ra-2H. Eisenhartvon BelowR. Liefmann    
 
ADOLF DAMASCHKE
Geschichte der
Nationalökonomie


"So wie wir die Philosophie als ein unfruchtbares Spielen menschlichen Scharfsinns ansehen, wenn sie nicht für das ethische Handeln einen bestimmten Maßstab ergibt; wie in der Pädagogik alle psychologischen Forschungen erst Wert und Bedeutung erhalten, wenn sie der praktischen Erziehungsarbeit dienen: so müssen auch in der Volkswirtschaftslehre aus allem Erforschen der Vergangenheit und aus allem Erkennen der Gegenwart sich klare Aufgaben für die Zukunft ergeben."

"Eine Wissenschaft, die es sich zur Aufgabe macht, diese wirtschaftlichen Verhältnisse zu untersuchen und dadurch die Grundlage zu ihrer erfolgreichen Beeinflussung zu schaffen, ist schnell ein Machtfaktor ersten Ranges geworden."

"Wie bitter ist der Spott, den Amos über die reichen Getreidehändler ausgießt, die vor brennender Gier den Verlauf der Neumonde und Sabbate, an denen Handelsgeschäfte verboten waren, nicht abwarten können und bei falschem Maß minderwertige Waren verkaufen. Doch die Plutokratie hat sich noch zu allen Zeiten gefällige Diener erkauft, die ihre Taten rechtfertigen und ihre Gewissen beruhigen, seien es Vertreter, die im Kleid der Wissenschaft auftreten oder im Kleid der Richter, der Priester und Propheten."

Vorwort zum 50. Tausend

In einem Jahr haben nun wiederum 10 000 Stück dieses Buches ihre Weg gefunden zu Menschen, die erkannt haben, daß sie ihrem Volk in gärender Gegenwart erfolgreich nur zu dienen vermögen, wenn sie die Vergangenheit recht erkennen und ihre Lehren zu werten verstehen. Auch in ihrer neuen Gestalt hat diese "Geschichte der Nationalökonomie" manche freudige Zustimmung gefunden. Andererseits werden naturgemäß gegen diesen Versuch, die "Geschichte der Nationalökonomie" volkstümlich zu machen, auch mancherlei Einwendungen laut. Sie sind, soweit ich sehe, bereits im Vorwort zum 40. und in dem zum 15. Tausend beantwortet, bis auf eine, die auch von wohlmeinender Seite ausgesprochen wird, und die dahin geht: Das Buch stelle die Lehren der einzelnen Richtungen nicht "selbständig" genug dar, sondern begnüge sich zu oft mit der wörtlichen Wiedergabe aus den Werken der Führer.

Die hier vermißte "selbständige" Darstellung wäre nun nicht schwer. Man brauchte dazu vielfach nur die Hauptstücke in indirekte Rede umzusetzen. Wäre das aber wirklich ein Gewinn?

Ich bin ja selbst in der Lage, oft genug die von mir vertretene Lehre der deutschen Bodenreform in dieser Weise "selbständig" dargestellt zu sehen und habe dabei doch häufig ein recht unbefriedigtes Gefühl. Die Darstellungen sind in der Regel nicht geradezu falsch, und doch sind sie auch nicht ganz zutreffend. Es fehlt eben etwas, was bei der Darstellung von wesensfremder Seite auch ohne bösen Willen nur zu leicht verloren geht. Und das könnte auch mir bei der Darstellung von Lehren widerfahren, denen ich innerlich ablehnend gegenüberstehe. Nun soll es aber ein Stolz und eine Stärke dieses Buches bleiben, über alle Bewegungen ein wirklich zutreffendes Bild zu geben. Das ist aber auf keinem anderen Weg so sicher zu verbürgen als dadurch, daß man diese Bewegungen in ihren Führern selbst zu Wort kommen läßt. Diese wörtlichen Ausführungen kennzeichnen daneben auch ihre Träger. "Der Stil ist der Mensch." Es lohnt sich, auch einmal im Licht dieses Wortes die Führer der einzelnen Strömungen prüfend zu vergleichen.

Dazu wird dieses Buch vielfach zu Vorträgen und zu Unterrichtszwecken verwendet, und es ist dem Redner, dem Schriftsteller, dem Lehrer gewiß mehr damit gedient, wenn er sich bei seinen Ausführungen auf Worte von FRIEDRICH LIST und ADOLPH WAGNER, von LASSALLE und MARX, von PROUDHON und KROPOTKIN usw. berufen kann, als auf Worte von DAMASCHKE.

Und endlich der Eindruck der "selbständigen" Arbeit? Der Sachkenner lächelt darüber. Mir aber kommt es nie auf den Eindruck an, den ein Buch über das Maß meiner Arbeit erweckt, sondern allein auf den Eindruck, den es auf den Willen seines Lesers ausübt.

Ich sehe im Geist einen ehrlich suchenden deutschen Menschen sinnend dieses Buch lesen und am Schluß eines Abschnitts sich prüfend fragen: "Wo lag in dieser Zeit die tiefste Ursache zum Aufgang oder zum Niedergang, zum Leben oder zum Tod? Wie steht es heute mit unserem Volk? Worauf deuten diese Zeichen in unserem wirtschaftlichen und politischen Leben oder jene? Wohin müssen die Wege führen, die hier begonnen werden oder dort? Was bedeuten die Stimmen, die sich heute auf dem Markt des öffentlichen Lebens hervordrängen und wer steht hinter ihnen?"

Und ich sehe deutsche Menschen, die dann aufstehen, entschlossen und fähig, fest und klar ihre staatsbürgerlichen Pflichten zu erfüllen. Und ich grüße sie!



Vorwort zum 40. Tausend

Je älter ich werde, desto bestimmter wird in mir die Überzeugung, daß der einzig erfolgversprechende Weg zu staatsbürgerlicher Bildung über die Geschichte führt. Er allein vermittelt eine lebendige Anschauung, ein Verständnis des Werdens und Wachsens und damit der Entwicklungsmöglichkeiten des Bestehenden. Aus dieser Anschauung sah ich mit besonderer Freude, wie diese Geschichte in Bildungsveranstaltungen aller Art und jetzt besonders auch in Soldaten- und Genesungsheimen, in Lazaretten und Gefangenenlagern vielen Suchenden eine willkommene Führung geboten hat.

Eine deutsche "Geschichte der Nationalökonomie", die im 40. Tausend erscheint, das muß - welche Stellen man auch im einzelnen an dem Werk bemängeln mag - als einen Beweis für das steigende Verlangen nach staatsbürgerlicher Bildung mit Freude begrüßen, wer erkannt hat, daß diese gerade jetzt eine Lebensnotwendigkeit für unser Volk geworden ist.

Was dieses Buch bieten kann und will, sagt die nachstehende Vorrede zu seinem 15. Tausend. Sein äußerer Erfolg war mir stets eine Mahnung, mit Ernst an seiner Verbesserung zu arbeiten. Der Ausbau zeigt sich zunächst in einer wesentlichen Erweiterung seines Umfangs. Die herrschende Papiernot hat zu einer besseren Ausnützung der einzelnen Seiten geführt. Trotzdem ist die Seitenzahl noch so gewachsen, daß es ratsam erschien, das Werk in zwei Bänden herauszugeben. Der zweite Band soll unmittelbar dem ersten folgen.

Trotz des erweiterten Umfangs ist am Wesen des Buchs nichts geändert. Es soll auch in der neuen Bearbeitung überall ohne sachwissenschaftliche Vorkenntnisse verständlich bleiben. Da die Erweiterung des Umfangs im wesentlichen durch die Einfügung bezeichnender Einzelzüge bewirkt wurde, so hoffe ich gerade dadurch das Verständnis wichtiger Entwicklungsstufen erleichtert zu haben.

Sorgfältige Arbeit, die allerdings ihren Zweck verfehlt, sobald sie an irgendeiner Stelle als Arbeit erkennbar wird, diente der Ausscheidung entbehrlicher Fremdwörter. Wer das Schrifttum unserer Wissenschaft kennt, wird verstehen, wenn sich selbst in einer volkstümlichen Darstellung wie der vorliegenden etwa an tausend Stellen eine solche Ausscheidung als möglich - und damit als nötig - erwies. In vielen Fällen zwang auch hier die Wahl eines deutschen Ausdrucks unmittelbar zur schärferen Klarheit der Darstellung.

Natürlich hat ein Buch wie dieses auch mit allerlei Einwendungen zu rechnen. Für einige kann ich auf meine früheren Erwiderungen im Vorwort zum 15. Tausend verweisen. Hier sei nur einem Einwand kurz begegnet, den solche Kreise in dem Maße häufiger erheben, in dem ihnen dieses Buch unbequem wird: Diese Geschichte schiebe die Bodenfrage einseitig in den Vordergrund. In den Kämpfen der Gegenwart halte ich es für meine Aufgabe, in all dem oft von geschickten Machern künstlich verwirrten Tageslärm die Bodenfrage als die zuletzt entscheidende herauszuarbeiten. Die bewußte Anteilnahme an der Geschichte der Gegenwart gibt mir nach meiner Überzeugung allein die Möglichkeit, eine Geschichte der Vergangenheit zu schreiben. Wer während der Kämpfe seiner Zeit "klug" oder feig hinter dem Ofen sitzt - wie will der Kämpfe der Vergangenheit sich und andern lebendig machen? Wer will in blutleerer "wissenschaftlicher" Parteilosigkeit verharren, wenn es sich um Brot und Freiheit, um Niedergang oder Aufstieg auch seines Volkes handelt?

Der Staat ist, um mit FRIEDRICH RATZEL zu sprechen, nur zu verstehen als "ein bodenständiger Organismus". Das Verhältnis eines Volkes zu seinem Land bestimmt über sein Leben und Sterben. Deshalb  muß  jede Einführung in die Volkswirtschaft diese erste Lebensbedingung auch in die erste Reihe stellen. Wenn andere Schriften das bisher nicht getan haben, so haben sie eben ihre Aufgabe nicht voll erfüllt. Doch heute erübrigt sich ja darüber jede Ausführung. Für den Boden, der sein Vaterland ist, bringt unser Volk heute die schwersten Blutopfer, die in der Weltgeschichte bisher von ihm gefordert worden sind. Bedarf da die grundlegende Bedeutung der Bodenfrage auch nur noch eines erklärenden Wortes?

Und so sende ich dann diese neue Auflage der "Geschichte der Nationalökonomie" in diese große Zeitenwende mit dem heißen Wunsch, daß sie vielen in unserem Volk, die eines guten Willens sind, helfen möge zur Erkenntnis dessen, was heute als falsch und faul und fremd auszuscheiden ist aus unserer Volkswirtschaft, und dessen, was in deutscher Erde gesund und stark wurzelt und als lebenskräftig und zukunftsfreudig gepflegt werden muß, damit die neue deutsche Volkswirtschaft eine Quelle reichen Segens werde nach innen und wahrer Größe nach außen.



Vorwort zum 15. Tausend

Als um die Wende des 19. Jahrhunderts "bewährte" Formen zerbrachen und "ewige" Rechte erschüttert wurden, als jeder Staat Europas vor die Wahl gestellt war: organische Reform oder gewaltsamer Umsturz? da faßte GOETHE die Erfahrungen dieser Zeit in das Wort:
    ... Der Mensch, der zu schwankender Zeit auch schwankend gesinnt ist, der vermehrt das Übel und breitet es weiter und weiter. Aber wer fest auf dem Sinn beharrt, der bildet die Welt sich.
Auch uns hat das Schicksal in eine schwankende Zeit gestellt. Wo ist eine Wahrheit, die nicht umkämpft, ein Besitz, der nicht umstritten wäre?

In dieser Zeit muß es mehr und mehr als eine nationale Gefahr erscheinen, daß so viele Menschen auch schwankend gesinnt sind, und daß selbst manche, deren Bildung oder Stellung sie zu Führern berufen sollte, jedem Schlagwort des Marktes kritiklos folgen, weil sie nicht fähig sind, fest auf dem Sinn zu beharren, und dadurch die Welt sich zu bilden.

Aus einer solchen Not heraus ertönt immer lauter der Ruf nach staatsbürgerlicher Erziehung unseres Volkes. Die erste Vorbedingung dazu aber ist eine wirkliche Kenntnis der sozialen Theorien und Bewegungen, die in unserer Zeit um Köpfe und Herzen der Menschen werben.

Wer heute behaupten würde, daß der "Faust" von SCHILLER, die "Zauberflöte" von RICHARD WAGNER oder die "Sixtinische Madonna" von ARNOLD BÖCKLIN geschaffen wäre, der würde sich in den Kreisen der Bildung einfach unmöglich machen. In Literatur, Musik und Malerei ist ein gewisses Mindestmaß von Wissen die Vorbedingung jeder Anerkennung. Auf dem Gebiet der Volkswirtschaftslehre aber, d. h. auf dem Gebeit, auf dem jeder gezwungen ist, durch sein Stimmrecht in Reicht, Staat und Gemeinde die wichtigsten Entscheidungen mit herbeizuführen, da ist ein solches Mindestmaß an Kenntnis ein noch nicht streng befolgtes, wenn auch ungeschriebenes Gesetz. Das aber muß erreicht werden. Denn die heutige Unkenntnis bildet in unserer von sozialen Problemen erfüllten Zeit eine ernste Gefahr. Manche Begehungs- und Unterlassungssünde auf sozialem Gebiet findet in ihr allein ihren Grund.

Eine Erklärung für diesen beschämenden und gefährlichen Zustand geben allerdings viele Schriften auf diesem Gebiet. Wie oft ist mir in meiner Tätigkeit im öffentlichen Leben der Wunsch nahegelegt worden: "Nennen Sie uns ein nicht zu umfangreiches Buch, das die volkswirtschaftlichen Theorien und Bewegungen in einer Weise darstellt, daß man es auch ohne fachwissenschaftliche Vorbildung verstehen kann."

Ich habe diesem Wunsch nicht entsprechen können und mich deshalb entschlossen, dieses Buch herauszugeben.
    "Es will eine  erste Einführung  sein. Es setzt also  nichts  voraus. Es ist nicht für Volkswirtschaftler vom Fach geschrieben, sondern für Männer und Frauen aller Berufe, die sich auf einem Gebiet unterrichten wollen, aus dessen Kenntnis allein ein zutreffendes Urteil über unsere Zeit und ihre Aufgaben gewonnen werden kann."
In diesen Worten habe ich im Vorwort zur 1. Auflage, die 1905 erschien, die Aufgabe dieses Buches ausgesprochen; und an ihr ist festgehalten worden, obwohl das Buch nach und nach um mehr als dreihundert Seiten erweitert worden ist.

Die freundliche Aufnahme, die es in der Presse aller Richtungen gefunden hat, und seine für ein deutsches nationalökonomisches Werk verhältnsimäßig große Verbreitung, scheinen ein Beweis dafür, daß eine Geschichte der Nationalökonomie gerade in dieser Begrenzung und in dieser Art den Wünschen vieler entspricht.

Allerdings hat es auch nicht an Einwendungen gefehlt. Sie kamen von Fachleuten.

So bedauert ein süddeutscher Professor, daß "solche Bücher in die 4. Auflage kommen, in denen die Namen SONNENFELS, RAU, DIETZEL und so viele andere vollständig fehlen." Es wäre wahrhaftig nicht schwer, eine Vollständigkeit herbeizuführen. Man brauchte nur aus einem fachwissenschaftlichen Handbuch alle Namen mit einigen Notizen abzuschreiben. Aber dieses Buch beschränkt sich mit Bewußtsein nur auf solche Lehren, die über die Wände der Schule hinaus Bewegungen ausgelöst haben, die für die lebendige Gegenwart noch etwas bedeuten.

Ein anderer angesehener Fachmann bedauert, daß in diesem Buch die Lebensgeschichten der führenden Männer so ausführlich dargestellt sind. Das sei überflüssig; denn wer kennt z. B. nicht das Leben eines FRIEDRICH LIST? In solchen Worten spricht eben der Fachmann, der das, was ihm durch jahrelangen Umgang selbstverständlich geworden ist, bei jedem anderen als ebenso vertraut voraussetzt. Man mache den Versuch und werfe einmal die Frage auf nach dem großen Vorkämpfer und Märtyrer der deutschen Einheit auf volkswirtschaftlichem Gebiet, nach FRIEDRICH LIST. Man kann es erleben, daß von zehn ernsten Männern kaum drei etwas Bestimmtes und Genaues wissen.

Wichtiger erscheint der Vorwurf, der von einem bekannten Geistlichen erhoben wurde: einige Bewegungen, wie die des Kommunismus und Anarchismus seien zu freundlich dargestellt. Aber auch diese Bedenken kann ich nicht teilen.

Meine eigene Stellung im öffentlichen Leben ist scharf bestimmt. In meiner "Bodenreform - Grundsätzliches und Geschichtliches zur Erkenntnis und Überwindung der sozialen Not" (Jena 1918), habe ich Wahrheit und Irrtum zu scheiden versucht, und ich erachte es als keinen Nachteil für diese Geschichte, wenn sie hie und da durchblicken läßt, daß sein Verfasser selbst mitten in den sozialpolitischen Kämpfen seiner Zeit steht. In diesen habe ich aber gelernt, wie verbitternd es wirkt, wenn man die Meinung der Gegner verzerrt darstellt und ihnen falsche Beweggründe und Ziele unterschiebt. Zugleich ist ein solches Unrecht auch eine verderbliche Torheit. Gewiß kann man unschwer durch irgendein Zerrbild ein Gefühl des Abscheus gegen eine bestimmte Richtung erwecken. Wird diese Täuschung aber später im Leben bei selbständiger Prüfung als solche erkannt, so wird mit dieser Erkenntnis jede Autorität dessen, der an einer Stelle als unwahr befunden wurde, zerbrochen sein. Auch auf dem Gebiet historischer Darstellung gilt das alte Bibelwort: Gerechtigkeit ist Weisheit. Ich habe deshalb ehrlich versucht, aus den Schriften jeder Richtung solche Proben zu geben, die ein wirklich zutreffendes Bild von ihr gewinnen lassen.

Möge das Buch auch weiterhin die wichtigste Aufgabe einer  ersten Einführung  erfüllen: Freude erwecken an der Pflicht, über eine "Einführung" hinaus immer tiefer einzudringen in das Verständnis der Gesetze des sozialen Lebens, und sich dadurch stark zu machen, in unserer schwankenden Zeit erfolgreich unserem Volke zu dienen.


I. Von den Aufgaben der Nationalökonomie

1. Volkswirtschaftslehre
und Volkswirtschaftspolitik

Wie jede Wissenschaft, so hat auch die Nationalökonomie oder Volkswirtschaftslehre im wesentlichen zwei Aufgaben zu lösen. Zunächst muß sie die volkswirtschaftlichen Vorgänge beschreiben, ordnen, gruppieren, den Zusammenhang von Ursachen und Wirkungenn aufdecken und Wesentliches von Zufälligem scheiden. Dieser Teil der Nationalökonomie entspricht etwa der Anatomie und der Physiologie in den medizinischen Wissenschaften.

Wie aber die Lehre vom Aufbau des Körpers und von den Verrichtungen der Organe in der Pathologie, der Lehre von den Krankheitserscheinungen und den Heilungsprozessen, ihre notwendige Ergänzung findet, so muß auch zu jenem ersten Teil der Nationalökonomie ein zweiter treten, der aus der Erkenntnis des Wesens der wirtschaftlichen Vorgänge Richtung und Ziel für eine geeignete Beeinflussung des wirtschaftlichen Lebens gewinnt.

Man unterscheidet die beiden Teile der Nationalökonomie wohl als theoretische und praktische Volkswirtschaftslehre oder als Volkswirtschafts lehre  im engeren Sinn und als Volkswirtschafts politik. 

Beide Teile sind gleich notwendig, um der Nationalökonomie das Wesen der Wissenschaft zu wahren. So wie wir die Philosophie als ein unfruchtbares Spielen menschlichen Scharfsinns ansehen, wenn sie nicht für das ethische Handeln einen bestimmten Maßstab ergibt; wie in der Pädagogik alle psychologischen Forschungen erst Wert und Bedeutung erhalten, wenn sie der praktischen Erziehungsarbeit dienen: so müssen auch in der Volkswirtschaftslehre aus allem Erforschen der Vergangenheit und aus allem Erkennen der Gegenwart sich klare Aufgaben für die Zukunft ergeben.

Die beiden Aufgaben der Nationalökonomie feststellen, heißt zugleich, ihre außerordentliche Bedeutung für unsere Zeit dartun.

Das Verhalten der Staaten untereinander wird wesentlich durch wirtschaftliche Rücksichten bestimmt.

Offen und geheim ringen die Völker in hundert Formen um die Sicherung einer möglichst reichen Rohstoffgewinnung, um die Erschließung neuer Absatzgebiete, um die Behauptung und Herrschaft auf dem Weltmarkt.

Und innerhalb jeder einzelnen Volkswirtschaft kämpfen die einzelnen Klassen miteinander, weil jede einen möglichst großen Anteil vom Volkseinkommen für sich erstrebt.

Wirtschaftliche Erfolge sind ebenso für die Völker wie für ihre einzelnen Schichten bestimmend wie auch über politische Machtstellung und staatlichen Einfluß.

Eine Wissenschaft, die es sich zur Aufgabe macht, diese wirtschaftlichen Verhältnisse zu untersuchen und dadurch die Grundlage zu ihrer erfolgreichen Beeinflussung zu schaffen, muß in schnell wachsendem Maß das Interesse all derer auf sich ziehen, die bewußt am Leben ihres Volkes und ihrer Klasse teilnehmen wollen.

Die als besonderes wissenschaftliches Fach verhältnismäßig junge Nationalökonomie ist deshalb schnell ein Machtfaktor ersten Ranges geworden.

Diese Bedeutung weckt aber eine ernste Gefahr. "Die Wissenschaft", sagt ein altes Wort, "soll die Magd sein, die mit der Fackel der Erkenntnis der Praxis voranleuchtet." Liegt es da nicht nahe, daß jede Interessenschicht, bewußt oder unbewußt, diese Magd zu bestimmen sucht, die Fackel so zu halten, daß der von ihr gewünschte Weg besonders vorteilhaft erleuchtet wird?

Wo es sich um wirtschaftliche Vorteile handelt, wecken auch unbewußt Hoffnung und Furcht, Liebe und Haß die Leidenschaften stärker als auf jedem anderen Gebiet. Selbst für den ehrlich Forschenden wird es deshalb schwer, Echtes und Falsches, Wesentliches und Zufälliges richtig zu werten.


2. Das Urteil der Geschichte

Mehr noch als im Bereich anderer Wissenschaften erscheint es deshalb hier als Pflicht, einmal zurückzutreten vom Lärm des Tages und, unbeeinflußt von ihm, volkswirtschaftliche Grundgedanken in der Stille zu prüfen. Still aber sind nur die Toten. Die Vergangenheit allein ist abgeschlossen. Das Urteil der Geschichte ist gesprochen. Nicht Liebe noch Haß, nicht Not noch Macht, auch nicht ein Augenblickssieg vermag jetzt noch zu täuschen. Der letzte Erfolg hat mit der Unerbittlichkeit eines Naturgesetzes das Rechte gekrönt und das Falsche verurteilt.

Eine Betrachtung der Vergangenheit wird allein das rechte Augenmaß geben für Gegenwart und Zukunft, und nur der wir in der Arbeit für unsere volkswirtschaftliche Entwicklung bewußt seine Stellung wählen können, der wenigstens das Wesentliche aus der Geschichte der Nationalökonomie kennt.

"Kluge Männer", mahnte bereits vor etwa 400 Jahren der vielerfahrene Florentinische Staatsmann NICCOLO MACCHIAVELLI in seinen "Diskursen", "pflegen, und zwar nicht von ungefähr noch ohne Grund, zu sagen: wer sehen will, was sein wird, muß betrachten, was gewesen ist, weil alle Dinge in der Welt jederzeit eine eigentümliche Ähnlichkeit mit den vergangenen haben. Es kommt dies daher, daß sie von Menschen betrieben werden, welche immer dieselben Leidenschaften besitzen und besaßen und daher auch notwendig immer denselben Erfolg haben müssen."

Die Geschichte der Volkswirtschaftslehre steht natürlich in engstem Zusammenhang mit der Geschichte der Volkswirtschaft. Eine Volkswirtschaft im neuzeitlichen Sinne aber wurde erst möglich mit der Entstehung der zentralisierten Staats- und Wirtschaftsgebiete um die Wende des 16. Jahrhunderts.

Die Entwicklung des Wirtschaftslebens und der aus ihr geborenen Theorien und Bewegungen seit dieser Zeit ist deshalb von besonderer Wichtigkeit für die Wertung der Gegenwartsströmungen. Ihnen ist deshalb auch der Hauptteil dieses Buches gewidmet.


II. Das Altertum

1. Aus der Urzeit Babylons

Die älteste Gesetzessammlung, die wir kennen, stammt von HAMMURABI, dem ersten König, der - um 2200 v. Chr. - die babylonischen Landesteile zu einem Reich vereinte und diesem auch ein einheitliches "Bürgerliches Gesetzbuch" verlieh. Von den 282 Paragraphen seines Gesetzes sind uns 247 auf einem Steinblock erhalten, der im Jahre 1901 in den Trümmern von Susa gefunden wurde. Dieses Gesetz läßt deutlich erkennen, wie vielgestaltig die volkswirtschaftlichen Verhältnisse, wie ausgebildet auch die Volkswirtschaftslehren bereits zu Beginn unserer geschichtlichen Zeit gewesen sind. So bestimmt der König von Babylon:
    § 37. Wenn jemand Feld, Garten und Haus eines Hauptmanns, Soldaten oder Zinspflichtigen kauft, so wird seine Kaufvertragstafel als ungültig zerbrochen, un er verliert sein Geld. Feld, Garten und Haus kommen an seinen Herrn zurück.

    §48. Wenn jeman eine Darlehensschuld hat und ein Unwetter sein Feld verwüstet oder die Ernte vernichtet, oder wenn wegen Wassermangels Getreide auf dem Feld nicht wächst, so soll er in diesem Jahr dem Gläubiger kein Getreide geben, seine Schuldtafel (in Wasser) aufweichen und keine Zinsen für dieses Jahr zahlen.

    § 60. Wenn jemand ein Feld, um es als Garten anzupflanzen, einem Gärtner übergibt, dieser den Garten anlegt und ihn vier Jahre pflegt, so sollen im 5. Jahr Eigentümer und Gärtner miteinander teilen; der Eigentümer des Gartens soll seinen Anteil in eigene Bewirtschaftung nehmen.
Auf leichtferitgen, gewissenlosen Hausbau stand (§ 229) schwerste Strafe. Stürzte das Haus ein wegen nachlässigen Bauens und verursachte den Tod des Hausherrn, so sollte der Baumeister ebenfalls getötet werden; verursachte der Sturz den Tod eines Kindes des Hausherrn, so sollte auch ein Kind des Baumeisters sterben.

Wie überall, wo man Heimstättenrecht achtete, waren auch hier die Rechte der Frauen und Kinder besonders geschützt. Wurden sie wegen einer Schuldverpflichtung in die Sklaverei verkauft, so mußten sie (§ 117) in spätestens drei Jahren ihre Freiheit wieder erlangen. Feld und Garten, die zur Mitgift der Frau gehörten, sollten ihr und, nach ihrem Tod, ihren Kindern unter allen Umständen erhalten bleiben. -

Wieviele Klagen müssen laut geworden sein, wieviele Mißstände müssen festgestellt, wieviele Gedanken in den Priesterschulen und am Königshof erwogen worden sein, ehe eine Gesetzgebung entstand mit dem klaren Ziel, die Vertreter der schaffenden Arbeit, das heißt zugleich die Krieger des Königs, gegen die Übermacht großer Bodenherren zu schützen!


2. Israels Gesetze und Propheten

Näher betrachten wir von den Völkern des Altertums jene drei, die wegweisend geworden sind auf den Gebieten der Gottesverehrung, der Schönheit und Weltweisheit und des Rechts: das  israelitische,  das  hellenische  und das  römische  Volk.

Bis auf den heutigen Tag in ihrer Bedeutung nicht erschöpfte volkswirtschaftliche Lehren bieten die Gesetzbücher  Israels.  Wieviel oder wie wenig von ihnen auf MOSES selbst, den großen Führer des Volkes, zurückzuführen ist, muß hier füglich ununtersucht bleiben. Es genügt hervorzuheben, daß auch die ältesten Teile dieses Gesetzes nicht aus bloßen naturrechtlichen Anschauungen erklärt werden können. Denn MOSES, der nach dem Zeugnis der Bibel gelehrt war "in aller Weisheit der Ägypter", wuchs in einer Kultur auf, die mindestens so alt war, wie heute etwa die Kultur des deutschen Volkes, d. h., die über 1000 Jahre bestand. Die Weisen der Priesterschule zu Theben konnten aus Aufschwung und Niedergang und Wiedergeburt ihres Volkes reiche volkswirtschaftliche Erfahrungen schöpfen.

Das Ziel der israelitischen Gesetzgebungen war, daß "das Volk im Land sicher wohne", und daß "unter den Volksgenossen kein Armer sei."

Dieses Ziel jeder gesunden Volkswirtschaft sucht das mosaische Gesetz in erster Reihe durch die Regelung der Bodenfrage zu erreichen.

Gott allein, der Herr des Volkes, ist auch der Herr des Landes: "Mein ist das Land", spricht der Herr, "darum sollt ihr die Erde nicht verkaufen ewiglich, seid ihr doch Fremdlinge und Lehnsträger vor mir" (3. Mos. 25, 23). Als Gottes Lehnsträger erhielt jeder Stamm, und zwar nach der Anzahl seiner Familien, einen Anteil am verheißenen Land.

Nur der Priesterstamm  Levi  blieb ohne Grundbesitz. Der Boden sollte allein denen gehören, die ihn wirklich bebauten. Pächter - selbst Priester - blieben ausgeschlossen. Der Bodenanteil der einzelnen Familie aber sollte ihr eine dauernde Heimstätte sein. Kein einzelnes krankhaftes oder unzüchtiges Familienoberhaupt sollte die Möglichkeit haben, seine Kinder und Kindeskinder für immer den Anteil am Vaterland verlieren zu lassen. In jedem fünfzigsten Jahr, dem "Hall- oder Jubeljahr", soll "Freiheit ausgerufen werden im Land allen seinen Bewohnern, und zurück soll jeder kehren zu seinem Besitz und zu seinem Geschlecht" (3. Mos. 25, 10).

Das Land selbst also durfte nie verkauft werden, sondern nur sein Ertrag bis zum nächsten Halljahr. Es war gleichsam eine Verpachtung des Bodens für diese Zeit, bei der die Pacht auf einmal entrichtet wurde. Nur innerhalb der ummauerten Städte, wo das Land nicht in erster Reihe Arbeitsquelle, sondern nur Wohngelegenheit bot, galt ein anderes Recht. Hier hatte der Verkäufer zwar auch das Rückkaufsrecht zu gleichem Preis, aber nur für die Dauer eines Jahres. Nach dieser Frist galt der Kauf auch über das Halljahr hinaus.

Der große Grundgedanke dieser Volkswirtschaft wollte jedem Glied des Volkes unverlierbar freien Zugang zur natürlichen Quelle aller Produktion, dem Boden, sichern, ohne doch dabei den Einzelnen zu einem abhängigen Pächter der jeweiligen Staatsgewalt hinabzudrücken oder ihm die Freiheit in seiner Bewirtschaftung und Nutznießung zu nehmen.

Erst die Tatsache, daß jeder Familie ein gesichertes Heim gewährleistet war, bildete die sittliche Voraussetzung für das Gebot: "Du sollst nicht begehren Deines Nächsten Haus!"

Kam trotz dieser Wirtschaftsordnung durch Krieg, Mißwuchs, Seuchen usw. Not und Armut über Einzelne, so wollten  Israels  Armengesetze in feiner Erkenntnis der Menschennatur sie auch dann vor lähmendem Knechtssinn bewahren und sie fähig erhalten, einst nach dem rettenden Jubeljahr wieder als Freie auf freiem Boden zu arbeiten. Deshalb durften die Armen auf Feldern und Weinbergen stets so viel nehmen, wie sie auf der Stelle verzehren konnten; ihnen gehörte die sogenannte "Ecke", nach der Tradition etwa der 60. Teil, jedes Ackers, ebenso die Nachlese in den Weingärten, in den Olivenhainen und auf den Kornfeldern. Wer dem Armen Nahrungsmittel lieh, der sollte kein Mehr bei der Rückgabe fordern dürfen.

Ackerbau und Viehzucht sind die Hauptzweige der Volkswirtschaft. So gingen auch die ersten Könige daraus hervor. SAUL kam vom Pflug und DAVID von der Viehherde. Unter dem Königtum vollzog sich rasch der Übergang von der Naturalwirtschaft zum Handelsstaat mit der Geldwirtschaft. Bahnbrechend war die Gründung der Haupt- und Residenzstadt:  Jerusalem.  Der Aufbau der Stadt, zumal die Errichtung des Tempels, regte den Handel mächtig an. Für aus Phönizien bezogene Stoffe und Bauleute mußten natürlich Gegenwerte geleistet werden, ebenso für die ägyptischen Rosse und Prachtwagen, für die sich König SALOMO ausdrücklich das Handelsmonopol vorbehielt, ebenso für die Fahrten in das sagenhafte Goldland  Ophir.  Israel besaß nur ein Erzeugnis, welches Gold aufwog: den Balsam von Gilead, welcher als Heilmittel hochgeschätzt war. In der Hauptsache mußte Israel die Einfuhr mit Getreide bezahlen. In dem Augenblick aber, in dem das Getreide zum Handelsobjekt, zum Gegenstand kaufmännischer Spekulation wurde, stiegen natürlich seine Preise und damit die des Bodens, und es kamen die Wirkungen, die aus den gleichen Ursachen noch stets entsprungen sind: Verschuldung, Entwurzelung, Latifundien[Bauernhof- / wp]bildung. In dem Volk, das bisher keine Standesunterschiede, keinen Adel gekannt hatte, kam eine Plutokratie auf, die nun, auch unter Bruch von Sitte und Gerechtigkeit, selbst mit Anwendung von Gewalt, danach trachtete, vom hochrentierenden Getreideboden möglichst viel in ihre Hand zu bekommen.

Ob in dieser Entwicklung die alten Gesetze zerbrochen wurden, oder ob diese, wie einzelne Richtungen der Bibelforschung behaupten, in Gesetzesform noch gar nicht bestanden haben, sondern erst später als Zusammenfassung der volkswirtschaftlichen Anschauungen der  Propheten  entstanden und im Tempel verborgen wurden, wo sie von dem gutgesinnten König JOSIA gefunden und dem Volk als Gesetz MOSES' verkündet wurden, oder ob diese sozialen Vorschriften erst die letzte Form gewonnen haben, als kluge Priester dem Volk an den Wassern Babylons ein Idealbild des israelitischen Vaterlandes schufen: das bedeutet zuletzt wenig gegenüber der Tatsache, daß diese Lehren als ein Stück Gottesoffenbarung durch die Jahrhunderte hindurch getragen worden sind. Auch die praktische Durchführung in einem verhältnismäßig kleinen Land (Palästinas Umfang beträgt nicht viel mehr als die Hälfte der Provinz Brandenburg) hätte nie für die soziale Entwicklung die Bedeutung gewinnen können, wie diese Tatsache.

Es gibt keine sozialen Lehren in der Weltliteratur, auf denen im Laufe der Jahrtausende so viele Aufgen suchend ruhten, aus denen so viele zweifelnde Herzen Freudigkeit und Opferbereitschaft im Kampf gegen Unrecht geschöpft haben, wie das Gesetz und die Propheten. Diese sind wahrlich keine "korrekten" Diener herrschender Gewalten, die sich "klug" an allem Unbequemen vorbeidrücken. Sie sind durchdrungen von dem Bewußtsein, daß der ewige Gott für die Menschen dieser Erde nur Wahrheit werden und bleiben kann als Quelle und Hort auch aller sozialen Gerechtigkeit. Und inmitten einer Welt, die nur Volksgötter kennt, deren Dasein nur im Dienst ihres Volkes gedacht werden kann, wird von ihnen zum ersten Mal in der Geschichte ein Gott verkündet, der eher "sein" Volk verstoßen, als den Bruch der Gerechtigkeit dulden will. Formen äußerer Frömmigkeit, in denen ausbeutende Klassen und satte Gewohnheit nur zu gern ihre gute Gesinnung darzutun pflegten, sind ihnen ohne jeden Wert, ja verächtlich.

AMOS sagt im Namen des Herrn, (5, 21-24):
    Ich bin euren Feiertagen gram; ich verabscheue eure Feste! Ich mag eure Gottesdienste nicht riechen! Wenn ihr mir Opfer und Gaben darbringt, nehme ich sie nicht wohlgefällig an und auf eure Mastkälber sehe ich nicht. Tut weg von mir das Geplärre deiner Lieder! Ich mag dein Harfenspiel nicht hören - sondern  Recht  quelle hervor wie Wasser und  Gerechtigkeit  wie ein nie versiegender Strom!
Und ebenso zeugt JESAJA (58, 3f):
    Siehe selbst am Tag des Fastens treibt ihr alle eure Schuldner . . . Ist nicht vielmehr das Fasten, wie ich es wünsche: losmachen die Bande der Bosheit, losmachen die Fesseln der Bedrückung, freigeben die Bedrückten, zerreißen jegliche Last!
Und ebenso JEREMIAS (22,16):
    Er half den Elenden und Armen zu ihrem Recht - ist es nicht also, daß  solches  heißt, mich recht erkennen?
Wie bitter ist der Spott, den AMOS (8,4) über die reichen Getreidehändler ausgießt, die vor brennender Gier den Verlauf der Neumonde und Sabbate, an denen Handelsgeschäfte verboten waren, nicht abwarten können und bei falschem Maß minderwertige Waren verkaufen. Doch die Plutokratie hat sich noch zu allen Zeiten gefällige Diener erkauft, die ihre Taten rechtfertigen und ihre Gewissen beruhigen, seien es Vertreter, die im Kleid der Wissenschaft auftreten oder im Kleid der Richter, der Priester und Propheten. Und MICHA (3, 11) schildert sie so:
    Ihre Häupter richten um Geschenke, ihre Priester lehren um Lohn, und ihre Propheten wahrsagen um Geld. Da verlassen sie sich auf den Herrn und sprechen: Ist nicht der Herr unter uns? Es kann kein Unglück über uns kommen.
Ihnen gegenber steht das Wehklagen der Propheten. So JESAJA (56,10)
    Alle ihre Wächter sind blind. Alle wissen nichts. Stumme Hunde sind sie, die nicht bellen können, die Eitles schauen, schlafen und an Träumen Gefallen finden. Unverschämte Hunde sind sie, die nicht satt werden können. Die Hirten zeigen keinen Verstand. Jeder sieht nur auf seinen Weg. Jeder geizt in seinem Stand.
Oder MICHA (2,1):
    Wehe euch, die ihr auf Unheil sinnt, und Böses bereitet auf euren Lagern; beim Licht des Morgens vollführen sie es, und wider Gott ist ihr Tun. Sie gelüsten nach Feldern und rauben sie, nach Häusern und reißen sie an sich: sie unterdrücken den Mann und sein Haus, den Mann und sein Erbe.
Und abermals JESAJA (5,8):
    Wehe denen, die ein Haus an das andere ziehen und ein Feld zum andern schlagen, bis keim Raum mehr da ist, daß sie allein das Land besitzen!
Und wenn die Propheten Zukunftsbilder entwerfen vom kommenden Reich der Gerechtigkeit und deshalb auch des Glücks, dann sehen sie vor sich ein fruchtbares Land voll glücklicher Heimstätten, dann sehen sie gesichert "einen jeden sitzen unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum von Berseba bis Dan".

Eine soziale Utopie, wenn man das Wort gebrauchen darf, entwirft der Prophet HESEKIEL nach der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft. Er will eine neue Verteilung des Landes, an der auch der Fremdling, der in Israel wohnt, Anteil gewinnen kann, und zwar soll das Los über die Anteile entscheiden. Damit die Vornehmen das Volk nicht mehr ausbeuten können, sollen die Leistungen genau abgegrenzt werden (45, 8 und 9):
    Daß die Fürsten fürderin nicht mehr mein Volk berauben, sondern das Land dem Hause Israel nach seinen Stämmen einräumen! So spricht Gott der Herr: lasset es euch genügen, ihr Fürsten Israels, laßt ab vom Unrecht und Raub, übt Recht und Gerechtigkeit und sondert eure Grenzen von meinem Volk.
Als Steuer darf genommen werden, was zum Gottesdienst unmittelbar gebraucht wird: Opfertiere, Korn, Öl. Die Bedürfnisse des Königs sollen vom Krongut, alle Staatsbedürfnisse aus dem Domänenbesitz gedeckt werden.

Die soziale Gerechtigkeit entscheidet über Leben und Sterben, das ist auch der Sprüche SALOMOs höchster Schluß: "Gerechtigkeit erhöht ein Volk; aber das Unrecht ist der Völker Verderben!" (14, 34)

Um das Jahr 620 v. Chr. schien es, als sollte die  göttlich-soziale  Partei siegen. Der junge König JOSIA bekannte sich begeistert zu ihr. Unter ihm wurde bei der Reinigung des Tempels ein Gesetzbuch gefunden, das all das, wofür die Propheten eiferten, als Gesetz MOSES' enthielt. Feierlich wurden die Gebote vorgelesen, und feierlich beschworen König und Volk das Bündnis mit Gott.

Aber diese Zeit des Neuaufblühens dauerte nur wenige Jahre. Im Tal von Megiddo erlag die Blüte Israels ägyptischer Übermacht, und der König selbst wurde tödlich verwundet - (609 v. Chr.), und es kam schnell der Tag, an dem babylonische Krieger die Brandfackel warfen in den Tempel SALOMOs (586 v. Chr.)

Als die Trümmer des Volkes aus der babylonischen Gefangenschaft zurückkehrten (538 v. Chr.), da war es NEHEMIA, der von den Reichen forderte (5,11):
    So gebet ihnen nun heutigen Tages wieder ihre Äcker, Weinberge, Ölgärten und Häuser und erlaßt ihnen die Schuld an Geld und Getreide, an Most und Öl, das ihr an ihnen gewuchert habt.
Dieser Neuaufbau der Gesellschaftsordnung schuf wieder einen lebenskräftigen jüdischen Bauernstand, der die Siege der Makkabäer ermöglichte, der nocht einmal ein jüdisches Reich aufrichtete, bis der "mammonistische" Geist eines entarteten Hellenismus die Wurzel der Volkskraft wieder verderben ließ, und der eiserne Schritt der römischen Legionen den Staatsorganismus zertrat.


3. Athen und Sparta

Von wirtschaftlicher Ungleichheit, von Kampf und Not zeugen die ersten Überlieferungen des  hellenischen  Geisteslebens. Die älteste europäische Fabel, die wir HESIOD, einem Bauernsohn, verdanken, schildert die Nachtigall, die in den Krallen des Habichts ihre Unschuld beteuert. Aber dieser antwortet: "Schuldig oder unschuldig - ich bin der Stärkere: ich tue nach meinem Belieben." Und ergreifend schildert er die Not der Armen: "Nimmer am Tag ruhen sie von Arbeitslast und Leid, ja selbst die Nacht nie."

Zuerst fand das dorische Herrenvolk im Eurotastal nach schweren inneren Kämpfen den Weg zu einem sozialen Ausgleich. Die Gesetzgebung, die sich an den Namen LYKURG knüpft, soll im Ganzen 9000 gleiche Landlose für die Spartiaten und 30 000 kleinere für die friedlichen Ureinwohner, die Periöken, geschaffen haben. Und die Sage weiß als Erfolg dieser Sozialreform zu erzählen, daß LYKURG, indem er auf die gleichen Erntemengen hinwies, zufrieden ausgerufen hat: "Sieht es nicht aus, als ob ganz Sparta Brüdern gehört?"

Was auf der Grundlage dieser gesunden Bodenverteilung das Volk der Spartiaten auf den Schlachtfeldern leisten konnte, das weckt die Bewunderung aller Zeiten.

Auch in einem anderen Hauptgebiet des alten Hellas, in  Attika,  ist es eine Neuregelung der Bodenfrage, die das Volk aus höchster Not befreit. Hier hatte der Übergang von der Naturalwirtschaft zur Geldwirtschaft die Masse des Volkes in tiefes Elend gebracht. Überall erhoben sich auf den Äckern der kleinen Bauern die Hypothekensteine, die den Namen des Gläubigers und die Höhe der Schuld angaben. 18 % galt als gewöhnlicher Zinsfuß. Und nicht nur das Land, sondern auch die Person haftete für die Schuld. Wer nicht zahlen konnte, verlor Eigentum und Freiheit. Dagegen gab es weder göttliche noch staatliche Hilfe; denn die Leihkapitalisten waren Glieder des Adels, deren Standesgenossen zugleich als Priester den Willen der Götter und als Richter das Gesetz des Staates verkündeten. -

SOLON klagt in einem seiner Gesänge:
    Die Pfandsteine fesselten zahllos der Mutter Erde dunkelfarbig Land. So manchen hat Willkür und hartes Recht in ein schmählich Sklavenjoch gebeugt. So mancher entfloh unmutvoll dem Schuldzwang, irrt fremd von Land zu land, der eigenen Sprache Laut vergessend - heimatlos.
Die sozialen Mißstände brechen Athens Kraft. Es ist nicht mehr imstande,  Salamis  vom kleinen Megara zurückzugewinnen. Schon können auswärtige Tyrannen daran denken, ihre Zwingherrschaft in Athen aufzurichten. Der Bürgerkrieg steht vor der Tür. Da endlich einigen sich Adel und Volk. SOLON, ein vornehmer Mann, der sich vom Unrecht der Standesgenossen freigehalten hat, erhält Vollmacht, zwischen Adel und Volk Frieden zu stiften und die dazu erforderlichen Gesetze zu geben (594 v. Chr.).

Leider fließen die Quellen über das Hauptstück der solonischen Reform, über die  Seisachtheia  [Schuldenerlaß - wp], nur spärlich.

Zunächst mußten aus öffentlichen Mitteln alle Bürger freigekauft werden, die schuldenhalber in die Sklaverei gegeben waren. Ob alle Hypothekenschulden aufgehoben wurden, oder ob nur durch eine Art Währungsreform die Rückzahlung der Schuldsummen um etwa 30% erleichtert wurde, ist umstritten. Aus SOLONs eigenem Zeugnis scheint die volle Entschuldung hervorzugehen. In einem seiner Gesänge ruft er die Mutter Erde als Zeugin an, daß sie durch ihn von der verhaßten Last der Pfandsteine befreit worden sei. Er selbst hat durch die Hypothekar-Reform 5 Talente = 30 000 Mark verloren. Für künftige Hypothekenschulden durften die Person des Schuldners und seine Familie nicht mehr als Pfandobjekt behandelt, d. h. nicht mehr in die Sklaverei verkauft werden.

Ein Höchstmaß wurde gesetzt, über das hinaus niemand Privateigentum am Boden haben durfte. Steuern bedurfte der kleine Staat in Friedenszeiten nicht. Da alle Beamten ehrenamtlich tätig waren, so genügten die Einkünfte aus den Staatsgütern, Gerichtsbußen und Hafenzöllen. Die einzige wesentliche Leistung der Bürger war der Kriegsdienst. SOLON teilte nach dem Ertrag des schuldenfreien Bodeneigentums das Volk in vier Klassen. Die erste mußte die Kriegsschiffe ausrüsten, die zweite den Waffendienst zu Pferd leisten, die dritte die schwer bewaffneten Fußsoldaten stellen, die vierte als Matrosen oder Schleuderer dienen. Dem Maß der Verpflichtung zu den Staatsfestungenn entsprach dann auch das Maß des Anrechts auf Beteiligung an Regierungsämtern usw.

So segensreich SOLONs Gesetzgebung wirkte, so erfüllte sie doch nicht alle Hoffnungen. Ein junger Verwandter des Gesetzgebers, PEISISTRATOS, trat an die Spitze der Unzufriedenen. Er hatte bei der Reform geholfen und vergeblich weiter gedrängt. Mit Hilfe der armen Bergbauern gelang es ihm, die Alleinherrschaft zu gewinnen (560 v. Chr.). Er machte die  Laurischen  Silberbergwerke zum Eigentum des Staates, dem er dadurch eine neue, wachsende Einnahmequelle erschloß. Er setzte besondere Schiedsgerichte ein, um den Bauern schnelles Recht zu schaffen; er sorgte für billigen Kredit und gab die großen Güter der Verbannten als Bauernstellen aus. Um dauernd die Bildung eines neuen Großgrundbesitzes zu verhindern, legte er auf alles Land eine Steuer, die etwa dem 20. Teil des Ertrags entsprach. "Oftmals ist die Zeit des PEISISTRATOS als das goldene Zeitalter bezeichnet worden" (ARISTOTELES).

Nach seinem Tod (527 v. Chr. folgten seine Söhne.

Da sie die eroberte Macht mißbrauchten, wurde ihre Herrschaft gestürzt (510 v. Chr.).

KLEISTHENES, aus dem vornehmen Adelsgeschlecht der Alkmäoniden, gelang es, einen Ausbau der solonischen Verfassung in einem volkstümlichen Sinn fortzusetzen und den Einfluß der Großgrundbesitzer zurückzudrängen (508 v. Chr.). Diese griffen zu den Waffen, um mit Hilfe vornehmer Geschlechter von Euböa die Herrschaft an sich zu reißen. Nach ihrer Besiegung wurde die reiche Ebene von Euböa in 4000 Heimstätten aufgeteilt. Man gab den Ansiedlern Staatshilfe zur Einrichtung der Bauernwirtschaften, und es wurde ihnen ausdrücklich ihr Bürgerrecht gewahrt, trotzdem sie außerhalb des eigentlichen Attika saßen.

Da die Zahl der freien Familien in Athen auf etwa 20 000 geschätzt werden kann, so war die Ausgabe von Landbesitz an 4000 Familien eine volkswirtschaftliche Maßregel von außerordentlicher Tragweite.

Dasselbe Attika, das bei seinen ungesunden sozialen Zuständen den Feinden ein Spott war, konnte nach der Durchführung dieser Bodenreform aus seinen freien Bauern und Bürgern ein Hoplitenheer stellen, an dem bei  Marathon  Persiens Übermacht brach, und eine Flotte, die bei  Salamis  Europas Freiheit rettete.

Was auf dem Gebiet der Philosophie und Kunst dieselbe Stadt Athen allen Geschlechtern zu geben vermochte, das faßt das Wort "Perikleische Zeitalter" zusammen.

Aber die wirtschaftliche Reform in Attika war unvollständig geblieben. Keine Boden rechts reform schützte die Äcker davor, daß die durch SOLON umgestürzten Pfandsteine wieder aufgerichtet wurden. Die Sklavenwirtschaft der Großbetriebe erdrückte den kleinen Landmann. Die Bauernlose gingen verloren. Ihre ehemaligen Besitzer füllten die Straßen der Hauptstadt, wo sie von den Machthabern Unterhalt und Unterhaltung begehrten, ein Spielball ehrgeiziger und gewinnsüchtiger Politiker. Zur Zeit, in der die "geschlossene Hauswirtschaft" vorherrschte, d. h. jedes Haus durch seine eigenen Familienmitglieder, Knechte und Sklaven, in der Hauptsache selbst den Bedarf deckte, war ja für die Entfaltung großtstädtischer Hanwerker wenig Raum. Die Vorbedingung einer eigenen "Hauswirtschaft" war aber natürlich stets der eigene Boden. Wer ihn verlor, wurde in Athen, wie später in Rom, in ein hoffnungsloses Proletariat gedrängt.

PERIKLES selbst war es, der dann durch die Einführung von Tagegeldern an die "souveränen" Bürger einen  staatssozialistischen  Weg beschritt, auf dem man später bis zur Annahme eines Gesetzes gelangte, nach dem alle Überschüsse der staatlichen Verwaltung ausschließlich zur Gewährung öffentlicher Schaustellungen Verwendung finden sollten!

Wenn Athens Entwicklung trotzdem längere Zeit hindurch aufwärts ging, so liegt ein wesentlicher Grund dafür in seinen sieghaften Kriegen, die immer wieder für die tatkräftigsten seiner armen Bürger Neuland erschlossen. Die unterworfenen Gemeinwesen mußten oft einen großen Teil des Grundeigentums abtreten, der als Ansiedlungsgebiet für athenische Bürger verwandt wurde. So geschah es von 480 - 427 v. Chr. zum Beispiel auf Lemnos, Imbros, Skyros, Sinope, Naxos, Andros und Lesbos. Aber ein solches Vorgehen weckte einen Haß, der früher oder später zum Niedergang Athens führen mußte. Als Athen etwa 30 Jahre nach seinem Sturz im peloponnesischen Krieg einen zweiten Seebund aufrichtete, mußte es feierlich geloben, daß kein Athener in einer Bundesgenossenstadt Boden kauft oder auch nur mit Hypotheken beleiht!

Athens Geschichte wird stets bestimmt durch die Sorge für das tägliche Brot. Nach seinem Aufblühen war Attika sehr dicht bevölkert. Man kann wohl rund 100 Menschen au den qkm rechnen (im Deutschen Reich heute 125). Attikas Boden - rund 2500 qkm - konnte bei der einfachen Art der Feldbestellung, die noch in jedem zweiten Jahr die Brache kannte, die Ernährung nicht sicherstellen. 400 000 Hektoliter Getreide mußten zur Zeit des DEMOSTHENES jährlich eingeführt werden. Die Fahrt des PERIKLES zum Schwarzen Meer, die Unterstützung der Ägypter in ihren Aufständen gegen die Perser, die Unternehmung nach Sizilien inmitten des peloponnesischen Krieges, sie hatten alle den gleichen Zweck: die wichtigsten Kornkammern mit Athen zu verbinden. Bei gesicherter Seeherrschaft konnte ein solcher Zustand als erträglich, ja als wünschenswert erscheinen. Die älteste attische Prosaschrift, deren Verfasser nicht bekannt ist, etwa aus dem Jahre 426, rühmt:
    Wenn ZEUS Mißwuchs schickt, so werden die Landstaaten schwer betroffen; die Seemächte aber ertragen es leicht. Da Mißwuchs nie gleichzeitig auf der ganzen Welt eintritt, beziehen sie das nötige Brotgetreide aus den Gebieten der guten Ernte!
Und dieselbe Schrift stellt mit Stolz fest, daß Athen allen Ländern vorschreiben kann, wohin sie ihre Erzeugnisse absetzen dürfen:
    Wenn irgendein Staat reich ist an Schiffsbauholz, wohin soll er es absetzen ohne die Erlaubnis der Meeresbeherrscherin, oder seinen Überfluß an Eisen, an Kupfer oder Flachs? Aus diesen Erzeugnissen bauen wir unsere Schiffe. Zu unseren Nebenbuhlern lassen wir diese Dinge nicht ausführen. Versuchten ihre Besitzer es, so würden wir ihnen das Meer sperren!
Diese Seeherrschaft Athens mußte den andern, ebenfalls auf den Seeverkehr angewiesenen Staaten, je länger umso unerträglicher werden. Namentlich  Korinth  lehnte sich gegen diese Seebeherrschung auf; ihm gelang es,  Sparta  zum peloponnesischen Krieg zu bewegen, als dessen großes Ziel stets auch "die Freiheit der Meere" galt. Und dieser Kampf ist für Athen verloren, als sein Versuch, in Sizilien Brot zu gewinnen, gescheitert ist und nach der Niederlage bei den Dardanellen die Hoffnung auf Getreide aus den Schwarzmeerländern aufgegeben werden muß.

Die Getreideeinfuhr war so wichtig, daß in Athen besondere Beamte, die  Kornwächter  - anfangs 10, später 35 - eingesetzt wurden. Sie hatten Listen aüber das eingeführte Getreide und über die Kornhändler zu führen, und über den richtigen Preis des abgegebenen Mehls und Brotes zu wachen. Zu Zeiten der Teuerung, die bei der Unsicherheit des Seeverkehrs nicht selten waren, wurden "Sitonen" gewählt, die teils aus freiwilligen Sammlungen, teils auf Staatskosten Brotgetreide kauften, das zu besonders billigen Preisen an die Minderbemittelten abgegeben wurde. Alle diese Verordnungen konnten aber den Verfall nicht aufhalten in einem Staat, der sich nicht genügend Bodenfläche und eine ihr zweckentsprechende Verteilung und Bearbeitung zu sichern verstanden hatte.

Wie sehr der Niedergang der Freiheit bedingt war durch soziale Entartungserscheinungen führt DEMOSTHENES (388 -323 v. Chr.) in einer seiner Gerichtsreden dem Volk vor Augen. Noch jetzt kann sich jeder durch eigenen Anblick überzeugen, daß die Häuser der großen Männer der Vorzeit durchaus nicht ansehnlicher waren als die ihrer Mitbürger. Dagegen seien die zu ihrer Zeit errichteten öffentlichen Gebäude und Denkmäler so großartig, daß sie ewig unübertrefflich bleiben werden. Jetzt aber gibt es Staatsmänner, deren Privathäuser viele öffentliche Gebäude an Pracht überbieten, und welche so große  Landgüter  zusammengekauft haben, daß die  Felder  von euch allen, die ihr hier als Richter versammelt seid, ihnen an Größe nicht gleichkommen. Und dabei wurden die Gerichtshöfe in Athen von 5 - 600 Geschworenen gebildet!

Wohl gab es einzelne außerordentliche Reiche, wie  Diphilos,  einen Pächter der Laurischen Staatsbergwerke zur Zeit des DEMOSTHENES, dessen Vermögen auf 160 Talente geschätzt wurde. Um 390 wurde das Vermögen des Bankhausbesitzers PASION auf 30 Talente angegeben. Um sich eine Vorstellung von dieser Summe zu machen, sei daran erinnert, daß im Jahre 399 v. Chr. die Staatspacht für den gesamten Zoll auf Ein- und Ausfuhr in Piräus 36 Talente betrug (1 Talent = 6000 Mark) Dieses Vermögen brachte mindestens den dreifachen Ertrag wie heute, da der Zinsfuß, der zur Zeit SOLONs 18% betragen hatte, kaum je unter 12 stand, bei Seedarlehen 25 - 30 % betrug. Der Tempel von Delos, der zu den größten Geldmächten zählte - 377 v. Chr. hatte er 47 Talente ausgeliehen - nahm selbst bei größter Sicherheit nicht unter 10 %.

Diesem Reichtum Einzelner stand bittere Armut der Massen gegenüber. Als nach dem letzten Freiheitskrieg, dem Lamischen (322 v. Chr.), Athen das Bürgerrecht auf die Besitzer eines Steuerkapitals von 2000 Drachmen (1500 Mark) beschränken mußte, verloren von seinen 21 000 Bürgern über 12 000 ihre politischen Rechte! Diese wurden in einer Strafkolonie im fernen Thrakien angesiedelt, wenn sie es nicht vorzogen, in Attika als Lohnarbeiter oder Knechte zu bleiben oder als Bettler durch Griechenland zu ziehen: landlos - rechtlos - heimatlos!

Als LYSANDER unter Flötenspiel die Mauern Athens niederriß (404 v. Chr.), war  Sparta  die Vormacht des Hellenentums. Ihm hatte der delphische Gott bereits in alter Zeit geweissagt: "Die Liebe zum Geld wird Sparta verderben." In der Zeit seiner Vorherrschaft ging dieses Orakel in Erfüllung. Fremdes Metallgeld strömte ins Land. Es sammelte sich bei wenigen Familien, die sich mehr und mehr als die  "Homöen",  die einander Ebenbürtigen, zu einer geschlossenen Körperschaft zusammenfanden und die Herrschaft über die armen und mäßig begüterten Kleinbürger an sich rissen. Und wieder erweist sich, daß politische Macht sich umsetzt in den Erwerb umfangreichen Bodenbesitzes und darin ihre Befestigung findet.

Die Schlacht bei Leuktra allein, in welcher die Vorherrschaft über Griechenland an  Theben  verloren ging (371 v. Chr.), kostete Sparta 400 spartanische Vollbürger und 600 Periöken. Und in zielbewußter Erkenntnis von der Wichtigkeit der Bodenfrage fügte Thebens Feldherr EPAMINONDAS zu diesem Schlag auf dem Schlachtfeld einen zweiten mit der Waffe der Kolonisation. Im Jahre 369 wurde die fruchtbare Landschaft  Messenien,  die drei Jahrhunderte lang das Irland des alten Sparta und ein Hauptpfeiler seiner Macht gewesen war, vom spartanischen Joch befreit: die Entwurzelung einer großen Zahl spartanischer Hufenbesitzer. So zählte man um 300 v. Chr. nur noch 1500 Vollbürger und um 250 nur noch 700, von denen 600 fast völlig verarmt waren. Auf dem Weg zu dieser Entwicklung bedeutet das Gesetz des Ephoren EPITADEUS den verhängnisvollen Wendepunkt (zwischen 400 und 350 v. Chr.). Bis dahin galt das Anerbenrecht für den ältesten Sohn, und der Staat trat in das Erbrecht ein, wenn kein Sohn vorhanden war. EPITADEUS aber setzte aus Haß gegen den eigenen Sohn durch, daß jeder "frei" über sein Grundeigentum verfügen kann. Die Folgen waren hier, wie überall: Bildung von Großgrundbesitz auf der einen und von landlosem Proletariat auf der anderen Seite, und alle die vielen Gesetzesvorschriften gegen die Ehescheu der Männer, welche alte Hagestolze von den Ehren des Alters ausschlossen, konnten inmitten sozialer Not den immer schnelleren Rückgang der spartanischen Bevölkerung nicht verhindern.

In letzter Stunde versuchte König AGIS dem Staat wieder eine gesunde soziale Grundlage zu geben. Er beantragte im Jahre 242 v. Chr. das  Ephorat,  das vom großen Grundadel immer mehr zum Werkzeug seiner selbstsüchtigen Politik gemacht worden war, abzuschaffen, alle Hypothekenschulden aufzuheben, alles Grundeigentum zusammenzuwerfen, und aus der Gesamtheit der Untertanen und Fremden die Zahl der spartanischen Familien auf 4500 zu erhöhen und jeder ein gleiches unveräußerliches Landlos zu überweisen. Im Rat der Alten wurde nach langer Beratung der Antrag mit  einer  Stimme Mehrheit abgelehnt. Die Volksversammlung nahm ihn mit Jubel an. Bei der Wahl im Jahre 241 gelang es aber den Vornehmen, Ephoren [Aufseher - wp] wählen zu lassen, die Gegner der Bodenreform waren. Der König griff zu einem Staatsstreich und ließ sie absetzen. Bei der Durchführung seiner Pläne aber folgte er einem verhängnisvollen Rat seines Oheims AGESILAOS, der selbst ein hochverschuldeter Großgrundbesitzer war. Danach sollte er die Reform "schrittweise" durchführen: zuerst die Schuldentilgung und dann die Bodenverteilung. Alle Schuldscheine wurden auf dem Markt von Sparta verbrannt. Damit aber wurden die Grundeigentümer, die hochverschuldet für die Reform zu gewinnen waren, dem Plan des Königs, der ihnen nun nichts mehr bieten konnte, entfremdet. Durch einen unglücklichen Feldzug gegen die Ätolier wurde die innerpolitische Stellung des Königs vollends unterwühlt. Es gelang den Vornehmen, durch einen Gewaltstreich den König in ihre Macht zu bekommen. Sie ließen ihn, seine Mutter und seine Großmutter, die seine Ideale geteilt hatten, erwürgen. Seine junge, reiche Witwe aber wurde gezwungen, den Sohn des Führers der Vornehmen, KLEOMENES, zu heiraten, der 236 v. Chr. König wurde.

Die hochgesinnte Frau aber wußte in seinem Herzen das soziale Ideal ihres ersten Gemahls zu wecken. Das Schicksal des Königs AGIS hatte KLEOMENES gelehrt, daß zuletzt die Macht das entscheidende Wort auch in wirtschaftlichen Dingen spricht. Durch glückliche Kriege kettete er das Heer an sich. 226 v. Chr. besetzte er mit seinen treuesten Kriegern Sparta. Die Führer der Gegner wurden getötet oder verbannt und eine Bodenverteilung durchgeführt, die 4000 neue Heimstätten schuf. In ganz Hellas sah man mit höchster Spannung auf diese Umgestaltung. Das arme Volk jauchzte dem König aus dem Heraklidengeschlecht zu. Die Oligarchen aber wurden in allen hellenischen Gauen seine Feinde auf Tod und Leben. Sie hatten die Führung im achäischen Bund, der die meisten Staaten des Peloponnes vereinte. Als dieser mit Sparta in Krieg geriet, errang KLEOMENES 224 v. Chr. mit den begeistertsten Neubürgern einen glänzenden Sieg bei  Dyme.  Jetzt machte KLEOMENES dem achäischen Bund den Vorschlag, ihn selbst zum Bundesfeldherrn zu wählen. Damit wäre der ganze Peloponnes unter hellenischer Führung vereint worden. Doch die Oligarchen wollten lieber Freiheit und Vaterland verlieren, als einen Bodenreformer an der Spitze des Bundes sehen. Sie riefen deshalb die "Erbfeinde", die Makedonier, ins Land und spielten ihnen selbst den Schlüssel des Peloponnes, die Burg von Korinth, in die Hände.

Ein Schrei der Entrüstung ging durch Hellas. Doch die Entscheidung lag nun auf der Spitze des Schwertes. Da gelang es den Oligarchen, auch ARGOS zum Abfall von Sparta zu bewegen. Mit aller Anstrengung brachte KLEOMENES 6000 Krieger aus Sparta auf. 14 000 Söldner, die er geworben hatte, wurden ungeduldig, weil er den Sold nicht zahlen konnte. Um sie nicht zu verlieren, mußte er 221 v. Chr. bei  Sellasia  die Entscheidungsschlacht gegen das makedonische Heer, das über 40 000 Mann zählte, annehmen. Die Übermacht siegte. Die Hoffnung auf eine Wiedergeburt des hellenischen Volkes sank ins Grab.
LITERATUR Adolf Damaschke, Geschichte der Nationalökonomie, Jena1919