und beider Vorstellungsarten von ihren Gedächtnisresiduen:
    "Haben sich ... die Gedächtnisfarben der Dinge gebildet, so werden sie weiterhin ihrerseits von Einfluß auf die Art unseres Sehens, und zu den ... physiologischen Faktoren, welche neben den eben wirkenden Strahlungen die Farbe der Sehdinge bestimmen, gesellt sich also noch einer, den man nach der üblichen Terminologie als einen psychologischen insofern bezeichnen könnte, als er auf bereits gesammelten, in der nervösen Substanz fixierten individuellen Erfahrungen beruth."
Weitere Belege für die Tatsache, daß auch die Empfindungen den residualen Gedächtniswirkungen früherer gleicher und ähnlicher Reize unterstehen, haben die reichhaltigen und sorgsamen Untersuchungen von DAVID KATZ über "Die Erscheinungsweise der Farben und ihre Beeinflussung durch die individuelle Erfahrung" (1911) gebracht. KATZ zeigt im einzelnen die Einflüsse des von ihm so genannten "psychologischen Faktors", den er ganz im Sinne HERINGs als Inbegriff der in der nervösen Substanz fixierten individuellen Erfahrungen bestimmt, auf unsere Farbwahrnehmung. Er faßt allerdings diesen zentralen Faktur "grundsätzlich so allgemein, daß er die hier in Frage stehenden unmittelbaren reproduktiven Wirkungen der wiederholten Reize von den mittelbar ausgelösten, ergänzenden nicht trennt. Anscheinend ist er sogar unbedenklich, die reproduktiven Wirkungen der Reize durchgängig als assoziative besonderer Art aufzufassen. So kommt er dazu, die funktionelle Bedeutung der Gedächtnisfarben wesentlich auf das Erkennen individueller Gegenstände zu beschränken, obgleich er ihren frühen Ursprung anerkennt. Mit Recht präzisiert er HERINGs Bestimmung des Begriffs Gedächtnisfarbe, indem er wiederholt die Bedeutung der normalen Beleuchtung für einen qualitativen Gehalt betont sowie mögliche störende und variierende Wirkungen der "subjektiven Einstellung" mitheranzieht. Weitere Ergänzungen bieten seine Bemerkungen über die Rolle des Netzhautzentrums für den Ursprung der Gedächtnisfarben und deren gelegentliche Wirkungen auf das Erkennen des indirekt Gesehenen.

In all dem dürfen wir demnach Bestätigungen sowohl für die Wirklichkeit abstrakter Einzelvorstellungen wie für die Funktionen ihrer Residuen im wahrnehmenden Erkennen erblicken. Direkte Belege für die Annahme abstrakter Einzelvorstellungen fanden wir in den Bemerkungen von HELMHOLTZ über Einzelbegriffe und HERINGs Ausführungen über die Gedächtnisfarben. In den Annahmen beider Forscher über Ergänzungen eines gegenwärtigen Wahrnehmungsbestandes durch Reproduktionen der Wahrnehmungsinhalte, die früheren, gegenwärtig nicht wiederum gegebenen Reizen entsprechen, zeigen sich, übersetzen wir diese Forderungen in die Sprache der Reproduktionspsychologie, die Einzelabstrakta in ihren Wirkungen als apperzeptive Ergänzungen durch selbständige Reproduktionen. Die Wirkungen der hier sogenannten unselbständigen Reproduktionen durch Verschmelzung stellen sich überall da heraus, wo HERING und KATZ von den Einflüssen handeln, welche die Nachwirkungen früherer Empfindungen auf gegenwärtige Wahrnehmungsinhalte ausüben. Verschmelzungswirkungen endlich von Residuen abstrakter Einzelvorstellungen sind dementsprechend auch für deren residualen Empfindungsbestand gesichert, wo immer wiederholte Wahrnehmungen ein und desselben Gegenstandes vorliegen.

Es erübrigt sich demnach, weitere Bestätigungen für die Wirklichkeit und die Funktionen der Einzelabstrakta im wahrnehmenden Erkennen, die natürlich auch für das tierische Wahrnehmen angenommen werden müssen, anderen Gedächtnis- und Erkenntnisuntersuchungen der letzten Jahrzehnte zu entnehmen. Bemerkt sei nur, daß die Annahme besonderer, von den Orten der Empfindungsauslösung getrennter Gedächtniszentren durch die verschiedenen anatomischen und psychologischen Daten, die für diese Hypothese angeführt werden, nicht gestützt wird. Auch die Symptome der sogenannten Seelen- oder Rindenblindheit und -Taubheit bezeugen nach den Berichten, die ich psychologisch prüfen konnte, lediglich, daß die assoziativen, aber nicht daß auch die apperzeptiven Reproduktionen gehemmt oder aufgehoben sind. Wer einen Apfel oder ein Schreibzeug zwar nicht als solchen oder solches, aber doch als Gegenstand im Raum von bestimmter Umgrenzung erkennt, bekundet nur, daß ihm alle die Wege verschlossen sind, die aufgrund eines durch apperzeptive Verschmelzung bedingten Erkennens eine selbständige Reproduktion der speziellen Bestimmungen möglich machen, die jenes bestimmtere Erkennen erst herbeiführen.

Die Einzelabstraktion bildet demnach in der Tat, weil sie alle Sinnes- und damit alle Wahrnehmungen des entwickelten Bewußtseins überhaupt durchsetzt, nicht nur in den Geisteswissenschaften, sondern in allen Tatsachenwissenschaften im Gegensatz zu den mathematischen die Grundform des denkenden Erkennens. Die besondere Bedeutung, die ihr auch im weiteren Fortschritt der geisteswissenschaftlichen Forschung verbleibt, entspricht lediglich den speziellen Aufgaben dieser Disziplinen, schafft daher keinen Grund, die elementaren logischen Formen der geisteswissenschaftlichen Begriffsbildung zu denen der naturwissenschaftlichen in einen Gegensatz zu stellen.

Eine solche Entgegensetzung ist überdies deshalb nicht berechtigt, weil die abstrakten Allgemeinvorstellungen, die auch für das geisteswissenschaftliche Denken ein unentbehrliches Hilfsmittel bilden, von den Einzelvorstellungen gleicher Herkunft nirgendwo scharf getrennt werden können, die Trennung der abstrakten Vorstellungen in Einzel- und allgemeine Abstrakta also gleichfalls eine Einteilung nach repräsentativen Typen ist. Weder das Wahrnehmen überhaupt, noch das beobachtende, mit Aufmerksamkeit vollzogene Wahrnehmen, nicht einmal die wissenschaftliche, vorweg begrifflich bestimmte Beobachtung ist ausschließlich an die wiederholte Wahrnehmung ein und desselben Gegenstandes gebunden. Unser wahrnehmendes Erkennen vollzieht sich vielmehr von Anfang an teils an denselben, teils an verschiedenen, voneinander oft nur durch gleichgültige Merkmale und Beziehungen unterschiedenen Gegenständen. Die beiden grundlegenden Arten der sachlichen Abstrakta, die abstrakten Allgemein- und Einzelvorstellungen intuitiven Ursprungs, fließen somit unaufhörlich ineinander über. Die unscharfen Grenzen, die, wenn wir alle Arten von Grenzbetrachtungen dazunehmen, durchweg zwischen abstrakten Allgemeinvorstellungen bestehen, fallen also beim Übergang der untersten Arten zu den Gesamtvorstellungen nicht fort. Im Bild eines Kegels, durch das wir uns den Inbegriff der abstrakten Vorstellungen veranschaulichen, ist kein Schnitt möglich, der irgendwelche Glieder reinlich voneinander trennt.

Noch ein weiteres logisch bedeutsames Moment bezeugt diesen verfließenden Zusammenhang.

Die Überlieferung unterscheidet zwischen Beschreibungen als Inhaltsbestimmungen einzelnerund Definitionen als Inhaltsbestimmungen allgemeiner Gegenstände des Denkens. Sie tut dies im Wesentlichen mit gutem Recht, das diejenigen unbeachtet gelassen haben, die im Sinne des Positivismus neuerdings meinen, alle Formen des Denkens in den Tatsachenwissenschaften, gar alle Formen des wissenschaftlichen Denkens überhaupt, ungeschieden in den einen Topf des "Beschreibens" werfen zu dürfen. Aber die Voraussetzungen, die zur Formulierung jener berechtigten Einteilung geführt haben, bedürfen einer Revision. Unter Nichtachtung der Einzelabstraktion setzt die logische, auch in die Grammatik übergegangene Überlieferung die Gegenstände der Einzelvorstellungen als konkrete den allgemeinen Gegenständen als abstrakten entgegen. Wir haben dagegen konkrete und abstrakte Einzelvorstellungen individueller und kollektiver Gegenstände zu unterscheiden. Als konkret dürfen wir, wie schon oben hervorzuheben war, nur diejenigen Gegenstände der Wahrnehmung bezeichnen, die nicht durch wiederholte, aus subjektiven oder objektiven Ursachen variierte Wahrnehmungen ein und desselben Gegenstandes gegeben sind. Denn es ergab sich, daß auch die Wahrnehmung von Gegenständen, deren Bestandteile koexistieren und, wie bei der Gesichtswahrnehmung beharrender Dinge, gleichzeitig, also ohne Blick- und Aufmerksamkeitswanderung, wenn auch mit ungleicher Deutlichkeit erfaßbar sind, sich tatsächlich durch einen kurz dauernden Wahrnehmungsverlauf vollzieht. Jede Wahrnehmung ließ sich demnach in eine Reihe von Wahrnehmungen zerlegen. Anders ausgedrückt: das wahrnehmende Erkennen wurde uns zu einem Wahrnehmungsverlauf, dessen Glieder, die unmittelbar aufeinander folgenden Wahrnehmungen, ihrem Inhalt nach niemals gleichförmig sind, da jede folgende durch die vorhergehenden mitbedingt ist. Haben sich doch, wie wir jetzt hinzufügen wollen, im wahrnehmenden Erkennen singulärer Gegenstände verschiedene, in ihrer Deutlichkeit ansteigende Phasen des Erkennens unterscheiden lassen.

Gilt dies von jedem, auch dem unmittelbar erkennenden Wahrnehmen, so gilt es erst recht von demjenigen, das der Beschreibung eines Wahrnehmungsbestandes zugrunde liegt. Denn jede Beschreibung eines wahrgenommenen Gegenstandes setzt die Beobachtung, also Aufmerksamkeit voraus. Die Enge der Aufmerksamkeit aber, der Umstand also, daß der Umfang des Oberbewußtseins sich mit der Konzentration der Aufmerksamkeit verringert, würde, wie wir sahen, die Gleichzeitigkeit des Beobachtungsbestandes selbst dann ausschließen, wenn auf irgendeinem Sinnesgebiet die einzelnen Bestandteile der stets zusammengesetzten Wahrnehmungsinhalte gleichzeitig und gleich deutlich gegeben sein könnten. Wir brauchen sogar nicht einmal auf die jedem beobachtenden Erkennen eigene Aufmerksamkeitswanderung zurückzugehen, um die Wahrnehmungsgrundlage der Beschreibung in eine Reihe wiederholter Wahrnehmungen aufzulösen. Jede Beschreibung ist ein Vorgang des formulierten, an die Sprache gebundenen Denkens, der selbst, wenn ihr Gegenstand während des Verlaufs der Beschreibung unverändert in der Wahrnehmung beharrt und das Beschreiben lediglich durch die innere Sprache vollzogen wird, eine Zeitreihe füllt. Denn auch die stille Formulierung bietet die Lautworte nur in einer sukzessiven Reproduktion der einzelnen Lautelemente. Jede Beschreibung bedarf überdies schon bei wenig zusammengesetzten Gegenständen einer Fülle ergänzender sachlicher Reproduktionen, um das für die Beschreibung Wesentliche festzustellen. Die ihr zugrunde liegende Beobachtung wird somit stets zu einer Gruppe durch Überlegungsphasen getrennter Wahrnehmungsreihen, deren Zwischenzeiten durch Auswahlüberlegungen gefüllt sind, nicht selten durch solche, die neben der stets ansteigenden Verdeutlichung der späteren Wahrnehmungen durch die apperzeptiven Einflüsse der vorliegenden auch rückwirkende, neue Wahrnehmungsreihen auslösende Einflüsse der späteren auf die früheren im Gefolge haben. Wir finden also die Bedingungen in Menge, die uns sagen lassen, daß jeder Beschreibung, auch wenn sie einen singulären Gegenstand gegenwärtig bleibender Wahrnehmung trifft, eine abstrakte Einzelvorstellung zugrunde liegt und als Muster dient. Dabei bedurfte es nur einer leisen Andeutung, daß die Beschreibung nicht notwendig, im Falle einer formulierten Wiedergabe innerer, nur durch Selbstbeobachtung faßbarer Erlebnisse sogar niemals, auf einen der Wahrnehmung gegenwärtig bleibenden Gegenstand gerichtet ist. Wo solche Erinnerungen mitwirken, ist infolge der Enge des Erinnerungs- gegenüber dem Wahrnehmungsbewußtsein ein weiteres Moment dafür gegeben, daß die Beobachtungsgrundlage der Beschreibung in eine Vorstellungsreihe, also diskursiv zerfällt und ihr Gegenstand nur als abstrakte Einzelvorstellung im Sinn bleibt.

Unmerklich gehen demnach die Beschreibungen in Erzählungen eines eigentlichen Sinnes über, d. h. in Berichte über vergangenes, selbst erlebtes Wirkliches, dessen Glieder sich nach allem Erörterten ohne weiteres als Gegenstände abstrakter Einzelvorstellungen erweisen. Und wiederum sind es nicht feste Grenzen, welche die Erzählung in der eigentlichen Bedeutung von der historischen Darstellung vergangener Wirklichkeit trennen, die - günstigenfalls unter Beihilfe der sprachlichen Abstraktion aus literarischen Quellen - lediglich vergangene fremde mögliche Wahrnehmung zu ihrem gedanklich konstruierten Musterbild hat. In den geschichtlichen Darstellungen der historischen Naturwissenschaften kann sich ein solcher Bericht sogar auf Wirklichkeiten erstrecken, die uns zeitlich oder räumlich so fern und so fremd sind, daß sie niemals Gegenstände einer möglichen Wahrnehmung gewesen sein oder werden können, sondern nur nach Analogie einer möglichen Wahrnehmung vorstellbar sind. Nicht weniger unmerklich sind andererseits die Übergänge zwischen der Erzählung und der Schilderung: und hier ist so offenbar wie dort, daß die Gegenstände lediglich in Form abstrakter Einzelvorstellungen gedanklich rekonstruierbar werden.

Sind demzufolge die individuellen und kollektiven Einzelvorstellungen fast durchgängig abstrakte, so können auch die Definition und die Beschreibung nicht scharf voneinander geschieden werden.

Die Definitionen, die hier allein Betracht kommen, sind die Inhaltsangaben der abstrakt allgemeinen Gegenstände, also die sogenannten Realdefinitionen. Durch diese Bezeichnung sind sie von den benennenden Urteilen, durch die wir einem allgemeinen oder singulären Gegenstand ein bestimmtes Wort zuordnen, trotz allen Übergangsformen zu unterscheiden; und nur bei einer argen Verkennung der Funktionen der Sprache kann der Schein entstehen, daß sie sich in solche Benennungen auflösen lassen. Die Grundform der Definitionen ist die Inhaltsangabe durch eine nächsthöhere Gattung und eine spezifische Differenz. Von den mannigfaltigen Modifikationen, die diese Grundform zuläßt, genügt es hier diejenige zu erwähnen, die an die Stelle der nächsthöheren Gattung das Subjekt der Inhärenz setzt. In jedem Fall fordert die Definition eine Vollständigkeit der Inhaltsangabe. Sie läßt dagegen, wie die Überlieferung lehrt, die Anzahl der in ihr zusammengefaßten Gegenstände unbestimmt. Eine alte Weisheit ist, daß jede Definition gefährlich ist. Sie ist dies insbesondere in allen Tatsachenwissenschaften. Denn hier kann jeder Fortschritt der Erfahrung zeigen, daß die vermeintlich vollständige Inhaltsbegrenzung unzulänglich war. In diesen Disziplinen wird sie deshalb vorsichtigerweise durch die oben schon genannten definitorischen Urteile, d. h. durch Inhaltsangaben ersetzt, die nur einzelne besonders charakteristische, meist diagnostischen Zwecken dienende spezifische Merkmale angeben.

Die Grundform der Beschreibung ist dagegen die Inhaltsangabe der einzelnen Gegenstände durch eine Aufzählung ihrer wesentlichen Merkmale. Sie verlangt nicht Vollständigkeit, die hier niemals erreichbar wäre, sondern Anschaulichkeit. Sie schließt überdies die Singularität ihres Gegenstandes ein.

Die eben hervorgehobenen Unterschiede sind jedoch nicht durchgreifend. Fürs Erste ist die Aufzählung der Merkmale in den Beschreibungen keine willkürliche. Die Anschaulichkeit, der sie dient, verlangt, daß mit dem Subjekt der Inhärenz begonnen und diesem durch eine weiteres systematische Inhaltsangabe sowie individualisierende Bestimmungen Fleisch und Blut gegeben wird. Andererseits liegt im Wesen der Definitionen kein Verzicht auf Anschaulichkeit, wo eine solche erreichbar ist. Das bezeugen die definitorischen Urteile mit diagnostischem Charakter, die in den Tatsachenwissenschaften, besonders auf der beschreibenden Stufe der Naturwissenschaften, statt der Definitionen üblich sind. Sie sind deutliche Zwischenformen, definitorische Beschreibungen oder beschreibende Definitionen. Momente ergänzender Beschreibung liegen erst recht da vor, wo definitorische Angaben durch typische Abbildungen illustriert werden, die Beschreibung also auf einen singulären Gegenstand der Wahrnehmung als Repräsentanten einer Gattung gerichtet ist. Schließlich sei noch darauf hingewiesen, daß das wissenschaftliche Denken sich an die übliche logische Trennung von Beschreibung und Definition von vornherein nicht durchgängig gekehrt hat. Definitionen einzigartiger singulärer Gegenstände, z. B. des Raums und der Zeit, sind von jeher gesucht worden; und immer aufs Neue hat sich der Rationalismus bestrebt, eine Definition des ens realissimum [das allerwirklichste Sein - wp] zu gewinnen.

Aus den vorstehenden Erörterungen sollte deutlich werden, daß wir bei einer formalen Betrachtung die Einzelabstraktion der Abstraktion allgemeiner Vorstellungen zu kontrollieren haben, daß demgemäß alle Arten dieser Abstraktion in jener ihr Seitenstück finden. Aber nur bei einer formalen Betrachtung lassen sich die Arten einer Gattung in koordinierte Determinationsstufen auflösen. Die Gleichordnung fällt auch hier fort, wenn wir den genetischen Zusammenhang beider Arten der Abstraktion in Betracht ziehen. Wir haben gesehen, daß die Einzelabstraktion, wenn wir die oben in Rechnung gestellte Parallelentwicklung beseitelassen, entsprechend der Natur des Wahrnehmens die Grundlage für die Abstraktion der Allgemeinvorstellungen ausmacht. Auch wenn wir die besondere Funktion beachten, die der Einzelabstraktion in den historischen Wissenschaften zukommt, kann jene Gleichordnung nicht bestehen bleiben. Daß die Einzelabstraktion trotz allem bisher kein logisches Bürgerrecht erworben hat, war ursprünglich eine naheliegende Konsequenz der eingangs erwähnten Richtung des Denkens auf die logische und metaphysische Bedeutung des Allgemeinen. Wenn auch die spätere Psychologie der Abstraktion sowie die noch jüngere Methodenlehre der Geschichtswissenschaften diese Einseitigkeit nicht beseitigt hat, vielmehr erst die Psychologie der optischen Wahrnehmung den Boden für diese Ergänzung bereitete, so müssen wir annehmen, daß auch in diesem Fall die Überlieferung stärker wirkte als der Fortschritt der Erkenntnis.
LITERATUR - Benno Erdmann, Methodologische Konsequenzen aus der Theorie der Abstraktion, Sitzungsberichte der königlich-preußischen Akademie der Wissenschaften, Jahrgang 1916, Berlin