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WALTER ZSCHOKKE
Über Kants Lehre
vom Schematismus der reinen Vernunft

[aus dem Nachlaß von Walter Zschokke, hg. von Heinrich Rickert]
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"Das Schema sollte nach Kant ein Drittes sein, zwischen Anschauung und Verstandesbegriff; und worin besteht es tatsächlich? Es ist nichts mehr und nichts weniger als die Verbindung von Anschauung und Begriff selber, die doch eben das Problem war: die Zeit ist die Anschauungsform, die Kategorie ist der Verstandesbegriff, das Schema ist eine Vereinigung beider, sonst nichts; anstatt eines Dritten, welches wir suchten, legt Kant Eins und Zwei kurzerhand zusammen. Das Problem wird dadurch höchst einfach gelöst, daß es ignoriert wird. So heterogen Anschauung und Begriffe sein mögen, wie Kant zunächst behauptete, im Schema verbindet er sie durch den Machtspruch: fügt euch zusammen! Das Dritte zur Anwendung wird Kant unter den Händen die Anwendung selber."


Vorbemerkung des Herausgebers

WALTER ZSCHOKKE ist im Alter von 26 Jahren gestorben. Anfänglich für die kaufmännische Laufbahn bestimmt, denn zur Jurisprudenz übergegangen, hatte er sich während der letzten Jahre seines Lebens in Straßburg und hier in Freiburg ganz dem Studium der Philosophie gewidmet. Ihr galt schon früh, neben Neigungen für die bildende Kunst, vor Allem sein Interesse. Der Tod hat ihn verhindert, die nachfolgende Arbeit, mit der er hier sein Doktorexamen machen wollte, zu vollenden. Trotzdem schien mir und anderen Freunden sein hinterlassenes Manuskript der Veröffentlichung wert. Daß es druckfertig gemacht werden konnte, ist in erster Linie Dr. OTTO BAENSCH zu verdanken, mit dem der Verstorbene in den letzten Monaten seines Lebens hier in Freiburg täglich zusammen war, und der seine wissenschaftlichen Intentionen kannte. Soweit es irgend anging, ist der Wortlaut des Manuskripts beibehalten, inhaltlich ist fast nichts hinzugefügt, und nur einige Stellen, die unfertig waren und deshalb den Zusammenhang störten, sind fortgelassen. Gewiß hätte ZSCHOKKE selbst die Arbeit noch weiter ausgeführt, aber auch in ihrer jetzigen Gestalt ist sie gedanklich abgeschlossen und läßt über die Absichten des Autors keinen Zweifel. Im Übrigen muß die Schrift für sich selbst sprechen. Ein Urteil über das Einzige, was mir von einem meiner liebsten Schüler, einem Mann von ungewöhnlicher Reinheit der Gesinnung und des wissenschaftlichen Strebens, übrig geblieben ist, gehört nicht hierher. Wahrscheinlich wird Manches auf Widerspruch stoßen, und besonders kann man meinen, daß in KANTs Urteilslehre Einiges hineininterpretiert ist, was dem Autor der Vernunftkritik fern gelegen wäre. Mit Rücksicht darauf möchte ich nur das eine bemerken, daß ZSCHOKKE niemals beabsichtigt hat, eine rein historische Kant-Interpretation zu geben, sondern daß ihm vor Allem an der Klärung und Förderung der systematischen Probleme selbst gelegen war. Unter diesem Gesichtspunkt muß seine Arbeit gelesen und beurteilt werden.



Erklärung der Disposition

In der Kritik der reinen Vernunft ist das Kapitel über den Schematismus der reinen Verstandesbegriffe oft als eins der unverständlichsten bezeichnet worden, und das mit Recht; denn, wenn man es gelesen hat, so ist man zunächst völlig ratlos darüber, was wohl KANT unter dem Wort Schematismus versteht. Zur Komplikation der Schwierigkeit kommt noch dazu, daß diese Lehre im Zentrum der Vernunftkritik ihre Stelle gefunden hat, wo die vorher begonnenen Gedankenreihen miteinander in Verbindung treten.

Sie steht für sich zwischen der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe und den Grundsätzen der reinen Vernunft. Der äußeren Stelle entspricht die Funktion, welche sie zu erfüllen hat: sie soll zwischen den reinen Verstandesbegriffen und den Grundsätzen eine Lücke ausfüllen, die sich beim Aufbau der Vernunftkritik aus ihren zwei Hauptteilen, Ästhetik und Analytik, dort gezeigt hat, wo bei aufeinander treffen sollten. In den Grundsätzen nämlich macht KANT die Anwendung seiner Resultate der Analytik auf die Erscheinungswelt überhaupt, d. h. er bringt die apriorischen Verstandeselmente, welche er getrennt von den apriorischen Anschauungsformen aufgesucht und deduziert hatte, mit diesen wieder in eine lebendige Verbindung, um so in wenigen Sätzen diejenigen allgemeinsten Regeln aufzustellen, unter die sich jede allgemeingültige und notwendige naturwissenschaftliche Erfahrung ordnen muß. Nun hatte er aber Sinnlichkeit und Verstand in ihrer wesentlichen Charakteristik so streng voneinander geschieden (1), - an manchen Stellen sogar durch Disjunktion (2) - daß er ohne weiteres keinen Weg findet, sie wieder zusammen zu führen. Er muß also ein Drittes (3) aufsuchen, welches beide heterogenen Elemente umspannt, damit auf diesem neutralen Boden eine Verständigung für gemeinsame Weiterarbeit angebahnt wird, und dieses Dritte ist eben das Schema.

Dies möge ausreichen zur vorläufigen Charakteristik der Eingliederung des Schematismus in der Kr. d. r. V. Um sie im Einzelnen zu verstehen, wird es dann im ersten Teil dieser Arbeit nötig sein, daß wir uns etwas näher darüber orientieren, was KANT unter Anschauungs- und Verstandesformen versteht, und wie ihm aufgrund dieser seiner Voraussetzungen das Problem des Schematismus erwächst. Ich werden hierbei natürlich immer das Hauptinteresse auf die Stellung der beiden Fundamente unseres Erkennens zueinander legen, und das Fazit ziehen, sie seien unvereinbar, so wie es KANTs Meinung gewesen ist. Denn in der Tat halte ich unter den Voraussetzungen, welche die transzendentale Ästhetik und die transzendentale Analytik an die Hand geben, die kantische Forderung nach einem Schematismus für unerläßlich. Daß KANTs Schema dieser Forderung freilich nicht entspricht und nicht entsprechen kann, wird der Schluß des ersten Teils nachweisen.

Nach Erledigung dieser Vorarbeit werde ich in einem zweiten Teil zu zeigen versuchen, daß es dennoch möglich ist, inneralb dieses Ziels, welches sich KANT in der Kr. d. r. V. setzte, nämlich der Begründung einer mathematischen Naturwissenschaft, ohne seinen Schematismus auszukommen. Nun habe ich eben KANTs Konsequenz anerkannt, die zu seinem Schematismus geführt hat; wenn ich jetzt dem entgegen seinen Schematismus beseitigen will, so kann dies nur dadurch geschehen, daß ich die Prämisse angreife, welche ihn gefordert haben. Ich werde dementsprechend nachweisen müssen, daß
    1. die Anschauungsformen und
    2. die Kategorien
umgestaltet werden können, unbeschadet des Ziels, das zu erreichen sie dienen sollen. Dies ist der einzige Ausweg, der mir offen steht, um KANT zu widerlegen. Das Ziel, gilt es, immer genau im Auge zu behalten: die mathematische Naturwissenschaft; dann aber wird sich bei Betrachtung der Anschauungsformen und Kategorien ergeben, daß KANT mehr in sie hineingedacht hatte, als er berechtigt war und bedurfte; und dieses Zuviel ist es, welches ihn nachher in die Schwierigkeiten und Unklarheiten des Schematismus verstrickt hat. Um ihnen zu entgehen, werde ich mich Schritt für Schritt fragen, was die einzelnen Erkenntniselemente an Distanz absorbieren, damit wir unseren Weg "reinlich beschreiten" können; und im Anschluß daran werde ich dann die Konsequenzen besprechen, welche sich aus der teleologischen "Reinigung" der Erkenntniselemente insbesondere für den Kategoriebegriff ergeben. Denn es ist einleuchtend, daß ein anders konstruierter Verstandesbegriff auch anders "entdeckt" und anders deduziert werden muß als der kantische. Es geht nicht an, die kantischen Grundbegriffe umzugestalten, ohne zugleich ihre Position im teleologischen Zusammenhang der Erfahrungsbegründung entsprechend zu modifizieren.

Hiermit wäre in Kürze der Inhalt der ersten beiden Kapitel des zweiten Teils angegeben. - Ein letztes drittes Kapitel hat endlich die Aufgabe, einen neuen Schematismus anstelle des alten zu setzen; denn es wird sich ergeben, daß wir ganz ohne einen solchen doch nicht zum Ziel gelangen. Wenngleich auch Sinnlichkeit und Verstand nicht so auseinanderklaffen, wie es bei KANT der Fall zu sein scheint, so sind doch ihre Tendenzen nicht ohne weiteres so völlig in einander zu lenken, daß wir ohne eine Vermittlung in einem "Schematismus" auskommen. Doch trägt dieser neue Schematismus eine erheblich andere Gestalt als der kantische.

Damit ist die kurze Übersicht gegeben, welche ich zur Erklärung der Disposition voranschicken wollte. Zu ihrem Beschluß nur noch eine Bemerkung: Wenn ich sage, ich gedenke, den kantischen Schematismus durch einen anderen zu ersetzen, so ist dies nur zum Teil richtig; denn das neue Schema findet sich wörtlich angeführt in der Tafel der Schemata, wie sie bei KANT steht. Und doch, daß KANT es nennt, ist diesmal ein Fehler und eine Inkonsequenz. Er durfte dieses Schema nicht haben, und nur die ungemessene philosophische Fähigkeit dieses "großen Kopfes" versichert uns überall, daß selbst seinen Irrtümern interessante und bedeutende Gedanken zugrunde liegen. Hieraus erklärt sich auch, daß fast all die Umformungen, welche ich an den kantischen Begriffen vorzunehmen gedenke, in ihnen selbst in irgendeiner Hinsicht schon angelegt sind, und daß sich für den Beleg der wichtigsten Punkte meiner anderen Auffassung deutliche Zitate aus KANTs eigenen Worten finden lassen. KANT sah so ziemlich alles, nur nicht alles klar.



I. Teil

Der erste Teil soll uns zwei Fragen beantworten:
    1. Wie kam Kant dazu, einen Schematismus aufzustellen?
    2. Was haben wir des Genaueren unter dem zu verstehen, was Kant ein Schema nennt?
Als Ergebnis dieser Untersuchung werden wir zu dem Schluß gelangen, daß KANTs Schema ein in jeder Beziehung unklarer Begriff ist, daß in ihm zwar ein richtiger Gedanke ausgedrückt ist, daß er aber gerade das nicht leistet noch leisten kann, was KANT von ihm fordert. Dazu kommt noch, daß der Wahrheitsgehalt, den der Begriff des Schemas birgt, nicht erst durch das Kapitel über den Schematismus entdeckt zu werden braucht, vielmehr schon längst in der Ästhetik und Analytik feststand (4). Somit wird dieser Teil zeigen: KANT braucht ein Schema, aber sein Schema ist kein Schema, und was es an Richtigem enthält, ist eine überflüssige Wiederholung.


1. Kapitel
Der Aufbau des kantischen Systems
der Erfahrung

Meine pars destruens [destruktiver Teil - wp] beginnt mit einer Rekonstruktion der Grundfaktoren und des Ziels der Erkenntnistheorie KANTs.

Das Material, an dem sich die Arbeit unseres Erkennens vollzieht, ist uns empirisch gegeben im Mannigfaltigen der subjektiven Empfindungsinhalte (5). Sie werden nach zwei verschiedenen Methoden geformt, bis sie befähigt sind, in der mathematischen Naturwissenschaft uns als sichere, d. h. als notwendige und allgemeingültige Erkenntnisse entgegenzutreten. Durch diesen Prozeß wird der Übergang vollzogen von der Subjektivität zur Objektivität; was zunächst rein subjektiv und zufällig sich als gegebene Empfindungen kennzeichnet, wird für das Erkennen zu einem der subjektiven Zufälligkeit Entrückten, ihr Entgegengestellten, ihr Objizierten, sobald es nach jenen zwei Methoden verarbeitet ist; aus dem gegebenen Material wird der Gegenstand der Erkenntnis, das Objekt gewonnen. Beide Methoden haben ein gemeinsames Ziel, bei ergänzen einander, und nur mit Hilfe der anderen ist es jeder einzelnen möglich, auf festen Füßen zu stehen: "Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind." (6)

Anschauungen und Begriffe, dies sind die beiden Methoden, nach denen die Umgestaltung des Materials vor sich geht.

Betrachten wir zunächst die Anschauungen. Ihrer Besprechung ist die transzendentale Ästhetik gewidmet; und für unsere Zwecke können wir uns mit der Erwägung ihrer Angaben begnügen. Allerdings will ich gleich bemerken, daß die Lehre von den Anschauungsformen innerhalb der transzendentalen Logik später erheblich umgestaltet wird, aber hiervon muß ich vorläufig absehen; denn hätte KANT die Umgestaltung immer scharf im Auge behalten und konsequent durchgeführt, so wäre er gar nicht zu seinem Schematismus gekommen. Dies gerade soll im zweiten Teil dieser Arbeit bewiesen werden, und infolge dessen dürfen wir uns jetzt nur an das halten, was unter den mannigfach variierenden Gedankenreihen gerade zum Schematismus führt, wobei natürlich diese einseitige Darstellung nicht als die definitive Meinung oder gar als das Wesentliche in KANTs Lehre aufgefaßt werden darf.

Raum und Zeit werden gekennzeichnet als perzeptive Formen der apriorischen Anschauung. Die Welt, welche wir begreifen wollen, ist Erscheinung, und sie erscheint uns. Aus diesen Bestimmungen ergibt sich zweierlei:

Einmal muß die Erscheinungswelt sich denjenigen Form anpassen, welche für uns die Bedingung allen Erscheinens sind: Raum und Zeit.

Dann aber können wir die Gegenstände nicht so erkennen, wie sie ansich sind, sondern allein, wie sie uns erscheinen.

Das Erscheinen ist sowohl etwas von uns unabhängiges, als auch durch uns bestimmbares, die Erscheinung ist also als ein Ding mit zwei Seiten anzusehen: wir können es nur rezipieren, nicht selber produzieren; nur insofern es in Raum und Zeit erscheinen muß, um unsere Erscheinung zu sein, ist es von unsern Formen abhängig.

Raum und Zeit sind demnach rezeptive Formen unserer Anschauung, und wir erkennen durch sie die Dinge, wie sie uns erscheinen.

Dies haben beide, der Raum wie auch die Zeit, miteinander gemein; doch unterscheiden sie sich im Übrigen sehr wesentlich voneinander:

Die Form des neben einander umspannt alles sogenannten äußeren Verhältnisse, alle Gegenstände des äußeren Sinns.

Die Form des nach einander ist nicht in diese Sphäre eingeschränkt; zeitlich sind ebensowohl alle äußeren wie alle inneren Erlebnisse.

KANT drückt dies dadurch aus, daß er die Zeit als die Form des inneren Sinns bezeichnet; und da der innere Sinn der Sammelname für alle Perzeptionen ist, sofern sie auf das Perzipiens [das Wahrgenommene - wp] bezogen werden, so schließt er auch diejenigen Perzeptionen mit ein, welche noch dazu die Beschaffenheit des neben einander an sich tragen. Innere und äußere Anschauung sind also ebensowenig Gegensätze, wie Raum und Zeit Gegensätze darstellen, sondern die Zeit ist lediglich eine umfassendere Form des Raums: alles Räumliche ist notwendig zeitlich; aber nicht alles Zeitliche ist räumlich. Ebenso ist es nur eine spezielle Provinz im sogenannten inneren Sinn, welche den Namen des äußeren Sinnes trägt; und so ist die Terminologie KANTs zu verstehen, daß die Zeit die Form des inneren, der Raum die Form des äußeren Sinnes ist.

Ich gehe jetzt zur Besprechung des zweiten Elementes für die Objektivität über, zur Besprechung der reinen Verstandesbegriffe. Raum und Zeit waren die beiden Komponenten in der Methode des Anschauens; dem Anschauen gegenübergestellt ist das Urteilen. Zum Urteilen brauche ich Begriffe. Es handelt sich also darum, die reinen Begriffe aufzusuchen, welche an ihrem Teil ein Stück der Arbeit vollbringen, die im Erkenntnisprozeß geleistet werden soll. KANT findet die Begriffe mit Hilfe der sowohl in den Urteilen als auch in den Begriffen auftretenden Funktion der Synthesis, indem er nachweist, daß transzendentale Erkenntnis nur in Synthesen stattfinden kann, gemäß seiner schon in der Einleitung als Grundproblem der Kritik aufgestellten Frage: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? Die objektive Synthesis hat ihrerseits wieder zur Voraussetzung die transzendentale Einheit der Apperzeption. Nun kennen wir die Synthesen, welche im Urteil stattfinden, oder KANT meint zumindest, ohne viele Schwierigkeiten eine genaue Tafel hiervor aufstellen zu können. Indem er dann von ihr ausgeht, ergibt sich ihm die genau entsprechende Tafel der Kategorien (7).

Doch mit ihrer Entdeckung ist es noch nicht genug, sie müssen auch noch deduziert werden. Hier ist es vor allem der Begriff der transzendentalen Einheit der Apperzeption, welche den Mittelpunkt der Untersuchung bildet. Ohne sie ist der Erfahrung gewissermaßen das Rückgrat genommen; sie "schafft" überhaupt erst die Synthesis in den Urteilen der objektiven Erfahrung. Wenn daher der innerliche Zusammenhang klargelegt wird, in dem die Kategorien mit der transzendentalen Einheit der Apperzeption stehen, so sind sie deduziert. KANT erweist die Kategorien als die Arten der transzendentalen Einheit der Apperzepton (8), daher kann er mit Recht von ihnen sagen:
    "so sind die Kategorien Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung und gelten also a priori auch von allen Gegenständen der Erfahrung." (9)
Das bisherige Ergebnis läßt sich folgendermaßen zusammenfassen. Einesteils steht die objektive Erfahrung unter den Bedingungen von Raum und Zeit, das ist der reinen Sinnlichkeit, andererseits unter den Bedingungen der Kategorien, das ist des reinen Verstandes.

Nun zeiht sich durch die ganze Kr. d. r. V. wie ein roter Faden die immer wiederkehrende Belehrung, daß die reinen Verstandesbegriffe nur auf das Material der Sinnesdata angewandt Wissenschaft ergeben, daß sie über das so begrenzte Gebiet hinausschweifend sich nur in unhaltbaren Hypothesen verlieren, daß dadurch Metaphysik als Wissenschaft vom Ding-ansich ein für alle Mal widerlegt ist.

KANT steht jedoch noch on der transzendentalen Ästhetik auf einem wesentlich anderen Boden. In ihr macht sich noch stark der Einfluß der Inaugural-Dissertation geltend, in welcher er folgenden Anschauungen vertreten hat:

Durch die Sinnlichkeit erkennen wir die Welt der Erscheinungen; infolgedessen muß sie sich unseren subjektiven Anschauungsformen anpassen, um von uns erkannt zu werden. Durch den Verstand erfassen wir die Welt der Noumena. Dementsprechend gibt es eine Erkenntnis zweier Welten und damit zweier Arten von Objekten: Erkenntnis von Phänomenen und Erkenntnis von Noumena. Ebenso wie wir durch den Verstand erkennen, "erkennen" wir auch im Anschauen (10).

Die Kr. d. r. V. steht auf einem ganz anderen Standpunkt. Aber KANT hat nicht vermocht, radikal in jeder Beziehung mit der Lehre von der zweifachen Wahrheit aus Anschauung und Verstand zu brechen. Er hatte sich zu sehr in die alte Anschauung hineingelebt. Daher bietet uns die Kr. d. r. V. das Schauspiel eines stetigen Kampfes mit diesen alten Überresten; immer wieder werden sie glänzend besiegt, aber immer wieder legt der tückische Gegner KANT eine Falle.

In der Ästhetik hat sich KANT zunächst noch wenig von den alten Ansichten losgerungen; anstatt allein die kritische Frage zu beantworten: wie sind synthetische Urteile der Mathematik möglich? wird noch nebenbei die ganze Metaphysik der Dinge-ansich und die Behauptung vorgetragen, durch Anschauung werde uns eine "Erkenntnis" von Erscheinungen gegeben.

In der Analytik wird der dogmatische Gegner energisch zu Boden geschlagen dadurch, daß unausgesetzt betont wird, die Verstandesbegriffe müßten sich auf das durch die Sinnlichkeit gegebene Material beziehen, sonst sei keine Erkenntnis möglich, und nur im Urteil, das der Verstand fällt, gebe es überhaupt Erkenntnis.

Doch ein dogmatisches Überbleibsel ist immer noch vorhanden, und worin dieses besteht, zeigt uns das Kapitel über den Schematismus.


2. Kapitel
Kants Lehre vom Schematismus

Erkenntnis gibt allein der Verstand in seiner Vereinigung mit der Sinnlichkeit, ich muß daher die Kategorie auf die Erscheinungen überhaupt anwenden. Aus dieser Anwendung entstehen die Grundsätze des reinen Verstandes. Aber kann ich denn ohne weiteres jene Subsumtion ausführen? Es ist doch noch sehr die Frage, mit welchen Mitteln ich Sinnlichkeit und Verstand verbinde. Beide sind völlig getrennt voneinander aufgefunden worden und haben nichts gemeinsam. Der Verstand ist nicht anschaulich, die Anschauung nicht diskursiv.
    "Nun sind aber reine Verstandesbegriffe, in Vergleichung mit empirischen (ja überhaupt sinnlichen) Anschauungen, ganz ungleichartig, und können niemals in einer Anschauung angetroffen werden. Wie ist nun die Subsumtion der letzteren unter die erste, folglich die Anwendung der Kategorie auf Erscheinungen möglich" ...? (11)
Hier steckt das Problem des Schemas. KANT löst es in folgender Weise: Bei jeder Subsumtion zweier verschiedener Elemente muß sich ein drittes aufdecken lassen, welches dem ersten und zweiten gemeinsam ist, wie zum Beispiel die Begriffe eines Zirkels und Tellers in der Eigentümlichkeit der Rundung einen Vereinigungspunkt darbieten. Also werden wir uns zwischen dem reinen Verstandesbegriff und den Anschauungen überhaupt ebenfalls nach einem Dritten umsehen, welches mit einem jeden dieser beiden Antipoden in Verbindung steht. Dieses Tertium hat demnach folgende Merkmale aufzuweisen:

1. Es muß rein sein, weil es ja nur darauf ankommt, die "Sinnlichkeit überhaupt" mit den Verstandesbegriffen zu vereinigen, um die Grundsätze der reinen Naturwissenschaft zu erhalten, weshalb wir als das eine Extrem nur die reinen Formen der Anschauung erhalten, nicht aber sie mit ihrem empirischen Inhalt.

Zu den Mißverständnissen, daß auch der Inhalt in Betracht kommt, könnte die eben angeführte Stelle führen, in der KANT hervorbebt, daß empirische Anschauungen ganz ungleichartig sind mit reinen Verstandesbegriffen. Aber dieses Problem, wie sich das empirisch Wirliche, das heißt das Inhaltliche der Erfahrung, zu seiner apriorischen Form verhält und mit ihr vereinbar ist, gehört auf keinen Fall in diesen Zusammenhang, welcher die Vereinigung der verschiedenen Methoden der Objektivität bespricht; denn der Inhalt der Erkenntnis tritt in eine direkte Beziehung nur zu den Anschauungsformen, wie er denn überhaupt durchgängig als die "Sinnesdata" bezeichnet wird. Und wie sollte er in der kantischen Philosophie auch eine Stelle finden? KANT will nur aufzeigen, welche Formung des sinnlich gegebenen Inhaltes objektiv ist; für ihn ist die Gegenständlichkeit ja keineswegs der inhaltliche Begriff eines Dings, das die Erkenntnis abzubilden hat, sondern eine gültige Relation. Er will in seiner formalen Philosophie nur zeigen, wodurch sich die wertvolle Relation von Inhalten von der wertlosen Relation unterscheidet, und die Methode angeben, durch die teleologisch die Voraussetzungen der wertvollen Relation erfüllt werden.

Man könnte ferner auf die Vermutung kommen, KANT habe folgendes mit dem Schema gemeint: Die Sinnesdata sind empirisch und anschaulich, die Verstandesbegriff sind rein und diskursiv. Es gelte also, zwischen diesen beiden Extremen eine Vermittlung zu finden, und sie bestünde in der Zeit. Denn die Zeit hat sowohl mit den Sinnesdata etwas gemein: die Anschaulichkeit, als auch mit dem Verstand: die Reinheit, wodurch sie ausgezeichnet ist, zu einem Bindeglied. Aber hiergegen sprechen folgende Erwägungen. KANT fordert selbst von seinem "Dritten", daß es einerseits intellektuell, andererseits sinnlich sein soll; die Zeit ist aber als reine Anschauung niemals intellektuell. Und dann entsteht doch überhaupt die Frage, was an den Erscheinungen noch anschaulich ist, wenn man sie als bloße Inhaltsdata, losgelöst von unserer apriorischen Anschauungsform, betrachtet. Was ist denn die Anschaulichkeit der Erscheinungen anderes, als das Eingefaßtsein in unsere Anschauungsformen? Und wenn ich ihre sinnlichen ursprünglichen Qualitäten, die Röte und dergleichen als Anschauung bezeichnen will, so ist mit diesem gleichen Terminus doch noch keineswegs die Frage gelöst, wie sich das Zusammen dieser empirischen Anschauung mit der reinen Anschauungsform soll erklären lassen, falls diese Frage überhaupt einen Sinn und einen Wert hat. Nein, es geht auf keinen Fall, den kantischen Satz:
    "Nun sind aber reine Verstandesbegriffe, in Vergleichung mit empirischen (ja überhaupt sinnlichen) Anschauungen, ganz ungleichartig ...",
derart zu interpretieren, daß KANT das Gegensatzpaar in der Weise habe bestimmen wollen, daß auf die eine Seite rein, Verstand, Begriff, auf die andere Seite empirisch, sinnlich, Anschauung zu setzen ist, wodurch ja freilich äußerst scharf das reine dem empirischen, der Verstand der Sinnlichkeit, der Begriff der Anschauung opponiert wird; man könnte vielleicht zur Verteidigung dieses Standpunktes noch anführen, daß KANT in den nächstfolgenden Sätzen öfters anstatt Anschauung den Terminus Erscheinung gebraucht; Erscheinung umfaß aber seiner eigentlichen Bedeutung nach immer den Inhalt mit, sodaß also hierin eine gewisse Bestätigung für das Element des empirischen, inhaltlichen zu finden wäre. Aber trotzdem ist diese Auffassung ganz unhaltbar, denn was soll wohl in einer Philosophie der objektiven Formen die Frage nach einer Subsumtion des Inhaltes unter die Form? Und vollends, sollte es gar ein Tertium geben zwischen Form und Inhalt? Form und Inhalt stehen überhaupt gar nie in einem Verhältnis der Subsumtion; sie sind Korrelate, welche sich gegenseitig fordert. Wohl aber hat es einen guten Sinn zu fragen, wie zwei verschiedene Formen in Zusammenhang gebracht werden können; und wenn man sagt, daß die Kategorien doch erst durch die Sinnlichkeit einen Inhalt bekommen, so ist jedenfalls das Eine ganz gewiß, daß sie es den Anschauungsformen überlassen müssen, sich mit ihrem Inhalt auseinanderzusetzen; selber aber bedeutet der Verstand nur eine Form, die in der Stufenfolge zur objektiven Gegenständlich der Sinnlichkeitsform übergeordnet ist und zu dieser allein in Beziehung tritt.

Wir dürfen also das "empirisch" nicht als eins von den beiden Gegensatzgliedern auffassen, welche im dritten, dem Schema, zu vereinigen sind. Das Empirische ist in diesem Zusammenhang zwar wohl berechtigt, denn es drückt den Gedanken aus, daß unsere reinen Verstandes- und Sinnlichkeitsformen nur in einer möglichen Erfahrung Sinn und Bedeutung erlangen, daß sie abgezogen davon nur als "Hirngespinste" aufzufassen sind (12). Aber wir müssen, um das fragliche Ende des Gegensatzes zu entdecken unsere Aufmerksamkeit auf die Klammer richten: "(ja überhaupt sinnlichen)"; denn durch das "überhaupt" wird ganz deutlich, daß damit nur die reinen Anschauungsformen gemeint sein können, da es außer der empirischen "Sinnlichkeit" nur noch die reine gibt, welche Raum und Zeit ausdrücken.

Somit ist erwiesen, daß jenes fragliche Gegensatzpaar, zwischen welchem wir das "Tertium" finden möchten, einerseits in den reinen Kategorien, andererseits den reinen Anschauungsformen besteht, und hieraus ergibt sich ohne weiteres, daß das Tertium die Eigenschaft der Reinheit an sich tragen muß.

2. Es muß das Tertium intellektuell sein, um mit dem verstandesmäßigen Faktor zu harmonieren.

3. Es muß sinnlich sein, um in Berührung mit den Anschauungen zu treten.

"Schema" soll es genannt werden, und weil es ein notwendige Glied in der Kette reiner Erkenntnisbedingungen bildet, erhält es den Vornamen "transzendentales" Schema (13).

Die transzendentale Zeitbestimmung vereinigt in sich das Geforderte und ist daher geeignet, die Dienste des Schemas zu übernehmen. Unter ihr müssen wir uns eine Vereinigung von Kategorialem und Anschaulichem vorstellen. Die Kategorie soll die Einheit in ihr vermitteln, die Zeit aber ist uns als die, jede Anschauung umspannende, Form des inneren Sinns bekannt.

Nach KANTs Einteilung der Erkenntnisvermögen ist das "Schema" der Einbildungskraft zuzuordnen. Es ist deshalb ihr Produkt, weil, wie das Schema die Mittelstellung zwischen Kategorie und Anschauung, die Einbildungskraft die Mittelstellung zwischen Verstand und Sinnlichkeit ausfüllt.

Nun hat KANT zwölf Kategorien; ihnen entsprechend sieht er sich genötigt, zwölf Schemate aufzustellen, in denen er jede der verschiedenen Kategorien für sich eine andere Funktion der Einheit in der Zeitbestimmung ausführen läßt; und somit ergeben sich vier mal drei Schemate, die aber, bei der Verfehltheit der Kategorientafel, nicht einmal von KANT alle aufgezählt werden können. In der Tat, es ist ganz unmöglich, das auszuführen, was KANT unterlassen hat, und wenn wir die einzelnen Schemate genauer nachprüfen, die angegeben sind, so geraten wir in ein Nebelmeer von Unklarheiten hinein.

Das Schema sollte nach KANT ein Drittes sein, zwischen Anschauung und Verstandesbegriff; und worin besteht es tatsächlich? Es ist nichts mehr und nichts weniger als die Verbindung von Anschauung und Begriff selber, die doch eben das Problem war: die Zeit ist die Anschauungsform, die Kategorie ist der Verstandesbegriff, das Schema ist eine Vereinigung beider, sonst nichts; anstatt eines Dritten, welches wir suchten, legt KANT Eins und Zwei kurzerhand zusammen. Das Problem wird dadurch höchst einfach gelöst, daß es ignoriert wird. So heterogen Anschauung und Begriffe sein mögen, wie KANT zunächst behauptete, im Schema verbindet er sie durch den Machtspruch: fügt euch zusammen! Das Dritte zur Anwendung wird KANT unter den Händen die Anwendung selber.

Doch KANT ist nicht einmal in seiner Terminologie einheitlich, wodurch dann allerdings der Begriff des Schemas zu einem unentwirrbaren Knäuel von Widersprüchen wird. So heißt es z. B.:
    "Wir wollen diese formale und reine Bedingung der Sinnlichkeit, auf welche der Verstandesbegriff in seinem Gebrauch restringiert ist, das Schema dieses Verstandesbegriffs ... nennen." (14)
Oder:
    "Die Verstandeshandlungen aber, ohne Schemate der Sinnlichkeit, sind unbestimmt." (15)
Oder:
    "Man sieht nun aus allem diesem, daß das Schema einer jeden Kategorie, als das der Größe, die Erzeugung (Synthesis) der Zeit selbst, in der sukzessiven Apprehension eines Gegenstandes ... enthalt und vorstellig mache." (16)
Aus diesen drei Stellen spricht deutlich, daß wir unter einem Schema ein sinnliches Element, also kein Zwischenglied, sondern die eine Seite des Gegensatzes zu verstehen haben; und wenn dazu noch KANT sagt:
    "Es fällt aber doch auch in die Augen, daß, obgleich die Schemate der Sinnlichkeit die Kategorien allererst realisieren, sie doch selbige gleichwohl auch restringieren [beschränken - wp], d. h. auf Bedingungen einschränken, die außerhalb des Verstandes liegen (nämlich in der Sinnlichkeit)." (17)

    "Also sind die Kategorien, ohne Schemate, nur Funktionen des Verstandes zu Begriffen, stellen aber keinen Gegenstand vor. Diese Bedeutung kommt ihnen von der Sinnlichkeit, die den Verstand realisiert, indem sie ihn zugleich restringiert." (18)
Wenn also KANT dieses sagt, so müssen wir doch wohl seinen Gedanken derart verstehen, daß er hier durch den Begriff des Schemas nur die Forderung ausgedrückt wissen wollte, die Kategorien nicht auf Dinge-ansich anzuwenden, sondern allein auf Erscheinungen, wie er ausführt:
    "So sollten die Kategorien in ihrer reinen Bedeutung, ohne alle Bedingungen der Sinnlichkeit, von Dingen überhaupt gelten, wie sie sind, anstatt, daß ihre Schemate sie nur vorstellen, wie sie erscheinen, jene also eine von allen Schematen unabhängige und viel weiter erstreckte Bedeutung haben." (19)
Aber hat nicht schon die ganze Deduktion uns vor Augen geführt, daß die reinen Verstandesbegriffe unabhängig von der Sinnlichkeit gar keine Gegenständlichkeit ergeben? (20) Im Schematismus sollten wir erfahren, wie nun mit Hilfe der Sinnlichkeit der Gegenstand durch die Kategorien erzeugt wird, und gerade hierüber werden wir nicht aufgeklärt. Weshalb KANT gar nicht die Möglichkeit dazu besessen hat, soll im zweiten Teil der Arbeit besprochen werden. Hier ist mir diese Vermutung nur dadurch wahrscheinlich gemacht, daß KANTs Begriff des Schemas an keiner Stelle wirklich klar erkennen läßt, daß es ein Tertium zwischen Begriff und Anschauung sein soll.

Wenn ich ausführen würde, daß unter dem Schema bald die fragliche Vereinigung, bald die eine Seite des Gegensatzes, die Zeit, bald die bloße Forderung gemeint ist, die reinen Verstandesbegriffe nur auf die Sinnlichkeit anzuwenden, so ist es damit noch nicht genug. Die Schemate sollen die Bedingung enthalten zur Projizierung der Kategorien in die Erscheinungswelt überhaupt, d. h. die Bedingung für die Grundsätze des reinen Verstandes. Nun aber fließt die Bedingung zum Grundsatz mit dem Grundsatz selbst selbst zusammen. In dem Kapitel "von dem Grunde der Unterscheidung ..." wird behauptet (21):
    "Die Grundsätze des reinen Verstandes ... enthalten nichts als gleichsam nur das reine Schema zur möglichen Erfahrung."
Und sehen wir uns doch einmal die Schemate im Einzelnen etwas näher an:
    "Das Schema der Substanz ist die Beharrlichkeit des Realen in der Zeit, d. h. die Vorstellung desselben, als eines Substrates der empirischen Zeitbestimmung überhaupt, welches also bleibt, indem alles andere wechselt." (22)
Die erste Analogie lautet in der zweiten Auflage: "Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz".
    "Bei allem Wechsel der Erscheinungen beharrt die Substanz, und das Quantum derselben wird in der Natur weder vermehrt noch vermindert." (23)
Ferner:
    "Das Schema der Ursache und der Kausalität eines Dings überhaupt ist das Reale, worauf, wenn es nach Belieben gesetzt wird, jederzeit etwas anderes folgt." (24)
Die zweite Analogie lautet in der ersten Auflage:
    "Alles, was geschieht (anhebt, zu sein) setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt." (25)
Es ist klar, die Schemate enthalten eine kurze Zusammenfassung dessen, was die Grundsätze leisten, und sind in der Form so wenig von ihnen verschieden, daß eben dieselben Wendungen in Schema und Grundsatz wiederkehren; und dabei ist wohl zu beachten, daß im Schema schon alles gesagt ist, und der Grundsatz lediglich wiederholt.

Weshalb unterscheidet dann aber KANT noch überhaupt das Schema vom Grundsatz; was soll es heißen, daß KANT in der Einleitung zur Analytik der Grundsätze ausführt, das erste Hauptstück handle von den sinnlichen Bedingungen,
    "unter welchen reine Verstandesbegriffe allein gebraucht werden können, d. h. vom Schematismus; das zweite aber von den synthetischen Urteilen, welche aus reinen Verstandesbegriffen unter diesen Bedingungen a priori herfließen ... d. h. von den Grundsätzen des reinen Verstandens." (26)
Doch es hat keinen Wert, daß wir uns noch länger bei diesen inneren Widersprüchen und Unklarheiten aufhalten, welche sämtlich daraus entspringen, daß jenes geforderte Tertium nicht als ein solches scharf charakterisiert ist; lohnend wird das Arbeiten mit KANTs Unklarheiten erst dann, wenn man die Gründe aufzudecken vermag, weshalb KANT notwendig zu ihnen gedrängt wurde. Alsdann sind sie nur die Bestätigung dafür, daß irgendwo an der Wurzel in wunder Punkt liegen muß; und hat man ihn erst gefunden, so wird man in jedem Fall für die Arbeit der Besserung reichlich dadurch belohnt, daß man lernt, klarer im ewigen Bestand unter den Gedanken KANTs zu sehen.

Bevor ich mich jedoch zum positiven Teil meiner Besprechung wende, muß ich noch die frühere Behauptung beweisen, daß sich im Schematismus ein dogmatisches Vorurteil geltend macht, welches aus der Inaugural-Dissertation übernommen wurde.

Der Schematismus beruth auf der Entgegensetzung von Sinnlichkeit und Verstand. Allerdings hält KANT die Meinung für gründlich überwunden, daß wir durch den Verstand die Dinge-ansich, durch die Sinnlichkeit die Erscheinung erkennen könnten. (27) Aber wenn er es für zunächst ganz unerklärlich hält, wie man Anschauungen unter Begriffe subsumiert, liegt dem dann nicht doch noch ein Überrest von dem Standpunkt zugrunde, demgemäß der Verstand und die Sinnlichkeit, durch ihre Anwendung und Geltung in einander ausschließenden Gebieten, selber zu gänzlich heterogenen Faktoren gestempelt werden? Weshalb sind sie denn heterogen? KANT meint, daß niemand sagen wird, daß "die Kausalität auch durch Sinne angeschaut werden kann und in der Erscheinung enthalten ist." (28) Wo ist sie dann enthalten? Im reinen Verstand! Aber weshalb geht diesr nicht auf Erscheinungen? Doch offenbar nur aus dem einzigen Grund, weil eben die Sinnlichkeit allein das Prinzip der Erscheinungen ist, der Verstand, die Intelligenz, aber mit dem Intelligiblen ursprünglich zusammengehört. Hier also stehen wir wieder im engsten Zusammenhang mit der vorkritischen Dogmatik.

Die Kr. d. r. V. bräuchte doch von einem Ding-ansich garnichts zu wissen, wenn sie konsequent kritisch in allen ihren Teilen wäre! Dann aber geht es nicht mehr an, die Anschauungsformen als rezeptiv, die Verstandesformen als spontan zu betrachten. Dann fragt es sich nur, nachdem die Anschauungen des Raumes und der Zeit als apriorisch erwiesen worden sind, welcher notwendigen Ergänzung sie noch bedürfen, um das Ziel der Objektivität zu erreichen, welche Methoden das erkennende Bewußtsein außerdem anzuwenden hat, um diejenigen Probleme zu lösen, die ihm Raum und Zeit stellen, bzw. übriglassen. Unter diesem Gesichtspunkt erscheinen dann Sinnlichkeit und Verstand nicht mehr als feindliche Antipoden, die zu ihrer transzendentalen Eheschließung des schematischen Priesters bedürfen, sondern im Gegenteil als ein sich ohne fremde Hilfe harmonisch zusammenschließendes Paar von Methoden, deren jede den Teil ihrer gemeinsamen Arbeit übernimmt, welchen die andere nicht zu leisten vermag. So wird jenes geforderte Ineinander als ein teleologisches Ineinanderarbeiten verstanden, bei welchem gar nicht erfordert, ja nicht einmal erwünscht ist, daß jeder Teil mit dem anderen wesensgleich gemacht wird. Keineswegs aber soll das Zusammen als eine teilweise Übereinstimmung gedacht werden.

Weshalb fragt denn auch KANT gar nicht danach, wodurch die Beziehung von Raum und Zeit zueinander ermöglicht wird? Das "Neben" und das "Nach" sind genau so ursprünglich geschieden, wie das "Nach" und die sogenannte "Kategorie". Und was bedeutet der Ausdruck der "Subsumtion" im Zusammenhang des Schematismus? Hier steckt noch ein dogmatischer Rest; allerdings ganz anderer Herkunft. In der scholastischen Logik ist eine Vereinigung nur als Subsumtion von Begriffen denkbar, und in diesem Fall ist allerdings das Übereinstimmen in einem Merkmal, wie bei Teller und Zirkel in dem der Rundung (29), notwendig, um die Subsumtion zu vollziehen. Aber will ich denn Anschauungsformen den Verstandesformen "subsumieren"? Keineswegs! Im teleologischen Zusammenhang der Erkenntnisvoraussetzungen ist von einer "Subsumtion" der einen unter die anderen keine Rede. Ergänzen sollen sie sich; die in dem einen Erkenntnisfaktor vermißte und unerfüllte (gleichsam dialektisch angelegte und geforderte) Bedingung soll der andere hinzufügen, sodaß sich alle zu einem einheitlichen System zusammenschließen.

Die Darstellung dieser Zusammenhänge bildet den Inhalt des folgenden Teils. Während KANT Kategorien und Anschauungsformen aus Verstand und Sinnlichkeit getrennt ableitet und dann im Schematismus vereinigen möchte, will ich zu beweisen versuchen, daß schon in der Ableitung selbst die Vereinigung im Sinne der Ergänzung implizit enthalten sein müßte. Hierbei wird sich ergeben, daß die Darstellung, welche ich zu Anfang dieses Kapitels vom Aufbau des kantischen Systems bis zum Schematismus gegeben habe, nur teilweise richtig ist; jedoch kam es an jener Stelle einzig darauf an, die Gedankenreihen herauszuheben, welche die Lehre vom Schematismus tragen. Wenn ich jetzt abermals daran gehe, die Grundlagen der Vernunftkritik zu mustern, so werde ich nun gerade darauf mein Augenmerk richten, was den Schematismus überflüssig macht, und worin, wie ich glaube, der eigentliche Kern des kantischen Denkens beschlossen liegt. Daraus resultiert meine Überzeugung, daß die hier vorgetragene Meinung im letzten Grund mit KANTs Gedanken in einer viel engeren Verwandtschaft steht, als die anscheinend radikale Polemik gegen seinen Hauptbegriff, den der Kategorie, vermuten läßt.


II. Teil
1. Kapitel
Der eine Stamm der menschlichen Erkenntnis:
die Sinnlichkeit

Was haben wir unter Anschauung zu verstehen? Diese Frage scheint zunächst leicht zu beantworten zu sein: Raum und Zeit als die rezeptiven Formen unserer apriorischen Sinnlichkeit (30). Des näheren führt KANT aus, daß wir es dann mit der Form der Anschauung zu tun haben, wenn die Anschauung nichts enthält "als bloße Verhältnisse" (31). Raum und Zeit sind also Anschauungsverhältnisse oder, um es spezieller auszudrücken: Raum und Zeit enthalten das als mannigfaltig gegebene Material der Empfindungen (32), welche durch dieses Enthaltensein zueinander in Beziehung treten.

Dadurch wird zweierlei mit Raum und Zeit in eine engere Verbindung gebracht: Einmal die Empfindungsinhalte und zweitens deren Form, die Mannigfaltigkeit. Wir wollen untersuchen, in welchem Verhältnis Raum und Zeit zu diesen beiden Faktoren stehen.

Was zunächst ihr Verhältnis zu den Empfindungsinhalten angeht, so werden gerade in Bezug hierauf Raum und Zeit mit dem Prädikat der Rezeptivität ausgestattet (33). Und weil nun der Verstand nach KANT spontan gedacht wird, so entsteht eine gewisse Stufenfolge und Überordnung zwischen reinen Sinnlichkeit und reinem Verstand, entsprechend ihrer Stellung zum Empfindungsmaterial (34). Danacht wird der Verstand das "obere" Erkenntnisvermögen genannt (35), dementsprechend der Sinnlichkeit der Titel des "unteren" Erkenntnisvermögens zufällt. Denn diese rückt dem Empfindungsmaterial dadurch näher, daß in ihr allein auns Gegenstände gegeben werden, wohingegen der Verstand dieselben denkt;
    "weil die Bedingungen, worunter allein die Gegenstände der menschlichen Erkenntnis gegeben werden, denjenigen vorgehen, unter welchen selbige gedacht werden." (36)
Dies ist im Wesentlichen derjenige Standpunkt, welchen KANT in der Ästhetik vertritt, auf dem er also Sinnlichkeit und Verstand auf das Entschiedenste unterscheidet. Hier finden wir noch deutlich die Anklänge an den vorkantischen Rationalismus, in dem LEIBNIZ die Materie als bloße Passivität, Gott als reine Aktion darstellt, wobei mit den unklaren und verworrenen Vorstellungen der Sinnlichkeit der Zustand des Leidens, mit den klaren und deutlichen Vorstellungen des Verstandes der Zustand der Spontaneität verbunden ist. Obgleich nun KANT auf das Energischste die Ansicht bekämpft, daß die Sinnlichkeit nur eine korrumpierte Vorstufe zum Verstand bedeutet (37), so ist es ihm doch noch nicht völlig gelungen, all jene dogmatischen Vorurteile über Bord zu werden. LEIBNIZ hatte nämlich durch den Verstand die inneren, metaphysischen Beziehungen der Dinge-ansich erkennen wollen und die Erscheinungsweise in Raum und Zeit nur als ihre "äußeren" Verhältnisse anerkannt. KANT läßt uns zwar überhaupt keine Dinge-ansich mehr erkennen, aber anstatt nun dem Erkenntnisinhalt, den Empfindungen, die Gesamtheit der Erkenntnismethoden einheitlich und gleichberechtigt gegenüberzustellen, läßt er hier noch eine ganz unberechtigte, derjenigen von LEIBNIZ analoge, Stufenfolge bestehen, indem er Sinnlichkeit und Verstand als rezeptives und spontanes Vermögen voneinander trennt.

Wenn wir den Gegensatz von Rezeptivität und Spontaneität anbringen wollen, so dürfen wir ihn allein auf das Verhältnis von Erkenntnisinhalt und Erkenntnisform überhaupt anwenden, d. h. reine Sinnlichkeit und reiner Verstand sind in gleicher Weise als spontan zu erklären. Und was den Terminus der Rezeptivität angeht, so hat er allerdings in KANTs System eine Berechtigung; dann aber kann er nur das bedeuten, was KANT sonst die mögliche Erfahrung nennt. In dieser Beziehung ist wiederum der ganze Komplex von Methoden zur Objektivität rezeptiv zu denken. Mit anderen Worten: Sobald wir die Erkenntnismethoden als a priori, vor aller Erfahrung gegeben ansehen, dürfen wir sie spontan nennen; sobald wir aber ausdrücklich wollen, daß sie sich stets auf eine empirische Gegebenheit beziehen, heißen sie rezeptiv. Doch wäre es überhaupt besser, diese Terminologie ganz aufzugeben, da sie gar zu leicht in die Irre führen kann.

Jedenfalls ist das Verhältnis von Raum und Zeit zu den Empfindungsinhalten prinzipiell kein anderes als das der Erkenntnisformen überhaupt zu den Inhalten; beide Methoden stehen als Formen dem Inhalt gleichwertig gegenüber. Denn beide sind nur in engsten Wechselbeziehungen zueinander aufzufassen.

Wie steht es nun zweitens mit der Mannigfaltigkeitsform, welche mit Raum und Zeit im Zusammenhang auftritt? Sie ist für unsere Zwecke von ungleich erheblicherer Bedeutung. Bei ihrer Zergliederung sehen wir uns ebenfalls gezwungen, über die transzendentale Ästhetik hinauszugehen. Aber diesmal können wir uns auf KANT selbst berufen, da er in der transzendentalen Analytik die transzendentale Ästhetik selber überwunden hat.

Wenn wir vom gegebenen Inhalt absehen, so bleiben uns noch zwei Bestandteile für die reine Anschauung. Einmal der, den jenes nicht weiter definierbare "Nach" und "Neben" ausdrückt, und dann die Mannigfaltigkeitsform. Im "Nach" und "Neben" müssen wir offenbar dasjenige erblicken, was spezifisch "anschaulich" ist; wir können es nicht weiter zurückführen, wir sind uns dessen unmittelbar bewußt und wissen keinen Grund anzugeben, warum gerade hierin allein das Empirische gegeben wird. Doch folgt hieraus etwa, daß dieses "Nach" und "Neben" auch ein gänzlich voraussetzungsloses Bestehen für sich allein einschließt? Ich meine, können wir die bloße Anschauung des Nach und Neben erfassen, d. h. bloß jene typische Direktion, welche in ihnen ausgedrückt ist, ohne daß diese Direktion außer einem zugehörigen Inhalt für die Anwendung noch anderer Formen zur Voraussetzung bedarf? Ist die Form des anschaulichen "Nach" und "Neben" eine selbständige und von anderen Form unabhängige Form? Nein! (38) Schon in dem Ausdruck der "Direktion" [Richtung - wp] ist die Bedingung angedeutet, welche die bloße Anschauung zur Voraussetzung hat. Eine Direktion ist nur denkbar zwischen zwei Punkten, d. h. zwischen einer Mannigfaltigkeit! Wenn ich daher den Begriff des Neben und Nach zu Ende denke, stoße ich notwendigerweise auf den Begriff eines "Vielen" überhaupt. Nun setzt aber die Vielheit wiederum den Begriff der Einheit voraus; denn ohne die Zusammenfassung ist das Hinausgehen über das Eine zum Vielen unmöglich (39). Vielheit und Einheit sind Korrelate, sie drücken ein Verhältnis aus, und zwar das einfachste Verhältnis unter allen möglichen, dasjenige, welches die unumgängliche Voraussetzung aller anderen Verhältnisse ist. Dadurch ist dieses Verhältnis auch die Voraussetzung von Zeit und Raum, welche, wie wir vorher gesehen haben, KANT als "Verhältnisse" bezeichnet. Es ergibt sich, daß die Anschauungsformen ganz spezielle Verhältnisse ausdrücken, während im Begriff der Mannigfaltigkeit das allgemeinste Verhältnis überhaupt angegeben wird.

Werfen wir jetzt noch einen kurzen Blick rückwärts auf jenes Prädikat der Rezeptivität, welches KANT der Sinnlichkeit beilegt. Wie ist es wohl zu denken, daß mit einer Verhältnisvorstellung als solcher Passivität verbunden ist?! Wenn ich aus A in der Weise des Nach und Neben heraus- und hinübergehe zu B, ist dieses Verhalten mit dem Begriff des Empfangens vereinbar? Im Gegenteil, es ist allein als eine Tätigkeit zu bezeichnen, sonst verlieren diese Worte jeden verständlichen Sinn!

Ich gehe jetzt weiter: jene Mannigfaltigkeit in ihrem Bezogensein auf Einheit nennt KANT Synthesis und im Gegensatz zu Affektionen der Sinnlichkeit Funktion des Verstandes (40).
    "Ich verstehe aber unter Funktion die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen." (41)
Demgemäß wäre die Mannigfaltigkeitsform eine Funktion zu nennen und als solche dem Verstand zuzurechnen. Nun setzen Raum und Zeit diese Form voraus; folgt nicht hiernach, daß die Anschauungsformen den Verstand zur Bedingung ihres Bestehens machen? KANT hat sich selber dieses Problem gestellt. In § 26 sagt er in einer Anmerkung (42):
    "Der Raum, als Gegenstand vorgestellt (wie man es wirklich in der Geometrie bedarf), enthält mehr als bloße Form der Anschauung, nämlich Zusammenfassung des Mannigfaltigen, nach der Form der Sinnlichkeit gegebenen, in eine anschauliche Vorstellung, sodaß die Form der Anschauung bloß Mannigfaltiges, die formale Anschauung aber Einheit der Vorstellung gibt. Diese Einheit hatte ich in der Ästhetik bloß zur Sinnlichkeit gezählt, um nur zu bemerken, daß sie vor allem Begriff vorhergeht, obgleich sie eine Synthesis ist, die nicht den Sinnen angehört, durch welche aber alle Begriffe von Raum und Zeit zuerst möglich werden, voraussetzt. Denn da durch sie (indem der Verstand die Sinnlichkeit bestimmt) der Raum oder die Zeit als Anschauungen zuerst gegeben werden, so gehört die Einheit dieser Anschauung a priori zum Raum und der Zeit, und nicht zum Begriff des Verstandes."
Schon vorher (43) führt KANT in Übereinstimmung mit der soeben mitgeteilten Anmerkung auf das Deutlichste aus, daß der Raum der Geometrie unter eine synthetische Einheit des Bewußtseins gebracht werden muß.
    "Um aber irgendetwas im Raum zu erkennen, z. B. eine Linie, muß ich sie ziehen, und also eine bestimmte Verbindung des gegebenen Mannigfaltigen synthetisch zustande bringen, so, daß die Einheit dieser Handlung zugleich die Einheit des Bewußtseins (im Begriff einer Linie) ist, und dadurch allererst ein Objekt (ein bestimmter Raum) erkannt wird." (44)
B 162 heißt es:
    "Eben dieselbe synthetische Einheit aber, wenn ich von der Form des Raumes abstrahiere, hat im Verstand ihren Sitz."
Hiernach also bedarf die Geometrie eines verstandesmäßigen Elements.

Nun vergleiche man dies:
    "In der transzendentalen Ästhetik also werden wir zuerst die Sinnlichkeit isolieren, dadurch, daß wir alles absondern, was der Verstand durch seine Begriffe dabei denkt." (45)
Und:
    "Zeit und Raum sind demnach zwei Erkenntnisquellen, aus denen a priori verschiedene synthetische Erkenntnisse geschöpft werden können, wie vornehmlich die reine Mathematik in Anbetracht der Erkenntnis vom Raum und dessen Verhältnissen ein glänzendes Beispiel gibt." (46)
Aus diesen beiden Stellen ersehen wird, daß KANT in der Ästhetik ohne jegliche Verstandeselemente die Geometrie deduziert, und wir haben hier somit die epochemachende Wandlung verdeutlicht, welche KANT in der transzendentalen Analytik den Standpunkt der transzendentalen Ästhetik überwinden ließ.

Doch wenn sich sein Standpunkt geändert hat, weshalb änderte er nicht auch seine Terminologie? Weshalb paßte er sie nicht seinen neuen Resultaten an? Nachdem einmal feststand, daß die Geometrie des zum "Gegenstand" und zur "formalen Anschauung" gewordenen Raums bedurfte, war es nicht mehr möglich, die Funktion der Synthesis als bloßen Verstandesfaktor aufzufassen, und sogar als dessen oberstes Charakteristikum hinzustellen (47), wenn der Standpunkt beibehalten werden sollte, daß die reine Sinnlichkeit zur Deduktion der Geometrie ausreicht.

KANT suchte, um diesen Komplikationen zu entgehen, nach einem Ausweg und fand ihn im Vermögen der Einbildungskraft, jenem schwer zu verstehenden Mittelding zwischen Sinnlichkeit und Verstand, dem er nunmehr die Funktion der Synthesis zuweist. Im Grunde genommen verschleiert sie nur den Bruch, der zwischen Analytik und Ästhetik klafft; denn während ich hier zu zeigen versuchte, daß in der inneren Struktur von Raum und Zeit schon der Begriff der Synthesis angelegt ist, hat KANT, wie schon bemerkt, einen anderen Weg eingeschlagen, um den Begriff der Synthesis aufzudecken. Er fand ihn in einem von der Sinnlichkeit schroff geschiedenen zweiten Grund"vermögen" unserer Erkenntniskräfte, in einem ganz anderen Zusammenhang. Nun wird ihm im Fortgang seiner Untersuchung bewußt, daß der Raum, wenn man mit diesem Begriff die Vorstellung einer "unendlich gegebenen Größe" (48) verbinden soll, schon die Synthesis und Einheit der Apperzeption erfordert. Und da diese erforderliche Verbindung von rezeptiven Anschauungsformen und der spontanen Urfunktion des Verstandes (49) rätselhaft bleibt, so muß die "Einbildungskraft" zu Hilfe gerufen werden als ein drittes Vermögen der Vermittlung. An einer Stelle (50) heißt es:
    "Diese Synthesis des Mannigfaltigen der sinnlichen Anschauung, die a priori möglich und notwendig ist, kann figürlich (synthesis speciosa) genannt werden ... Allein die figürliche Synthesis, wenn sie bloß auf die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption, d. h. diese transzendentale Einheit geht, welche in den Kategorien gedacht wird, muß, zum Unterschied von der bloß intellektuellen Verbindung, die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft heißen ..."
Diese Stelle ist nur so zu verstehen, daß die Einbildungskraft von der Verstandesverbindung (synthesis intellectualis) zur Anschauung herüberleitet: KANT spricht von der "transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft", "welches eine Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit" ist (51). Hier steckt schon in nuce [im Kern - wp] das ganze Problem, das der Schematismus später aufwirft; jedoch dies kann ich erst dann des Näheren erläutern, wenn ich das Verhältnis der Kategorien zur transzendentalen Einheit der Apperzeption besprochen habe, da ja der Schematismus von einer Subsumtion der Anschauungen unter reine Verstandesbegriffe redet, und hier nur die Einheit der Apperzeption mit den Anschauungen durch das tertium der synthesis speciosa verbunden wird. Soviel aber ist sicher, daß, wenn meine Behauptung richtig ist, es sei hier schon der Schematismus zu fixieren (52), KANT das in ihm enthaltene Problem auf jeden Fall schon in der Deduktionzu lösen hatte, nicht aber erst im (zweiten Buch der Analytik, das von den Grundsätzen handelt.

Jetzt möchte ich noch hervorheben, daß der Begriff der Einbildungskraft genau jene schwankende Bedeutung aufweist, welche ich oben für die Bedeutung des Schemas hervorgehoben habe. Zu diesem Zweck stelle ich fünf Stellen nebeneinander, welche in kurzem Abstand in der Analytik zu finden sind:
    "Die Synthesis überhaupt ist ... die bloße Wirkung der Einbildungskraft." (53)

    "Die erste reine Verstandeserkenntnis also ... ist nun der Grundsatz der ursprünglichen synthetischen Einheit der Apperzeption." (54)

    "Verbindung ... ist allein eine Verrichtung des Verstandes." (55)

    "Da nun alle unsere Anschauung sinnlich ist, so gehört die Einbildungskraft ... zur Sinnlichkeit." (56)

    "So ist die Einbildungskraft ... ein Vermögen, die Sinnlichkeit a priori zu bestimmen ... die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft ..., welches eine Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit" ist. (57)
Sonach vereinigt die Einbildungskraft sowohl Verstand als auch Sinnlichkeit unter sich, bald wird sie dem einen Erkenntnisfaktor, bald dem anderen zugezählt, und schließlich wird sie als eine Wirkung des einen auf den anderen charakterisiert, woraus sich erhellt, daß in ihr nichts weiter als der Gedanke zum Ausdruck kommt, es solle der Verstand mit der Sinnlichkeit in Beziehung gesetzt werden (58). Wie diese Beziehung zu denken ist, darüber finden wir in jenem Vermögen keinen sicheren Aufschluß.

Jedenfalls aber hat KANT in der Einbildungskraft einen Begriff gefunden, welcher es ihm ermöglicht, die Resultate und die Terminologie der transzendentalen Ästhetik beizubehalten, ohne mit den Ausführungen der transzendentalen Analytik in offenkundige, unvereinbare Widersprüche zu geraten. Denn wenn man ihm vorhalten würde, daß doch schon Raum und Zeit ein Verstandeselement erforderlich machen, sofern man deren Begriffe zu Ende denkt, hätte KANT die Entgegnung in Bereitschaft, daß es eben jene sinnliche Einbildungskraft ist, welche die Synthese für Raum und Zeit liefert.

Doch ich will diese Terminologie KANTs nicht gebrauchen, da sie nur zu geeignet ist, Probleme zu verschleiern. Vielmehr fasse ich das Resultat der bisherigen Untersuchung folgendermaßen zusammen:

I. Die transzendentale Ästhetik kann für sich allein nicht bestehen bleiben, bedarf vielmehr einer Vervollständigung und Umgestaltung durch die transzendentale Logik (59).

Die Frage: Was haben wir unter reinen Anschauungen zu verstehen, darf nicht mehr im Sinne der transzendentalen Ästhetik beantwortet werden: Raum und Zeit sind gleich den rezeptiven Formen unserer apriorischen Sinnlichkeit.

Sondern, sofern Raum und Zeit die Mathematik begründen, sind sie keineswegs bloße Anschauungen; sie enthalten vielmehr notwendig ein verstandesmäßiges Element: die Synthesis und die transzendentale Einheit der Apperzeption.
    "Daß sie" (nämlich die transzendentale Einheit der Apperzeption) "diesen Namen verdient, erhellt sich schon daraus: daß selbst die reinste objektive Einheit, nämlich die der Begriff a priori (Raum und Zeit), nur durch eine Beziehung der Anschauungen auf sie möglich sind." (60)
II. Ferner sind Raum und Zeit nicht als rezeptiv zu verstehen, sondern eben wegen ihrer Beziehung zur Verstandesfunktion der Synthesis sind sie ebenso spontan wie diese.

III. Dasjenige, was im eigentlichen Sinn des Wortes reine Anschauung ist, d. h. was in Raum und Zeit ausschließlich "angeschaut" wird, ist allein die "Direktion" des "Nach" und "Neben".

Wohlverstanden! Nicht etwa das Nach-Einander! Das "Einander" erfordert schon die Hilfe der Synthesis; das Eine und das Andere ist nicht zu denken ohne die Beziehung beider mittels eines Dritten.

IV. Die Synthesis des Mannigfaltigen überhaupt, die in dem "Einander" ausgedrückt wird, ist die Grundlage jedes Verhältnisses (61). Demgegenüber bedeutet die Direktion des "Nach" und "Neben" eine Spezialisierung der Synthese, ein ganz bestimmtes Verhältnis. Dieses letztere bitte ich wohl zu beachten, da es uns bald von Erheblichkeit werden wird.

Der Einfachheit halber und in Übereinstimmung mit KANTs Formulierung in der ersten Anmerkung zu § 26 nenne ich den ganzen Komplex von Erkenntnismethoden, welche die reine Mathematik erstehen lassen, die formale Anschauung, d. h. also das Zusammen von
    1. Form der Anschauung, d. h. des "Neben" und "Nach" mit

    2. der Synthesis oder der Funktion der Beziehung einer Mannigfaltigkeit auf die transzendentale Einheit der Apperzeption.
Soweit es für unsere Zwecke benötigt wird, ist somit der eine Stamm (62) der menschlichen Erkenntnis besprochen: die Sinnlichkeit als das Vermögen der Anschauungen. Es bleibt noch der andere zu erledigen, der Verstand oder das Vermögen der Begriffe.
LITERATUR: Walter Zschokke, Über Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft, Kant-Studien, Bd. 12, Berlin 1907
    Anmerkungen
    1) B 89
    2) B 92
    3) B 177
    4) B 125f
    5) B 60, 270
    6) B 75
    7) B 94
    8) vgl. B 143, 169 und Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, zweite Auflage, Seite 369
    9) B 161
    10) Inaugural-Dissertation § 4, § 11; vgl. B 60.
    11) B 176
    12) B 196, 705
    13) B 177
    14) B 179
    15) B 692
    16) B 184
    17) B 185f
    18) B 187
    19) B 186
    20) B § 22.
    21) B 295f
    22) B 183
    23) B 224
    24) B 183
    25) A 189
    26) B 175
    27) vgl. B 178. "Nach demjenigen, was in der Deduktion der Kategorien gezeigt wurde, wird hoffentlich niemand im Zweifel stehen usw. ..."
    28) B 177
    29) B 176
    30) B 43, 93
    31) B 67
    32) B 34
    33) B 33, 61
    34) B 93
    35) B 169
    36) B 30
    37) B 60, 61
    38) Dagegen Kant, B 123: "die Anschauung bedarf der Funktionen des Denkens auf keine Weise."
    39) B 130
    40) B 102/103
    41) B 93
    42) B 161
    43) B 137/138
    44) Vgl. "Fortschritte der Metaphysik etc." (Dürr'sche Ausgabe) Seite 102, wo Raum und Zeit nur durch die transzendentale Einheit der Apperzeption objektiv werden, ohne welche "wir garnichts von ihnen aussagen könnten."
    45) B 36
    46) B 55
    47) B 137
    48) B 39
    49) B 161
    50) B 151
    51) B 152
    52) Es stimmt hiermit übrigens auch Kants Anweisung B 181 überein, wo er das Schema "ein transzendentales Produkt der Einbildungskraft" nennt.
    53) B 103
    54) B 137
    55) B 134/135
    56) B 151
    57) B 152
    58) A 124
    59) siehe Riehl, Kritizismus I, Seite 335 und 356.
    60) A 107. Dies in diametralem Gegensatz zu der Stelle B 123: "Denn die Anschauung bedarf der Funktionen des Denkens auf keine Weise."
    61) Vgl. Wilhelm Windelband, Vom System der Kategorien (Philosophische Abhandlungen, Christoph Sigwart zum 70. Geburtstag gewidmet, Tübingen 1900, Seite 43f.
    62) B 29