ra-2G. SimmelA. CarnegieJ. RuskinBöhm-BawerkE. JafféR. Stolzmann    
 
FRANZ OPPENHEIMER
(1864-1943)
Wesen und Entstehung
des Kapitalismus


"Das Großgrundeigentum ist ein Feudalrest. Die Verteilung des auf ihm durch die Arbeit gewonnenen Gesamtertrages geschieht noch genau nach dem Muster jener primitiven Zeit des Faustrechts und der kriegerischen Ausbeutung des mit dem Schwert zum Knecht gemachten Menschen: der Arbeiter erhält ein Fixum, das gerade das Existenzminimum deckt, der Grundherr aber den ganzen mit dem allgemeinen Reichtum enorm gewachsenen Rest. Hier zieht sich eine lückenlose Ursachenkette von der fernsten Vorzeit bis auf unsere Gegenwart."

"Nicht der noch so innige Wille, Arbeitskräfte auszubeuten, schafft den Kapitalismus, sondern nur die Möglichkeit mit dem Kapitalverhältnis gegebene Möglichkeit. Wenn freie Arbeiter in Marx' Sinne vorhanden sind, dann, nur dann sind Produktionsmittel Kapital; und das ist eine Bedingung, die dem Willen ihres Besitzers völlig entzogen ist; er kann sie, ja er muß sie ausnützen, wenn sie gegeben ist, aber er kann sie nicht herbeiführen."


Erster (nationalökonomischer) Teil
Wesen des Kapitalismus

Unter Kapitalismus verstehen wir eine vom Kapital und seinen Interessen im wesentlichen beherrschte Gesellschaftsordnung. Und so stellt sich uns die Frage nach dem Wesen des Kapitalismus zunächst als Frage nach dem Wesen des Kapitals. Was ist Kapital? Der gebildete Mensch antwortet gemeinhin mit der Erklärung der alten Ökonomisten: Kapital ist ein Stamm von Produktionsmitteln; und zwar wird gewöhnlich als Kapital im engeren Sinne das produzierte Produktionsmittel vom unproduzierten, dem Grund und Boden, unterschieden. Nach dieser engeren Definition ist Kapital also alles Erzeugnis der produktiven Arbeit, das nicht zum unmittelbaren Verzehr als Genußgüter, sondern zur Herstellung anderer Genußgüter bestimmt ist, also Werkstätten und Fabriken, Werkzeuge und Maschinen, Rohstoffe, wie Gewebefasern, Metalle, Farben und schließlich Hilfsstoffe, wie Kohle, Schmieröl usw. Dazu kommt, als eine der wichtigsten Kapitalsarten, das Geld, Edelmetall in gemünzter oder ungemünzter Form.

Diese Definition des Kapitals ist nicht gerade falsch, aber sie ist völlig ungenügend. Sie ist rein beschreibend, indem sie gewisse äußerliche Kennzeichen unter einen Begriff bringt, aber sie ist insofern ungenügend, als sie das eigentliche Problem, das in dem Wort  Kapital  begriffen liegt, nicht einmal streift. Dieses Problem lautet in allgemeinster Fassung: wie ist die Eigenschaft des Kapitals zu verstehen, daß es seinem Eigentümer einen Gewinn abwirft, den Profit? So stellt sich uns jetzt die Frage nach dem Wesen des Kapitalismus wieder in einer neuen, noch präziseren Fassung, als die Frage nach der Entstehung des Kapitalprofits.

Daß hier überhaupt ein Problem liegt und gar das Zentralproblem aller modernen Volkswirtschaft, wird häufig übersehen. So sei mir gestattet, es mit umso größerer Ausführlichkeit vor Augen zu rücken.

Die Tatsache, daß die Verfügung über eine gewisse Menge Kapital, sei es an Geld oder an Maschinen usw. ihrem Eigentümer eine je nach der Sicherheit der Anlage höhere oder geringere Profitmasse einbringt, ist so sehr die Voraussetzung aller beruflichen Tätigkeit des Kaufmanns, daß er wenig geneigt ist, sie kritisch zu betrachten. Sie ist ihm das a priori gegebene, selbst keiner Prüfung und keines Beweises bedürftige Grundlage, auf der alle seine Berechnungen und Handlungen ruhen. Der Profit erscheint ihm als etwas schlechthin "natürliches". Wenn man ihn fragt, wie denn der Profit zustande kommt, so pflegt er zu antworten: "Das Kapital arbeitet" und betrachtet den Profit naiv als den Arbeitslohn des Kapitals.

Nun mag man wohl im volkstümlichen bildlichen Sinn von der Arbeit des Kapitals sprechen: aber im wissenschaftlichen Sinne sollte man einen so irreführenden Ausdruck vermeiden. Arbeit wird geleistet mittels Muskeln und Hirn: das Kapital aber hat weder Gliedmaßen noch ein Denkzentrum. Es arbeitet nicht, es läßt nur arbeiten; und selbst dieser Ausdruck ist noch bildlich, denn nicht es, sondern sein Bsitzer läßt arbeiten; und die Leute, die wirklich mit Muskeln und Hirn arbeiten, arbeiten mit und am Kapital.

Die Griechen nannten den Zins  tokos,  das Geheckte; schon aus dem Wort geht hervor, daß ihnen der Profit als die Frucht des Kapitals erschien, die es trägt, wie der Apfelbaum den Apfel, oder wie die Kuh das Kalb. Ein geistreicher Amerikaner charakterisierte diese Auffassung folgendermaßen: nach der landläufigen Meinung ist der erste Silberdollar das Männchen und der zweite das Weibchen; wenn man sie zusammenlegt, so bekommen sie nach Ablauf eines Jahres so und so viele kleine niedliche Kupferpfennige, die nun allmählich auch zu Silberdollars heranwachsen. Hier ist die naive Symbolistik der Anschauung noch viel klarer als beim Arbeitssymbolismus des Kapitals. Geld und Maschinen sind nicht männlich und weiblich, haben keine Zeugungsorgane und können keine Jungen kriegen. Und doch hat das Kapital die im höchsten Maße paradoxe Eigenschaft, sich zu vermehren, wie ein Lebewesen. Wodurch erhält es diese Eigenschaft? Was macht tote Goldstücke, tote Maschinenmassen fruchtbar und zeugungskräftig? Das ist das Problem des Profits, des Kapitals und des Kapitalismus.

Versuchen wir, uns zu orientieren! Ist ein Stamm von Produktionsmitteln unter allen Umständen  Kapital?  Offenbar nicht! Das größte Vermögen an Produktionsmitteln, produzierten und unproduzierten, als an Kapital im Sinne jener ersten Erklärung, kann unter Umständen für ihren Eigentümer gänzlich ohne Wert sein. Das ausschließliche Verfügungsrecht über Quadratmeilen des fruchtbarsten Bodens in einem Land, das entweder keine Arbeiter oder keine Absatzmöglichkeit besitzt, bringt seinem Eigentümer keine Grundrente. Ebensowenig bringt der Besitz einer Tonne Goldes dem  Robinson  Profit, und gleichfalls würde er nicht die Spur reicher werden, wenn ihm jemand eine mit allen Maschinen, Roh- und Hilfsstoffen verschwenderisch ausgestattete Maschinen- oder Textilwarenfabrik auf seine Insel stellen würde, aber keine Arbeiter dazu gäbe. Die einfachste Dorfschmiede oder ein Webstuhl wären ihm viel nützlicher. Denn durch ihre Benutzung würde er zwar noch immer keinen Profit, wohl aber einen höheren Arbeitslohn gewinnen, einen höheren Arbeitslohn, ausgedrückt in mehr und besseren Genußgütern.

Profit von einem Stamm produzierter Produktionsmittel kann also nur, das ist das erste Ergebnis unserer Betrachtung, da zustande kommen, wo eine größere Anzal von Menschen gesellschaftlich verbunden sind und in wirtschaftlicher Arbeitsteilung produzieren.  Der Profit ist eine gesellschaftliche Kategorie.  Da nun aber Produktionsmittel nur dann als Kapital bezeichnet werden, wenn sie Profit abwerfen, so ist auch  Kapital  eine gesellschaftliche Kategorie. Nur innerhalb der Gesellschaft sind Produktionsmittel Kapital; aus der Gesellschaft isoliert, verwandelt sich das Kapital wieder in einfache Produktionsmittel.

Sind nun aber Produktionsmittel in  jeder  Gesellschaft "Kapital"? Offenbar nicht! Die Gesellschaftsorganisationen der Buschmänner, der wandernden Mongolen und vieler noch weit höher stehender Völker kennen keinen "Profit", also auch kein "Kapital". Es gibt also nicht-kapitalistische und kapitalistische Gesellschaften. Und so erhebt sich dann die weitere Frage, durch welche bestimmenden Eigenschaften eine Gesellschaft den Charakter als kapitalistische erhält?  Wie muß eine Gesellschaft beschaffen sein, damit das Eigentum an Produktionsmitteln den Eigentümern einen Proft abwirft? 

Um diese Frage zu lösen, müssen wir uns klar zu machen versuchen,  was denn der Profit ist?  Das haben wir bisher nicht untersucht. Bisher haben wir nur gefragt, wie das Kapital zum Profit  kommt.  Jetzt fragen wir: was  ist  der Profit?

Nun, der Profit ist augenscheinlich ein Teil des Arbeitsertrages. Ich lege 10 000 Mark in Aktien eines Elektrizitätswerkes an. Ein Jahr lang arbeiten Direktoren, Ingenieure, Buchhalter und Arbeiter; ich selbst gehe spazieren oder mache eine ganz andere Arbeit. Am Jahresschluß wird mir meine Dividende ausgezahlt. Sie ist augenscheinlich ein Teil vom Gesamtarbeitsertrag jener Produzenten. Sie geben mir einen Teil ihres Arbeitsertrages ab. Warum tun sie das? Warum haben sie den Rechtsvertrag nun abgeschlossen, daß sie nun verpflichtet sind, es zu tun?

Aus persönlicher Freundschaft für mich tun sie es nicht, das ist einmal klar. Sie müssen sich also wohl in einer gewissen  Zwangslage  befunden haben, als sie den Arbeitsvertrag abgeschlossen haben. Was kann das für eine Zwangslage gewesen sein?  Gesetzlicher  Zwang, wie Sklaven und Hörigen, bestand nicht: es sind freie Kontrahenten. So muß es dan wohl ein  wirtschaftlicher Zwang gewesen sein.  Worin besteht dieser Zwang?

Die alten Ökonomisten, vor allem ADAM SMITH, gaben darauf folgende Antwort: der Arbeiter braucht, um erfolgreich arbeiten zu können, Produktionsmittel; da er selbst keine besitzt, so ist er gezwungen, dem, der sie besitzt, einen Leihepreis für die Kapitalnutzung zu zahlen, den Profit.

Das ist in der Tat einfach genug, aber doch erst der Anfang der Lösung. Denn hier wird noch etwas vorausgesetzt, was augenscheinlich selbst wieder seine Ursache hat: die Scheidung der Gesellschaft in solche Menschen, die Produktionsmittel besitzen, und solche, die keine besitzen. Nur, wenn diese Scheidung gegeben ist, kann es zu jener Abgabe oder jenem Abzug vom Arbeitsertrag kommen, den wir Profit nennen. Wären alle Menschen gleichmäßig mit Produktionsmitteln ausgestattet, so brauchte keiner dem anderen etwas abzugeben, brauchte sich keiner vom andern etwas abziehen zu lassen. Jenes gesellschaftliche Verhältnis zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden ist also die Grundlage des Kapitalismus, und darum nennt MARX es kurz und glücklich: das  "Kapitalverhältnis". 

Wie kommen also die Kapitalisten zu ihrem ausschließlichen Kapitalbesitz?

Darauf antwortet die alte Ökonomik folgendermaßen: das Kapital ist das Ergebnis  wirtschaftlicher Tugenden  seines Eigentümers oder seiner Vorfahren. Es ist  Ersparnis  aus einem früheren Arbeitslohn, Schöpfung eines überdurchschnittlichen Fleißes, überdurchschnittlicher Intelligenz und Kraft und überdurchschnittlicher Enthaltsamkeit gegen die Versuchung der Verschwendung.

Auf diese Weise war der Proft nicht nur  erklärt,  sondern auch naturrechtlich  gerechtfertigt,  als "Entbehrungslohn", wie MARX ihn später mit bitterem Hohn zu nennen pflegte, als Ergebnis wirtschaftlicher und sittlicher Kraftäußerung. Er erschien geradezu als der Lohn  früherer  Arbeit.

Aber auch mit dieser Hilfserklärung war das Problem noch nicht völlig gelöst. Bisher ist nur erklärt, daß sich Kapital im Privateigentum einer Minderheit befindet, und daß der Arbeiter gezwungen ist, dem Kapitaleigentümer einen Teil seines Arbeitsertrages als Leihpreis abzugeben; aber noch ist kein Wort darüber gesprochen worden,  wie hoch  dieser Leihpreis ausfällt, welchen Teil des mit seiner Hilfe hergestellten Arbeitsertrages er fordern darf, um noch "gerecht" zu sein. Und das ist doch eigentlich die uns interessierende Hauptsache.

Denn die theoretische Untersuchung, die wir hier führen, dient doch einem im höchsten Maß  praktischen,  uns alle leidenschaftlich interessierenden, uns alle persönlich unmittelbar auf das entscheidenste angehenden Problem, nämlich nach dem  Maßstab  der Verteilung des Ertrages zwischen Kapital und Arbeit. Wäre dieser Maßstab der Arbeit sehr günstig, betrüge der Abzug vom natürlichen Arbeitslohn nur einen geringen Bruchteil, dann wäre es anders. Dann würden wir alle das Problem mit der gleichen akademischen Ruhe betrachten, wie etwa die Frage nach der Bewegung einer Kurve höheren Grades, oder nach der Artzugehörigkeit einer neuen auf Kerguelenland gefundenen Flechte oder nach der Sanskritwurzel eines altkeltischen Wortes.

Aber der Maßstab ist der Arbeit augenscheinlich  nicht günstig.  Lange Zeit hindurch hat es sogar geschienen, als  sinke  der Arbeitslohn im gleichen Maß, wie der Ertrag der kapitalbewaffneten Arbeit steigt; und selbst in den fortgeschrittensten Ländern kann es leider keinem Zweifel unterliegen, daß der Lohn der Arbeit nicht entfernt mit ihrer Ertragsfähigkeit Schritt hält. Mit anderen Worten: der Profit verschlingt einen immer wachsenden Teil des natürlichen Lohnes. Und das hat die furchtbarsten Konsequenzen. Wenn wir selbst die entsetzlichen sozialpathologischen Erscheinungen: die grauenhafte Sterblichkeit namentlich der Kinder, das Verbrechen, die Prostitution, den Pauperismus [Armut - wp], das Wohnungselend, die Verbitterung nicht dem "Kapitalismus" auf das Schuldenkonto setzen wollten; zwei  rein wirtschaftliche  Erscheinungen kann ihm keiner seiner Verteidiger abdisputieren, die  Krisen,  die wie Hagelwetter über die Saatfelder der Arbeit hinfahren, und die erstaunliche Tatsache, daß wir Kulturvölker nur einen kleinen Teil unserer technischen Kraft ausnützen können, daß wir mit anderen Worten: nur einen kleinen Bruchteil des uns heute schon erreichbaren Wohlstandes genießen können, weil die Volksmasse mit ihrem Lohn nicht  zurückkaufen  kann, was sie bei voller kapitalistischer Bewaffnung  herstellen  könnte.

Was bestimmt also den Verteilungsmaßstab zwischen Arbeit und Kapital?

ADAM SMITH löst diese Schicksalsfrage mit der  Lohnfondstheorie. 

In der freien Verkehrswirtschaft gibt es nur eine Kraft, die über den Verteilungsmaßstab zwischen zwei Kontrahenten entscheidet: Angebot und Nachfrage im freien Wettbewerb! Je nach dem Verhältnis dieser beiden Kräfte auf einem gegebenen Markt hat der Käufer oder Verkäufer einen Vorteil oder Nachteil. Ganz ebenso entscheiden sie über Profit und Lohn.

Betrachten wir den Markt als Arbeitsmarkt, so stellen die Arbeiter das Angebot, das Gesamtkapital die Nachfrage nach Arbeit dar; betrachten wir ihn als Kapitalsmarkt, so repräsentieren umgekehrt die Arbeiter die Nachfrage, das Gesamtkapital das Angebot; das angebotene Gesamtkapital nennt man den Lohnfonds. In ihn teilt sich die Gesamtarbeiterschaft. Der Durchschnittslohn ist mithin der Quotient eines Bruches: Lohnfonds dividiert durch Arbeiterzahl.

Gibt es also viel Kapital und wenig Arbeiter, so steht der Lohn hoch; gibt es wenig Kapital und viel Arbeiter, so steht er tief. SMITH, der Optimist war, nahm an, daß in jeder "fortschrittlichen Gesellschaft" das Kapital schneller wächst als die Arbeiterschaft, und daß daher der Lohn eine dauernd steigende Tendenz haben muß. Da er zudem noch in der Zeit des Präkapitalismus, zumindest des Frühkapitalismus lebte, noch vor der Maschinenära, ehe noch die Scheidung zwischen Bourgeoisie und Proletariat zur unüberbrückbaren Kluft geworden war, so betrachtete er noch ganz kleinbürgerlich den Arbeiter als den künftigen "Meister" und legte der ganzen Frage keine große Bedeutung bei.

 Formal  war jedenfalls alles glatt gelöst: das Kapital entsteht aus wirtschaftlicher Tugend; der Arbeiter befindet sich in der wirtschaftlichen Zwangslage, es mieten zu müssen, weil er es braucht, und die Höhe des Leihpreises stellt sich fest durch die Konkurrenz. Das war die Lohnfondstheorie erster Stufe, die sozialliberale. Aber sie genügte bald nicht mehr. Das Kapital wuchs in den Händen der Bourgeoisie ins ungeheure, ohne Zweifel viel mehr als die Arbeiterzahl, und dennoch erfüllt sich SMITHs Hoffnung nicht, daß der Lohn steigen muß. Im Gegenteil, er schien, wie gesagt, eher zu sinken, und zwar ungeheuerlich zu sinken.

Wie ist das zu erklären?

Betrachten wir das Problem noch einmal ganz nahe. Nach der Grundauffassung mußte sich der Lohn bestimmen durch nichts anderes als das Verhältnis zwischen Kapitalangebot und Arbeitsangebot. Das geschah augenscheinlich nicht, denn das gesellschaftliche Gesamtkapital wuchs unleugbar viel schneller als die Zahl der Arbeiter, und dennoch sank der Lohn, anstatt zu steigen, wie man hätte annehmen müssen. Das zwang dazu, entweder die ganze Konkurrenzlehre aufzugeben oder Hilfserklärungen aufzusuchen. Den ersten Weg konnte der Liberalismus nicht wählen, da er dann sofort - Sozialismus gewesen wäre, es blieb ihm also nur der zweite, die Hilfserklärungen.

Wie diese Hilfserklärungen ausfallen mußten, war grundsätzlich gegeben. Das Kapitalsangebot mußte möglichst  klein,  das Arbeitsangebot möglichst  groß  erscheinen: dann war der niedere Lohn erklärt.

Zu diesem Zweck spaltete zunächst RICARDO das gesellschaftliche Gesamtkapital in zwei Teile, von denen nur der eine als Lohnfonds angesehen wurde, während der andere aus der Betrachtung ausschied. Das  fixe,  das ist das in Gebäuden, Maschinen usw. angelegte Kapital, sagte man, stellt keine Nachfrage nach Arbeitskraft dar, sondern das tut nur das  zirkulierende,  das für Roh- und Hilfstoffe und vor allem für die  Löhne  bereitgestellt Kapital.

Auf diese Weise hatte man einen sehr großen und täglich wachsenden Teil des Kapitals forterklärt, und schon dadurch erschien das Kapitalverhältnis für die Arbeitgeber viel ungünstiger als zuvor. Aber auch das genügte noch nicht, daß das Kapitalangebot klein war; es mußte auch noch das Arbeitsangebot übergroß erscheinen. Diese zweite Hilfshypothese schuf ROBERT MALTHUS mit seinem berühmten "Bevölkerungsgesetz". Er behauptete, daß die Arbeiterklasse durch ihre Unvorsichtigkeit, zuviele Kinder zu erzeugen, die Zahl der Arbeiter weit über das geringe Maß vermehrt, das das zirkulierende Kapital beschäftigen kann. Darum müßten Tausende zugrunde gehen, und die übrig bleibenden erhalten einen Lohn, der gerade die Existenzbedürfnisse deckt.

Da haben Sie die Lohnfondstheorie zweiter Periode, die manchesterliberale. Sie unterscheidet sich von derjenigen der ersten Periode, um es noch einmal zu wiederholen, dadurch, daß sie erstens nur noch  einen Teil  des Kapitals als Lohnfonds gelten läßt, und daß sie zweitens ein aus einem  Naturgesetz  folgendes Überangebot von Arbeitskräften annimmt.

Diese modifizierte Lohnfondstheorie ging dann in wieder umgeänderter Gestalt in die MARXsche Soziallehre ein. Er ließ nur einen noch kleineren Teil des gesellschaftlichen Gesamtkapitals als Lohnfonds gelten, nämlich das von ihm sogenannte  variable  Kapital, das nichts anderes mehr umfaßt, als die zur Lohnzahlung bestimmten Fonds. Roh- und Hilfsstoffe aber schlug er dem fixen Kapital zu und nannte diese ganze Masse das  konstante  Kapital. Derart war der "Lohnfonds", das Kapitalangebot, noch einmal bedeutend verkleinert.

Auch das übermäßig große Arbeitsangebot der Manchesterlehre übernahm MARX, nur leitete er es nicht aus einem Naturgesetz ab, - denn dann hätte er ja anerkennen müssen, daß die kapitalistische Gesellschaft ewig ist - sondern aus einem "spezifischen Bevölkerungsgesetz der kapitalistischen Epoche", seinem "Gesetz der kapitalistischen Akkulmulation".

Danach wächst das konstante, in Maschinen, Gebäuden, Rohstoffen usw. angelegte Kapital mit so enormer Geschwindigkeit, daß das variable Kapital, der Lohnfonds, relativ zur Arbeiterzahl sinkt. Es bleibt also für den Einzelnen nur das Existenzminimum, und Tausende gehen außerdem noch zugrunde. Sie sehen, grundsätzlich ist MARX auch noch nicht über den Versuch hinausgelangt, den Lohn aus dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage zwischen Kapital und Arbeiterzahl zu erklären. Das ist die sozialististische Lohnfondstheorie.

Beide Bevölkerungsgesetze stimmen mit den Tatsachen, die zu erklären waren, ganz ordentlich überein. Der Augenschein zeigte, daß immer mehr Arbeiter vorhanden waren, als Beschäfigung finden konnten: ein Teil, die "Reserve-Armee" lag immer beschäftigungs- und existenzlos auf dem Pflaster und drückte durch ihre Hungerkonkurrenz auf den Lohn der Beschäftigten. Es war mithin in der Tat das Kapitalverhältnis genauso gegeben, wie RICARDO es einmal volkstümlich ausdrückte: "Es laufen immer zwei Arbeiter einem Unternehmer nach und unterbieten sich", bis auf das Existenzminimum und weniger herunter. Unter diesen Umständen mußte der Profit den ganzen Rest erhalten.

So gut, so schön! Aber, eine Theorie muß, um richtig zu sein, nicht nur alle Tatsachen erklären, sondern sie muß auch in sich wahr sein, d. h. aus unanfechtbaren Voraussetzungen durch richtige Schlüsse abgeleitet sein. Da die beiden Lohnfondtheorien, die manchesterliberale und die sozialistische, einander widersprechen, so kann bestenfalls eine von beiden wahr sein - wenn sie nicht etwa beide unwahr sind.

Lassen wir einmal den verhältnismäßig geringen Unterschied beiseite, der zwischen dem Manchesterliberalismus und MARX in der Frage des Kapitalangebotes besteht (zirkulierendes oder variables Kapital), so ist doch der Gegensatz in der Frage des Arbeitsangebotes ein geradezu kontradiktorischer. Für MALTHUS ist das Bevölkerungsgesetz ein Naturgesetz, eine ewige Kategorie, für MARX ein Gesellschaftsgesetz, eine historische Kategorie. Wer hat Recht?

Nun, MALTHUS hat einmal sicher Unrecht. (1)

Die MALTHUS'sche Theorie hat zur Voraussetzung das bekannte "Gesetz der Produktion auf Land", auch "das Gesetz der sinkenden Erträge" genannt. Danach wächst der Ertrag eines Ackerstückes bei Verwendung von mehr Arbeit nicht entsprechend dem Mehraufwand, sondern in einem geringeren Maß. Wenn ich z. B. statt einem drei Arbeiter auf demselben Grundstück beschäftige, so wird der Ertrag nicht drei mal, sondern nur etwa 2½ oder 2 mal so groß sein. Aus dieser Voraussetzung leitet nun MALTHUS das Gesetz des sinkenden Nahrungsspielraums ab. Irgendein Volk wächst in einer beliebigen Zeit auf seine dreifache Zahl, kann also dreimal soviel Arbeit auf seinen Boden verwenden. Nach dem eben genannten Gesetz bringt aber diese Arbeit weniger als drei mal so viel Ertrag, oder mit anderen Worten: die auf den einzelnen Kopf entfallende Quote an Nahrungsmitteln ist gesunken. Nun hat aber jedes Kulturvolk, das wir kennen, im Laufe seiner Geschichte seine Einwohnerzahl nicht nur verdreifacht, sondern verdreißig- und verdreihundertfacht, es muß also schön längst, schon vor Jahrhunderten, bei jedem von ihnen der Zustand erreicht gewesen sein, in dem die auf den Kopf entfallende Quote an Nahrungsmitteln gerade das Existenzminimum deckt. Von da an mußte alles weitere Wachstum das Ergebnis haben, daß die Quote  durchschnittlich  unter das Existenzminimum fiel. Hätte aber jeder Einzelne nur diese ungenügende Durchschnittsquote erhalten, so wären alle zugrunde gegangen. Darum konnte sich die Natur nur dadurch helfen, daß sie der großen Masse gerade das Existenzminimum gewährte und einer gewissen anderen Anzahl alle Existenzmittel überhaupt entzog. Diese Unglücklichen mußten eben zu Grunde gehen; "sie fanden am Tisch des Lebens keine Kuvert gedeckt" und bekamen überhaupt nichts zu essen; sie wurden ausgerottet durch Kriege, Seuchen und Laster.

Als Folge dieses Naturgesetzes müßte sich nach MALTHUS der Zustand der kapitalistischen Lohnwirtschaft selbst dann immer wieder automatisch herstellen, wenn er einmal beseitigt worden wäre. Denn die kapitallosen Massen stehen im heftigsten Konkurrenzkampf um die Lebensmöglichkeit, sind bei Strafe des Hungertodes gezwungen, das Existenzminimum als Lohn zu akzeptieren. Und so bleibt der ganze Rest der mit der Arbeitsteilung rastlos wachsenden Erzeugungskraft für Güter, kraft unerbittlichen Naturgesetzes, immer als Profit in der Hand der Kapitalistenklasse. Das ist die MALTHUS'sche Lehre. Daß sie grundfalsch ist, dafür hat jeder von Ihnen die Beweise in der Hand. Wir sind alle Zeugen davon, daß in allen Kulturländern die städtische Bevölkerung in einem ganz ungeheurlichen Maß stärker zunimmt als die ländliche. Wäre das MALTHUS'sche Gesetz richtig, so müßte es umgekehrt sein. Denn das Volk wäre gezwungen, einen immer größeren Teil seiner Arbeitskraft auf den Landbau zu verwenden, um die nötige Menge von Nahrungsmitteln für jeden zu erzeugen. Stattdessen tritt das Umgekehrte ein: auf einen Bauern fallen immer mehr Städter; und das beweist schlagend, daß jeder Bauer, trotz des Gesetzes der sinkenden Erträge, heute nach Abzug seines eigenen Bedarfes mehr Nahrungsmittel verkaufen kann als früher.

Die unmittelbare statistische Beobachtung ergibt ganz das gleiche Resultat. In allen Kulturländern wächst das Ackerprodukt unverhältnismäßig viel stärker als die Bevölkerung. In Deutschland hat es sich vervierfacht, während die Bevölkerung sich verdoppelte. Ausnahmen bilden nur schlecht verwaltete Länder, wie Russland und Ostindien: aber hier ist es nicht die Kargheit der Natur, sondern die Knebelung der Wirtschaftskräfte durch eine ausbeuterische und tyrannische Regierung, die die Schuld daran trägt, wenn die Nahrungsmittel nicht ausreichen.

Ist denn das Gesetz der sinkenden Erträge nun falsch? Nein, im Gegenteil, es ist völlig richtig. Aber es gilt nur unter einer Einschränkung, die MALTHUS vernachlässigte; es gilt nur unter der Voraussetzung, daß die auf den Ackerbau verwandte Arbeit mit gleichen Werkzeugen und Methoden betrieben wird.  Wendet man aber bessere Werkzeuge und Methoden an, so kann der Ertrag des Ackerstückes viel stärker wachsen als die darauf verwendete Arbeit.  Nun, wenn man ansieht, mit welchen Werkzeugen und Methoden eine sehr dünne Bevölkerung einerseits und eine sehr dichte Bevölkerung andererseits ihren Acker bebaut, so sieht man die gewaltigsten Unterschiede. Vom einfachen Grabstock bis zum Dampfpflug, vom Lendentuch des Handsäers bis zur Drillmaschine, vom Steinmesser bis zur Mähmaschine, vom Dreschschlitten bis zum Dampfdreschsatz, von der Wasserfurche bis zur systematischen Drainage, vom Raubbau in der Brandwirtschaft bis zur Anreicherung der Bodenkraft durch künstliche Düngung sehen wir einen unendlichen Fortschritt der Werkzeuge und der Methoden des Ackerbaus und erkennen, daß beides Schöpfungen sind der gewerblichen Arbeitsteilung, die ihrerseits wieder diese Höhe nur erreichen konnte bei großer Dichte der Bevölkerung.

Unvergleichlich breiter fundiert und geistvoller aufgebaut als das MALTHUSsche Bevölkerungsgesetz, das ich mich gewöhnt habe als das Bevölkerungsgeschwätz zu bezeichnen, ist das MARX'sche  Bevölkerungsgesetz.  Ich habe bereits angedeutet, wie das MARX'sche Bevölkerungsgesetz begründet ist: der Lohnfonds wächst weniger stark als die Bevölkerung, infolgedessen bleibt ein immer größerer Teil der Arbeiter, die "Reservearmee", unbeschäftigt, und hält durch ihre Hungerkonkurrenz die Löhne der übrigen tief. Daß die Behauptung falsch ist, kann wieder jeder von Ihnen aus unzweifelhafter eigener Erfahrung sofort feststellen, und wieder ist es dieselbe große Tatsache, die schon MALTHUS widerlegte, das ungeheure Anschwellen der Städte auf Kosten der Landbevölkerung, die sogenannte  Verstädterung der Bevölkerung,  die auch MARX ad absurdum führt. Daß die Bewohner der heutigen Großstädte in überwiegendem Maß Fabrikarbeiter sind, kann niemand bestreiten und ebensowenig, daß der industrielle Kapitalismus ganz unvergleichlich höher entfaltet ist, als der landwirtschaftliche. Das Industriekapital wird zu einem ungeheuer viel größeren Prozentsatz in Gebäuden, Maschinen, Roh- und Hilfsstoffen, also in konstantem Kapital investiert, und so bleibt nur ein viel geringerer Teil als variables Kapital, als  Lohnfonds  übrig. Wenn MARX also recht hätte, so müßte die Gesamtindustrie im Verhältnis zur Bevölkerung immer weniger Arbeiter beschäftigen, und die Arbeitslosen müßten sich in den Städten in ganz ungeheuerlichen Massen anhäufen oder auf das Land abgestoßen werden. Stattdessen haben wir, wie Sie alle wissen, ohne ein statistisches Werk aufschlagen zu müssen, genau das Gegenteil: die Industrie mit ihrem ungeheuren konstanten Kapital beschäftigt eine dauernd im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung ungemein wachsende Zahl von Arbeitern, während das Land mit seinem großen variablen Kapital eine im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung rapide sinkende Zahl von Arbeitern beschäftigt. Das MARXschen Bevölkerungsgesetz stimmt also ebensowenig mit den Tatsachen überein, wie das MALTHUS'sche.

Darin liegt schon die Gewißheit eingeschlossen, daß auch der Beweis, den MARX für sein angebliches Gesetz der Bevölkerung in der kapitalistischen Gesellschaft erbracht hat, der logischen Prüfung nicht standhalten kann; und das ist in der Tat nachweisbar. Ich habe zeigen können, daß im MARX'schen Beweis eine logische Erschleichung vorhanden ist (2). Ich kann hier auf diese überaus subtilen Dinge nicht eingehen und möchte mir nur erlauben zu bemerken, daß jeder deduktive Beweis - und der in Frage stehende MARXsche Beweis ist deduktiv! - ein Rechenexempel ist, das mit ganz bestimmten feststehenden Methoden nachgerechnet werden kann. Findet sich dann ein Fehler, so ist jede weitere Appellation [Einspruch - wp] ausgeschlossen.

Diese beiden Erklärungen von MALTHUS und MARX müssen also preisgegeben werden, und so stehen wir wieder vor der Frage: was bringt den Arbeiter dem Kapitalbesitz gegenüber in die wirtschaftliche Zwangslage, ihm einen bedeutenden Teil seines natürlichen Arbeitsertrages abgeben zu müssen? Oder, wie wir jetzt präziser sagen können, woher stammt dieses dauernde Überangebot kapitalloser Arbeiter auf dem Arbeitsmarkt, das den Leihpreis des Kapitals dauernd so hoch und den Mietpreis der Arbeit dauernd so tief hält? Warum laufen immer zwei Arbeiter einem Meister nach und unterbieten sich? Warum laufen nicht umgekehrt zwei Meister einem Arbeiter nach und überbieten sich?

Den meisten unter den Lesern wird der Satz des griechischen Weisen vertraut sein: Nicht durch die Dinge werden die Menschen in Verwirrung gesetzt, sondern durch ihre Meinung über die Dinge. Das gilt auch für diese wichtigste Frage unseres gesamten Staats- und Wirtschaftslebens. Wir brauchen nämlich nur alles zu vergessen, was uns an Theorien und Meinungen über diese Frage vorgetragen worden ist, brauchen nur unsere Augen weit zu öffnen, und wir haben die Lösung an der Hand. Und wir haben wieder nur den gewaltigen Tatsachenkomplex ins Auge zu fassen, der uns schon zweimal dazu diente, die älteren Theorien als unrichtig abzuweisen, die gewaltigste Tatsache der Verstädterung unserer Bevölkerung.

Jeder von uns weiß, ohne ein statistisches Buch aufzuschlagen, daß in allen industriell entfalteten Ländern seit dem Beginn der kapitalistischen Ära eine ungeheure Vermehrung und gleichzeitig eine unerhörte Verschiebung der Bevölkerung stattgefunden hat, dergestalt, daß der gesamte gewaltige Zuwachs an Köpfen, und sogar noch etwas mehr, die Bevölkerung der Städte vermehrt hat, während das platte Land an Einwohnerzahl sogar noch absolut eingebüßt hat. Es ist also zunächst einmal das eine völlig gewiß, daß jenes ungeheure Überangebot auf dem städtischen Arbeitsmarkt ausschließlich erzeugt wird durch die massenhafte Zuwanderung landgeborener Proletarier in die Städte. Die städtische Industrie hat, entgegengesetzt der MARXschen Behauptung, für den allergrößten Teil dieser Zuwanderer Beschäftigung erschlossen: während z. B. in den Jahren von 1882-1895 die Zahl der deutschen Gesamtbevölkerung um etwa 14% wuchs, wuchs die Zahl der von der Industrie beschäftigten Arbeiter um ca. 42% also dreimal so stark: aber die Zuwanderung war doch noch stärker als die Aufnahmefähigkeit der gewaltig wachsenden Industrie, und so blieb immer noch eine Reservearmee übrig; daher laufen immer noch zwei Arbeiter einem Meister nach und unterbieten sich, und der Lohn stieg, wenn überhaupt, nur sehr langsam.

Erstes Resultat: das Überangebot auf dem Arbeitsmarkt, das den hohen Profitsatz ermöglicht und den Kapitalismus in seiner gefährlichen Gestalt unterhält,  stammt vom Land!  Wenn wir etwas genauer hinsehen, so finden wir, daß diese Behauptung einer näheren Bestimmung bedürftig ist. Die Massenabwanderung ergießt sich in die Städte nicht gleichmäßig aus allen Ackerbaubezirken, sondern ganz vorwiegend aus einer ganz bestimmten Kategorie von Ackerbaubezirken. Und wieder haben wir Alle die Daten in der Hand, ohne ein statistisches Buch aufschlagen zu müssen. Uns allen ist bekannt, daß die Landflucht als Massenerscheinung beschränkt ist auf die Gebiete mit Großgrundeigentum. Wir wissen, daß z. B. in Deutschland die sehr dicht besiedelten kleinbäuerlichen und mittelbäuerlichen Bezirke des Südens und Westens regelmäßig und zum Teil bedeutend an Bevölkerung zunehmen, während die viel schwächer besiedelten großbäuerlichen Bezirke des Nordwestens in sehr beträchtlichem, und die äußerst dünn besiedelten Großgutsbezirke des deutschen Ostens in einem ganz ungeheuerlichen Maß ihren Nachwuchs einbüßen, so daß die letztgenannten vielfach, trotz großer Fruchtbarkeit ihrer Bewohner, absolut an Volkszahl verlieren. Eine einzige Zahl zur Jllustration: zwischen 1885 und 1890 hat der Süden und Westen Deutschlands 13%, der Nordwesten 30%, der Osten 75% seines Geburtenüberschusses in die Industriebezirke abgegeben.

Hier besteht ein Zusammenhang, der längst unbestrittenes Gemeingut der nationalökonomischen Wissenschaft ist.  Je mehr von der landwirtschaftlichen Fläche eines Reiches, eines Landes, einer Provinz, eines Kreises durch großes Grundeigentum belegt ist, umso stärker ist die Landflucht seiner Bevölkerung,  und zwar wächst sie nicht im einfachen, sondern in einem viel stärkeren Verhältnis. Ich habe, um den Sachverhalt einigermaßen zu veranschaulichen, die Formel aufgestellt: die Landflucht aus zu gegebenen Bezirken verhält sich wie das Quadrat des darin enthaltenen Großgrundeigentums.

Das ist nichts als eine Tatsache. Tatsachen werden erst Wissenschaft, wenn man sie erklärt hat. Wie ist diese Tatsache der massenhaften Abwanderung der auf dem Großgrundeigentum ansässigen Landbevölkerung zu erklären? Es ist klar, daß sie nicht aus den Eigenschaften der Landwirtschaft im allgemeinen erklärt werden kann: denn dann müßten ja auch die viel dichter mit Menschen besetzten Bauernbezirke in mindestens dem gleichen Maß ihren Nachwuchs ausstoßen. Folglich muß es an den  Eigentumsverhältnissen  liegen, denn nur durch sie unterscheiden sich Bauernbezirk und Grundherrenbezirk. Sehen wir also zu, durch welchen wirtschaftlichen Inhalt ihres beiderseitigen Besitzrechtes sich Bauerneigentum und Junkereigentum grundsätzlich unterscheiden.

Nun, das ist sehr einfach! Wir betrachten, da wir von kapitalistischen Gesellschaften reden, nur solche, in denen die Bevölkerung, die Arbeitsteilung und daher der allgemeine Reichtum steigt. Von diesem vermehrten Reichtum fällt unter sonst gleichen Umständen auf jeden Hektar Land die gleiche Menge, und zwar erhöht sie natürlich das Einkommen des  Eigentümers.  Im Klein- und Mittelbauerbetrieb ist der Eigentümer mit dem Arbeiter identisch, beim Großeigentümer (und dazu gehört, streng genommen, auch der Großbauer) sind Eigentümer und Arbeiter aber verschiedene Personen. Dort erfreut sich also der Ackerer selbst der Vermehrung seines Einkommens, hier aber geht er völlig leer aus,  sein Einkommen bleibt das gleiche,  wie sehr auch der allgemeine gesellschaftliche Reichtum wachsen mag.

Wenn wir den Inbegriff aller im Verhältnis zu anderen Berufen auf einem bestimmten Beruf lastenden ungünstigen sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen als "sozialen Druck" bezeichnen wollen, dann können wir den bezeichneten Unterschied folgendermaßen ausdrücken: die bäuerliche Bevölkerung befindet sich an einem Ort regelmäßig sinkenden,  die Tagelöhnerschaft des Großbesitzes aber befindet sich an einem Ort gleichbleibenden sozialen Drucks. 

Das ist der wirtschaftliche Inhalt des Großgrundeigentums! Es ist ein Ort konstanten sozialen Drucks, d. h. gleichbleibender Ungunst der Existenzbedingungen, während sonst über allen anderen Berufen einer fortschreitenden Gesellschaft der Druck regelmäßig in dem Maße absinkt, wie der allgemeine Reichtum mit der Bevölkerung und der Arbeitsteilung steigt.

Nun strömen aber die Menschen,  das ist seit Adam Smith das Grundgesetz aller theoretischen Ökonomik,  vom Ort höherer zum Ort geringeren Drucks. Damit haben wir aus den wirtschaftlichen Eigenschaften des Großgrundeigentums selbst die Erscheinung der Landflucht auf das Klarste abgeleitet (3).

Wir haben hier also ein drittes Bevölkerungsgesetz, das wir zum Unterschied vom manchesterliberalen MALTHUS'schen und dem kommunistischen MARXschen das  sozialliberale  Gesetz der kapitalistischen Bevölkerung nennen mögen. Zum Unterschied von seinen beiden Vorgängern stimmt es mit den Tatsachen der uns umgebenden Welt auf das genaueste überein und läßt sich ferner aus unbestrittenen Prämissen einwandfrei ableiten, darf also als vollkommen wahr betrachtet werden.

Nun erinnern wir uns, daß die beiden ersten Bevölkerungsgesetze nur zum Zweck ersonnen worden sind, um das rätselhafte Verhalten des  Lohnes  zu erklären. Sehen wir nun einmal zu, wie  unser  Bevölkerungsgesetz das Lohnproblem lösen kann. Und da sehen wir sofort, daß der Lohn, den das Großgrundeigentum seinen Arbeitern gönnen muß, der bisher immer vergeblich gesuchte "Bestimmungsgrund" aller übrigen Löhne ist, auch derjenigen der allerhöchsten Lohnklassen.

Denn das wissen wir ja schon, daß alle Arbeitseinkommen zueinander in einem bestimmten Verhältnis stehen,  das durch die Konkurrenz festgesetzt wird.  Je höher eine einzelne Lohnklasse durch eine besondere Gunst der Konjunktur steigt, um so eifriger streben die unteren Schichten, sich dazu emporzuarbeiten. Wenn z. B. plötzlich eine starke Nachfrage nach Chauffeuren ihre Löhne sehr treibt, dann bemühen sich alle energischen und tüchtigen Schlosser und Maschinenbauer, das Examen zu bestehen. Das hat, ich bitte das festzuhalten, einen  Prozeß des Ausgleichs  zur Folge. Der Lohn der Chauffeuer sinkt, und der der Schlosser usw. steigt, weil die Konkurrenz oben stärker und unten schwächer wurde. Ganz der gleiche Prozeß vollzieht sich fortwährend ausgleichend zwischen allen Lohnniveaus; immer greift die Konkurrenz  niederziehen nach oben,  vor allem auch dadurch, daß die meisten Eltern ihre Kinder eine Stufe höher zu schieben versuchen, und dadurch wirkt sie  hebend nach unten.  Und so stehen alle Lohnklassen in einem wohl elastischen, aber doch festen Zusammenhang; die Differenzen zwischen ihnen werden bestimmt durch die freie Konkurrenz, und zwar  entsprechend der relativen Seltenheit der Vorbedingungen,  die für einen bestimmten Beruf erforderlich sind. Das gilt nicht nur für die Handarbeiter: der preußische Staat bekommt keinen Lehrer mehr für 300 Mark, seit der Tagelöhner 600 verdient, und wenn der Tagelöhner 5000 Mark verdienen würde, dann würde niemand mehr Jura oder Medizin studieren, wenn er nicht mehr als 3000 Mark verdienen könnte.

Den stärksten Einfluß hat natürlich die unterste Lohnklasse, da sie die zahlreichste ist und am leidenschaftlichsten nach oben strebt. Als die unterste hat man bis jetzt immer die  städtischen  Tagelöhner angesehen. In der Tat ist aber die niederste Lohnklasse diejenige der  Landarbeiter.  Wo sie massenhaft in die Städte strömen, da zerrt ihr Wettbewerb alle städtischen Lohnklassen so weit herab, wie der Seltenheit der Vorbedingungen entspricht.

Der Lohn des Landarbeiters ist, das wissen wir jetzt, gleich dem Ertrag des von ihm bebauten Landes abzüglich eines Teils, den er dem Eigentümer seines Produktionsmittels abtreten muß, der an den Großgrundeigentümer fallenden  Grundrente.  Durch seine Konkurrenz zerrt er nun auch die städtischen Tagelöhner bis fast auf das gleiche Niveau herab, und so bleibt, da alle Arbeit gleicher Art den gleichen Ertragswert haben muß, auch dem Eigentümer der städtischen Produktionsmittel am Lohn jedes Arbeiters ein entsprechender Gewinn, und diesen Abzug an der Gewerbsarbeit nennt man eben den  Profit! 

Man sieht, der Profit ist, mathetmatisch ausgedrückt, nichts als eine "Funktion" der Grundrente. Je höher die Grundrente, umso höher auch der Profit! Und, je höher der Lohn der Landarbeiter, umso geringer die Rente, umso geringer auch der Profit, und umso höher der Lohn der städtischen Arbeiter bis zum Ingenieur und Kassierer hinauf.

Und diese ist noch nicht einmal durch den Lohn des  deutschen  Landtagelöhners bestimmt! Sondern  durch den Lohn des ruthenischen und russischen Ackersklaven  derjenigen entferntesten Bezirke dieser Länder, aus denen eine Auswanderung in die westlichen Kulturländer stattfindet. Hier erst ist das allerunterste Lohnniveau,  hier erst der Nullpunkt der Lohnskala  und daher das tiefste Fundament des Kapitalismus der ganzen Welt. Erst, wenn wir den geschilderten Prozeß der Lohnbildung und Lohnausgleichung als  internationalen Prozeß  betrachten, erst dann enthüllen sich uns die letzten Geheimnisse des Kapitalismus.

Der Zusammenhang ist der folgende: die Industrie des Westens saugt Landarbeiter ab. Dadurch gerät der Großgrundbesitzer in Leutenot. Er sieht sich gezwungen, aus dem weiteren Osten Landarbeiter heranzuziehen. Der höchste Lohn, den er bewilligen kann, ist klar bestimmt. Wenn der "Sachsengänger" ihn, Lohn, Transportkosten und Agentengebühren zusammengerechnet, nicht teurer zu stehen kommt, als der Lohn des heimischen Landarbeiters, dann kann er ihn gebrauchen, im anderen Fall ist er zu teuer. Es hängt also unter sonst gleichen Umständen nur von der zu überwindenden Transportentfernung ab, wie weit die wirksame Nachfrage des westlichen Arbeitsmarktes reichen kann. Jenseits dieser Grenze wird keine Nachfrage nach den Landarbeitern mehr ausgeübt. Nennen wir das entfernteste Gebiet, bis zu dem die Nachfrage reicht, das "Grenzgebiet des höchsten Druckes", und den letzten Tagelöhner, der noch abwanderungsfähig ist, den "Grenzkuli", so ist es nach dem vorher Gesagten völlig klar, daß sein Lohn das Normalniveau aller anderen, auch der höchsten Lohnklassen aller anderen, auch der höchst entwickelten Länder der Welt, bestimmen muß, die mit dem Grenzgebiet des höchsten Druckes durch eine massenhafte Zuwanderung verbunden sind.

Denjenigen unter den Lesern, die sich mit der theoretischen Nationalökonomie beschäftigt haben, wird auffallen, daß dieses Gesetz der Bestimmung des  Arbeitspreises  eine vollkommene Parallele zum allgemein anerkannten Gesetz der Bestimmung des  Getreidepreises  darstellt. Auch hier besteht eine durch die zu überwindende Transportentfernung eine genau bestimmte Grenze, bis zu der die wirksame Nachfrage des Weltmarktes reicht; alles Land, das jenseits dieser Grenze liegt, kommt für die Versorgung des Markes nicht mehr in Betracht. Und das Einkommen des "Grenzbauern", der bekanntlich nur seine Selbstkosten, aber keine Grundrente bezieht, ist das Normalniveau, auf dem sich der Getreidepreis und die Grundrente aller, auch der höchst entwickelten und entferntesten Länder aller Welt, aufbaut.

Gerade so ist das Einkommen des "Grenzkuli" das Normalniveau, der Nullpunkt, der Lohnskala der ganzen Welt, soweit sie, kraft der Wanderung der Arbeitskräfte, einen einzigen Arbeitsmarkt darstellt. Und dieser Nullpunkt ist dann nun auch in einer anderen Beziehung ein Nullpunkt, nämlich der Nullpunkt des  Standard of Life,  der Lebenshaltung.  Das berüchtigte "eherne Lohngesetz", hier ist es buchstäbliche, traurigste Wahrheit.  Der Grenzlohn der Grenzkulis ist das Minimum, bei dem Menschen in der tiefsten Erniedrigung gerade noch Leib und Leben zusammenhalten können. Und damit haben wir eine ziffernmäßige Bestimmtheit der Lohnskala gewonnen, die nichts mehr zu wünschen übrig läßt.

Kehren wir nach dieser Abschweifung zu unserem Thema probandum [Beweisthema - wp] zurück: wir hatten behauptet, daß der Lohn des Grenzkulis den Lohn aller anderen Arbeiter des ganzen Kulturkreises bestimmt. Wie geschieht das? Durch die Auswanderung! Die Druckunterschiede der Klassenlage wirken über die politischen Grenzen hinaus und daher strömen auch die Arbeiter auswandernd über die Grenzen ihrer Vaterländer oder besser: Stiefvaterländer, und bieten sich den Kapitalbesitzern solcher Länder, die kein Großgrundeigentum größeren Umfangs aufweisen, als ausbeutungsfähiges Material an. So z. B. existiert der schweizerische, der französische und vor allen Dingen der nordamerikanische Kapitalismus nur dadurch, daß die Länder des Großgrundeigentums ihm in Überzahl kapitallose Proletarier hinwerfen. Im Besonderen hat der nordamerikanische Kapitalismus erst die Iren und Engländer, dann die aus Ostelbien ausgewanderten Deutschen, dann die Italiener massenhaft ausbeutet und nährt sich jetzt bis zum Bersten von den Profiten, die ihm die Einwanderer aus den slawischen Staaten, vor allem die Russen, und hier vor allem wieder die russischen Juden, die Ungarn, die Donauslawen, und immer noch die Italiener abzutreten gezwungen sind. Alle die Länder, die ich genannt habe, sind Länder massenhaften Großgrundeigentums, und ihre Auswandererzahl steht genau im Verhältnis zur relativen Größe, die diese agrarische Form des Besitzes bei ihnen einnimmt. Kleinbäuerliche Länder, wie Frankreich, die Schweiz, Westdeutschland, Norditalien, Norwegen und Dänemark haben zu den ungeheuren Auswanderermassen, die das Lnd zwischen Atlantik und Pazifik mit ihrer Arbeit zum "Land der unbegrenzten Möglichkeiten" gemacht haben, nur winzige Bruchteile beigetragen.

Wenn wir die von uns gewonnenen allgemeinen Gesetze des Lohnes auf diese Länder, z. B. Nordamerika, anwenden, so erkennen wir sofort, daß der Nullpunkt des amerikanischen Arbeitslohnes derjenige ist seiner tiefstehenden "Unqualifizierten", d. h. der der Sprache und der Gesetze noch unkundigen Heimarbeiter in den Schwitzhöllen des Eastend. Alle anderen Löhne bis empor zu den sehr beträchtlichen Einkommen etwa eines Maschinenbauers des Stahltrust, stehen nur so hoch über diesem Nullpunkt, wie es der Seltenheit der Vorbedingungen entspricht. Was aber bestimmt diesen Nullpunkt?  Es ist das Einkommen des Grenzkulis im Gouvernement Rostow oder in der Dobrudscha, vermehrt um die Transportkosten bis nach New York! 

Man hat der hier vorgetragenen Theorie des Kapitalismus, für die ich allein verantwortlich bin, den Einwand gemacht, daß alle die beklagten Erscheinungen sich auch in solchen Ländern finden, die kein Großgrundeigentum haben. Ich hoffe, man wird mir nach dieser internationalen Betrachtung des Weltarbeitsmarktes zugeben können, daß dieser Einwand keiner Widerlegung wert ist.

Hiermit hat der Ökonomist seine Aufgabe gelöst. Er hat die ihn interessierende Erscheinung bis auf ihre letzte ökonomische Wurzel in einer  Eigentumsinstitution  zurückgeführt. Fassen wir an diesem Punkt unsere Ergebnisse noch einmal zusammen:
    Solange noch irgendwo innerhalb eines durch Wanderung verbundenen internationalen Weltarbeitsmarktes ein Gebiet massenhaften Großgrundeigentums ein Gebiet konstanten sozialen Druckes unterhält, muß auch in allen Gebieten regelmäßig sinkenden Druckes dieses Marktes der Lohn aller gewerblichen und landwirtschaftlichen Arbeit niedriger sein, als ihr Ertrag; und so lange verbleibt die Differenz zwischen Arbeitsertrag und Arbeitslohn den Eigentümern der Produktionsmittel in diesen Gebieten des sinkenden Druckes, den Landeigentümern als Grundrente den Eigentümern der produzierten Produktionsmittel als Profit. Denn solange laufen hier immer zwei Arbeiter einem Meister nach und unterbieten sich, und darum sind hier solange Produktionsmittel "Kapital", d. h. Mehrwert heckender Wert. Und darum besteht hier solange der "Kapitalismus" mit allen seinen traurigen Erscheinungen.

Zweiter (soziologischer) Teil
Enstehung des Kapitalismus

Wir haben im ersten Abschnitt das Problem des Kapitalismus so weit geführt, wie es der Ökonomist mit seinen Mitteln führen kann. Diese Untersuchung enthüllte uns das Großgrundeigentum als die letzte erkennbare Ursache der sozialen Komplikationen, die wir als Kapitalismus zu bezeichnen pflegen.

Nun entsteht natürlich die Frage, wie es denn zu begreifen sein soll, daß von allen Formen des wirtschaftlichen Eigentums gerade diese eine so merkwürdige, so überaus verderbliche Wirkung ausüben soll? Was ist denn die Ursache davon, daß gerade das Großgrundeigentum, und nur dieses allein, nicht nur im eigenen Land, sondern auch jenseits der Grenze und gar jenseits der Ozeane das gesamte wirtschaftliche Leben der Menschheit in so verhängnivolle Bahnen drängen kann? Diese Frage kann nicht mehr mit rein ökonomischen Mitteln gelöst werden, sie bedarf der historischen Betrachtung. Was ist das Großgrundeigentum in historischer Beleuchtung? Was ist sein Entstehungsgrund, was ist sein Seinsgrund?

Ich muß hier ein wenig ausholen. Die ganze alte Ökonomik versuchte die Erscheinungen der uns umgebenden Wirtschaft abzuleiten aus einer naturrechtlichen Konstruktion. Was der Humanismus erstrebte als sein letztes Ziel, das ersehnte  Ende  der weltgeschichtlichen Entwicklung, das setzten die Physiokraten, ADAM SMITH und seine Schüler an ihren  Anfang.  Sie ließen die Gesellschaft beginnen als ein Aggregat von lauter freien und gleichberechtigten Bürgern. Von dieser Konstruktion aus leiteten sie nun alle Erscheinungen der uns umgebende Welt ab, vor allem die großen klassenbildenden Kategorien des Kapitaleigentums und des Großgrundeigentums.

Wie sie sich die Entstehung des Kapitaleigentums dachten, haben wir schon geschildert: sie ließen es entstehen aus wirtschaftlichen Tugenden, Fleiß und Sparsamkeit. Ganz ähnlich entstand nach ihrer Meinung das Grundeigentum aufgrund des jedem Bürger gleichmäßig zustehenden Okkupationsrechts, durch größere wirtschaftliche Umsicht. Irgendein kluger Mensch okkupierte eine größere Fläche, mietete eine Anzahl seiner Mitbürger als Arbeiter gegen festen Lohn, und steckte den Mehrwert als Grundrente in seine eigene Tasche.

Wenn wir einen Augenblick über diese Idee nachdenken, so werden wir finden, daß sie ganz unmöglich ist. Solange jeder das gleiche Okkupationsrecht hat, gibt es natürliche keine landwirtschaftlichen Arbeiter, die bereit sind, einem Mitbürger Lohnarbeit zu leisten für einen Ertrag, der kleiner ist, als sie ihn auf eigenem Land erarbeiten können. Wenn aber der "umsichtige" Großokkupant gezwungen sein sollte,, seinen Arbeitern gerade so viel Lohn zu geben, wie sie selbst auf eigenem Land verdienen können, dann würde er nicht nur keinen Vorteil, sondern Schaden aus diesem Geschäft haben, das er unternommen hat. Denn kein Mensch arbeitet für einen Fremden so gut, wie für sich selbst. Oder mit anderen Worten: er wäre gezwungen, seinen Arbeitern mehr als ihren Arbeitsertrag an Lohn zu bezahlen und würde bei der Geschichte schmerzlich zusetzen.

Nun könnte ja ein unternehmender Mann seinen Mitbürgern erklären:
    "Ich okkupiere alles Land, das unser Stamm beherrscht, und gestatte keinem von euch, es ohne meine Erlaubnis zu bebauen. Diese Erlaubnis gebe ich Euch aber nur, wenn mir jeder von euch das Zehntel oder Fünftel seiner Ernte abgibt."
Wenn der umsichtige Mann diese seine Absicht seinen Mitbürgern gegenüber  durchsetzen  kann, dann allerdings ist es ein glatte Sache, wie man sich kaufmännisch ausdrücken würde. Aber ich fürchte, er kann es nicht durchsetzen. Er ist Einer gegen sehr viele, und sie würden ihn auslachen oder, falls er Ernst machen wollte, ihn einfach totschlagen. Denn seine Absicht liefe ja ganz klar darauf hinaus, die vorausgesetzte wirtschaftliche und gesellschaftliche Gleichheit Aller durch eine Usurpation ihrer Existenzgrundlage zu vernichten. Eine solche Gesellschaft von Freien und Gleichen - wir kennen solche von primitiven Stufen der Hackbauern - gewährleistet zwar jeden ihrer Mitglieder das Okkupationsrecht, aber nur in einem sehr rationell begrenzten Umfang: er darf so viel aus dem allgemeinen Vorrat an Land nehmen, wie er braucht und bearbeiten kann; ungenütztes Land aber fällt überall, nach einer kurzen Respektfrist, dem Gemeineigentum und der Gemeinverfügung wieder anheim, selbst wenn es schon okkupiert und bearbeitet gewesen war.

Unter diesen Voraussetzungen kann also auch der Klügste gar nicht auf den Gedanken kommen, mehr Land zu okkupieren, denn es hat nicht den geringsten "Wert", hat trotz seiner unendlichen Gebrauchsnützlichkeit ebensowenig einen Wert wie die atmosphärische Luft; und niemand kommt auf den Gedanken, das Wertlose monopolisieren zu wollen.

Nun treffen wir aber überall, wo ein Kulturvolk eben aus dem Nebel seiner Vorgeschichte heraustritt, bereits Großgrundeigentum bedeutenden Umfangs, trotzdem das Volksgebiet noch ungeheuer viel ungenütztes Land besitzt. Wie könnte dieses Institut entstehen, wenn so gar kein wirtschaftliches Motiv erkennbar ist, und so gar keine politische Möglichkeit gegeben ist, es zu schaffen?

Ja, wenn diese Tatsachen so durchaus nicht mit der logischen Beweisführung übereinstimmen wollen, dann wird wohl die Beweisführung falsch sein. Hier liegt es an der Voraussetzung. Die Wirtschaft fängt eben nicht an als eine Gesellschaft von Gleichen und Freien, sondern als eine Gesellschaft von Ungleichen; von Freien, die über Unfreie herrschen. Alle höhere Wirtschaft fängt im  Staat  an.  Der primitive Staat ist überall nichts anderes als diejenige Rechts- und Wirtschaftsordnung, die ein siegreiches Volk einem besiegten Volk aufgezwungen hat. Und der praktische Inhalt dieser Wirtschaftsordnung ist überall nichts anderes, als die Verpflichtung der Besiegten, den Siegern einen Teil ihres Arbeitsertrages abzutreten. (4) Da es sich zunächst bei den Besiegten immer um Ackerbauvölker handelt, so besteht diese Steuer in einem Teil des Bodenertrages; und es ist dabei völlig gleichgültig, ob diese Steuer, die  Grundrente,  als Abgabe eines Teils seiner Arbeitsertrages eines hörigen Bauern direkt an seinen einzelnen Herren geleistet wird, oder ob der hörige Untertan als Arbeiter auf Herrenland frondet und vom Herrn seinen notdürftigen Unterhalt erhält. Immer handel es sich um  Großgrundeigentum  und um die Abgabe davon, die Grundrente.

Das moderne Großgrundeigentum ist ein direkter Abkömmling jener primitiven Schöpfung der Eroberung. Es ist also die  Schöpfung "außerökonomischer Gewalt",  ein Feudalinstitut, ganz wie die übrigen Feudalinstitute, die Hoheitsrechte, Bannrechte, Strandrechte, Privatsteuerrechte, Zunftrechte usw., die mit dem Feudalstaat verschwunden sind. Das Großgrundeigentum  ist der letzte Feudalrest  in unserer, im übrigen ganz auf den freien Tausch gleichwertiger Gegenstände aufgebauten Wirtschaftsgesellschaft. Es ist eine fremde Machtposition, ein dem innersten Wesen unserer Wirtschaftsgesellschaft fremdes "Monopol" im Sinne von ADAM SMITH.

Jetzt verstehen wir, warum das Großgrundeigentum so verhängnisvoll auf die Verkehrswirtschaft einwirkt: es ist ein Fremdkörper, der krankheiterzeugend wirkt, ein noch nicht ausgestoßener Rest aus einer sonst völlig überwundenen Vorzeit. Und so stellt sich uns jetzt die Kette der Zusammenhänge folgendermaßen dar:
    In unserer, ganz auf die Bedürfnisbefriedigung durch eigene Arbeit aufgebauten, Gesellschaft steht noch ein Rest einer auf Eroberung beruhenden Gesellschaft aufrecht, in der die Bedürfnisbefriedigung der herrschenden Klasse nicht durch eigene, sondern durch fremde, und zwar rechtlich leistungsverpflichtete, Arbeit geschah. Dieser Feudalrest ist das Großgrundeigentum. Die Verteilung des auf ihm durch die Arbeit gewonnenen Gesamtertrages geschieht noch genau nach dem Muster jener primitiven Zeit des Faustrechts und der kriegerischen Ausbeutung des mit dem Schwert zum Knecht gemachten Menschen: der Arbeiter erhält ein Fixum, das gerade das Existenzminimum deckt, der Grundherr aber den ganzen mit dem allgemeinen Reichtum enorm gewachsenen Rest. Darum ist das Großgrundeigentum zu jenem Ort hohen, gleichbleibenden Druckes geworden.
Hier zieht sich eine lückenlose Ursachenkette von der fernsten Vorzeit bis auf unsere Gegenwart.

Wie kommt es aber, so dürfte man fragen, daß der Kapitalismus, dessen Ursache in so ferner Zeit entstand, erst in so sehr später Zeit zur Entfaltung gelangt ist? Warum findet sich in Altertum und Mittelalter keine Spur davon ? Mit der Beantwortung dieser Frage werden wir unser Thema völlig erschöpft haben, so weit das im Rahmen eines kurzen Aufsatzes überhaupt möglich ist.

Die Lösung des Rätsels liegt in einem Wort,  "Freizügigkeit".  Nur, wenn die Hintersassen [vom Grundherrn abhängige Bauern - wp] des feudalen Grundeigentums die Möglichkeit haben, den Ort des konstanen sozialen Drucks zu verlassen, um in Orte niedrigeren Drucks abzuströmen, nur dann können natürlich die Erscheinungen des Kapitalismus zustande kommen. Solange der Landarbeiter an die Scholle gefesselt ist, solange weder Aus- noch Abwanderung gesetzlich zulässig ist, können weder in den Überseegebieten noch in den Gewerbestädten zwei Arbeiter einem Meister nachlaufen und sich unterbieten; solange gibt es hier also keinen Profit, und solange sind Produktionsmittel kein "Kapital".

Wir verstehen jetzt, warum der Kapitalismus eine ganz der Neuzeit angehörige Erscheinung ist. Das Altertum, das ganz auf der Sklavenarbeit aufgebaut war, konnte ihn ebensowenig entwickeln, wie das frühe oder das späte Mittelalter, das den Arbeiter des Plattlandes an die Scholle fesselte. Die volle politische Freiheit, repräsentiert durch das wichtigste aller Rechte, die Freizügigkeit, mußte erst errungen sein, der Feudalismus aus der Verfassung ausgemerzt sein, damit der Kapitalismus, zur Herrschaft gelangen konnte.

Dieser Gedankengang ist in unübertrefflicher Weise von MARX in etwa folgender Form ausgesprochen worden:
    "Ein Neger ist ein Neger: unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen wird er zum Sklaven; Geld und Produktionsmittel sind Geld und Produktionsmittel: unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen werden sie zu Kapital. Worin besteht das gesellschaftliche Kapitalverhältnis? Darin, daß am einen Pol der sozialen Stufenleiter sich alles Kapital befindet, während am anderen Pol sich die  freien Arbeiter  finden, frei in einem doppelten Sinne: sie sind frei, entblößt von allem eigenen Kapitalbesitz, und daher gezwungen, sich dem Kapitalisten auszuliefern, und sind zweitens frei, weil sie als politisch freie Bürger das Recht haben, über ihre Arbeitskraft nach Belieben zu verfügen."
Wir haben also hier bereits die wichtigste Bestimmung in voller Klarheit: ehe nicht der Arbeiter frei ist, kann wohl von Ausbeutung die Rede sein - denn auch der Sklave und der hörige Bauer werden ausgebeutet - aber nicht von  kapitalistischer  Ausbeutung.

Wenn wir die Freizügigkeit in Rechnung stellen, dann bietet das geschichtliche Verständnis des Kapitalismus keine Schwierigkeiten mehr. Er entsteht und verschwindet mit der Freizügigkeit, und verstärkt sich und schwächt sich genau in dem Maß ab, wie die Hemmungen des freien Zuges schwächer oder stärker werden.

Eine kurze historische Skizze wird uns das auf das Deutlichste zeigen und uns außerdem noch manchen wertvollen Aufschluß über wichtige Teilprobleme des Gebietes gewähren.

In Deutschland erringt um die Wende des 10. Jahrhunderts der Bauer praktisch die Freizügigkeit. Aber es existiert zu dieser Zeit hier kein Großgrundeigentum, sondern nur die sozial harmlose Großgrundherrschaft. Das ist eine Institution, bei der ein Grundherr das Recht auf gewisse, recht niedere,  feste  Bezüge von seinen Bauern hat: aller Überschuß über diese feste Grenze hinaus fließt in die Tasche der Bauern selbst. Wenn wir uns der Bestimmung erinnern, die wir vorhin gegeben haben, so werden wir erkennen, daß eine solche Großgrundherrschaft keinen Ort konstanten wirtschaftlichen Druckes darstellt; denn des Bauern Einkommen steigt ja mit der Bevölkerung und Arbeitsteilung in gleichem Schritt. Wir haben im Gegenteil hier einen Ort regelmäßig sinkenden sozialen Drucks, gerade wie über den Städten und dem völlig freien Bauernland, und daher findet auch kein Abstrom des Landvolkes von der Scholle statt, es gibt keine Arbeiter, die den Besitzern von Produktionsmitteln nachlaufen, und darum keinen Kapitalismus (5).

Nun erreicht dieser sozial äußerst gesunde Zustand um die Wende des 14. Jahrhunderts sein Ende, die Großgrundherrschaft verwandelt sich in das echte Großgrundeigentum,, wird aus einem Ort sinkenden zu einem solchen konstanten sozialen Drucks. Und zwar vollzieht sich diese Veränderung unter dem Einfluß neuer erobernder Gewalt, neuer Knechtschaft. Die deutschen Ritter haben das Sklavengebiet mit dem Schwert erobert und die Eingeborenen zu Hörigen gemacht, die sie noch ganz nach dem alten Schwertrecht behandeln, d. h. sie legen ihnen nicht ein für alle mal bestimmte feste Leistungen auf, wie sie die Grundherren des Stammgebietes im Westen beziehen, sondern sie lassen ihnen nur das für ihre Lebensfristung unentbehrliche und nehmen alles andere für sich. Also echtes Großgrundeigentum und ein Ort hohen konstanten Drucks! Diese Umwälzung wirkt im gleichen Sinn auch auf das Stammland zurück; der westdeutsche Bauer kann nicht mehr, wie bisher, durch Auswanderung nach Osten, ausweichen, denn der Osten ist gegen bäuerliche Einwanderung fortan durch das Großgrundeigentum gesperrt; und so muß sich dann auch der Bauer des Westens darin einfügen, daß seine Grundherren auch seine Lasten und Steuern und Zinsen fortwährend, bis zu seiner völligen Verarmung, vermehren. Aber hier bleibt zumindest die Freizügigkeit noch ein Zeitlang erhalten, und solange haben wir dann auch in Deutschland ... Kapitalismus! Eine gewaltige Abwanderung vom platten Land in die Städte findet statt, zwei Arbeiter laufen einem Meister nach und unterbieten sich, Produktionsmittel werden Kapital, der Profit entsteht, und die führenden Kapitalisten dieser ersten kapitalistischen Periode, die Fugger, die Welser, die Römer und wie sie alle heißen, die großen Kaufleute und Bergherren von Augsburg, Nürnberg, Freiberg usw. häufen in kürzester Zeit unerhörte Reichtümer. Das dauert so lange, wie die Freizügigkeit, und erreicht mit ihr sein Ende. Die Großgrundeigentümer beginnen unter der Wirkung der Abwanderung ihrer Hintersassen bald genug an der "Leutenot" zu leiden und setzen die Schollenbindung durch, und damit ist dann auch der junge Kapitalismus erwürgt. Die Bauernkriege, die das Schicksal der Bauern besiegeln, versetzen auch ihm den Todesstreich. Deutschland verfällt in Stagnation, und der Kapitalismus erwacht erst in dem Augenblick zum Leben, zu seiner zweiten Periode, die wir jetzt beobachten, wie mit der revolutionären Ära die Freizügigkeit von Neuem errungen wird. Warum hat Großbritannien einen Vorsprung von einem halben Jahrhundert vor Deutschland? Weil es die Freizügigkeit ein halbes Jahrhundert vor uns erkämpfte. Nicht eher begann in England der Siegeslauf der Kapitalismus, als bis die Beschränkungen des freien Zugangs  in die Städte,  die Zunftrechte, das Lehrlingsgesetz der ELIZABETH, u. a. gefallen waren; und er erreichte seine volle Entwicklung nicht eher, als bis auch die letzte Hemmung des freien Zuges  vom Land fort  gefolgt war, die Kirchspielgesetze. Und in Deutschland setzt die gleiche Entwicklung nicht eher ein, als bis durch die STEIN-HARDENBERGsche Gesetzgebung die Freizügigkeit des Landvolkes hergestellt ist.

Das gleiche gilt von Russland: der russische Kapitalismus feierte seinen Geburtstag an dem Tag, an dem Kaiser ALEXANDER den Emanzipationsukas [Erlaß - wp] unterschrieb; und in die Vereinigten Staaten wurde er mit dem ersten Schiff importiert, das verhungerte irischi Kulis an den Strand spie. Das ist die Entstehung des Kapitalismus.

Vielen Lesern wird die prächtige Untersuchung WERNER SOMBARTs über den Kapitalismus bekannt sein. Er stellt die kühne Behauptung auf, daß er in dem Augenblick entstanden ist, als im Bewußtsein einzelner Menschen der Wille entstand, einen Stock von Produktionsmitteln zu "verwerten", d. h. in Kapital zu verwandeln. Aus unserer Betrachtung wird zur Gewißheit, daß diese Erklärug falsch ist. Nicht der noch so innige Wille, Arbeitskräfte auszubeuten, schafft den Kapitalismus, sondern nur die Möglichkeit mit dem "Kapitalverhältnis" gegebene  Möglichkeit.  Wenn freie Arbeiter in MARX' Sinne vorhanden sind, dann, nur dann sind Produktionsmittel Kapital; und das ist eine Bedingung, die dem Willen ihres Besitzers völlig entzogen ist; er kann sie, ja er muß sie ausnützen, wenn sie gegeben ist, aber er kann sie nicht herbeiführen.

Der schlagendste Beweis für die Wahrheit dieser Ausführungen liegt darin, daß der Kapitalismus sich nirgendwo entwickelt hat, wo entweder keine Zuwanderung von Ackerkulis stattfinden konnte, oder wo ein Gebiet sich einer so glücklichen Grundeigentumsverfassung erfreute, daß jeder Arbeitsfähige ohne große Umstände und Kosten zu eigenem Landbesitz gelangen konnte. In solchen Gesellschaften war natürlich der unverkürzte Arbeitsertrag des freien Bauern der Nullpunkt der Lohnskala, und entsprechend hoch standen auch die übrigen Löhne, so hoch, daß sie den Eigentümern der produzierten Produktionsmittel keinen Mehrwert übrig ließen. Ein solches Gemeinwesen war zum Beispiel lange der Mormonenstaat Utah, dank den von BRIGHAM YOUNG erlassenen Landgesetzen (6). Sehr nahe steht diesem Standpunkt ferner Neuseeland, dessen Regierung einerseits der Einwanderung von Ackerkulis den entschlossensten Widerstand entgegenstellt und andererseits das noch vorhandene Großgrundeigentum durch eine Sonderbesteuerung derart ängstig, daß die Eigentümer froh sind, es loszuschlagen, sodaß es die Regierung ihren arbeitsfähigen landlosen Bürgern für nahezu nichts überlassen kann. Vor allem aber war Westeuropa, und hier wieder Deutschland, im hohen Mittelalter fast vier Jahrhunderte hindurch ein solches Land ohne Großgrundeigentum und daher ohne Kapitalismus, und zwar in der Zeit, in der nur die Großgrundherrschaft bestand, die, wie wir wissen, ein Ort ständig sinkenden, nicht aber gleichbleibenden sozialen Druckes war. Das war aber nicht etwa eine Zeit des Stillstandes und der allgemeinen Armut, sondern im Gegenteil eine Zeit von so ungeheuer schnell steigender Reichtumsvermehrung und von so reißendem Kulturwachstum, daß ihr, nach GUSTAV SCHMOLLER, kaum das 19. Jahrhundert an die Seite gestellt werden kann. Die Bevölkerung, die Arbeitsteilung und daher die Reichtumserzeugung wuchs enorm schnell. Aber dieser Segen verteilte sich mit einer für unsere Begriffe unverständlichen Gleichmäßigkeit auf alle Mitglieder der Gesellschaft: wie es keine wachsende Grundrente gab, so gab es auch keinen Profit; es liefen immer zwei Meister einem Arbeiter nach und überboten sich, und der Lohn der Arbeit wuchs in voller Parallelität zu ihrem Ertrag (7).

Und so läßt sich dann auch aufgrund dieser geschichtlichen Tatsachen behaupten, daß da, wo kein Großgrundeigentum eine wachsende Rente zieht, kein Kapitalismus möglich ist, sondern daß hier ein Zustand voller Gesundheit des sozialen Körpers bestehen muß, den ich als die "reine Wirtschaft" bezeichnet habe. Das ergibt nicht nur unsere Formel, wonach der Profit gleich Null sein muß, wenn die Rente gleich Null ist, sondern wir können es auch ohne weiteres aus einer praktischen Betrachtung erschließen:

Stellen wir uns zu dem Zweck einmal vor, was z. B. aus dem amerikanischen Kapitalismus werden würde, wenn einmal ein paar Jahre lang die Einwanderung stockte. Heute speien die Auswandererschiffe Jahr für Jahr eine volle Million Menschen, d. h. rund 4 bis 500 000 proletarische Arbeitskräfte an den Strand, die mit ihrer Hungerkonkurrenz den einheimischen Arbeiter angreifen. Stellen wir uns vor, das würde durch irgendeine Revolution der Eigentumsverhältnisse in Europa auch nur auf 4 oder 5 Jahre verhindert. Dann wäre natürlich der Kampf zwischen Gewerkschaften und Trusts ohne weiteres zugunsten der Gewerkschaft entschieden. Der Lohn der amerikanischen Arbeiter würde enorm steigen, ihre vermehrte Kaufkraft würde als vermehrte Nachfrage nach allen möglichen Bedürfnissen einer erhöhten Lebenshaltung auf dem Industriemarkt erscheinen und neue Nachfrage nach neuen Arbeitern erzeugen. Dadurch würde der Lohn wieder steigen und so weiter, bis in der Tat nicht mehr zwei Arbeiter einem Meister nachlaufen und sich unterbieten, sondern zwei Meister einem Arbeiter nachlaufen und sich überbieten. Der Lohn würde auf Kosten des Profites steigen, der Profit zugunsten des Lohnes fallen; ob der Profit ganz und gar verschwinden würde, so daß Produktionsmittel überhaupt kein Kapital mehr wären, wollen wir dahingestellt sein lassen: jedenfalls würde er aber so tief sinken, und der Lohn so hoch steigen, daß von einem Kapitalismus im Sinne einer schweren Sozialkrankheit nicht mehr die Rede sein könnte.

Was aber von der Auswanderung gilt, das muß in verstärktem Maß auch von der inländischen Abwanderung gelten; in verstärktem Maß, weil die Zahl der Abwanderer immer ganz ungeheuer viel größer gewesen ist, als die Zahl der Auswanderer, so daß ihr Druck auf den Lohn der schon beschäftigten städtischen Arbeiter noch stärker war als über See.

Damit wäre ich am Schluß meiner Ausführungen, wenn ich nicht noch eine ganz kurze Nutzanwendung der gewonnenen Gesetze machen wollte. Es handelt sich um die sozialethische Bewertung, die der  politische  und  wirtschaftliche  Liberalismus, und namentlich ihre vornehmste Schöpfung, die  freie Konkurrenz,  verdienen. Wir wissen, daß man den Liberalismus auf das härteste angeklagt hat, weil er es war, der diese angeblich höllische Macht entfesselt hat, die am Ganzen Elend der kapitalistischen Anfänge allein die Schuld trägt. Bei dieser Gelegenheit empfing regelmäßig das "Kapital" im engeren Sinne, das Handels- und Gewerbekapital, die härtesten Stöße der sittlichen Entrüstung, während die Landwirtschaft und gar die Großlandwirtschaft sich gern in der bengalischen Beleuchtung des Unschuldskindes, kein Engel ist so rein, darstellte. Nun, soviel wissen wir jetzt, daß hier die Fabel von Wolf und Lamm wieder einmal Wirklichkeit geworden ist: der Wolf, der oben am Strom der Wanderbewegung steht, klagt das Lamm an, ihm das Wasser zu trüben, und er würde es mit Vergnügen fressen, wenn er nur könnte.

Aber ich denke noch mehr beweisen zu können als nur das, daß der Liberalismus und die freie Konkurrenz an allen jenen Greueltaten unschuldig ist. Sie sind im Gegenteil die Kräfte des Segens, die ganz allein das durch die feudale Gewaltpolitik geschaffene Massenelend bereits unmeßbar gemildert haben; und es erscheint mir zweifellos, daß sie in absehbarer Zeit dahin gelangen werden, es ganz aufzuheben.

Nicht wahr, das klingt bis ins Ungeheuerliche paradox? Und doch werden wir sofort erkennen, daß es eine buchstäbliche Wahrheit ist, wenn wir uns nur erinnern wollen, was wir über die Zusammenhänge der einzelnen Lohnklassen festgestellt haben. Wir sahen dort, daß durch die freie Konkurrenz der Arbeiter untereinander ein  Prozeß der Ausgleichung  sich derart vollzieht, daß der Lohn der oberen Klassen herabgezogen, der  der unteren aber gehoben  wird. Wenden wir diesen allgemeinen Satz auf die Verhältnisse der frühkapitalistischen Periode an. Orientieren wir uns am berühmtesten Beispiel Großbritannien. Hier haben wir in der vorkapitalistischen Zeit in den Städten einen Stand von Handwerkern, die ihr bescheidenes Brot haben. Das Gewerbe entfaltet sich langsam; je länger, je mehr fühlt es sich unerträglich beengt und gehemmt durch die Fesseln des Feudalsystems, und nach langen schweren Kämpfen gelingt es dem Liberalismus, die Burg der Gegner zu brechen. Der freie Zug der Bevölkerung wird mit manchen anderen Rechten gewonnen. Die Abwanderung setzt ein, erst tröpfelnd, dann, in dem Maße, wie die städtischen Gewerbe Brotstellen erschließen, immer mächtiger. Die Hungerkonkurrenz reißt die Löhne und Arbeitseinkommen der alten städtischen Handwerker und Arbeiter in die Tiefe, und alle Pforten der Hölle scheinen sich aufgetan zu haben. Den ersten Beobachter, den MALTHUS, RICARDO und ihren sozialistischen Zeitgenossen, erschienen diese furchtbaren Erscheinungen als ein wirtschaftsgeschichtliches Novum, als etwas noch nie Dagewesenes, das jetzt mit einem Mal, wie aus dem Nichts gestampft, in den Gewerbezentren selbst  entstanden ist.  Und auch heute noch blendet dieser alte Irrtum die Augen fast aller Volkswirte. Es war aber ein Irrtum! All diese himmelschreiende Not, all dieses schmutzige Elend, all diese grauenhafte Erniedrigung ganzer Volksmassen waren nicht im mindesten Nova [Neuheiten - wp], sondern uralte Tatsachen; und sie waren nicht erst so eben in den Städten  entstanden,  sondern sie waren nur soeben auf dem städtischen Schauplatz  erschienen,  nachdem sie all die Zeit an einer Stelle zusammengedrängt waren, auf die die Blicke der städtischen Volkswirte nie gefallen waren.

Diese Stelle war das platte Land!  Hier, auf den Besitzungen der großen Feudalherren, in den Höhlen der hörigen Bauern, fern von den Stätten, auf die die Augen der ersten Beobachter des Wirtschaftslebens wie hypnotisiert gerichtet waren,  hatte menschliches Elend längst den höchsten Grad erreicht, der denkbar ist, bis zur Vernichtung der Reproduktionskraft der Rasse.  Denken wir an die Schilderungen, die LABRUYÉRE von den französischen Bauern, die GRAY von den irischen, die E. M. ARNDT von den deutschen, und die KROPOTKIN von den russischen Bauern der präkapitalistischen Zeit gibt, von jenen menschenähnlichen Tieren, die in Erdhöhlen wohnen, schwarzes Brot essen, und den Acker ihrer Herrn umwühlen, denken wir an jene "Wilden", von denen TAINE erzählt, an jene zottigen Bauern der Auvergne, die herabsteigen von ihren Berghöhlen, blutgierig, verelendet, wie hungrige Wölfe!

Bis die Revolution ihnen das Recht der Freizügigkeit gab, hatten diese Ackersklaven ihr eigenes Dasein geführt, fern jeder Kultur, gelöst aus dem Zusammenhang mit dem übrigen Volk. Niemand hatte ihrer Acht, niemand wußte etwas von ihrem Leiden, die wie in einem verborgenen Reservoir Jahrhunderte hindurch aufgesammelt wurden. Als dann aber der trennende Deich durch die städtische Revolution durchbrochen wurde, als die Freizügigkeit erkämpft war, da ergoß sich mit einem Mal diese ganze ungeheure Masse alten, aufgehäuften Elends über die Städte und ihre unglücklichen Bewohner. Und nun freilich riß die Hungerkonkurrenz dieser auf das Äußerste denkbare Maß menschlicher Entwürdigung herabgedrückten Unglücklichen auch die Löhne der alten städtischen Arbeiter in die Tiefe; hatten sie vorher in anständigen Häusern gelebt, so mußten sie sich jetzt mit denselben Schweineställen begnügen, an die ihre Wettbewerber von Jugend an gewöhnt waren, und hatten sie bis jetzt von Rindfleisch und Weißbrot gelebt, so mußten sie sich jetzt ebenso wie sie mit Kartoffeln und Schwarzbrot ernähren, und furchtbar war für sie der Sturz. Aber man darf doch dabei nicht, wie es regelmäßig geschieht, übersehen, daß ganz der gleiche Prozeß, der Hunderttausende in das tiefste Elend stürzte, andere Hunderttausende aus dem tiefsten Elend erlöste. Denn für jene feudalen Hintersassen, die ihrem Kerker entronnen waren, war das Elend von Manchester und Liverpool immer noch ein Aufstieg.

Kurz und gut, was den Beobachtern bis jetzt regelmäßig als ein Prozeß erschien, der nichts als Elend und Not über die Welt brachte, das war in der Tat ein Prozeß des  Ausgleichs  zwischen zwei, bis dahin durch eine unüberschreitbare Grenze geschiedenen, Klassen der Bevölkerung, einer relativ hoch, und einer unglaublich tief stehenden, die plötzlich miteinander in Verbindung gebracht wurden. Man habt bis jetzt immer nur die eine Seite gesehen, den Niedergang der höheren Klasse, aber man kann dem Vorgang nur gerecht werden,  wenn man auch die Rückseite der Medaille ansieht, nämlich den Aufstieg der unteren Klasse.  Für die Einwanderer war der Prozeß des Ausgleichs ein Segen, wie er für die alten Städter ein Fluch war. Dieser Prozeß der Ausgleichung erfolgte zuerst mit ungeheurer Gewalt, so lange, bis der Überschuß der in den Großgrundbezirken aufgestauten Proletariermassen abgeströmt war. Dann begann unter der Wirkung der freien Konkurrenz, dank der durch die Abwanderung und Auswanderung sich immer mehr verschärfenden Leutenot, die Hebung der Landarbeiterlöhne, die seitdem ohne Ende fortgeschritten ist,  und mit der sich der Lohn der städtischen Arbeiter regelmäßig mitgehoben hat.  Diesem Prozeß ist kein Ende abzusehen. Die Löhne werden immer weiter steigern, zunächst durch den immer höheren Aufschlag von Transportkosten, den die Heranführung der Grenzkulis bedingt, und dann hoffentlich in nicht allzu ferner Zeit durch eine Umwälzung der Eigentumsverhältnisse in den Grenzgebieten des sozialen Druckes im äußersten Osten, durch die sie aus Orten gleichbleibenden in Orte sinkenden Druckes verwandelt werden. Und auch dieser letzte Hammerschlag, der die Fesseln der mündig gewordenen Menschheit ganz zerbrechen wird, wird geführt werden vom arg verlästerten Liberalismus, dem Widerpart und Besieger des Feudalstaates.

Wir sehen also, die freie Konkurrenz ist völlig unschuldig. Sie hat vom ersten Tag ihres Wirkens an den  Durchschnittslohn  der menschlichen Arbeit in immer steigendem Maße erhöht: es war nicht ihre Schuld, daß der Durchschnitt am Anfang viel niedriger sein mußte, als das bisherige Einkommen der städtischen Arbeiterschaft, so daß sie Jahrzehntelang in schwere Not geriet, bis die freie Konkurrenz das Durchschnittslohnniveau wieder so hoch hatte heben können, wie ihr Sonderlohnniveau vor der großen Ausgleichung gestanden hatte. Um die ganze Menschheit zu erlösen, mußte der Liberalismus vor allem die entwürdigten Sklaven des Großgrundeigentums erlösen. Der städtische Arbeiter jener Zeit mußte die Zeche bezahlen. Und das war gewiß traurig für ihn. Aber was bedeutet das Leid einer Generation gegen den Fortschritt eines ganzen Volkes? Eine Generation ist nur in Laubkleid am Stamm des Volkstums; der Frühling bringt es, der Herbst wirft es nieder. Was macht es aus, wenn ein Sommersturm einen Teil der Zweige und Blätter vorzeitig vom Stamm schleudert? Wenn nur der Stamm selbst, der eigentlich Lebende, der ewige Erneuerer, durch den Sturm der Todfeinde ledig wird, die sein Mark bedrohen!

Und nun können wir mit einem Wort bezeichnen, was der Kapitalismus ist.  Er ist der Bastard aus der widernatürlichen Verbindung der beiden, von allem Anfang an feindlichen Mächte, deren Kampf die Weltgeschichte erfüllt, ja bedeutet:  der uralten, auf Eroberung beruhenden  Herrschaft die den Feudalstaat und als seine erste und wichtigste Einrichtung das große Grundeigentum schuf, und der  Freiheit die in langen Kämpfen das erste und wichtigste aller Menschenrechte errang, die Freizügigkeit. Wir verstehen nun, warum der Kapitalismus eine "Spottgeburt aus Dreck und Feuer" ist, warum er eine Art seltsamer "Doppelpersönlichkeit" besitzt. Der tugendsame Bürger mit dem grausamen Verbrecher zusammengekoppelt! Darum preisen ihn die einen verzückt als Spender allen Reichtums, die andern schelten ihn als Urheber allen Elends. Wir aber wissen jetzt, wie diese Doppelpersönlichkeit zu verstehen ist: aller Fluch, den der Kapitalismus über die Menschheit gebracht hat, ist Erbteil von seiner Mutter, der urtümlichen Gewalt, die den Menschen zum Objekt fremder Willkür erniedrigte; und aller Segen ist Erbteil des Vaters, des Geistes der Freiheit. Und so gilt von ihm, was RICHARD DEHMEL von seinem "Bastard", dem Sohn des Sonnengottes und des Vampyrweibes sagt:
    "Jetzt weißt du, Herz, was immer so in deinen Träumen bangt und glüht, wie nach dem ersten Sonnenschimmer die bange Nacht verlangt und glüht, und was in deinen Lüsten nach Seelen lechzt wie nach Blut, und was dich treibt von Brunst zu Brunst aus dunkler Nacht zu lichter Glut?"
Bastard aus Knechtschaft und Freiheit, ist es ein historischer Beruf, die Menschheit durch neue Knechtschaft zur vollen Freiheit zu führen und dabei selbst zugrunde zu gehen.
LITERATUR Franz Oppenheimer, Wesen und Entstehung des Kapitalismus, Rivista di Scienza, Jahrgang 2, Nr. 3, Bologna-London-Paris-Leipzig 1908
    Anmerkungen
    1) Vgl. zum Folgenden die ausführliche Darstellung in meinem Buch "Das Bevölkerungsgesetz des T. R. Malthus", Darstellung und Kritik, Berlin-Bern 1901; ferner meinen Aufsatz "Das sogenannte Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag", Jahrbuch der Bodenreform, hg. von ADOLF DAMASCHKE, Bd. III, Heft 3 (1907)
    2) F. OPPENHEIMER, Das Grundgesetz der Marx'schen Gesellschaftslehre, Darstellung und Kritik, Berlin 1903.
    3) Vgl. die ausführliche Darstellung in meinem "Großgrundeigentum und soziale Frage", Berlin 1898, I, 3 Kap. (Die Theorie des einseitigen Druckes, Seite 97-182).
    4) Vgl. meine Abhandlung "Der Staat", Ffm, 1907 (Bd. XIV und XV der von MARTIN BUBER herausgegebenen "Gesellschaft".
    5) Vgl. die ausführliche Darstellung in meinem "Großgrundeigentum und soziale Frage", III. (historischer) Teil. 2 Kapitel, Seite 332-390.
    6) Vgl. meine Abhandlung "Die Utopie als Tatsache", Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Bd. II, 1899, Seite 190f.
    7) Vgl. mein "Großgrundeigentum" Seite 350