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CARL GRAPENGIESSER
Die transzendentale Deduktion
[1/2]

"Wir haben gesehen, daß bei Kant die transzendentale Erkenntnis eine Erkenntnis a priori ist, und daß er mit der transzendentalen Deduktion die objektive Gültigkeit der metaphysischen Erkenntnis a priori beweisen will. Das aber ist nicht möglich. Denn, wenn nach Kant jede Erkenntnis a priori wieder durch eine andere Erkenntnis a priori begründet werden müßte: so kämen wir ja mit der Forderung der Begründung nie ans Ende."

"Und darf man für eine Erkenntnis a priori, d. h. allgemeine und notwendige Erkenntnis, überhaupt einen Beweis als Begründung verlangen? Nein. Denn eine Behauptung, deren Wahrheit bewiesen wird, ist eine abgeleitete Erkenntnis, die der höheren Wahrheit des Obersatzes im Schluß, durch welchen ich beweise, untergeordnet ist."


Kant und Fries
[Mit Beziehung auf die Schriften von Jürgen Bona-Meyer,
Otto Liebmann, Kuno Fischer, Eduard Zeller,
Hermann Cohen, Edmund Montgomery]

Zu denjenigen Begriffen, die in KANTs Philosophie von großer Wichtigkeit und entscheidender Bedeutung sind, und über welche doch ein allgemeines klares Verständnis in den philosophischen Schriften unserer Zeit trotzdem oder vielleicht eben deshalb nicht zu finden ist, gehört ganz besonders der Begriff des Transzendentalen, der Begriff der Transzendentalphilosophie und der transzendentalen Deduktion. Ich sagte trotzdem: denn man sollte doch erwarten, daß diejenigen, welche sich bemühen, KANTs Philosophie zu erläutern oder zu beurteilen oder gar zu verbessern, die wichtigsten und höchsten Begriffe derselben recht verstehen; oder, sagte ich, vielleicht eben deshalb: denn allerdings erfordern sie zum rechten Verständnis eine gründliche und klare Einsicht und eine scharfe und nicht leichte Abstraktion. Nun bin ich zwar der Meinung, daß FRIES bereits die hier erforderliche Klarheit uns verschafft hat, daß er das Irrige in jenen Begriffen bei KANT nachgewiesen und die Fehler in seiner eigenen Kritik der Vernunft zu verbessern sich bemüht hat, aber, wie man im Allgemeinen die Stellung von FRIES zu KANT nicht kennt und seine Fortbildung der kantischen Philosophie nicht beachtet und nicht versteht, so mißdeutet man auch im Besonderen das, was FRIES zur Aufklärung der obigen Begriffe beigetragen hat. Ich will hier versuchen, die Sache aufs Neue klar zu machen; ich denke zu zeigen, welche Bedeutung und welchen Wert jene Begriffe bei KANT haben, und aus welchen Gründen und in welcher Weise FRIES eine Berichtigung und Verbesserung derselben geliefert hat. Es wird sich dann nachweisen lassen, welche irrigen Ansichten darüber in neueren Schriften vorkommen.

KANT sagt über die Bedeutung seines Begriffs "transzendental" am Schluß des ersten Teils der Prolegomena, der transzendentalen Hauptfrage:
    "Das Wort transzendental aber, welches bei mir niemals eine Beziehung unserer Erkenntnis auf Dinge, sondern nur aufs Erkenntnisvermögen bedeutet, sollt diese Mißdeutung verhüten."
Er redet dort von der Mißdeutung, welche seine Lehre "des transzendentalen Idealismus" sogleich erfahren hatte, indem man diesen mit dem Idealismus des CARTESIUS oder des BERKELEY verwechselt hatte. Gerade, um diese Mißdeutung zu verhüten, habe er seinen Idealismus als "transzendentalen" bezeichnet. Darum, weil man seine Lehre dessenungeachtet falsch aufgefaßt hat, will er nun, um ferneren Mißdeutungen vorzubeugen, ihn lieber den "kritischen" nennen. Wie müssen wir danach den Begriff "transzendental" richtig verstehen? CARTESIUS behauptete, daß zwar an der Wahrheit unserer inneren Erfahrung nicht gezweifelt werden kann, denn er bewies sie durch seinen Satz cogito, ergo sum [Ich denke, also bin ich. - wp]; da wir aber für die Existenz der Körperwelt keinen solchen Beweis beibringen können, so sei diese Existenz zumindest zweifelhaft. BERKELEY aber leugnete diese Existenz geradezu und positiv, er verwarf die ganze Körperwelt, weil er Raum und Zeit als Formen der Dinge ansich ansah, und eben wegen der Eigentümlichkeit dieser Formen die Gegenstände, die wir in ihnen erkennen, auch verworfen hat, also die Unterscheidung KANTs zwischen Erscheinung und Ding-ansich, den Unterschied zwischen empirischer Realität und transzendentaler Wahrheit nicht finden konnte. KANT aber will weder die Existenz der Gegenstände der äußeren Erfahrung noch die der inneren leugnen, denn die einen wie die anderen haben ihm empirische Realität; sein Idealismus bezieht sich nur auf unser Erkenntnisvermögen; damit will er sagen, als idealistisch bezeichnet er nicht die Dinge, die Gegenstände unserer Erkenntnis, sondern nur eine gewisse Form, die unserem Erkenntnisvermögen eigentümlich ist; nun, offenbar meint er die Formen Raum und Zeit, in denen wir allein positiv die Dinge erkennen, die zwar notwendige Formen unserer Sinnlichkeit, unserer sinnlich erkennenden Vernunft, aber darum doch nicht der Dinge selbst sind. Wenn man also von einem transzendentalen Objekt und Subjekt redet, so muß man sich darunter nicht, wie z. B. von HARTMANN in seiner Schrift "Das Ding ansich" doch eigentlich immer im Sinn hat, ein Subjekt oder ein Objekt denken, das transzendental ist, sondern nach KANT vielmehr ein Subjekt und Objekt, das auf eine transzendentale Weise erkannt wird.

Was für eine besondere Erkenntnisweise ist das aber, die KANT als transzendente bezeichnet? Er sagt darüber (Kr. d. r. V. im Abschnitt "Von der transzendentalen Logik"):
    "Und hier mache ich eine Anmerkung, die ihren Einfluß auf alle nachfolgenden Betrachtungen erstreckt, und die man wohl vor Augen haben muß, nämlich, daß nicht eine jede Erkenntnis a priori, sondern nur die, dadurch wir erkennen, daß und wie gewisse Vorstellungen (Anschauungen oder *Begriffe) lediglich a priori angewandt werden oder möglich sind, transzdental (d. h. die Möglichkeit der Erkenntnis oder der Gebrauch derselben a priori) heißen müsse."
Und gleich darauf:
    "Eine solche Wissenschaft, welche den Ursprung, den Umfang und die objektive Gültigkeit solcher Erkenntnisse bestimmte, würde transzendentale Logik heißen müssen, weil sie es bloß mit den Gesetzen des Verstandes und der Vernunft zu tun hat, aber lediglich, sofern sie auf Gegenstände a priori bezogen wird, und nicht, wie die allgemeine Logik, auf die empirischen sowohl als reinen Vernunfterkenntnisse ohne Unterschied." -
Was haben wir aus diesen Erörterungen zu folgern? Offenbar zweierlei:
    1) daß bei Kant die transzendentale Erkenntnis allerdings eine Erkenntnis a priori ist, aber

    2) nur diejenige, durch welche wir die Möglichkeit und den Gebrauch anderer Erkenntnisse a priori erkennen.
Wir müssen nun zusehen, in welchem Verhältnis diese transzendentale Erkenntnis, diese Transzendentalphilosophie zu KANTs Kritik der reinen Vernunft steht. Er sagt darüber in der Einleitung zur Kr. d. r. V. Folgendes. Er bezeichnet die Kritik nicht als Doktrin, sondern als Propädeutik [Vorschule - wp] zum System der reinen Vernunft, und fährt fort:
    "Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt. Ein System solcher Begriffe würde Transzendentalphilosophie heißen."
Vergleichen wir damit das, was KANT darüber in seiner Methodenlehre sagt. Am Schluß des ersten Abschnittes des ersten Hauptstücks bemerkt er:
    "Von der eigentümlichen Methode einer Transzendentalphilosophie läßt sich aber hier nichts sagen, da wir es nur mit einer Kritik unserer Vermögensumstände zu tun haben, ob wir überall bauen, und wie hoch wir wohl unser Gebäude aus dem Stoff, den wir haben (den reinen Begriffen a priori) aufführen können."
Ferner im dritten Hauptstück, in der Architektonik der reinen Vernunft: "Das System aller philosophischen Erkenntnis ist nun Philosophie."
    "Die Philosophie der reinen Vernunft ist nun entweder Propädeutik (Vorübung), welche das Vermögen der Vernunft in Anbetracht aller reinen Erkenntnis a priori untersucht, und heißt Kritik, oder zweitens das System der reinen Vernunft (Wissenschaft), die ganze (sowohl wahre als scheinbare) philosophische Erkenntnis aus reiner Vernunft im systematischen Zusammenhang, und heißt Metaphysik; wiewohl dieser Name auch der ganzen reinen Philosophie mit Inbegriff der Kritik gegeben werden kann."

    "Die im engeren Verstand sogenannte Metaphysik besteht aus der Transzendentalphilosophie und der Physiologie der reinen Vernunft. Die erstere betrachtet nur den Verstand und Vernunft selbst in einem System aller Begriffe und Grundsätze, die sich auf Gegenstände überhaupt beziehen, ohne Objekte anzunehmen, die gegeben wären (Ontologie)."
In diesen Auseinandersetzungen KANTs ist eine gewisse Unklarheit nicht zu verkennen, die aber ihren Grund darin hat, daß das Wort Philosophie in einem engeren und einem weiteren Sinn gebraucht wird. In jenem ist Philosophie nur, wie KANT selbst sagt, das System aller philosophischen Erkenntnis, dieses System aber ist die Metaphysik; in einem noch engeren Sinn begreift man unter Metaphysik nur die der spekulativen Vernunft, nicht zugleich die der praktischen; im weiteren Sinne jedoch gehören dazu noch die propädeutischen, vorbereitenden philosophischen Disziplinen, Kritik und Transzendentalphilosophie. Nun haben wir von KANT weder eine eigentliche Metaphysik, noch ein vollständige Transzendentalphilosophie, sondern nur die Kritik. Da er diese selbst nur Propädeutik nennt, so hielt man ihm zugleich anfangs vor: also hätte er mit seiner propädeutischen Kritik seine eigentliche Philosophie noch nicht gegeben. Dagegen hat er aber entschieden protestiert. Wie verhalten sich dann nun eigentlich diese verschiedenen philosophischen Disziplinen im Sinne KANTs zueinander? Er nennt seine Philosophie sowohl kritische wie Transzendentalphilosophie; Kritik, weil er den einzig richtigen Weg gezeigt hat, um zum System der Philosophie, oder zur wahren Metaphysik zu gelangen, eben die kritische Methode des Philosophierens; Transzendentalphilosophie aber, weil er, obwohl wir eine eigentliche Darstellung derselben im Ganzen nicht von ihm haben, uns doch in der Kritik seine transzendentalen Deduktionen oder Beweise gegeben, und damit einfach faktisch gezeigt hat, was diese Transzendentalphilosophie eigentlich bedeutet. So sagt er in der Einleitung:
    "Zur Kritik der reinen Vernunft gehört demnach Alles, was die Transzendentalphilosophie ausmacht, und sie ist die vollständige Idee der Transzendentalphilosophie, aber diese Wissenschaft noch nicht selbst, weil sie in der Analysis nur so weit geht, als es zur vollständigen Beurteilung der synthetischen Erkenntnis a priori erforderlich ist."
Also die Sache verhält sich so: Metaphysik ist die systematische Zusammenstellung der philosophischen Erkenntnisse. Aber dies ist die leichtere Arbeit, die bloße Systematisierung der schon gefundenen Erkenntnisse a priori; die Hauptsache ist, die rechte Methode anzuwenden, um in den vollständigen Besitz der philosophischen Erkenntnis zu gelangen; denn die Aufstellung des Systems ist erst dann möglich, wenn wir den Gehalt desselben vollständig erworben haben. KANT verwirft darum die dogmatische Methode, die auf gut Glück von irgendeinem Prinzip und einigen Grundsätzen ausgeht, und aus ihnen alle philosophischen Lehren entwickelt. Da nun die philosophischen Erkenntnisse notwendige Erkenntnisse a priori unserer Vernunft sind, so ist unzweifelhaft die einzig richtige Methode des Philosophierens und der Erforschung jener Vernunfterkenntnisse die, unsere Vernunft und ihr Erkenntnisvermögen zu prüfen, damit wir imstande sind, den Umfang und die Bedeutung ihrer Erkenntnis a priori zu bestimmen. Dies ist das bei weitem schwierigere Geschäft, und diese Kritik hat uns KANT in der größten Ausführlichkeit und Vollständigkeit geliefert. Wir verdanken ihm deshalb die Einsicht in den sicheren Besitz aller synthetischen Erkenntnisse a priori, d. h. der philosophischen Erkenntnisse, und können ihm auf diesem Weg kritischer Erforschung festen Schrittes und klaren Blickes nachfolgen. So haben wir in seiner Kritik nicht nur die klare und vollstäjndie Darstellung seines Philosophierens, um unsere philosophischen Erkenntnisse a priori aufzusuchen, sondern zugleich in den Resultaten derselben, wie er sagt, den ganzen Stoff, um das System der Philosophie aufzubauen, d. h. die Metaphysik. Darum konnte er wohl sagen, daß er uns in der Kritik seine Philosophie gegeben hat. Nun kommt drittens noch die Transzendentalphilosophie hinzu. Was will nun diese daneben bedeuten? Wenn er überhaupt seine Philosophie als solche bezeichnet, so muß darin etwas ihm Eigentümliches liegen, ebenso wie in der Bezeichnung derselben als kritische Philosophie, als Kritizismus die ihm eigentümliche Methode des Philosophierens ausgedrückt ist. Sehen wir darauf die vorhin angegebenen Sätze KANTs an, in denen er von seiner Transzendentalphilosophie überhaupt redet, und dann die besonderen transzendentalen Deduktionen, die wir in seiner Kritik vorfinden: so, meine ich, ist vollkommen klar, welche besondere Aufgabe diese Transzendentalphilosophie bei KANT hat. Sie soll offenbar eine richtige Begründung der synthetischen Urteile a priori, d. h. der philosophischen Erkenntnisse liefern. Denn wie er der dogmatischen Philosophie vorwirft, sie gehe nur den progressiven Weg der Aufstellung des Systems, ohne zuvor auf dem regressiven Weg der Kritik die unserer Vernunft eigentümlichen Erkenntnisse a priori aufgesucht zu haben, so tadelt er sie auch deshalb, daß sie willkürlich von unerwiesenen Grundsätzen ausgeht, und diese als Axiome, d. h. als unmittelbar klare Sätze betrachtet. Aber er zeigt, daß nur die Mathematik von solchen Axiomen ausgeht, und es auch darf, weil dort der Grund der unmittelbaren Klarheit in der reinen Anschauung liegt, die das mathematische Urteil begleitet.

In der Philosophie ist das nicht möglich. Denn sie ist gedachte Erkenntnis aus bloßen Begriffen, während die Mathematik zugleich ihre Begriffe in reiner Anschauung konstruiert. Daher bedürfen die philosophischen Grundsätze einer anderen Begründung. Und eben diese gibt bei KANT die transzendentale Deduktion, er sieht sie an als Beweis der Erkenntnis a priori, d. h. der philosophischen Erkenntnis. So beweist er in der transzendentalen Ästhetik die Notwendigkeit der reinen Anschauungen von Raum und Zeit in transzendentalen Erörterungen dadurch, daß Raum und Zeit die notwendigen Formen der Sinnlichkeit unserer Erkenntnis sind, denn nur in ihnen wird uns ein Gegenstand zur Erkenntnis gegeben. Da nun nach ihm (Einleitung) unsere menschliche Erkenntnis zwei Stämme hat, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, durch deren ersteren uns Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber gedacht werden: so beweist er ebenso in der transzendentalen Logik, nachdem er durch die Kritik an einem sicheren Leitfaden alle reinen Verstandesbegriffe oder Kategorien entdeckt hat, dieselben durch transzendentale Deduktion. Er zeigt nämlich, daß sie die Prinzipien aller möglichen Erfahrung sind; notwendig, weil ohne sie das zusammenhängende Ganze unserer Erfahrung gar nicht möglich wäre.

Ich meine, das ist der klare Zusammenhang, in welchem die transzendentale Deduktion bei KANT steht. Und gerade diese beiden Stücke, kritische Methode zur Aufsuchung der philosophischen Erkenntnisse, und transzendentale Deduktion zur Begründung derselben, sind zwei wesentliche Eigentümlichkeiten in KANTs Philosophie, ohne deren richtige Auffassung dieselbe nicht verstanden und beurteilt werden kann.

Von seiner kritischen Methode will ich hier nicht weiter reden. Nur das will ich bemerken, daß unter allen unmittelbaren Schülern KANTs mir FRIES als der einzige erscheint, der dieser allein richtigen Methode des Philosophierens wahrhaft treu geblieben ist, weil er sie allein richtig verstanden hat. Alle anderen Philosophien wichen von ihr ab, und eben darum, während sie für Fortbildungen der Philosophie KANTs gehalten wurden, sind sie in der Tat Abirrungen von der wahren Philosophie. Neuerdings läßt man sich wieder irre leiten von der Methode der englischen Denker, und redet von einer deduktiven oder induktiven Methode des Philosophierens, indem man Deduktion und Induktion verwechselt, oder Abstraktion und Reflexion identifiziert mit einer besonderen Art von Anschauung.

Das Andere, die transzendentale Deduktion KANTs, ist das, worüber ich hier noch weiter sprechen will. In dieser, so wie KANT sie versteht und behandelt, hat FRIES einen folgenreichen Fehler nachgewiesen, und seine Neue Kritik der Vernunft sollte eben diesen Fehler KANTs verbessern; er behielt nämlich die Deduktion als eine passende Bezeichnung für die Begründung der philosophischen Erkenntnisse bei, aber seine Deduktion ist doch wesentlich eine andere als die KANTs.

Wir haben gesehen, daß bei KANT die transzendentale Erkenntnis eine Erkenntnis a priori ist, und daß er mit der transzendentalen Deduktion die objektive Gültigkeit der metaphysischen Erkenntnis a priori beweisen will. Das aber ist nicht möglich. Denn, wenn nach KANT jede Erkenntnis a priori wieder durch eine andere Erkenntnis a priori begründet werden müßte: so kämen wir ja mit der Forderung der Begründung nie ans Ende. Und darf man für eine Erkenntnis a priori, d. h. allgemeine und notwendige Erkenntnis, überhaupt einen Beweis als Begründung verlangen? Nein. Denn eine Behauptung, deren Wahrheit bewiesen wird, ist eine abgeleitete Erkenntnis, die der höheren Wahrheit des Obersatzes im Schluß, durch welchen ich beweise, untergeordnet ist. Nun sollen ja doch die philosophischen, die metaphysischen, jene synthetischen Erkenntnisse a priori, allgemeine und notwendige Wahrheiten, Prinzipien aller Erkenntnisse sein, - wie können sie also aus einer höheren Erkenntnis bewiesen werden? Diesen Fehler bemerkt schon ganz richtig FRIEDRICH HEINRICH JACOBI. Aber er fand doch die richtige Begründung der philosophischen Erkenntnisse nicht. Er nannte als die Quellen der unerweisbaren Grundsätze Glauben und Offenbarung. Allein so verwechselte er die eigentümliche wissenschaftliche Begründung der philosophischen Erkenntnis mit der unmittelbar gewissen Überzeugung von der ewigen Wahrheit, oder mit einer übernatürlichen Mitteilung. Darum tadelte ihn schon KANT in der Abhandlung "Was heißt sich im Denken orientieren?" und er kam in den Verdacht, schwärmerisch, mystisch alle wissenschaftliche Philosophie vernichten zu wollen. Das war nun zwar seine Absicht sicher nicht, aber er gelangte doch nicht zur Klarheit über das Verhältnis der Erkenntnis a priori zu ihrer wissenschaftlichen Begründung. KANTs Fehler aber kam aus der LEIBNIZ-WOLFF-Schule; denn es ist ein Vorurteil der dogmatischen Philosophie, überall zur Begründung der Urteile den strengen Beweis zu verlangen. Aber es gibt für uns verschiedene in gleicher Weise gültige Begründungsweisen unserer Urteile. Der Satz des zureichenden Grundes, den LEIBNIZ eingeführt hat, und der, recht verstanden, ein logischer ist, verlangt eben für jedes Urteil einen zureichenden Grund, um es nicht bloß äußerlich und formell, sondern auch dem Inhalt nach als ein wahres anzuerkennen. Wie können wir uns nun wegen unserer Behauptungen rechtfertigen? Entweder durch Beweis; aber mit ihm leite ich nur ein Urteil von anderen, höheren ab. Oder ich berufe mich auf Anschauung, d. h. Demonstration. Oder endlich, ich zeige, wie mein Urteil in der Natur meiner erkennenden Vernunft begründet ist; und dies ist die Deduktion. Der Beweis also begründet nur abgeleitete Wahrheit, nie Grundurteile. Denn er leitet die Wahrheit des Schlußsatzes aus den Prämissen analytisch her; sie liegt in der höheren Wahrheit des Obersatzes und in der Subsumtion des Untersatzes durch einen richtigen Mittelbegriff.

Die Grundurteile aber sind entweder historischer, mathematischer oder philosophischer Art. Ist mein Urteil historischer Art, so berufe ich mich auf Anschauung, nämlich Sinnesanschauung, Wahrnehmung, Erfahrung. Die mathematischen Urteile, da sie eine gedachte Erkenntnis aussprechen, werden allerdings durch Beweise abgeleitet, aber diese stützen sich doch zugleich auf Anschauung, nämlich reine, die eigentlich mathematische Anschauung. Die mathematischen Grundurteile, die Axiome beruhen ohne weiteren Beweis lediglich auf dieser reinen Anschauung. Wie wollen wir nun endlich die philosophischen Urteile begründen? Durch Anschauung gewiß nicht, denn die philosophische Erkenntnis ist keine sinnesanschauliche, sondern eine gedachte Erkenntnis. Aber auch nicht durch reine Anschauung, denn diese philosophische Erkenntnis ist zwar ebenso wie die mathematische gedachte Erkenntnis, allein, während die Mathematik ihre Begriffe in reiner Anschauung zu konstruieren imstande ist, und darum auf der unmittelbaren Gewißheit dieser Anschauung beruth, ist die philosophische Erkenntnis einer Erkenntnis aus bloßen Begriffen. Kann ich mich zur Begründung derselben auf einen Beweis berufen und beziehen? Doch nicht, denn sie ist keine analytisch abgeleitete, sondern eine synthetische Erkenntnis a priori, ihre Grundsätze sind allgemein und notwendig.

Worauf beruth nun diese Allgemeinheit und Notwendigkeit? Da die philosophische Erkenntnis reine Vernunfterkenntnis ist, so kann ihr Grund einzig und allein in der Natur meiner erkennenden Vernunft liegen. Und eben dies zu zeigen, ist das Geschäft der philosophischen Deduktion. Der Sinn von FRIES' Forderung, unserer Spekulation eine ganz subjektive Wendung zu geben, ist gerade dieser: wir müssen durch innere Selbstbeobachtung zu einer vollständigen Theorie der Vernunft zu kommen versuchen, um aus ihrer ursprünglichen und allgemeinen Natur die Art und Weise all ihrer Erkenntnis zu verstehen. Nur in einer philosophischen Anthropologie kann die Rechtfertigung derjenigen Erkenntnis gefunden werden, die wir reine Vernunfterkenntnis nennen. Darum nannte FRIES seine Kritik der Vernunft eine "anthropologische", weil er mit der Kritik zugleich die vollständige Deduktion ihrer reinen Erkenntnisse, der Erkenntnisse a priori verbunden hat. Was tut also diese Deduktion? Beweist sie die Wahrheit der philosophischen Erkenntnis? Nein! Diese ist ja keine abgeleitete Erkenntnis, sondern eine allgemeine und notwendige Erkenntnis, synthetische Erkenntnis a priori; sie hat ihren Grund einzig und allein in der Natur der Vernunft selbst. Während nun die philosophische Kritik darauf ausgeht, durch Reflexion, Abstraktion und Spekulation zu entdecken, welche philosophische Erkenntnis die menschliche Vernunft besitzt, will die philosophische Deduktion nachweisen, wie in der natürlichen Beschaffenheit unserer Vernunft der Besitz dieser philosophischen Erkenntnisse begründet ist. Daß diese von allgemeiner und notwendiger Gültigkeit sind, daß wir sie als solche besitzen, bedarf durchaus keines Beweises, denn wir haben ja eben dieses durch unsere Kritik gefunden. Unzweifelhaft also ist uns Besitz jener Erkenntnisse; quid facti, ist durch Kritik klar. Aber die Deduktion gibt die Antwort auf die Frage quid juris [was ist die Rechtfertigung? - wp] hinzu. Sie zeigt, wie unsere menschliche Vernunft von Natur beschaffen ist, und wie sie eben deshalb gerade diese philosophische Erkenntnis besitzt.

Mit wie großer Gründlichkeit und Genauigkeit nun auch KANT seine Kritik ausgearbeitet, mit wie großem Scharfsinn er seine transzendentale Dedeuktion zustande gebracht hat, dennoch war er sich nicht ganz klar über die Art und Erkenntnisweise seiner philosophischen Spekulation. Und wir können zeigen, daß ein Mangel der Selbstbeobachtung und eine logische Überschätzung des Beweises ihn daran verhinderte. In beiden Fällen verkannte er die empirisch-psychologische Art seiner Untersuchungen. Wenn wir in der Kritik die philosophischen Erkenntnisse unserer Vernunft aufsuchen wollen, diese Erkenntnisse aber wegen ihrer Allgemeinheit und Notwendigkeit uns nicht durch Erfahrung gegeben sein können, sondern unserer Vernunft a priori angehören: wie haben wir es danach anzufangen, um sie aufzufinden? Wir müssen offenbar unsere eigene Vernunft und die ihr eigentümliche Erkenntnisfähigkeit zu erkennen uns bestreben. Da wir diese doch nur in uns aufsuchen können, so ist das einzige Mittel, der allein richtige Weg: gründliche innere Selbstbeobachtung, aufgrund der inneren Erfahrung. Und eben diesen Weg ging KANT festen und klaren Blickes mit bewundernswerter Ausdauer Schritt für Schritt. Er ging von dem Faktum der Erfahrung aus, kritisierte unsere Erfahrungsurteile, abstrahierte von Allem, was uns zur Erfahrungserkenntnis gegeben wird, und gelangte so am sicheren Leitfaden der verschiedenen Momente unserer Urteile zur Erkenntnis dessen, was in jener Erfahrung nur unserer eigenen Selbsttätigkeit gehört: so führte er uns zu den reinen Verstandesbegriffen, den Kategorien. Das war der Weg, den KANT spekulierend verfolgt hat, auf dem er trotz vieler Schwierigkeiten und Mühseligkeiten verharrte und richtig zum rechten Ziel gelangte. Wer es versteht und vermag, ihm auf diesem Weg der Reflexion nachzugehen, der muß am Ziel das klare Bewußtsein haben, daß er nun mit KANT alle philosophischen Grundurteile kennengelernt hat. Dennoch liegt der ganzen Kritik KANTs ein Mangel der Spekulation zugrunde. Wohlverstanden, ich sage, ein Mangel. Denn ich will damit nicht dem Vorigen widersprechend behaupten, der Gang der kantischen Kritik sei ein falscher, ein irriger gewesen. Nein, denn KANT hat ja wirklich auf demselben das vorgesteckte Ziel erreicht, wirklich gefunden, was er suchte. Er stellte an die Spitze seiner Untersuchungen die Frage: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? Und nun zeigte er im Verlauf seiner kritischen Arbeit, daß wir in der Tat solche Urteile besitzen, und genau, welche; er zeigte auch ihre Anwendung und das Gebiet ihres Gebrauchs. Er mußte dafür den Weg der Reflexion einschlagen. Aber im Verständnis zur ganzen Erkenntnistheorie lag darin doch ein Mangel, indem ihm nicht klar wurde, daß die reflektierte Erkenntnis doch etwas voraussetzt, worauf sie reflektiert. Er fand nicht den Hintergrund dieser Reflexionstätigkeit. Er sagt in der Einleitung:
    "Nur so viel scheint zur Einleitung oder Vorerinnerung nötig zu sein, daß es zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gibt, die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, durch deren ersteren uns Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber gedacht werden."
Dieses "vielleicht" zeigt, daß KANT selber gefühlt hat, daß hier ein Mangel, eine Lücke in der inneren Selbstbeobachtung ist. Wenn uns jene gemeinsame Wurzel auch noch unbekannt war, was sollte uns abhalten können, danach zu forschen? Man könnte sagen, KANT habe gemeint, diese Wurzel sei uns nicht nur für jetzt unbekannt, sondern wird uns unbekannt bleiben, ist uns unerkennbar. Dann aber hätte er das "vielleicht" nicht aussprechen können, denn das setzt voraus, daß er allerdings gefühlt hat, daß er in der Selbstbeobachtung nicht bis ans Ende gekommen ist; und warum sollten wir zu diesem Ende niemals gelangen können? Was wollen wir erforschen? Unser menschliches Erkenntnisvermögen und seine Beschaffenheit, die Art und Weise, die Formen unseres Erkennens. Haben wir überhaupt das Vermögen, diese zu erforschen und zu erkennen - und daran ist doch nicht zu zweifeln, daß wir ein solches haben, eben das Vermögen der Reflexion, der inneren Selbstbeobachtung -, so ist kein Grund, weshalb wir mit der Anwendung dieses Vermögens nicht zum Ziel gelangen könnten, denn das ganze Gebiet dieser Beobachtung, unser erkennendes Selbst, unsere erkennende Vernunft ist uns im eigenen Innern gegenwärtig; wir müssen darum alle ihre Tätigkeit der Form nach erkennen können. Um sich über die bloße Vermutung, für die er doch Grund haben mußte, zu erheben, hätte er in der kritischen Selbstbeobachtung noch einen Schritt weiter gehen sollen; aber er tat ihn nicht, und fand darum jene gemeinsame Wurzel nicht. Ich meine nun, daß FRIES allerdings diesen Schritt getan und dadurch die Erkenntnistheorie KANTs in seiner Kritik der Vernunft vervolständigt und berichtigt hat. KANT gibt die beiden Stämme der menschlichen Erkenntnis an: Sinnlichkeit und Verstand. Das ist ganz richtig. In der Reflexion erscheinen uns unsere Erkenntnisse teils als sinnesanschauliche, teils als gedachte. Das aber muß doch einen Grund haben. FRIES sagt, das kommt daher, weil in der unmittelbaren Erkenntnis beides vereinigt ist, was wir in der mittelbaren Erkenntnis der Reflexion über sie trennen oder uns nebeneinander vorstellen müssen.

Ich will über diese unmittelbare Erkenntnis hier etwas ausführlicher reden. Denn es kommt zum Verständnis der Stellung von FRIES' Philosophie zu der seines Lehrers KANT gar sehr darauf an, daß man dieses Verhältnis der mittelbaren Erkenntnis zur unmittelbaren begreift und anerkennt, ich habe aber gefunden, daß auch sonst klar und scharf Denkende sich doch mit dieser Unterscheidung nicht recht vertragen können. Die Bezeichnung "unmittelbare Erkenntnis" wird leicht mißverstanden. Man fragt, was heißt das: unmittelbar erkennen? Wird doch jede Erkenntnis erst durch das Erknntnisvermögen vermittelt, zustande gebracht. So deutet man die unmittelbare Erkenntnis so, als wäre das so viel wie angeborene Erkenntnis. Aber das ist ganz gegen FRIES' Lehre wie die KANTs. FRIES lehrt gleichwie KANT: angeborene Erkenntnisse oder Ideen haben wir nicht, sondern alle und jede Erkenntnis wird durch unsere erkennende Tätigkeit erworben. Nein, das meint FRIES also mit der unmittelbaren Erkenntnis durchaus nicht. Er verstand darunter vielmehr die Erkenntnis, die wir uns durch die gleichsam instinktive, erste, natürliche, ursprüngliche Äußerung unseres Erkenntnisvermögens erwerben. Diese Form der unmittelbaren Erkenntnis besitzen alle Menschen in gleicher Weise, denn sie liegt in der natürlichen Auffassung, Zusammenfassung und Verknüpfung des der Erkenntnis empirisch Gegebenen. Nun aber hat der Mensch ein zweifaches Erkenntnisvermögen, nämlich nicht nur das Vermögen der ursprünglichen Erkenntnis, sondern zugleich ein Vermögen der Wiederholung, der Wiederbeobachtung, des Erkennens der Art und Weise seines ursprünglichen Erkennens, das Vermögen der Selbsterkenntnis, d. h. das Vermögen, sich der ursprünglichen Erkenntnis wieder bewußt zu werden. Nun ist das Erkennen ein Grundvermögen unseres vernünftigen Geistes. Aber unsere Vernunft ist sinnliche Vernunft, d. h. ihr Erkenntnisvermögen bedarf der Anregung, um tätig zu werden. Zergliedern wir uns die Bestandteile einer jeden besonderen, bestimmten Erkenntnis: so müssen wir unterscheiden
    1) das Subjekt, das erkennt, das Erkennende,
    2) seine Tätigkeit des Erkennens, das Erkennen, und
    3) den Gegenstand, der erkannt wir, das Erkannte.
Achten wir nun auf die Art und Weise, wie wir uns dieser unserer Erkenntnis wieder bewußt werden, so finden wir, daß, sobald wir zum Erkennen angeregt werden, wir zugleich das unmittelbar klare Bewußtsein haben, daß uns ein Gegenstand für die Erkenntnis gegeben ist, aber der Form der Selbsttätigkeit unseres Erkenntnisvermögens werden wir uns unmittelbar nicht bewußt. Denn wir gebrauchen und wenden dieselbe an zunächst in einem dunklen Gefühl, dem Wahrheitsgefühl. Vollständig klar werden wir uns derselben erst bewußt durch ein Denken, durch Reflexion. Bei dieser Reflexion finden wir zuerst das reine Bewßtsein, daß Ich das Eine und gleiche Subjekt der Erkenntnis bin, daß alle Erkenntnisse meine Erkenntnisse sind, aber erst durch sehr mühsame Reflexion, durch Abstraktion und Spekulation, vermögen wir uns vollständig die Formen unseres selbsttätigen Erkennens zu Bewußtsein zu bringen, die Art und Weise, wie unsere erkennende Vernunft das zur Erkenntnis gegebene Mannigfaltige auffaßt, zusammenfaßt und verknüpft. Diese ursprüngliche Auffassung und Verknüpfung aber ist der Form nach bei allen Menschen natürlich dieselbe, da sie ja dem menschlichen Erkenntnisvermögen von Natur eigentümlich ist. Darin liegt die ursprüngliche Einheit und Notwendigkeit unserer Erkenntnis, während zwar jeder Mensch auch von Natur das gleiche Vermögen des Wiederbewußtseins besitzt, die Grade der Ausbildung und des Gebrauchs desselben aber bei den Menschen höchst verschieden sind, so daß nur sehr Wenige zum vollständigen und klaren Bewußtsein ihres inneren Geisteslebens gelangen. Also, was ist der eigentliche Gegenstand unserer Reflexionstätigkeit? Die Eine, ursprüngliche, unveränderliche und notwendige Form unserer menschlichen Erkenntnisweise. Wir nennen darum nach KANT den einen Bestandteil unserer Erkenntnis die Erkenntnis a posteriori, womit wir dasjenige bezeichnen, was wir erkannt haben, nachdem unser Erkenntnisvermögen zur Erkenntnis angeregt worden ist. Was bedeutet nun demjenigen gegenüber das, was KANT Erkenntnis a priori nennt? Es ist dasjenige in unserer Erkenntnis, was wir besitzen, auch ohne uns dessen bewußt zu sein, bevor wir noch zu einer besonderen Erkenntnis angeregt werden.

Da uns nun aber eine gegenständliche Erkenntnis nur in Folge der Anregung dazu wegen der Sinnlichkeit unserer erkennenden Vernunft möglich ist, so kann die Erkenntnis a priori nur eine formale Eigenschaft haben. Und so ist es. Sie ist eben die Form der Erkenntnis, die unserer Vernunft von Natur gehört, die Art und Weise, wie wir das zur Erkenntnis gegebene Mannigfaltige auf- und zusammenfassen. Diese notwendige Form muß jeder besonderen Erkenntnis zugrunde liegen, sich an ihr aussprechen, weil wir doch in keiner anderen Weise erkennen können, als eben mit unserem Erkenntnisvermögen. Daher ist das eigentliche Geschäft der Reflexion, gerade die Aufgabe der Philosophie, uns diese unsere Erkenntnis a priori vollständig zum klaren Bewußtsein zu bringen. Das Vermögen der Reflexion ist aber das Denkvermögen, und dieses der Verstand. Dieser denkende Verstand kann jene Aufgabe nicht anders lösen als dadurch, daß er in innerer Selbstbeobachtung die Erkenntnisse, wie wir sie in unserem Innern vorfinden, zergliedert, von dem, was uns zur Erkenntnis gegeben worden ist, also zur Erkenntnis a posteriori gehört, abstrahiert, damit eben das übrig bleibt, was er sucht, nämlich die Erkenntnis a priori, deren Gegenstand nichts Anderes ist als die Eine, notwendige Form unserer Erkenntnis. Der einzig richtige Gang der philosophischen Reflexion und Spekulation ist also der regressive von unseren besonderen Erkenntnissen rückwärts zu der Einen und allgemeinen Form derselben, wie sie unserer Vernunft kraft der natürlichen Beschaffenheit ihres Erkenntnisvermögens gehört; und eben dies ist die kritische Methode KANTs. Das Mittel des abstrahierenden Verstandes sind die Begriffe, welche er bildet, denn diese sind allgemeine Vorstellungen. Er ist also das Vermögen der Erkenntnis mittels der Begriffe, in Begriffen und durch die Begriffe. Daher nennen wir diese gedachte Erkenntnis mittelbare Erkenntnis; da dieser aber nur dazu dient, uns die ursprüngliche Erkenntnis zum vollständigen Bewußtsein zu bringen: so nennen wir diese letztere mit Fug und Recht die unmittelbare Erkenntnis. Ich wüßte wahrlich nicht, wie man sie klarer und bestimmter bezeichnen könnte.

Freilich, man muß scharf zu unterscheiden verstehen das Vermögen der unmittelbaren Erkenntnis, die erkennende Vernunft, von dem Vermögen des Wiederbewußtseins derselben, dem mittelbar durch Begriffe erkennenden, denkenden Verstand. Dieser Verstand ist eigentlich der geistige Herrscher in uns, durch den der Mensch seiner selbst Herr wird im Erkennen, Entschließen und Handeln. Einige Ähnlichkeit damit hat die Unterscheidung bei PLATO und ARISTOTELES zwischen nous [Geist - wp] und logos. Denn nous wird das Vermögen der ersten Grundwahrheiten (ton archon) genannt; das wäre also unsere reine Vernunft. Das logistikon ist die verständige Selbstbeherrschung, also unser Verstand. Aber eine scharfe Trennung zwischen nous und logos ist nicht zu finden; denn auch hier wird beides vermischt, weil der Unterschied zwischen der unmittelbaren Erkenntnis und der Reflexionserkenntnis nicht gefunden war. So hat auch KANT dieses Verhältnis des Verstandes zur Vernunft nicht klar erkannt, und eben darum nicht, weil er den Unterschied zwischen unmittelbarer und mittelbarer Erkenntnis übersehen und nicht gefunden hat. Dadurch irre geleitet, stellte SCHOPENHAUER die Sache nun gar auf den Kopf, machte den Verstand zum Anschauungsvermögen, die Vernunft aber zum Vermögen der Erkenntnis durch Begriffe, mit der unbegreiflichen Behauptung, dies sei die von jeher gebräuchliche Auffassung gewesen. Ich meine aber, daß man stets den Verstand als Denkvermögen, also als Vermögen der Erkenntnis durch Begriffe angesehen hat, während freilich bis auf den heutigen Tag das rechte Verhältnis zwischen Verstand und Vernunft nicht allgemein eingesehen, Anschauung und Denken nur allzu oft miteinander verwechselt und verwirrt wird. Ich will nun an einigen Hauptpunkten nachweisen, daß der angeregte Mangel der kritischen Selbstbeobachtung KANTs gerade in Bezug auf die unmittelbare Erkenntnis in seiner Kritik vorliegt. Wie gesagt, KANT schildert das Wesen unserer Erkenntnis einzig vom Standpunkt der Reflexion, ohne die unmittelbare Erkenntnis, die ihr zugrunde liegt, zu beachten. KANT gibt in der Einleitung sogleich den oben bereits angeführten Satz, daß unsere menschliche Erkenntnis überhaupt zwei Stämme hat, nämlich Sinnlichkeit und Verstand. Das ist insofern richtig, als wir, unsere Erkenntnisse im Allgemeinen in unserem Innern beobachtend, also reflektierend erkennen, daß unsere Erkenntnisse teils sinnesanschauliche, teils gedachte sind. Aber der Grund davon fehlt bei KANT. Wir können ihn nur finden, wenn wir die unmittelbare Erkenntnis ins Auge fassen. Wie entsteht unsere ursprüngliche Erkenntnis überhaupt? Ich sage mit KANT: "Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfängt, daran ist kein Zweifel", und ebenso
    "Wenn aber gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung."
Das ist vollkommen richtig. Der Grund davon ist aber der: Das Grundvermögen unserer Erkenntnis ist erkennende Vernunft. Dieses unser Erkenntnisvermögen ist aber von der Art, daß es, um zur Tätigkeit zu gelangen, der Anregung bedarf, es ist sinnliche Vernunft. Daher sind die ersten Erkenntnisse, die wir erwerben, sinnliche Wahrnehmungen. Das vorzüglichste Mittel, durch welches wir zu ihnen gelangen, ist die Sinnesanschauung. Bei ihr werden wir zur Wahrnehmung von Gegenständen außerhalb unserer selbst angeregt, und mit ihr ist unmittelbar verbunden das Bewußtsein eines solchen wirklich gegenwärtigen Dings. Das ist die Seite der sinnlichen Erregbarkeit unserer erkennenden Vernunft, womit alle unsere Erkenntnis beginnt. Nun aber tritt die Selbsttätigkeit unseres Erkenntnisvermögens hinzu, die darin besteht, daß das zur Erkenntnis Gegebene auf eigentümliche Weise aufgefaßt, zusammengefaßt und verknüpft wird. Dadurch entsteht die Einheit und Notwendigkeit im Ganzen unserer Erkenntnis, daß durch die Eine und beharrliche Form unserer erkennenden Tätigkeit Alles fest miteinander verbunden ist. Nun besitzen wir aber im Zusammenhang mit diesem Vermögen der ursprünglichen Erkenntnis zugleich das Vermögen, unsere eigenen Erkenntnisse wieder zu beobachten, das ist das Vermögen der Selbsterkenntnis, des Wiederbewußtseins. Die erste Stufe des Bewußtseins ist, wie bemerkt, das unmittelbare Bewußtseins eines uns zur Erkenntnis gegebenen gegenwärtigen Gegenstandes. Aber jene Form der Selbsttätigkeit unserer erkennenden Vernunft kommt uns so unmittelbar nicht zu Bewußtsein, sondern einzig durch die genaue Beobachtung unserer ursprünglichen Erkenntnisse, um durch immer weitere und schärfere Zergliederung und Abstraktion vom gegebenen Mannigfaltigen eben das Eine und Allgemeine zu finden, das ihm zugrunde liegt. Das Werkzeugt dazu sind die Begriffe, eben die abstrakten und allgemeinen Vorstellungen, die wir uns aus den einzelnen Sinnesanschauungen bilden. Das Vermögen dieser Reflexion nennen wir den Verstand, das Denkvermögen. Auf solche mittelbare Weise können wir zum vollständigen Bewußtsein der Form der Selbsttätigkeit gelangen, die unsere Vernunft ihrer Natur gemäß beim Erkennen übt. Daher sind die Stämme unserer ursprünglichen Erkenntnis nicht, wie KANT sagt, Sinnlichkeit und Verstand, sondern vielmehr Sinnlichkeit und erkennende Vernunft. Er nennt deshalb die Sinnesanschauung eigentlich nur Rezeptivität, und nach ihm kommt das Erkennen erst durch den denkenden Verstand zustande. So sieht man leicht, wie jener Mangel der inneren Selbstbeobachtung ihn zu dem Fehler verführen mußte, die Selbsttätigkeit oder Spontaneität unserer erkennenden Vernunft zu verwechseln mit der Spontaneität des denkenden Verstandes, während dieser doch nur dazu dient, uns der ersteren vollständig bewußt zu werden.

In § 15 der Kr. d. r. V. spricht KANT "Von der Möglichkeit einer Verbindung überhaupt". Hier ist der Mangel und die Verwechslung, von der ich rede, besonders sichtbar. Er meint: das Mannigfaltige der Vorstellungen kann in einer bloß sinnlichen Anschauung gegeben werden, die er bloß Empfänglichkeit nennt; aber die Verbindung (conjunctio) eines Mannigfaltigen überhaupt kann niemals durch Sinne in uns kommen. Dieses ist ein actus der Spontaneität der Vorstellungskraft, und da man diese, zum Unterschied von der Sinnlichkeit, Verstand nennen muß, ist diese Synthesis eine Verstandeshandlung. - Ganz richtig sagt hier KANT, daß in der sinnlichen Wahrnehmung uns nur die Vorstellung des einzelnen, zerstreuten Mannigfaltigen gegeben wird. Da er nun nach seiner Auffassung neben der Sinnlichkeit keinen anderen Stamm unserer Erkenntnis hat, als den Verstand, so muß ihm natürlich die Verbindung dieses Mannigfaltigen als eine Tätigkeit des Verstandes erscheinen. Nun aber ist nach ihm der Verstand auch das Vermögen der Analysis, also des Gegenteils. Also würde der Verstand erst die Synthesis bewirken, und dann wieder dieselbe auseinandernehmen, analysieren; man sieht nicht, wozu? Es kommt das wunderliche Schauspiel heraus, als ob derselbe Verstand ein bloßes Spiel mit seiner Tätigkeit treibt; er verbindet die Vorstellungen, um zur Erkenntnis zu kommen, dann löst er die Verbindung, wie es scheint, um wieder durch eine neue Synthesis zur Erkenntnis zu kommen usw. KANT hat den offenbaren Widerspruch, der darin liegt, wohl gemerkt, denn er sagt gleich darauf:
    "Man wird hier leicht gewahr, daß diese Handlung ursprünglich einig und für alle Verbindung gleichgeltend sein muß, und daß die Auflösung, Analysis, die ihr Gegenteil zu sein scheint, sie doch jederzeit voraussetzen; denn wo der Verstand vorher nichts verbunden hat, da kann er auch nichts auflösen, weil es nur durch ihn als verbunden der Vorstellungskraft hat gegeben werden müssen."
Aber seine Erklärung hilft uns über das Widersprechende nicht hinweg. Denn wie kann er sagen, daß die Analysis das Gegenteil der Synthesis nur zu sein scheint? Sie ist dann doch in der Tat eine durchaus entgegengesetzte Handlung; wenn der Verstand das Mannigfaltige verbindet, und dann diese Verbindung, die er selbst bewerkstelligt hat, wieder auflöst, so ist doch unzweifelhaft derselbe Verstand das Vermögen der Wiederauflösung seiner eigenen Verbindung. Was KANT mit dem "dann" zur Erklärung hinzusetzt, ist durchaus keine Erklärung. Denn er sagt damit nur, daß eben da, wo aufgelöst wird, Verbundenes gegeben sein muß. Nun frage ich: woher kommt denn das Verbundene? Und KANT antwortet: nun, ich habe ja gesagt, der Verstand ist das Vermögen der Synthesis, sie ist eine Verstandeshandlung. Aber damit sind wir ja nicht von der Stelle gekommen, sondern es bleibt dabei: der Verstand ist sowohl das besondere Vermögen der Synthesis als auch das der Analysis. Wir begreifen aber eben nicht, wie sich das reimt, und wozu der Verstand dieses Spiel mit sich selber treibt. Wenn KANT den Satz also schließt "weil es nur durch ihn als verbunden der Vorstellungskraft hat gegeben werden müssen": so liegt darin eine Unklarheit und Zweideutigkeit. Denn ich könnte es so verstehen: es sei das besondere Geschäft des Verstandes, die schon verbundene Erkenntnis dem Vorstellungsvermögen zu übergeben, damit er nun die Analysis vornehmen kann. Dann gehört das "durch ihn" zu "hat gegeben werden müssen". Aber dabei bleibt es noch unbestimmt, woher das Verbundene kommt. Im Sinne KANTs aber müßte es lauten: "weil es nur als durch ihn verbunden", denn KANT will ja eben behaupten, daß die Verbindung nur durch den Verstand hergestellt ist. -

Dieses Rätsel, diese Verwirrung löst sich leicht durch unsere Unterscheidung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Erkenntnis, durch unsere Auffassung des Verhältnisses des Verstandes zur erkennenden Vernunft. Die unmittelbare Erkenntnis, sagte ich, entsteht durch die sinnliche Anregung und die Spontaneität, die Selbsttätigkeit unserer erkennenden Vernunft. Infolge der uns gegebenen Anregung wird uns Etwas zur Erkenntnis gegeben, nun faßt die erkennende Vernunft das so Gegebene nach der ihr eigentümlichen Weise auf, faßt es zusammen, verbindet und verknüpft es, weil eben alles Einzelne und Mannigfaltige in die Eine Form ihrer Erkenntnistätigkeit hineinfällt. Dies ist die ursprüngliche Synthesis in der unmittelbaren Erkenntnis. Dieses so Verbundene findet der reflektierende, denkende Verstand in unserem Innern vor; nun löst er das Verbundene, trennt es, unterscheidet die Bestandteile und vollzieht wieder seine Synthesis. Wir sehen aber, daß dies kein bloßes Spiel ist, sondern den wichtigen Zweck hat, durch Analysis und wiederholte Synthesis uns die ursprüngliche Verbindung und Verknüpfung zum klaren und vollständigen Bewußtsein und Verständnis zu bringen. Also durch die Spontaneität des denkenden, reflektierenden Verstandes werden wir uns der Spontaneität, der Selbsttätigkeit unserer erkennenden Vernunft bewußt. Aber dies wird von KANT nicht unterschieden, sondern miteinander verwechselt, er sieht und schildert nur die spontane Tätigkeit des reflektierenden Verstandes.
LITERATUR: Carl Grapengießer, Die transzendentale Deduktion, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Neue Folge, Bd. 65, Halle/Saale 1874