| HENRI CLEMENS BIRVEN
Immanuel Kants Transzendentale Deduktion
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"Wenn Kant sagt: Durch Anschauung allein können uns Gegenstände gegeben werden , so liegt dabei der Nachdruck auf dem gegeben werden, denn der durch die Anschauung gegebene Gegenstand ist zunächst ein vom Verstand noch unbestimmt gelassener Gegenstand, nichts weiter als Empfindung. In der Ästhetik wird ein solcher unbestimmter Gegenstand einer empirischen Anschauung als Erscheinung bezeichnet." |
Die transzendentale
Deduktion
KANT selbst weist in der Vorrede zur 1. Auflage darauf hin, daß die Deduktion "2 Seiten" zeigt, indem dieselbe neben dem Hauptzweck psychologische Bestrebungen verfolgt, welche insofern über die eigentliche Frage hinausgehen, als sie die subjektiven Erkenntnisquellen aufzeigen sollen, welche den Verstand selbst möglich machen. Das Gewagte einer solchen Doppelseitigkeit der Untersuchung bleibt KANT nicht verborgen, er kann sich dem Gedanken nicht verschließen, daß die hypothesenähnlichen Ausführungen der psychologischen Seite leicht dem Leser die beweiskräftige Klarheit auch der rein transzendentalen Untersuchung trüben könnten, wenn derselbe nämlich eine Abhängigkeit der beiden Seiten voneinander annehmen würde. Daher beugt KANT in der Vorrede einer solchen Annahme des Lesers durch die Erklärung vor, daß es in transzendentalen Untersuchungen
"auf keine Weise erlaubt sei, zu meinen und daß alles, was darin einer Hypothese nur ähnlich sieht, verbotene Ware sei, die auch nicht für den geringsten Preis feil stehen darf" (Kr. d. r. V. A 7)
und hebt ausdrücklich hervor, daß er als "wesentlich zu seinen Zwecken gehörig" nur diejenige Seite der Untersuchung ansieht, welche die objektive Gültigkeit der Verstandesbegriffe a priori zum Gegenstand hat. Von der anderen Seite aber wird betont, daß sie "nicht wesentlich" zum Hauptzweck gehört. Die Hauptfrage bleibt vielmehr nach wie vor: Was und wieviel kann Verstand und Vernunft frei von aller Erfahrung erkennen und nicht, wie ist das Vermögen zu Denken selbst möglich? Die eigentliche Deduktion ist von der psychologischen Untersuchung abhängig und für sich gültig, sodaß, auch wenn der Leser bezüglich der letzteren anderer Meinung ist, doch der objektive Bestandteil der Deduktion seine volle Stärke bekommt (Kr. d. r. V. A 8)
In der 2. Auflage ist dieser ganze subjektive Bestandteil in Fortfall gekommen, was KANT in der Vorrede mit äußeren Rücksichten auf das Volumen motiviert. Er stellt dem Leser anheim, den "kleinen Verlust" durch ein Vergleichen mit der 1. Auflage zu ersetzen (B 33). Vergleicht man die Volumina der beiden Originalausgaben (A hat 856, B 884 Seiten), so wird man in der weiteren Bereicherung von B um ca. 10 - 15 Seiten kaum einen triftigen Grund des Fortfalls erblicken können, vielmehr mit RIEHL (2) der Ansicht sein, daß KANT "das Ungehörige einer psychologischen Erörterung in der Kritik, welche jede empirische Untersuchung ihrem Wesen nach ausschließt", selbst gefühlt hat. Man wird aus diesem Grund mit demselben Gelehrten in dem Fortfall der subjektiven Seite eine "methodische Verbesserung" der 2. Auflage erkennen.
Es ist eigentlich nicht die Aufgabe der Deduktion, die objektive Gültigkeit der 12 Kategorien, wie sie die metaphysische Deduktion aufgestellt hat, nachzuweisen, sondern sie hat sich auf die Lösung der allgemeinen Frage, wie reine Verstandesbegriffe überhaupt objektiv gelten können, zu beschränken, sodaß die transzendentale Deduktion unabhängig von den besonderen Ergebnissen der metaphysischen Deduktion geführt wird. So sagt KANT selbst:
"Will man daher wissen, wie reine Verstandesbegriffe möglich sind, so muß man untersuchen, welches die Bedingungen a priori sind, worauf die Möglichkeit der Erfahrung ankommt."
"Ein Begriff, der diese formale und objektive Bedingung der Erfahrung allgemein und zureichend ausdrückt, würde ein reiner Verstandesbegriff heißen." (A 113)
Aber KANT greift gern vor und so heißt es schon bald nach obiger Stelle:
"Diese Begriffe nun, welche a priori das reine Denken bei jeder Erfahrung enthalten, finden wir an den Kategorien" (A 113),
obgleich der volle Beweis hierfür dem System der Grundsätze zufällt. Wenn also auch KANT mitunter vorgreifende Bemerkungen macht, so ist doch streng genommen die Aufgabe der transzendentalen Deduktion nur, die objektive Gültigkeit von Kategorien überhaupt als reinen Verstandesbegriffen nachzuweisen und zwar durch eine Untersuchung über die Möglichkeit der Erfahrung. Denn wenn auch die Deduktion den Nachweis erbringen sollte, daß die Möglichkeit der Erfahrung reine Verstandesbegriffe als Bedingung voraussetzt, so ist damit doch noch nicht bewiesen, daß nun alle 12 Kategorien der metaphysischen Deduktion solche Bedingungen darstellen. Im Gegenteil wäre es ansich wohl möglich, daß unter diesen 12 Kategorien Begriffe von der Art sich befinden, daß sie nach KANTs Sprachgebrauch keinen "Inhalt" hätten.
Zu Beginn des 2. Abschnitts der Deduktion führt nämlich KANT aus: Ein Begriff apriori, der sich auf einen Gegenstand bezöge, der nicht in den Bereich möglicher Erfahrung gehört, wäre ein leerer Begriff ohne Inhalt, weil ihm die Anschauung fehlt, er "würde nur die logische Form zu einem Begriff, aber nicht der Begriff selbst sein, wodurch etwas gedacht würde" (A 112). KANT identifiziert also in Bezug auf Erkenntnis den Begriff eines Gegenstandes mit dem Begriff eines Gegenstandes möglicher Erfahrung. Objektive Realität kann einem Begriff nur dann zukommen, wenn er sich auf einen Gegenstand möglicher Erfahrung bezieht.
In der 2. Auflage versteht KANT es allerdings, mit Hilfe einer Definition des Urteils als der Art, "gegebene Erkenntnisse zur objektiven Einheit der Apperzeption zu bringen" (A 666), die objektive Realität der 12 Kategorien mit einem Schlag darzulegen.
Ein für allemal muß ich noch auf Folgendes hinweisen: Wenn KANT sagt: Durch Anschauung allein können uns Gegenstände gegeben werden (A 112), so liegt dabei der Nachdruck auf dem "gegeben werden", denn der durch die Anschauung gegebene Gegenstand ist zunächst ein vom Verstand noch unbestimmt gelassener Gegenstand, nichts weiter als Empfindung. In der Ästhetik wird ein solcher unbestimmter Gegenstand einer empirischen Anschauung als "Erscheinung" bezeichnet. (A 48) Es ist aber ein terminologischer Mangel bei KANT, daß der Begriff der Erscheinung außer der vorstehenden noch eine andere Bedeutung erhält. In der Analytik wird nämlich auch der allseitig bestimmte empirische Gegenstand als Erscheinung bezeichnet und zwar in Abgrenzung gegen das Ding-ansich. Dieser terminologische Mangel macht sich namentlich dadurch bemerkbar, daß in der Deduktion der ältere, engere Begriff der Erscheinung gelegentlich verwendet wird, sodaß die beiden nebeneinander bestehen. Zum Beispiel A 109: "erstlich Anschauung, dadurch derselbe, aber nur als Erscheinung, gegeben wird." A 121: "Eben diese transzendentale Einheit der Apperzeption macht aber aus allen Erscheinungen etc." A 122: "Erscheinungen sind die einzigen Gegenstände etc." und besonders kraß A 133: "weil jene sonst zwar Erscheinungen, aber keine Gegenstände ... geben würden."
Sein Verfahren in der 1. Auflage, die transzendentale Untersuchung vorzubereiten und zu erleichtern durch subjektiv-psychologische Reflexionen begründet KANT damit, daß einerseits im Gedanken eines Gegenstandes mehr als das einzige Vermögen, zu denken, der Verstand beschäftigt ist und andererseits dieser einer besonderen Erläuterung wegen der Möglichkeit einer Beziehung auf Objekte bedarf. Die Erläuterung soll diejenigen subjektiven Erkenntnisquellen aufzeigen, "welche selbst den Verstand und durch diesen alle Erfahrung ... möglich machen." ((A 114)
Erkenntnis ist "ein Ganzes verglichener und verknüpfter Vorstellungen" (A 114). Da die Verknüpfung nur durch eine spontane Synthesis möglich ist, so wird Erkenntnis nur durch ein Zusammenwirken von Rezeptivität und Spontaneität möglich. Diese Spontaneität ist nur Grund einer 3-fachen Synthesis, nämlich:
1. Synthesis der Apprehension,
2. Synthesis der Reproduktion,
3. Synthesis der Rekognition.
Daß diese 3 Synthesen nicht etwa pluralistisch 3 verschiedene, selbständige Erkenntnisvermögen sind, ist trotz der isolierten Darstellung, welche KANT denselben zunächst angedeihen läßt, für den Kenner der Kritik gewiß. "Es gibt", sagt RIEHL, "nach der Lehre Kants nur eine ursprüngliche Synthesis des Bewußtseins." (3)
Treten wir den Lehren KANTs über diese 3 Synthesen näher.
Synthesis der Apprehension
und Reproduktion
Jede Vorstellung, lehrt KANT, kann als in einem Augenblick enthalten niemals etwas anderes als absolute Einheit sein. Jede Anschauung enthält andererseits ein Mannigfaltiges in sich. Nur dadurch kann dieses als ein Mannigfaltiges vorgestellt werden, daß das Gemüt die Zeit in der Folge der Eindrücke aufeinander unterscheidet (A 115). Denn als Modifikationen des Gemüts gehören alle Vorstellungen zum inneren Sinn und sind als solche der formalen Bedingung des inneren Sinns, der Zeit, unterworfen, in welcher sie verknüpft und geordnet werden (A 115).
"Damit nun aus diesem Mannigfaltigen Einheit der Anschauung wird, so ist erstens das Durchlaufen der Mannigfaltigkeit und dann die Zusammennehmung desselben notwendig, welche Handlung ich die Synthesis der Apprehension nenne, weil sie geradezu auf die Anschauung gerichtet ist." (A 115)
Ohne eine solche Synthesis kann die Anschauung kein Mannigfaltiges als Mannigfaltiges in einer Vorstellung darbieten.
Der Synthesis der Apprehension wird also ausdrücklich eine doppelte Tätigkeit zugeschrieben, nämlich:
1. das Durchlaufen des Mannigfaltigen, d. h. das sukzessive Aufnehmen der einzelnen Eindrücke und
2. die Zusammennehmung der vielen Eindrücke.
Ohne diese letztere Tätigkeit könnte ja gar nicht von einer Synthese gesprochen werden. "Apprehendieren" bedeutet also soviel wie: Eindrücke aufnehmen und zusammennehmen. In Übereinstimmung mit der 1. Auflage wird auch in der 2. Auflage die Synthesis der Apprehension als eine "Zusammensetzung" erklärt (B 677). Und wenn es in der 3. Fassung der 1. Auflage von der Einbildungskraft heißt, daß sie die Eindrücke zunächst apprehendieren, d. h. in ihre Tätigkeit aufnehmen muß (A 130), so wird auch hier die Übereinstimmung ersichtlich, wenn man erwägt, daß die Tätigkeit der Einbildungskraft eine bildende, d. h. zusammensetzende ist.
Freilich, durch die Tätigkeit der apprehensiven Synthesis allein kann noch keine Einheit der Anschauung, kein Bild und kein Zusammenhang entstehen, wenn sie nicht im Verein mit der reproduktiven Synthesis erfolgt. Das Zusammennehmen des Mannigfaltigen in der Zeit erfordert, um zu einem einheitlichen Ganzen zu gelangen, die beständige Reproduktion der nicht mehr aktuell präsenten Eindrücke. Denn es
"ist offenbar, daß, wenn ich eine Linie in Gedanken ziehe, ... ich erstens notwendig eine dieser mannigfaltigen Vorstellungen nach der anderen in Gedanken fassen muß [Apprehension]. Würde ich aber die vorhergehende [Vorstellung] (die ersten Teile der Linie ...) immer aus den Gedanken verlieren und sie nicht reproduzieren ..., so würde niemals eine ganze Vorstellung ... entspringen können." (A 117)
Wie man sieht, sind die beiden Synthesen der Apprehension und Reproduktion auf das Engste oder wie KANT selbst sagt, "unzertrennlich" miteinander verbunden. "Die Apprehension setzt die Reproduktion voraus oder schließt sie vielmehr ein." (4) Dadurch nun, daß KANT wohl aus didaktischen Gründen diese so eng verbundenen Synthesen hier isoliert behandelt, gerät er selbst in Verwirrung. Zunächst nämlich schreibt er im Einklang mit der vulgären Meinung das Vermögen der Reproduktion der Einbildungskraft zu. Wenn er dann aber von der empirischen Reproduktion ausgehend die Frage nach dem "Grund apriori einer notwendigen synthetischen Einheit" der Erscheinungen aufwirft (A 117) und diesen in einer reinen transzendentalen Synthesis der reproduktiven Einbildungskraft findet, so sieht man, daß KANT infolge seiner isolierten Darstellung die Frage einseitig und ungenügend beantwortet, weil er sie einseitig gestellt hatte. Denn die Frage nach dem Grund apriori einer notwendigen synthetischen Einheit der Erscheinungen schließt die Frage nach der Apprehensibilität derselben ein. Aus demselben Grund, aus dem die Erscheinungen notwendig reproduzibel sind, sind sie auch apprehensibel, und es kann demnach in Wahrheit als Grund a priori der Synthesis nur die "produktive Einbildungskraft" gelten, wie sie in der 2. Fassung auftritt. Dagegen, daß ich apprehendiere und reproduziere, ist immer nur subjektiv-empirisch, was KANT auch schon bald in der 1. Fassung gesteht. (Alle Synthesis der Apprehension, die empirisch ist (A 122)). Um die Verwirrung KANTs erklärlich zu finden, wird man festhalten müssen, daß namentlich bei seiner isolierten Darstellung die Frage nach der Apprehensibilität nicht so nahe lag als die nach der Reproduzibilität der Erscheinungen.
Sowie aber KANT seine Methode des Vortrags ändert, nämlich im Zusammenhang vorträgt, wird ihm auch der wahre Zusammenhang klar. In der 2. Fassung tritt die "produktive Einbildungskraft", deren Synthesis allein transzendental ist, auf. Der Terminus "Einbildungskraft" wird aber jetzt in einem anderen Sinn, nämlich im Anklang an eine etymologische Vorstellung gebraucht. "Die Einbildungskraft soll ... das Mannigfaltige der Anschauung in ein Bild bringen." (A 130). In der 2. Auflage wird die Einbildungskraft genau definiert:
"Einbildungskraft ist das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen." (B 672)
Der Gegenstand ist, wie die Deduktion lehrt, in keiner Anschauung direkt gegenwärtig und gegeben. Gegeben ist nur der beständige Wechsel der Empfindungen, während der Gegenstand eine dem Subjekt gegenüberstehende ruhende Einheit ist. Das Mannigfaltige der Empfindungen muß also zu einem Bild, einer Figur zusammengesetzt werden, was durch die Einbildungskraft geschieht, deren Synthesis deswegen "figürlich" (synthesis speciosa) genannt wird, im Gegensatz zur synthesis intellectualis des reinen Verstandes, welche von der Sinnlichkeit unabhängig ist.
Wenn also auch KANT hier in der 1. Fassung noch nicht zu völliger Klarheit gelangt, so ist er doch durch seine Frage nach dem "Grund apriori" der richtigen Antwort schon sehr nahe, und es liegt absolut kein Grund vor, in seiner ungenügenden Beantwortung einen völligen Widerspruch zu der späteren Lehre von der produktiven Einbildungskraft zu sehen. Im Gegeneil, KANT will im Grunde ganz dasselbe sagen, hier wir dort. Dies scheint auch die Meinung RIEHLs zu sein, wenn er sagt, in dem Satz: "so gehört die reproduktive Synthesis etc." müsse es statt "reproduktive" "produktive" heißen (5). (siehe A 117)
Von besonderer Wichtigkeit für das Folgende erscheint mir ferner, daß KANT die Notwendigkeit einer reinen und transzendentalen Synthesis der Apprehension und Reproduktion beide Male mit einem Hinweis auf die reinen formalen Anschauungen von Raum und Zeit begründet, die sonst nicht zustande kommen könnten. (siehe A 115f und 117f)
Synthesis der Rekognition
Apprehension und Reproduktion sind also nötig, um das Mannigfaltige in eine Einheit zusammenzufassen. Allein ein Begreifen dieser Einheit, eine begriffliche Vorstellung derselben könnte auf solche Weise noch nicht zustande kommen, wenn nicht die Synthese der Reproduktion begleitet wäre von Rekognition, von einer Wiedererinnerung und Wiedererkennung der reproduzierten Vorstellungen, d. h. wenn nicht die Identität der reproduzierten Vorstellungen, d. h. wenn nicht die Identität der reproduzierten Vorstellungen mit den vergangenen durch die Wiedererkennung konstatiert würde. Mit anderen Worten, es muß ein Bewußtsein der Reproduktion vorhanden sein. Im anderen Fall wäre jede reproduzierte Vorstellung eine neue Vorstellung im jetzigen Zustand.
"Vergesse ich im Zählen: daß die Einheiten, die mir jetzt vor Sinnen schweben, nach und nach zu einander von mir hinzugetan worden sind, so würde ich nicht ... die Zahl erkennen; denn dieser Begriff besteht lediglich in dem Bewußtsein dieser Einheit der Synthesis." (A 118)
Die Möglichkeit der Reproduktion wird nur verständlich durch die Einheit des Bewußtseins. Im Begriff, der das Mannigfaltige als Einheit enthält, wird das sukzessive apprehendierte und implizit reproduzierte Mannigfaltige rekognosziert vermöge des einen Bewußtseins. Dieses eine Bewußtsein, sagt KANT, kann oft nur schwach sein, aber es muß immer ein Bewußtsein vorhanden sein, "und ohne dasselbe sind Begriffe und mit ihnen Erkenntnis von Gegenständen ganz unmöglich." (A 118).
An diese Ausführungen, welche den Inhalt der beiden ersten Absätze des Abschnittes über die Rekognition ausmachen, schließt sich nun in der uns vorliegenden Gestalt der Deduktion eine Untersuchung über den Begriff des Gegenstandes an, welche gewiß unerwartet auftritt und vorderhand keine Verbindung mit dem vorigen Gedanken erkennen läßt. Das Unvermittelte des neuen Gedankens ist auch oft bemerkt worden. Ich werde später den Beweis dafür erbringen, daß sich ursprünglich der 2. Absatz auf Seite 121 als dritter Absatz angeschlossen hat: "Nun können keine Erkenntnisse in uns stattfinden etc." Wir ich ebenfalls später zeigen werde, kann dieser Absatz an seiner jetzigen Stelle unmöglich stehen bleiben, er muß vielmehr unbedingt vor die Untersuchung über den Gegenstand gesetzt werden, womit, wie sich sogleich ergibt, die vielbemerkte Unklarheit dieser ganzen Abhandlung aufhellt. Genauso nämlich, wie KANT in Nr. 1 und 2 von der empirischen Synthesis der Apprehension und Reproduktion zu einer reinen transzendentalen fortgeschritten ist, ging er ursprünglich auch jetzt von der Einheit des empirischen Bewußtseins zur Einheit des reinen Bewußtseins über mit dem Satz:
"Nun können keine Erkenntnisse in uns stattfinden, keine Verknüpfung und Einheit derselben untereinander, ohne diejenige Einheit des Bewußtseins, welche vor allen Datis der Anschauungen vorhergeht."
"Dieses reine, ursprüngliche, unwandelbare Bewußtsein will ich nun die transzendentale Apperzeption nennen." (A 121)
Der Parallelismus der Darstellung wird auf das Klarste daran erkannt, daß KANT sich wegen der Berechtigung der transzendentalen Apperzeption wiederum auf die reinen formalen Anschauungen von Raum und Zeit beruft, analog seinem Vorgehen in Nr. 1 und 2.
"Daß sie [die transzendentale Apperzeption] diesen Namen verdient, erhellt sich schon daraus, daß selbst die reinste objektive Einheit, nämlich die der Begriffe a priori (Raum und Zeit) nur durch Beziehung der Anschauung auf sie möglich wird." (A 121)
Die so gewonnene transzendentale Einheit des Bewußtseins ist natürlich im Grunde nur subjektiv. Wie hätte KANT von dieser aus zu einer Erkenntnis des Gegenstandes gelangen können, worauf er doch hinaus mußte? KANT fühlt die Bedenklichkeit, läßt sein parallelistisches Verfahren beiseite und fährt fort:
"Und hier ist es dann notwendig, sich darüber verständlich zu machen, was man denn unter dem Ausdruck eines Gegenstandes der Vorstellungen meint." (A 118)
Man hört aus diesen Worten förmlich die Bedenken KANTs heraus. Mit diesem Satz desavouiert [unmöglich machen - wp] er sein bisheriges Verfahren und begibt sich zugleich auf den richtigen Weg, um die transzendentale Apperzeption als die objektive Einheit des Selbstbewußtseins zu begründen.
Die transzendentale Apperzeption als objektive Einheit des Selbstbewußtseins
Was versteht man denn unter einem Gegenstand der Vorstellungen? Zunächst ist leicht einzusehen, daß der Gegenstand nur als "etwas überhaupt = X" muß gedacht werden,
"weil wir außer unserer Erkenntnis doch nichts haben, welches wir dieser Erkenntnis als korrespondierend gegenüber setzen könnten." (A 119)
Gleichwohl ist die Beziehung aller Erkenntnis auf ihren Gegenstand notwendig:
"da nämlich dieser als dasjenige angesehen wird, was dawider ist, daß unsere Erkenntnisse [nicht] aufs Geratewohl oder beliebig, sondern [bewirkt, daß sie] apriori auf gewisse Weise bestimmt sind, weil, indem sie sich auf einen Gegenstand beziehen sollen, sie auch notwendigerweise ... diejenige Einheit haben müssen, welche den Begriff von einem Gegenstand ausmacht." (A 119)
Andererseits haben wir den Gegenstand gar nicht, wir haben nur das Mannigfaltige unserer Vorstellungen, denen der Gegenstand als Einheitsgrund korrespondiert. Folglich kann "die Einheit, welche der Gegenstand notwendig macht", nichts anderes sein, "als die formale Einheit des Bewußtseins in der Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen". (A 119). Wir erkennen den Gegenstand, wenn wir das Mannigfaltige der Anschauung zur synthetischen Einheit in der Form eines Begriffs verbunden haben. Diese synthetische Einheit ist aber ganz allgemein die formale Einheit des Bewußtseins, folglich ist der Begriff dieser Einheit ganz allgemein die Vorstellung vom Gegenstand = X. Im Begriff weist das in ihm zur Einheit verbundene Mannigfaltige über sich selbst hinaus auf ein Etwas, in dem das Mannigfaltige zusammenhängt. Dies wird aber nur dadurch verständlich, daß ganz allgemein der Begriff eines Gegenstandes die Notwendigkeit der Synthesis des in ihm synthetisch vereinigten Mannigfaltigen zum Ausdruck bringt. Dann kann aber die Synthese nicht in das Belieben eines Einzelnen oder des Augenblicks gestellt sein, sondern sie muß ein für allemal nach der Einheit einer Regel erfolgen.
"Diese Einheit der Regel bestimmt nun alles Mannigfaltige und schränkt es auf Bedingungen ein, welche die Einheit der Apperzeption möglich machen und der Begriff dieser Einheit ist die Vorstellung vom Gegenstand = X." (A 120)
In den hier genannten "Bedingungen" haben wir zugleich die erste Andeutung der Kategorien.
Die Möglichkeit der Erkenntnis von Gegenständen erfordert also eine formale, d. h. der Form nach notwendige Einheit des Bewußtseins. Folglich liegt der empirisch-subjektiven Einheit des Bewußtseins eine transzendentale Bedingung zugrunde, die davon toto genere [völlig - wp] verschieden ist. Diese nennt KANT die "transzendentale Apperzeption".
"Das, was notwendig als numerisch-identisch vorgestellt werden soll, kann nicht als ein solches durch empirische Data gedacht werden. Es muß eine Bedingung sein, die vor aller Erfahrung vorhergeht und diese selbst möglich macht." (A 121)
Die transzendentale Apperzeption ist die Form des Bewußtseins überhaupt, betrachtet in Bezug auf die Möglichkeit der Erkenntnis von Gegenständen.
Die transzendentale Einheit der Apperzeption macht nun "aus allen möglichen Erscheinungen, die immer in einer Erfahrung beisammen sein können [das "können" ist zu beachten], einen Zusammenhang all dieser Vorstellungen nach Gesetzen." (A 121) Erscheinungen können nur dadurch in einer Erfahrung beisammen sein, daß sie in einem gesetzmäßigen Zusammenhang stehen. Wurde schon oben in positiver, allgemeiner Weise von "Bedingungen" gesprochen, welche die Einheit der Apperzeption möglich machen, so heißt es jetzt in negativer Wendung, daß diese Einheit der Apperzeption (als einer synthetischen Einheit) "unmöglich" wäre,
"wenn nicht das Gemüt in der Erkenntnis des Mannigfaltigen sich der Identität der Funktion bewußt werden könnte, wodurch sie dasselbe synthetisch in einer Erkenntnis verbindet." (A 121)
Die Einheit der Apperzeption als einer synthetischen Einheit setzt das Bewußtsein der Identität der die Synthesis vollziehenden Funktion voraus, d. h. ich muß mir meiner Synthesis der Erscheinungen bewußt werden können. Damit aber erfahren die Erscheinungen selbst eine Gestaltung, denn ich kann mir meiner Synthesis nur bewußt werden, wenn die Erscheinungen so beschaffen sind, daß sie sich überhaupt zusammensetzen lassen, folglich müssen die Erscheinungen eben auf solche Bedingungen eingeschränkt sein, welche das Bewußtsein ihrer Synthese und damit die synthetische Einheit der Apperzeption ermöglichen. Solche Bedingungen aber müssen apriorische Begriffe oder Regeln der Einheit sein, welchen gemäß die Einheit der Synthese aller Erscheinungen als eine notwendige vollzogen wird. Indem die Einheit der Synthesis als notwendig erkannt wird, wird sie zugleich als gegenständlich erkannt, denn der Begriff einer notwendigen synthetischen Einheit ist allgemein die Vorstellung eines Gegenstandes.
"Also ist das ursprüngliche und notwendige Bewußtsein seiner selbst zugleich ein Bewußtsein einer ebenso notwendigen Einheit der Synthesis aller Erscheinungen nach Begriffen." (A 121)
Es erscheint mir angebracht, hier auf die entsprechende Stelle der zweiten Auflage zu verweisen, weil sie an Klarheit die hiesige Stelle weit übertrifft. A 660 heißt es:
"Nämlich diese durchgängige Identität der Apperzeption eines in der Anschauung gegebenen Mannigfaltigen ... ist nur durch Bewußtsein dieser Synthesis möglich."
Die Beziehung der Vorstellungen auf die Identität des Subjekts geschieht erst dadurch,
"daß ich eine zu der anderen hinzusetze und mir der Synthesis derselben bewußt bin. Also nur dadurch, daß ich ein Mannigfaltiges ... in einem Bewußtsein verbinden kann, ist es möglich, daß ich mir die Identität des Bewußtseins in diesen Vorstellungen selbst vorstelle."
"Es handelt sich also", wie Riehl sagt (6), "um die Begreiflichkeit der Erscheinungen, nicht um unser subjetives Begreifen derselben, um die Form der Denkobjekte, nicht um die Fähigkeit des Denkens."
Das Bewußtsein der Identität der Funktion ist die Bedingung für die synthetische Einheit der Apperzeption, d. h. es muß möglich sein, die Erscheinungen müssen auf Bedingungen eingeschränkt und so beschaffen sein, daß sie sich zur synthetischen Einheit verbinden lassen.
"Nur dadurch, daß ich das Mannigfaltige der Vorstellungen in einem Bewußtsein begreifen kann, nenne ich dieselben insgesamt meine Vorstellungen";
d. h. ich beziehe sie auf die durchgängige Identität der Apperzeption.
"Synthetische Einheit des Mannigfaltigen ... als a priori gegeben ist also der Grund der Identität der Apperzeption selbst." (A 661)
Mit den "Begriffen" oder "Regeln a priori", in welchen die Synthesis vollzogen werden muß, sind natürlich Kategorien gemeint, was eigentlich selbstverständlich ist. Wenn aber VAIHINGER (7) darin, daß in Nr. 3 der Deduktion der Ausdruck "Kategorien" nicht vorkommt, eine chronologisches Indiz erblicken zu können glaubt, indem er der Meinung ist, daß KANT bei diesen Begriffen a priori noch nicht an die Kategorien gedacht hat, daß dieselben vielmehr "höchstens" die "Knospenpunkte" oder "Ansätze" für die Kategorien darstellen, so hat diese Argumentation schon deswegen keinen Halt, weil KANT nicht direkt die objektive Gültigkeit der 12 Kategorien der metaphysischen Deduktion hier nachweist, sondern nur allgemein zu zeigen sucht, daß die Möglichkeit der Erfahrung reine Verstandesbegriffe a priori als Bedingungen voraussetzt. KANT spricht eben deswegen hier nicht von den Kategorien, weil er dann deren objektive Gültigkeit im Einzelnen nachweisen müßte.
Insofern also alles verschiedene Bewußtseins zu einem durchgängigen Selbstbewußtsein muß verbunden werden können, sind alle Vorstellungen notwendig einer transzendentalen Einheit der Apperzeption als der Form allen empirischen Bewußtseins unterworfen und damit wird die Einheit der empirischen Synthesis der Apprehension notwendig, weil sie auf Regeln a priori gegründet ist. Die allgemein vorgestellte notwendige Einheit des Bewußtseins ist nun zugleich die Vorstellung eines Gegenstandes überhaupt! Alle Vorstellungen haben als Vorstellungen, d. h. als Vorstellungen einer notwendigen synthetischen Einheit, ihren Gegenstand. Dies gilt nun auch betreffs der Erscheinungen, d. h. der durch Affektion empfangenen Vorstellungen, denn Erscheinungen sind nicht Dinge ansich. Folglich ist wie für die Vorstellungen, so auch für die Erscheinungen überhaupt der Gegenstand ein für allemal ein transzendentaler, d. h. das Ergebnis eines erkenntnistheoretischen Prozesses.
Auf dem reinen Begriff dieses transzendentalen Gegenstandes, d. h. auf dem erkenntnistheoretischen Prozeß, der die notwendige synthetische Bewußtseinseinheit ganz allgemein als gegenständlich erkennt, beruth demgemäß auch die Erkenntnis der Gegenständlichkeit und objektiven Realität aller empirischen Bewußtseinseinheit.
"Der reine Begriff von diesem transzendentalen Gegenstand ist das, was [in] allen unseren empirischen Begriffen überhaupt Beziehung auf einen Gegenstand, d. h. objektive Realität verschaffen kann." (A 122)
Da nun dieser Begriff vom transzendentalen Gegenstand selbst nichts anderes ist als die Vorstellung der notwendigen synthetischen Einheit eines Mannigfaltigen im Bewußtsein, sofern es gegenständlich sein soll, so wird
"die objektive Realität unserer empirischen Erkenntnis auf dem transzendentalen Gesetz beruhen, daß alle Erscheinungen, sofern uns dadurch Gegenstände gegeben werden sollen, unter Regeln a priori der synthetischen Einheit derselben stehen müssen, nach welcher ihr Verhältnis in der empirischen Anschauung allein möglich ist." (A 123)
In der 2. Auflage hat KANT für diese schwierigen, weil inhaltsschweren Gedanken eine ebenso elegante, wie prägnante Ausdrucksform gefunden:
"Die transzendentale Einheit der Apperzeption ist diejenige, durch welche alles in einer Anschauung gegebene Mannigfaltige in einen Begriff vom Objekt vereinigt wird. Sie heißt darum objektiv." (A 664)
Die transzendentale Apperzeption hat also mit der subjektiven Einheit des Bewußtseins nichts zu tun, sie ist vielmehr die Form des Bewußtseins überhaupt, wie der Erkenntnis eines Gegenstandes überhaupt.
Es braucht nur darauf hingewiesen zu werden, daß transzendentaler Gegenstand und Ding-ansich nicht identisch sind. Der transzendentale Gegenstand ist ein Ausdruck dafür, daß jeder Bewußtseinseinheit, sofern sie notwendig sein soll, diese ihre Notwendigkeit nur im Hinblick auf die Möglichkeit der Erkenntnis eines Gegenstandes zukommen kann. Dinge-ansich dagegen werden vorausgesetzt als außer uns liegender Gründe der Eigenbestimmtheit der empirischen Dinge.
Die transzendentale Apperzeption oder das Bewußtsein überhaupt als Form allen empirischen Bewußtseins ist weder etwas Mystisches, noch etwas, dem gleichsam göttliche Ehren erwiesen werden, wie ein berühmter Physiologe meint. Der tiefe Gedanke KANTs ist, so einfach wie möglich ausgedrückt, folgender: Wenn jemand (X) Wendungen gebraucht wie "Ich" oder "meine Vorstellungen", so wissen wir genau, daß X eine mit der unsrigen übereinstimmende objektive Erkenntnis besitzt. Denn, um solche Wendungen gebrauchen zu können, muß X das Mannigfaltige nach den allgemeinen apriorischen Regeln, welche die Einheit der transzendentalen Apperzeption möglich machen, verbunden haben. Die bei allen Menschen anzutreffende gemeinsame analytische Einheit der Apperzeption setzt eine gemeinsame synthetische voraus. Man denke auch an KANTs Ausspruch in den "Träumen eines Geistersehers": "Wenn von verschiedenen Menschen ein jeglicher seine eigene Welt hat, so ist zu vermuten, daß sie träumen." (8)
Nach meiner Darstellung ist also KANT zweimal und auf zwei verschiedenen Wegen zum Begriff der transzendentalen Apperzeption emporgestiegen. Ursprünglich leitete ihn ein parallelistischer Gedanke, der ihm von der Apprehension und Reproduktion her vertraut war. "Schon daraus", daß die reinste objektive Einheit, die reinen formalen Anschauungen von Raum und Zeit sonst nicht zustande kommen könnten, läßt sich, wie früher eine transzendentale Synthese der Apprehension und Reproduktion, so auch jetzt der Begriff der transzendentalen Apperzeption gewinnen. Da aber von hier aus ein Abstieg zum Gegenstand - der subjektiv-idealistische Standpunkt kommt für KANT nicht in Betracht - unmöglich war, so mußte KANT, um zu wahrer objektiver Realität anstelle scheinbarer subjektiver zu gelangen, den neuen Weg vom Gegenstand selbst aus einschlagen. Nicht die Einheit des Bewußtseins macht ja den Gegenstand, sondern umgekehrt, der Gegenstand, die Rücksicht auf objektive Erkenntnis macht die Einheit des Bewußtseins notwendig. (9) Denn der Gegenstand wird uns gar nicht gegeben, sondern nur das Mannigfaltige der Erscheinungen. Dann muß also das Mannigfaltige zur synthetischen Einheit des Bewußtseins verbunden werden, wenn es in Bezug auf einen Gegenstand stehen soll, dann müssen aber auch die Erscheinungen zu dieser Einheit verbunden werden können. Das aber wird nur dann gewährleistet, wenn es ein transzendentales Gesetz ist, daß alle Erscheinungen, sofern sie gegenständlich sein sollen, unter Bedingungen der notwendigen Einheit der Apperzeption stehen müssen. Dann hat die transzendentale Einheit der Apperzeption in Wahrheit objektiven Charakter, weil sie das Gesetz der objektiven Bewußtseinsynthese ist.
Ist meine Darstellung von 2 Wegen, die KANT zur Begründung der transzendentalen Apperzeption eingeschlagen hat, richtig (ich werde den Beweis dafür später erbringen), so tritt dadurch die Unmöglichkeit, KANTs Lehren im Sinn des subjektiven Idealismus zu interpretieren, nur umso deutlicher zutage.
Der Gegenstand der Erfahrung und die Kategorien als Erkenntnisse a priori
KANT hat uns bisher gezeigt, daß, wie für die Vorstellungen als Vorstellungen (d. h. einer notwendigen synthetischen Einheit), so auch für die Erscheinungen die Gegenständlichkeit erkannt wird aus der nach apriorischen Begriffen und daher mit Notwendigkeit vollzogenen synthetischen Einheit. Wir haben also einen Gegenstand der Vorstellungen und einen Gegenstand der Erscheinungen. Von diesen geht nun KANT in Nr. 4: "Vorläufige Erklärung der Möglichkeit der Kategorien als Erkenntnissen a priori" über zum "Gegenstand der Erfahrung". Der Gegenstand der Erfahrung ist etwas ganz Neues, das Erfahrbare ist für KANT der Inbegriff des Gesetzmäßigen und so ist der Gegenstand der Erfahrung die empirische Gesetzmäßigkeit, die empirischen Naturgesetze. Indem nun KANT zeigen wollte, daß auch die Gegenstände der Erfahrung, d. h. alles erfahrbare Gesetzmäßige, unter reinen Verstandesbegriffen oder Kategorien stehen, mußte er die Kategorien als Bedingungen a priori der Erfahrung überhaupt, als Erkenntniss a priori der Möglichkeit der Erfahrung aufzeigen. Diese Erklärung konnte aber nicht bis ins Einzelne gehen, sondern mußte, wie die Überschrift sagt, eine "vorläufige" sein mit Rücksicht auf die Lehre von den Grundsätzen der Erfahrung.
KANT mußte demnach den Begriff der Erfahrung entwickeln. Jedes empirisch und genügend exakt konstatierte Naturgesetz erhebt den Anspruch absoluter Notwendigkeit und Allgemeinheit, d. h. sein Inhalt ist jederzeit erfahrbar, wenn die (exakt festgestellten) Bedingungen gegeben sind. So sagt KANT:
"Es ist nur eine Erfahrung, in welcher alle Wahrnehmungen als im durchgängigen und gesetzmäßigen Zusammenhang vorgestellt werden." (A 123)
Wenn man von verschiedenen Erfahrungen spricht, so meint man damit nicht so und soviel singuläre, selbständige Erfahrungen, sondern man meint eine Anzahl Wahrnehmungen, die alle zusammen ohne Ausnahme der unitarischen [Einigung bezweckend - wp] Einheit der Erfahrung angehören. Denn:
"Die durchgängige und synthetische Einheit der Wahrnehmungen macht nämlich gerade die Form der Erfahrung aus und sie ist nichts anderes als die synthetische Einheit der Erfahrungen nach Begriffen." (A 123)
Dieser unitarische Begriff der Erfahrung kann natürlich nicht selbst aus der Erfahrung entlehnt sein, da er als Form der Erfahrung überhaupt erst Erfahrung möglich macht, d. h. die Einheit der durchgängigen Synthesis der sindulären Wahrnehmungen beruth nicht auf empirischen Begriffen, sondern hat eine transzendentale Grundlage. Die Form der Erfahrung überhaupt besteht demnach in einer synthetischen Einheit des Erfahrbaren nach apriorischen Begriffen. Apriorische Begriffe liegen also als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung zugrunde, dann sind diese aber zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung, d. h. der erfahrbaren Gesetzmäßigkeit.
"Nun behaupte ich, die eben angeführten Kategorien sind nichts anderes, als die Bedingungen des Denkens zu einer möglichen Erfahrung."
"Also sind jene auch Grundbegriffe, Objekte überhaupt zu den Erscheinungen zu denken und haben also apriori objektive Gültigkeit." (A 124)
Wie also unter "Gegenstand der Erfahrung" das erfahrbare Gesetzmäßige zu verstehen ist, so ist hier unter "Objekt überhaupt" "Gesetzmäßigkeit überhaupt" zu verstehen. KANT behauptet, daß die Kategorien die Bedingungen des Denkens zu einer möglichen Erfahrung darstellen, bewiesen kann das hier im Einzelnen nicht werden. Bewiesen wird nur, daß es Kategorien als Grundbegriffe geben muß, um die Gesetzmäßigkeit der Erfahrung überhaupt zu denken, indem aus ihnen Erkenntnisse a priori fließen, welche die Form der Erfahrung als durchgängiger Gesetzmäßigkeit konstituieren. Denn die Möglichkeit, ja sogar die Notwendigkeit von Kategorien in dieser Hinsicht
"beruth auf der Beziehung, welche die gesamte Sinnlichkeit und ... alle möglichen Erscheinungen auf die ursprüngliche Apperzeption haben." (A 124)
Die Erfahrung hat ihre Einheit von der Einheit der Apperzeption (siehe A 222). Die Einheit der Apperzeption aber ist nur möglich, wenn alle Erscheinungen "unter allgemeinen Funktionen der Synthesis", nämlich der Synthesis nach Begriffe stehen.
"So ist der Begriff einer Ursache nichts anderes als eine Synthesis ... nach Begriffen und ohne dergleichen Einheit, die ihre Regel a priori hat, und die Erscheinungen sich unterwirft, würde durchgängige und allgemeine, folglich notwendige Einheit des Bewußtseins ... nicht angetroffen werden." (A 124)
Die Wahrnehmungen "würden aber alsdann auch zu keiner Erfahrung gehören, folglich ohne Objekt" [d. h. ohne Gesetzmäßigkeit, vielmehr statt dieser] nichts als ein blindes Spiel unserer Vorstellungen, d. h. "weniger als ein Traum sein". (A 124)
Wie demnach auf der einen Seite Kategorien die synthetische Einheit der Apperzeption als Form der Erkenntnis zustande bringen, so stellen dieselben auf der anderen Seite, da auf der Einheit der Apperzeption die Einheit der Erfahrung beruth, hinsichtlich letzterer gewisse Erkenntnisse a priori dar, welche die Form der Erfahrung als durchgängiger Gesetzmäßigkeit ausmachen.
Jedermann wird es verständlich finden, daß KANT, nachdem er das Problem gelöst, nochmals in Anknüpfung an den eben erst erwähnten Ursachbegriff erinnern zu müssen glaubt, daß alle Versuche, die reinen Verstandesbegriffe von der Erfahrung abzuleiten, eitel und vergeblich sein müssen, weil eben die Erfahrung selbst die strenge Notwendigkeit dieser Begriffe nicht geben kann. Aber, wird KANTs Gedankengang an dieser Stelle sein, lassen wir den Kausalbegriff beiseite, um nicht in die Lehre von den Grundsätzen zu geraten, sondern stellen wir die Frage noch einmal ganz allgemein. Denn die empirische Regel der Assoziation wird ja auch als durchgängig angenommen, wenn man sagt:
"daß alles in der Reihenfolge der Begebenheiten dermaßen unter Regeln steht, daß niemals etwas geschieht, vor welchem nicht etwas vorhergeht, darauf es jederzeit folgt". (A 125)
Dies soll demnach doch ein Naturgesetz sein! Aber worauf beruth es und wie ist, wenn wir den objektiven Grund der Assoziation "Affinität" nennen, diese durchgängige Affinität der Erscheinungen ("dadurch sie unter beständigen Gesetzen stehen und darunter gehören müssen" (A 125)) begreiflich?
Nach dem, was wir von der transzendentalen Apperzeption im 3. Abschnitt gehört haben, ist die Antwort auf diese Frage leicht zu geben. "Alle möglichen Erscheinungen gehören als Vorstellungen zu dem ganzen möglichen Selbstbewußtsein." Nichts kann in die Erkenntnis kommen, "ohne mittels dieser ursprünglichen Apperzeption". (A 125) Die Erscheinungen müssen, wenn sie Erkenntnis werden sollen, zur synthetischen Einheit verbunden werden gemäß der Einheits- und Erkenntnisform der transzendentalen Apperzeption. Dann müssen die Erscheinungen sich aber auch verbinden lassen, was nur möglich ist, wenn sie a priori Bedingungen unterworfen sind, welchen ihre Synthesis der Apprehension gemäß sein muß. Diese Bedingungen oder Regeln heißen Gesetze, wenn das Mannigfaltige ihrer Anleitung gemäß gesetzt werden muß.
"Also stehen alle Erscheinungen in einer durchgängigen Verknüpfung nach notwendigen Gesetzen und folglich in einer transzendentalen Affinität, woraus die empirische die bloße Folge ist." (A 125)
In diesem letzteren Gedankengang KANTs erkennen wir deutlich das Bestreben, ganz allgemein nachzuweisen, daß das erfahrbar Gesetzmäßige notwendig unter allgemeinen Gesetzen der Erfahrung stehen muß, ohne vorgreifende diese allgemeinen Gesetze selbst zu entwickeln und das "wie" diese die Erfahrung möglich machen, im Einzelnen auszuführen.
Nachdem wir so den Gang der 1. Fassung der Deduktion durchlaufen haben, werden wir bekennen müssen, daß wir es mit einer vollständig zu Ende geführten Deduktion zu tun haben und daß nichts darauf hindeutet, daß der Gedankengang nicht von einem einheitlichen Grundgedanken beherrscht und jeder Teil nicht auf die Lösung der Kardinalfrage gerichtet ist. Die 1. Fassung ist eine abgeschlossene Lösung und nicht vorbereitend noch vorläufig in Bezug auf die Deduktion in ihren folgenden Fassungen. Wir haben gesehen, daß das "vorläufig" in Nr. 4 sich auf das System der Grundsätze bezieht und die im Anfang der Deduktion von KANT gemachte Bemerkung über den vorbereitenden Charakter der ersten 4 Nummern kommt für uns nicht in Betracht, da sie mit Gewißheit nachträglich hinzugesetzt ist. Für die Einheitlichkeit der ganzen 1. Fassung spricht auch auf das Überzeugendste die unkorrekte und unentwickelte Stellung, welche die Einbildungskraft in ihr einnimmt. Die wahre Bedeutung der Einbildungskraft wird in der ganzen 1. Fassung nicht scharf erkannt, vielmehr kennzeichnet KANT seinen hieisgen Standpunkt selbst auf das Deutlichste durch die Anmerkung Seite 130:
"Daß die Einbildungskraft ein notwendiges Ingredienz [Zutat - wp] der Wahrnehmung selbst ist, daran hat wohl noch kein Psychologe gedacht. Das kommt daher, weil man dieses Vermögen teils nur auf Reproduktionen einschränkte etc."
Die Deduktion ist zwar in der 1. Fassung umständlich und teilweise dunkel, aber sie behält doch den einen Grundgedanken unbewegt scharf im Auge. Sie beginnt mit dem Abschnitt "Von den Gründen a priori zur Möglichkeit der Erfahrung" und schließt mit der "Vorläufigen Erklärung". In dem genannten 1. Abschnitt wird die Richtung skizziert, welche der ganze Beweisgang innezuhalten hat, nämlich die reinen Verstandesbegriffe müssen "lauter Bedingungen a priori zu einer möglichen Erfahrung sein", sie müssen "jederzeit die reinen Bedingungen a priori eienr möglichen Erfahrung und eines Gegenstandes derselben enthalten" (A 113), nur so können sie objektive Realität haben. Die Notwendigkeit solcher apriorischer Bedingungen weist dann die Deduktion nach mit Hilfe der transzendentalen Apperzeption. Die Einheit der transzendentalen Apperzeption ist objektiv, ihre reine Einheitsform ist zugleich die Einheitsform der Erfahrung. Ebenso wie die objektive Bewußtseinssynthese nur möglich ist aufgrund reiner Verstandesbegriffe (Kategorien), so machen die letztern bezüglich der reinen Form der Erfahrung gewisse Erkenntnisse a priori aus, welche als oberste Einheitsgesetze der Erfahrung zugrunde liegen und so die Gegenstände der Erfahrung, die empirische Gesetzmäßigkeit erst möglich, d. h. begreiflich machen. Damit ist die objektive Gültigkeit solcher Kategorien bewiesen.
Die Ordnung und Regelmäßigkeit an den Erscheinungen nennen wir Natur. Diese Ordnung und Regelmäßígkeit aber bringen wir selbst hinein. "Der Verstand ist selbst der Quell der Gesetze der Natur", er ist der formale Gesetzgeber. So widersinnig, so befremdlich dies auch klingen mag: bedenkt man, daß diese
"Natur ansich nichts als ein Inbegriff von Erscheinungen, folglich kein Ding-ansich ... ist, so wrid man sich nicht wundern, sie bloß in dem Radikalvermögen all unserer Erkenntnis, nämlich der transzendentalen Apperzeption, in derjenigen Einheit zu sehen, um deren willen allein sie Objekt aller möglichen Erfahrung, d. h. Natur heißen kann." (A 126)
Wer KANTs Ausgangspunkt in der Ästhetik, sowie seine Äußerungen und sein Vorgehen in der Deduktion selbst kennt, weiß, daß diese Lehre, das Resultat der Deduktion keinen Idealismus á la BERKELEY darstellt. Wir produzieren das Dasein der Natur nicht, sondern die Erscheinungen werden uns gegeben. Erscheinungen sind der gegebene Stoff für die Erkenntnis. Aber dieser Stoff ist nicht unbestimmt, ist nicht chaotisch, wie man als landläufige Einwendung gegen KANT hört (10). Wenn KANT selbst in den ersten Zeilen der Kritik ein einziges Mal von einem "rohen Stoff" der sinnlichen Empfindungen spricht, so wird die Unkorrektheit dieses Ausdrucks sich dadurch erklären, daß KANT den Gegensatz zwischen formgebender Denktätigkeit und gegebenem Stoff so stark, aber auch so einfach wie möglich dem Leser gegenüber betonen will. Der Ausdruck "Chaos" selbst als absoluter Unbestimmtheit ist naturwissenschaftlich unmöglich. Die Wissenschaft kennt nur einen Anfangszustand, dessen Bestimmtheit sich in aller nachfolgenden Zeit erhält. Der Ausdruck "Chaos" ist höchstens als Grenzbegriff zu verwenden, um die unenliche Verschiedenheit der Bestimmtheit eines von einem bestimmenden Wesen nicht wahrgenommenen Zustandes von der Bestimmtheit eines gegenwärtigen oder erlebten Zustandes zu bezeichnen. Man erinnert sich des berühmten Satzes des jungen KANT (11):
"Es ist ein Gott eben deswegen, weil die Natur auch selbst im Chaos nicht anders als regelmäßig und ordentlich verfahren kann."
Falls der Satz nicht widersinnig sein soll, muß der Ausdruck Chaos als Grenzbegriff gefaßt werden. Ebensowenig sind die Erscheinungen chaotisch. Der Ablauf der Erscheinungen wird von uns in der Zeit als Anschauungsform erkannt. In ihr ist es begründet, daß allgemein einem beliebigen Vorgang X1 ein anderer X vorhergeht. Aber sowie wir eine bestimmte Sukzession X - X1 nehmen, so hat die Bestimmtheit von X und X1 ihren Grund in den Dingen-ansich. Ebenso liegt der Grund für die Konstanz in der Begleitung oder Folge gewisser Erscheinungen in den entsprechenden Dingen-ansich. Da KANT diesen Standpunkt in der Ästhetik durch seine Unterscheidung von Dingen ansich und Erscheinung eo ipso [schlechhtin - wp] vorausschickt, so kann es nicht Wunder nehmen, wenn er am Schluß der Deduktion in der 1. wie 2. Auflage ausdrücklich in Erinnerung bringt, daß alles Empirische und empirisch Gesetzmäßige durch Erfahrung und nur jene höchsten, auf den Kategorien basierenden Gesetz, welche die Einheitsform der Erfahrung ermöglichen, a priori aus dem Verstand erkannt werden.
"Zwar können empirische Gesetze als solche ihren Ursprung keineswegs vom reinen Verstand herleiten." "Aber alle empirischen Gesetze sind nur besondere Bestimmungen der reinen Gesetze des Verstandes, unter welchen und nach deren Norm jene allererst möglich [= begreiflich] sind." (A 135f)
Und in der 2. Auflage heißt es:
"Es muß Erfahrung erst dazu kommen, um die letztere [d. h. die besonderen Gesetze] überhaupt kennen zu lernen; von Erfahrung aber überhaupt und dem, was als ein Gegenstand derselben erkannt werden kann, geben allein jene Gesetze a priori die Belehrung." A 681
Indem also KANT den Begriff der Erfahrung untersucht, ergibt sich, daß jede Erfahrung einen apriorischen, auf die Form bezüglichen und eine aposteriorischen, auf den Inhalt bezüglichen Beestandteil aufweist. Der aposteriorische Inhalt trägt seine Bestimmtheit von den Dingen-ansich ansich. Aber obwohl er vollständig bestimmt ist, ist er als Erscheinung doch nicht verbunden, im Gegenteil, durch unsere Sinnlichkeit werden zwei Vorgänge durch eine erfüllte Zeit getrennt apprehendiert. Die Verbindung müssen wir demnach herstellen, indem wir vom variablen Inhalt der Zwischenzeit als unwesentlich absehen und nur auf die Konstanz der Sukzession der beiden Vorgänge achten. Wir verbinden diese dann durch den Kausalnexus und haben so ein empirisches Naturgesetz. Die allgemeine Gültigkeit dieses Letzteren aber gründet sich auf einem allgemeinen Verstandesgesetz, daß alle beständige Sukzession notwendig verknüpft werden muß. Solche allgemeinsten und obersten Gesetze der Erfahrung können nicht wieder aus der Erfahrung entlehnt sein, weil sie erst den Begriff und die Gültigkeit der empirischen Gesetze aufschließen. Man gestatte ein Beispiel: Zwischen einem Blitz und dem Knall eines Kanonenschusses liegt eine mehr oder weniger nach dem Standort des Beobachters lange Zeit, die subjektiv von den mannigfachsten Vorstellungen erfüllt ist. Wo ist die Verbindung zwischen Blitz und Knall?
"Verbindung liegt nicht in den Gegenständen [bzw. Erscheinungen] und kann von ihnen nicht etwa durch Wahrnehmung entlehnt ... werden, sondern ist eine Verrichtung des Verstandes",
sagt KANT (A 661). Das sehen wir hier deutlich. Um Erfahrung zu erhalten, muß ich apriori nach der Ursache des Knalls fragen, ich muß ihn als notwendige Consequens [Nachfolgendes - wp] eines ihm ständig als Bedingung vorhergehenden Antecedens [Vorhergehendes - wp] ansehen. Da nun der Bewußtseinsinhalt der Zwischenzeit sehr verschieden sein kann, so muß ich den Knall mit dem ständig vorhergehenden Blitz als Ursache verbinden, womit ich eine Erfahrung erhalte, die unter gleichen Bedingungen immer wieder erfahrbar ist. Da der Nexus [Verbindung - wp] zwischen Blitz und Knall objektiv ist, so kann ich jetzt weiter gehen und, indem ich den subjektiven Bewußtseinsinhalt von der Zwischenzeit abstreife, diese als objektiv begründet ansehen. Dabei mache ich die weitere Erfahrung, daß diese Zeit von der Entfernung abhängig ist und gelange so zum Begriff der Schallgeschwindigkeit.
Um demnach überhaupt Erfahrung machen zu können, muß ich vor allen Dingen wissen, was Erfahrung eigentlich ist. Ich muß den unitarischen Erfahrungsbegriff zugrunde legen und oberste, allgemeine, aus dem Verstand fließende Gesetze, welche die Gültigkeit der empirischen Gesetze garantieren. Ohne den Begriff der Erfahrung als durchgängiger Gesetzmäßigkeit aller möglichen Erscheinungen ist es nicht nur sinnlos, sondern auch völlig unberechtigt, zwei verschiedene Vorgänge miteinander zu verknüpfen. Wir müssen dann vielmehr konsequent sein und in der Sprache KANTs bei dem "so vielfärbigen, verschiedenen Selbst, wie ich Vorstellungen habe", stehen bleiben. Wenn der Chemiker nicht weiß, daß bei allen Umwandlungen sich etwas erhält, so hat eine quantitative Analyse überhaupt keinen Sinn.
Wir werden durch diese Erörterungen in den Stand gesetzt, das große Mißverständnis der Lehre KANTs von den obersten Gesetzen der Erfahrung und den besonderen erfahrbaren Gesetzen zu erkennen, welches PAULSEN (12) begangen hat, wenn er diese Lehre als einen "Bruch" in der Deduktion bezeichnet, wodurch die ganze Beweisführung mitten entzwei bricht. Oder, wenn ADICKES (13), mit PAULSEN übereinstimmend, in dieser Lehre einen "Konflikt" erblickt
"zwischen Kants konsequenter rationalistischer Ansicht und der Macht der Tatsachen, welche ihm verbietet, die äußersten Konsequenzen zu ziehen".
Nach PAULSEN muß sogar jedem aufmerksamen Leser dieser Bruch auffallen, aber ich vermisse bei PAULSEN wie bei ADICKES eine triftige Erklärung dafür, daß KANT diesen angeblichen "Bruch" unbedenklich und offen vollzieht.
Wenn PAULSEN den Anstoß in KANTs Satz: Verbindung liegt nicht in den Gegenständen etc. erblickt (14), indem er fragt: "Woher nun auf einmal empirisch bestimmte Erscheinungen?" so muß durch meine Darstellung das willkürlich-Unberechtigte einer solchen Frage klar geworden sein. Ich wiederhole: Die Erscheinungen sind bestimmt durch die Dinge ansich. Aber die sinnlichen Erscheinungen als solche enthalten keine Verbindung, die unmittelbar wahrgenommen werden könnte, sondern sind im Gegenteil stets mehr oder weniger zeitlich getrennt. Der Verstand muß also die Verbindung selbst herstellen und zwar mit Hilfe der reinen Verstandesbegriffe, damit anstelle willkürlicher und unberechtigter notwendige und allgemeingültige Verbindung tritt.
Ebensowenig ist jener alte Einwand stichhaltig, der behauptet, KANT habe seiner eigenen Beschränkung des Kausalitätsgesetzes auf immanenten Gebrauch zuwider mit eben diesem Gesetz transzendieren müssen, um zu den Dingen ansich zu gelangen, ein Einwand, der oft wiederholt worden ist, seitdem ihn der Glaubensphilosoph JACOBI in seinem 1787 erschienenen "David Hume über den Glauben" zum ersten Mal erhoben hatte, in der bekannten antithetischen Form (15):
"Ich muß gestehen, daß dieser Anstand mich bei dem Studio der kantischen Philosophie nicht wenig aufgehalten hat, sodaß ich verschiedene Jahre hintereinander die Kritik der reinen Vernunft immer wieder von vorn anfangen mußte, weil ich unaufhörlich darüber irre wurde, daß ich ohne jene Voraussetzung in das System nicht hineinkommen und mit jener Voraussetzung darin nicht bleiben konnte."
Und doch sagt der scharfsinnigste Antagonist der Vernunftkritik, der skeptische Philosoph G. E. SCHULZE in seinem Aenesidemus (16) gerade heraus: Die Abhängigkeit gewisser Merkmale an den Erscheinungen von Dingen-ansich und außer uns setzt die Vernunftkritik "als ansich gewiß und als bereits ausgemacht voraus". Auch SCHOPENHAUER gibt, worauf RIEHL (17) aufmerksam gemacht hat, entgegen seiner früheren Meinung in der Abhandlung "Noch einige Erläuterungen zur kantischen Philosophie" zu, daß KANT die Dinge ansich voraussetzt (18) als die Gründe für die von uns unabhängige Eigenbestimmtheit der Erscheinungen. Insofern uns die Dinge ansich affizieren, sind sie auch Ursachen. Aber damit ist doch das Kausalitätsgesetz nicht auf die Dinge ansich angewendet! Dies wäre doch erst der Fall, wenn KANT lehren würde, daß es in den Dingen ansich nach Ursache und Wirkung zugeht. Der Einwand wird also dadurch zunichte, daß wir zwischen folgenden beiden Sätzen unterscheiden: Dinge-ansich sind die Gründe für die Eigenbestimmtheit unserer Erscheinungen und die Ursache unserer Affektionen. Und: Dinge-ansich sind untereinander nach Ursache und Wirkung verknüpft. Der letztere Satz schließt einen transzendentalen Gebrauch des Kausalsatzes in sich, ist aber mit dem ersteren nicht gleichbedeutend, der nur eine notwendige Voraussetzung ausspricht.
LITERATUR: Henri Clemens Birven, Immanuel Kants Transzendentale Deduktion, Inaugural-Dissertation, Halle/Saale 1913
Anmerkungen
2)
Riehl, Der philosophische Kritizismus, Bd. 1, 2. Auflage, 1908, Seite 503.
3)
Riehl, a. a. O., Seite 508.
4)
Riehl, a. a. O., Seite 509.
5)
Riehl, Korrekturen zu Kant, Kant-Studien, Bd. V, Seite 268.
6)
Riehl, Kritizismus, Bd. 1, Seite 532
7)
Vaihinger, Die transzendentale Deduktion der Kategorien, in: Philosophische Abhandlungen, dem Andenken Rudolf Hayms gewidmet, 1902, Seite 49f.
8)
Kant, Träume eines Geistersehers, Philosophische Bibliothek 46b,Seite 32
9)
Auf den Unterschied dieser Formulierung macht schon Riehl aufmerksam (Kritizismus a. a. O., Bd. 1, Seite 513.
10)
zum Beispiel Überweg-Heinze, Grundriß der Geschichte der Philosophie, Bd. III, 1907, Seite 344, Anmerkung.
11)
Kant, Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, Philosophische Bibliothek 48, Seite 15
12)
Paulsen, Kant a. a. O., 5. Auflage, o. J., Seite 189f.
13)
Adickes, Ausgabe der Kr. d. r. V., 1889, Seite 163, Anmerkung 1. Bei weitem nicht so radikal und zuversichtlich drückt sich Adickes später in "Die bewegenden Kräfte in Kants philosophischer Entwicklung etc." (Kantstudien, Bd. 1, 1897, Seite 177, Anmerkung 1) aus, wo er nur von einer "großen Schwierigkeit" spricht, die "nach seiner Meinung" "von Kants Standpunkt aus unlösbar ist".
14)
Paulsen, a. a. O., Seite 190.
15)
Friedrich Heinrich Jacobi, Werke II, 1815, Seite 304
16)
Aenesidemus, 1792, Seite 375f
17)
Riehl, Kritizismus, a. a. O., Bd. 1, Seite 569
18)
Schopenhauer, Parerga I, hg. von Griesebach, Seite 110f.
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