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HANS VAIHINGER
Die transzendentale Deduktion
der Kategorien

in der 1. Auflage der Kr. d. r. V.
[1/3]

"Der Sinn stellt die Erscheinungen empirisch in der Wahrnehmung vor, die Einbildungskraft in der Assoziation (und Reproduktion), die Apperzeption im empirischen Bewußtsein der Identität dieser reproduktiven Vorstellungen mit den Erscheinungen, dadurch sie gegeben waren, folglich in der Rekognition."


Einleitendes

Aufmerksames und scharfes Studium der Deduktion A lehrt auf Schritt und Tritt, daß wir es in ihr nicht mit einer einheitlichen Darstellung zu tun haben: KANT kann dieselbe unmöglich in einem Zug niedergeschrieben haben; aber auch, daß er dieselbe in einzelnen Absätzen, jedoch in der jetzigen Reihenfolge der Abschnitte geschrieben hat, ist kaum möglich. Die Wiederholungen und die Widersprüche in derselben sind vielmehr derart, daß hier nicht bloß aufeinanderfolgende, sondern sogar durcheinander geworfene Schichten angenommen werden müssen. Die Publikationen der "Losen Blätter", der "Reflexionen" und des "Opus postumum" aus KANTs Nachlaß haben uns über die Arbeitsmethode KANTs belehrt: wir finden überall einzelne kürzere oder längere Ausführungen, wobei KANT in immer neuen Ansätzen den spröden Gegenstand zu bewältigen sucht, und bei diesen neuen Ansätzen nimmt KANT auf seine eigenen früheren Darstellungen fast nie Rücksicht. Er setzt fast immer wieder neu ein, ohne Beziehung auf die schon vorliegenden älteren Aufzeichnungen. Dadurch erklären sich sowohl die immer neuen Behandlungen desselben Themas, als die auffallenden Abweichungen derselben von einander. Damit löst sich auch die scheinbar streng einheitliche Deduktion A in eine Reihe "loser Blätter" auf, welche aus sehr verschiedener Zeit stammen mögen, und welche von KANT selbst bei der letzten Redaktion nur in einen losen äußeren Zusammenhang gebracht worden sind, ohne innere Durchdringung und Verschmelzung.

Daß sich dies so verhält, war aufmerksameren Beobachtern auch früher nicht entgangen. Schon 1876 stellte RIEHL in seinem "Philosophischen Kritizismus", Bd. 1, Seite 377 und 386 die These auf:
    "Die Deduktion wird nicht weniger als dreimal von verschiedenen Seiten aus in Angriff genommen und durchgeführt"; "der Gedankengang wird in verschiedenen Wendungen wiederholt."
Im Jahr 1878 hat sodann besonders BENNO ERDMANN (1) die Aufmerksamkeit auf diesen Umstand gelenkt. *Kants Kritizismus, Seite 24f:
    "Der Beweisgang der Deduktion bildet keine fortlaufende Reihe, sondern eine viermalige Wiederholung ein und derselben Argumentation."

    "Erster Beweisgang: Apprehension; Reproduktion; Rekognition (Apperzeption, Gegenstand der Vorstellungen); Kategorien A 98-112."

    "Zweiter Beweisgang: Assoziation; Affinität; Apperzeption; Gesetze. A 112-114."

    "Dritter Beweisgang: Apperzeption; Einbildungskraft; Verstand; Kategorien; Erscheinungen. A 116-119."

    Vierter Beweisgang: Wahrnehmung; Apprehension; Reproduktion; Assoziation; Affinität; Apperzeption (Rekognition); Gesetze. A 119-128."

    "Diese vier Darstellungen sind voneinander nicht bloß dadurch unterschieden, daß die weniger ausführliche vorletzte die Richtung der Argumentation umkehrt, sondern auch dadurch, daß die erste um ein Glied, die Beziehung auf den Gegenstand der Vorstellungen, reicher ist, als die übrigen; diese dagegen zwei Glieder, die Assoziation und Affinität, die in der ersten nicht als gesonderte Glieder existieren, einschieben, ohne daß es möglich wäre, ihre Stelle innerhalb jener ersten Reihe genau zu bestimmen."

    "Selbst innerhalb der einzelnen Argumentationen sind die verschiedenen Glieder nicht durchsichtig verknüpft. Besonders in der ersten tritt die Diskussion der Beziehung der Vorstellungen auf ihren Gegenstand trotzt aller sachlichen Zusammengehörigkeit zum letzten Glied ... formell ganz unmotiviert in den Gang des Beweises ein."
Jene vier einzelnen Beweisgänge seien
    "nur lose aneinandergeknüpft, gelegentlich sogar so, daß es scheint, als habe hier eine nachträgliche Einschaltung stattgefunden, wie beim zweiten, der sich ganz unmotiviert an den ersten anhängt."
Die "zerstückelnde, überall den Eindruck des Unfertigen erreigende Darstellung" wird noch ausdrücklich betont:
    "Es ist eine Aufgabe der Entwicklungsgeschichte Kants, diese befremdliche Zusammensetzung des Abschnitts zu erklären."
Elf Jahre später hat ERICH ADICKES einen neuen Anlauf nach dieser Richtung hin genommen. In seiner Ausgabe (2) der Kr. d. r. V. (1889) Seite 139, 653-684 hat er die Deduktion A mit großem Scharfsinn in ihre einzelnen Bestandteile aufzulösen gesucht:
    "Die Deduktion A ist aus verschiedenen, zeitlich und inhaltlich von einander getrennten, früher selbständigen Deduktionen sehr künstlich zusammengestellt" (139)

    dieselbe ist "eine mosaikartige Zusammenstellung und Verschlingung verschiedener Gedanken aus verschiedenen Zeiten."
ADICKES glaubt die verschiedenen Gedankengänge sehr scharf von einander scheiden zu können. Die einzelnen Absätze bzw. jedesmaligen neuen Ansätze der Deduktion A haben allerdings den gemeinsamen "rationalistischen" Grundgedanken,
    "daß nur vermöge der Kategorien eine Verbindung von Vorstellungen und die daraus resultierende Einheit der Erfahrung möglich ist."
Aber hierbei ergeben sich nun ziemlich
    "verschiedene Gesichtspunkte, je nachdem der eine oder andere der die Erfahrung zustandebringenden Faktoren mehr in den Vordergrund gerückt und auf die *Kategorien zurückgeführt wird. Diese Verschiedenheiten und Widersprüche ... ergeben genügend Anhaltspunkte, um mit ziemlicher Sicherheit die einzelnen Bestandteile zu sondern." (Seite 139).
Demnach unterscheidet ADICKES sieben verschiedene Deduktionen, in denen er ebenso viele verschiedene Variationen desselben Grundgedanken findet (3). Das Prinzip ihrer Unterscheiung ist eben die verschiedene Art und Weise, wie ein und derselbe Grundgedanke variiert wird. Aber ADICKES findet dann, daß sich fast in jeder dieser sieben Deduktionen nun außerdem Einschiebsel aus den anderen finden, und in diesen Einschiebseln wieder andere Einschiebsel nebst "harmonisierenden Abschnitten" zur Verbindung der verschiedenen Darstellungen, so daß nicht nur die Synthese der einzelnen Abschnitte durch KANT, sondern auch ihre Analyse durch ADICKES notwendigerweise "sehr künstlich" geworden ist, wie ein System von Zyklen und Epizyklen (4).

Die folgende Analyse der Deduktion A erscheint vielleicht nicht weniger künstlich; sie ist aber gänzlich unabhängig von derjenigen von ADICKES entstanden und kommt im Einzelnen zu ganz anderen Resultaten. Gemeinsam ist wohl das Hauptergebnis der beiden Analysen, daß die Deduktion A aus zeitlich und inhaltlich verschiedenen Schichten besteht, aber das Prinzip ihrer Sonderung ist ein anderes. Das Sonderungsprinzip ist bei mir folgendes: KANT gibt in den verschiedenen Darstellungen ganz verschiedene Schilderungen der "subjektiven Erkenntnisquellen", Sinn, Einbildungskraft, Verstand usw. Die Geologen, welche ja mit Vorliebe verschiedene Schichten der Erdrinde unterscheiden, haben da, wo diese nachher durcheinander geworfenen sind, zum Teil als Kennzeichen verschiedene "Leitmuscheln" benützt: verschiedene neptunische Schichten unterscheiden sich nach den in ihnen eingeschlossenen Muscheln, und die Verschiedenheit dieser ist der Leitfaden der Unterscheidung der Schichten. Solche "Leitmuscheln" für die verschiedenen Schichten der Deduktion A sind die von einander sehr abweichenden Darstellungen der subjektiven Erkenntnisquellen, deren (bereits von BENNO ERDMANN bemerkte) Verschiedenheit zwar auch schon ADICKES gesehen hat, ohne dieselbe aber zum eigentlichen Unterscheidungsprinzip zu machen. Für micht aber ist jener Unterschied das einzige und entscheidende Unterscheidungsprinzip der einzelnen Schichten.

Ich analysiere nun zunächst die einzelnen Darstellungen in der jetzigen Reihenfolge bei KANT selbst nach dem oben entwickelten Unterscheidungsprinzip. Und darauf hin werden wir in den Stand gesetzt sein, den Versuch zu machen, die einzelnen Darstellungen in ihre chronologische Folge zurückzubringen, in der sie von KANT wahrscheinlich konzipiert worden sind. [...]


I. Kurze Analyse der einzelnen Abschnitte
in ihrer Reihenfolge bei Kant

L § 10. Während KANT am Schluß der allgemeinen Einleitung, am Anfang der Transzendentalen Ästhetik und am Eingang zur Transzendentalen Analytik *Anschauungen und Begriffe, bzw. Sinnlichkeit und Verstand ohne weitere Erklärung einander gegenübergestellt hatte, so macht sich zuerst im 3. Abschnitt des Leitfadens (L) der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe (= 2. Auflage, § 10) eine andere Darstellung geltend. Im 1. Absatz wird daselbst die Spontaneität des Denkens näher als "Synthesis" bezeichnet und noch dem Verstand zugeschrieben; bei jener Synthesis wird das "Durchgehen", "Aufnehmen" und "Verbinden" unterschieden (5). Im 3. Absatz wird diese selbe Synthesis aber als Sache einer unbewußten *Einbildungskraft dargestellt ("wie wir zukünftig sehen werden" heißt es, mit Hinweis auf die transzendentale Deduktion). Im 5. Absatz wird nun erst ganz scharf unterschieden:
    1. Die reine Anschauung (= Sinnlichkeit) gibt das Mannigfaltige.

    2. Die Einbildungskraft vollzieht die Synthesis desselben;

    3. Der Verstand tut die Einheitsbegriffe hinzu.
Diese vorläufige Darstellung im "Leitfaden" ist - abgesehen von der inneren Zwiespältigkeit derselben - an jener Stelle ganz unnötig und wirkt daselbst nur verwirrend, insbesondere infolge der seltsamen Verschiebung, wonach das Mannigfaltige in erster Linie als apriorisches, nicht als empirisches in Betracht kommen soll. (Hierüber Näheres weiter unten.)

I § 13. Des ersten Abschnitts erster Teil: "Von den Prinzipien einer transzendentalen Deduktion überhaupt", der in B mit § 13 bezeichnet worden ist, operiert im Gegensatz zu L § 10 wieder nur mit dem alten Gegensatz von Sinnlichkeit und Verstand. Er stellt das Problem bzw. die Aufgabe der Deduktion fest, und macht dabei die Voraussetzung, daß die Verstandeskategorien nicht notwendig sind für die Gegenstände der Anschauungen. Diese Voraussetzung aber wird nachher tatsächlich zurückgenommen.

I § 14. Des ersten Abschnitts zweite Hälfte: "Übergang zur transzendentalen Deduktion der Kategorien", die in B mit § 14 bezeichnet worden ist, operiert ebenfalls nur mit dem Gegensatz von Sinnlichkeit und Verstand, geht aber im Übrigen weit hinaus über den Inhalt des § 13: denn jetzt wird eingesehen, daß die Kategorien notwendig sind, um die Anschauungen als Gegenstände zu denken und zur einheitlichen Erfahrung zu verbinden.

I Schluß. Nachdem nun also immer wieder nur der alte wohlbekannte Gegensatz von Sinnlichkeit und Verstand wiedergekehrt war, findet sich nun im 1. Abschnitt der Transzendentalen Deduktion (= I) am Schluß zuerst die neue Dreiteilung der "drei ursprünglichen Quellen, die die Bedingungen der Möglichkeit aller Erfahrung enthalten":
    1. Die Synopsis des Mannigfaltigen (und zwar) a priori durch den Sinn;

    2. Die Synthesis dieses Mannigfaltigen durch die Einbildungskraft;

    Die Einheit dieser Synthesis durch ursprüngliche Apperzeption.
Bei allen drei wird der empirische und der transzendentale Gebrauch unterschieden.
    "Von diesem (letzteren) haben wir in Anbetracht der Sinne oben im ersten Teil (in der transzendentale Ästhetik) geredet, die zwei anderen aber wollen wir jetzt ihrer Natur nach einzusehen trachten."
Also nur von diesen beiden letzteren soll demnach im Folgenden die Rede sein, wobei aber zu bemerken ist, daß die Synthesis nicht bloß in Nr. 2 hineinfällt, sondern daß auch Nr. 3 als synthetische Funktion erscheint, wie auch in L § 10 der Verstand dasjenige ist, was der Synthesis erst die "Einheit gibt".

II Einleitung α Mit dem 2. Abschnitt sollte nun nach den Vorbereitungen des ersten die eigentliche Deduktion beginnen; aber es folgt nun zunächst eine neue Einleitung in vier Absätzen, welche die Forderungen des § 14 wiederholt: es muß gezeigt werden, daß nur "mittels der Kategorien allein ein Gegenstand gedacht werden kann". Auch hier ist nur vom Verstand überhaupt im Gegensatz zur Sinnlichkeit die Rede. Ganz anders wird dagegen die Sache im 5. Absatz. Dieser bildet einen Passus für sich als

II Einleitung β Neu einsetzen führt hier der Autor aus, daß aus den isolierten Vorstellungen ein Ganzes gemacht werden muß durch synthetische Operationen. Der Sinn hat wohl eine Synopsis des Mannigfaltigen, aber diese besteht, wie sich aus dem Zusammenhang ergibt, in einem passiven, rezeptiven, äußerlichen Zusammenschauen; freilich ist dies auch schon eine Art Synthesis, aber eine ganz niedere, ein rein äußerliches Neben- und Nacheinander. Ein eigentliches innerliches Zusammensetzen und Zusammenfügen kommt doch erst durch die eigentliche Synthesis als spontanen aktiven Akt zustande. Es wird nun aber eine "dreifache Synthesis" unterschieden: die Apprehension der Vorstellungen in der Anschauung, die Reproduktion derselben in der Einbildung und die Rekognition derselben im Begriff.
    "Dieselben geben nun eine Leitung auf drei subjektive Erkenntnisquellen, welche selbst den Verstand ... möglich machen."
Diese Darstellung weicht von den bisherigen erheblich ab. Währen in L Sinn, Einbildungskraft und Verstand (an dessen Stellen in I Schluß die Apperzeption getreten ist) gegenübergestellt wurde, stehen sich hier die Rezeptivität (= Sinn) und die Spontaneität gegenüber; letztere zerfällt wieder in drei Funktionen der Synthesis, während sich in L und in I Schluß die Synthesis formell nur als eine Funktion und zwar als die der *Einbildungskraft dargestellt war, sachlich aber auch als Sache des Verstandes bzw. der Apperzeption herausstellte. Während also früher formell nur eine, sachlich aber zwei synthetische Funktionen unterschieden wurden, erscheinen hier drei solche, indem die Apprehension als dritte hinzugenommen wird, bzw. vor die beiden anderen hineingeschoben wird. Diese drei zusammen "machen nun den Verstand möglich", sind also seine Komponenten und Faktoren oder wie KANT nachher selbst sagt "Elemente". (Unten in III α wird dagegen der Verstand nur auf die beiden Faktoren Einbildungskraft und Apperzeption zurückgeführt.)

Also werden hier wieder Sinnlichkeit und Verstand einander dichotomisch [zweigeteilt - wp] gegenübergestellt und nur der Verstand trichtomisch in drei besondere Elemente geschieden. Diese drei Elemente "geben nun auch eine Leitung auf drei subjektive Erkenntnisquellen"; diese Faktoren sind als "Anschauung, Einbildung und Begriff" bezeichnet. Diese spezielle Dreiteilung des Verstandes erinnert formell an die oben besprochene allgemeine Dreiteilung: Sinn, Einbildungskraft, Verstand, aber jene erste und diese zweite Tafel der subjektiven Erkenntnisquellen dürfen absolut nicht miteinander konfundiert [vermengt - wp] werden (wofür der Hauptgrund weiter unten angegeben wird).

Da die "Rekognition im Begriff" auf den Verstand hinweist, so müßte dieser Verstand, der sich nur in der Rekognition zeigt, im engeren Sinn unterschieden werden vom Verstand im weiteren Sinn, der jene drei Teilfunktionen umfaßt. Die Darstellung ist auch deshalb verwirrend, weil hier von der Apperzeption, die oben in I (Schluß) schon erwähnt wurde, ganz geschwiegen wird. Solchen Abweichungen gegenüber gibt es nur eine Erklärung, daß eben KANT hier Papiere aus ganz verschiedenen Zeiten ohne strenge Endredaktion lose zusammengestellt hat - eine Erklärung, zu der ich auch durch die weiteren Widersprüche der folgenden Darstellungen genötigt werde. Man bedenke doch, daß wir bisher folgende Einteilungen bekommen haben: zuerst die Zweiteilung in Sinnlichkeit (I) und Verstand (II); sodann an deren Stelle die Dreiteilung in Sinn (I), Einbildungskraft (II) und Verstand (III); dann kehrt jedoch die erste Zweiteilung in Sinnlichkeit (I) und Verstand (II) wieder, aber nun wird der Verstand im weiteren Sinn (II) in drei Teilfunktionen: Anschauung (1), Einbildung (2), Begriff (3) zerlegt (und dieses letzte Glied muß auf den Verstand im engeren Sinn zurückgeführt werden). Wir haben also zuerst eine Zweiteilung, dann eine Dreiteilung und dann eine verworrene und verwirrnede Vermischung der Zweiteilung und der Dreiteilung in einer Zwei- und Dreiteilung.

II, 1-3 α Die ausführliche Darstellung der drei synthetischen Funktionen in den drei aufeinanderfolgenden Nummern des 2. Abschnitts (= II, 1-3) beginnt mit der "Synthesis der Apprehension". Diese ist "eine auf die Anschauung gerichtete Handlung", die aber scheinbar keinem besonderen Vermögen zugeschrieben wird, in deren Erfindung doch sonst KANT, im Bann der damaligen Psychologie stehend, nicht sparsam war.

Späteren Stellen zufolge (besonders III β) würde man die Apprehension auch der Einbildungskraft zuschreiben, aber das ist hier dem Zusammenhang nach ausgeschlossen.

In der Apprehension wird, wenn auch nicht ausdrücklich, so doch der Sache nach, eine empirische und eine transzendentale Funktion unterschieden. Faktischer aber verschwindet der transzendentale Gebrauch in den späteren Erörterungen vollständig und die Apprehension wird dann späterhin nur noch als eine empirische Funktion in Anspruch genommen. Die zweite synthetische Funktion ist die "Synthesis der Reproduktion". Hier quält KANT sich und die Leser mit einem sehr gesuchten und geschraubten Nachweis, daß die gewöhnliche empirisch-psychologische Reproduktion eine transzendentale Synthesis der Reproduktion voraussetzt (während bei der Apprehension der empirischen Funktion die reine nur an die Seite gesetzt wurde). Wohlbemerkt - die transzendentale Handlung wird nach Analogie der empirischen, die von der Psychologie behandelt wird, als reproduktive bezeichnet und als solche "dem transzendentalen Vermögen der Einbildungskraft" zugeschrieben. Nachher hat KANT dies fallen gelassen und die transzendentale Funktion der Einbildungskraft ausschließlich und ausdrücklich als "produktive" bezeichnet, womit diesr ganze Abschnitt von KANT ja in A selbst schon zurückgenommen wird - nicht gerade zur Erhöhung der Klarheit und Durchsichtigkeit. Aber auch vorher, d. h. in I Schluß, in der ersten Tafel der subjektiven Quellen (sowie in der damit verwandten Darstellung L § 10), ist dem ganzen Zusammenhang nach die transzendentale Einbildungskraft nur als produktive zu verstehen. [...]

Die dritte synthetische Funktion ist "die Synthesis der Rekognition". Man sollte nun zunächst erwarten, daß eine empirische und eine transzendentale Rekognition unterschieden würde, dies geschieht aber nicht; nachher allerdings wird eine empirische und eine reine Apperzeption unterschieden, auch welche sich die empirische und die reine Rekognition verteilten müßte, was aber wiederum nicht geschieht; die "Rekognition" kehrt vielmehr in diesem Abschnitt III gar nicht und später nur als empirische Funktion wieder.

II, 3 β Die folgende Darstellung, - welche mit dem 3. Abschnitt einsetzt mit den Worten: "Und hier ist es dann notwendig" - zeigt einen ganz anderen Charakter. Es ist überhaupt ein anderer Duktus, eine andere Feder. Ausgehend vom Begriff des *"Gegenstandes" zeigt KANT, daß dessen subjektives Gegenstück die "formale Einheit des Bewußtseins" ist; sie ist der Grund aller Einheit des Mannigfaltigen und diese ist = Gegenstand. Jene "formale Einheit des Bewußtseins" nebst den in ihr sich geltend machenden begrifflichen Einheitsregeln werden dann auf die transzendentale Apperzeption zurückgeführt. Jene Einheitsregeln sind aber hier auffallenderweise empirisch-begrifflicher Natur. Reproduktion und Apprehension werden - und das ist sehr wichtig - hier nur als empirische Funktionen erwähnt, und zwar nur ganz vorübergehend. Es liegt auf der Hand, daß besonders durch letzteren Umstand dieser Abschnitt wie durch eine Kluft von der vorhergehenden Partie geschieden ist.

II, 4 Eine von den bisherigen Darstellungen wesentlich abweichende Ausführung gibt nun die 4. Nummer des II. Abschnitts. In dieser Nummer ist nur von der Apperzeption die Rede, die als "ursprüngliches", "transzendentale" ausgezeichnet wird, ohne daß deshalb ausdrücklich von einer entsprechenden empirischen die Rede wäre. In diesem 4. Abschnitt, in dem jene zuerst eingeführt wird, wird ihr die "Synthesis nach Begriffen" "a priori" ohne weitere Erklärung untergeordnet. Diese Synthesis des Mannigfaltigen nach Begriffen a priori wird nachher "transzendentale Affinität" der Erscheinungen genannt, aus welcher sich die nachher in der Erfahrung überall bestätigte, darum eben empirische Affinität der Erscheinungen von selbst erklären soll. Dieser empirischen Affinität der Erscheinungs-Objekte korrespondiert die "empirische Regel der Assoziation" im Subjekt. Die ganze Anlage dieses Gedankengangs ist somit gänzlich unabhängig von den bisherigen Darstellungen - und daher offenbar aus ganz anderer Zeit stammend. Von jenen drei synthetischen Funktionen ist nicht die Rede, weder als transzendentalen, noch als empirischen. Einzig und allein die Apprehension der Erscheinungen als rein empirische Aufnahme derselben und insofern als rein empirische "Synthesis" derselben steht hier der Apperzeption als der Quelle der ursprünglichen "Synthesis nach Begriffen" gegenüber. Diesen apriorischen Synthesen der Erscheinungen nach reinen Begriffen muß nachher die empirische Synthesis der Aufnahme derselben naturgemäß "durchgängig gemäß sein", d. h. aus der transzendentalen Affinität der Erscheinungen folgt deren empirische Affinität, die wir durch empirische Apprehension konstatieren. Was aber das Auffallendste ist: der Einbildungskraft, welche in L § 10 in I Schluß als produktive, in II Einleitung &beta und II, 1-3 &alpha als reproduktive eine so große Rolle gespielt hat, wird mit keinem Wort gedacht.

III Einleitung Erst dieser Abschnitt kehrt wieder zu den "drei subjektiven Erkenntnisquellen" zurück und zwar entsprechend der Darstellung in I (Schluß) auf Sinn, Einbildungskraft und Apperzeption. Aber hier wird nun der "empirische Gebrauch" dieser drei Quellen, der dort nur kurz erwähnt worden war, eingehend geschildert:
    "Der Sinn stellt die Erscheinungen empirisch in der Wahrnehmung vor, die Einbildungskraft in der Assoziation (und Reproduktion), die Apperzeption im empirischen Bewußtsein der Identität dieser reproduktiven Vorstellungen mit den Erscheinungen, dadurch sie gegeben waren, folglich in der Rekognition."
Auf die auffallenden Abweichungen von II, 3 β in der Bestimmung der "Rekognition" sei hier nur kurz aufmerksam gemacht. Auffallend ist aber besonders das Fehlen der "Apprehension", welche hier ganz mit Stillschweigen übergangen wird. Dem empirischen Gebrauch jener drei Erkenntnisquellen folgt nun der transzendentale: die reine Anschauung, die reine Einbildungskraft und die reine Apperzeption. Daß nur die beiden letzteren hierher gehören, wird nicht gesagt, versteht sich aber von selbst. Etwas Näheres erfahren wir in dieser vorläufigen Darstellung noch nicht.

III, α Es folgt zunächst die Darstellung von oben - welche eben von der reinen Apperzeption ausgeht. Alle Erscheinungen müssen zur Einheit des Bewußtseins zusammengefaßt werden. Aber diese synthetische Einheit der Apperzeption setzt eine mit ihr Hand in Hand gehende Synthesis durch die reine produktive Einbildungskraft voraus, die reproduktive wird dabei nur vorübergehend gestreift, von Apprehension und Rekognition ist im ganzen Abschnitt keine Rede. Nachher wird die Apperzeption "in Beziehung auf die Einbildungskraft" mit dem Verstand identifiziert; "in Beziehung auf ..." ist eine etwas mysteriöse Wendung. Jedenfalls aber wird hier die Einbildungskraft dem Verstand subordiniert [untergeordnet - wp]: denn
    "im Verstand sind reine Erkenntnisse a priori, welche die ... Synthesis der reinen Einbildungskraft ... enthalten."
Die Vermittlerrolle, welche sonst die Einbildungskraft zwischen Sinnlichkeit und Verstand spielte, wird hier nicht ausdrücklich erwähnt und fällt auch faktisch weg.

III, &beta Nun folgt die Darstellung "von unten". Der erste Satz kann sehr wohl erst nachträglich eingeschoben sein; dann begann die ursprüngliche Darstellung mit den Worten: Das Erste, was uns gegeben wird, ist Erscheinung. Die Erscheinungen bestehen aus Mannigfaltigem, dessen Verbindung der Sinn selbst nicht geben kann. Es bedarf dazu eines "tätigen Vermögens", der Einbildungskraft. Als erste Funktion dieser tätigen Einbildungskraft wird die "Apprehension", d. h. "Aufnahme des Eindrucks in ihre Tätigkeit" bezeichnet. Gehört diese apprehensive Tätigkeit zum empirischen oder zum transzendentalen Gebrauch der Einbildungskraft, also zur reproduktiven oder zur produktiven Einbildungskraft? KANT sagt darüber hier nichts ausdrücklich. Nach dem Zusammenhang hier könnte man zunächst versucht sein, die Apprehension als erste Funktion der produktiven Einbildungskraft zuzurechnen, da ja von der Einbildungskraft in der Anmerkung gesagt wird, sie erst setze aus den Eindrücken der Sinne Bilder der Gegenstände zusammen. Jene Anmerkung, die sich also wohl auf die produktive Einbildungskraft bezieht, scheint aber erst später zum Text hinzugesetzt worden zu sein: denn in diesem, d. h. im folgenden Absätzchen desselben wird nur von einem reproduktiven Vermögen der Einbildungskraft gesprochen, "welches dann auch nur empirisch ist". Man könnte das "auch" betonen und so auslegen, daß damit auf die Apprehension als die erste empirische Funktion zurückgewiesen wird. Aber wenn man auch das "auch" unbetont läßt, muß die Apprehension als eine Vorarbeit zu einer empirischen Funktion selbst auch als empirisch aufgefaßt werden. Die empirische Reproduktion wird dann noch genauer geschildert und als "Reproduktion nach Regeln" mit der "Assoziation" identifiziert; sie ist aber, wie die nun wieder auftretende Apprehension, nur empirisch tätig. Aber beiden empirischen Funktionen wird nun eine durch transzendentale Einbildungskraft zustande gekommene synthetische Einheit gegenübergestellt, bzw. zugrunde gelegt. Diese "produktive Einbildungskraft" wird nachher genau beschrieben nebst ihrer Tätigkeit, die sich als Synthesis nach Regeln a priori geltend macht. Diese bringt "die Affinität der Erscheinungen" hervor, und diese macht dann die empirische Assoziation und Reproduktion (nebst Apprehension) derselben erst möglich und berechtigt.

III, γ Die folgenden drei Absätze zeigen einen etwas anderen Charakter, welcher dazu nötigt, sie besonders zu stellen. Die produktive Einbildungskraft selbst und ihre apriorische Synthese ist, wie jetzt nun ausgeführt wird, an und für sich noch sinnlich, erst das Hereintragen der Apperzeption verleiht ihr einen intellektuellen Charakter, d. h. also wohl erst die vereinheitlichende Funktion der Apperzeption mit ihren kategorialen Einheitsformen gibt der produktiven Einbildungskraft Halt und Richtung. Zeigen schon diese Ausführungen abweichenden Charakter, so ist dies noch mehr im Folgenden der Fall: die wirkliche Erfahrung besteht jetzt außer aus Apprehension, Assoziation (Reproduktion) auch noch aus einer "Rekognition der Erscheinungen"; und dieses "letzte und höchste der bloß empirischen Elemente der Erfahrung" schließt nun - in einer ganz unklaren Weise - die Begriffe a priori in sich ein. Dieselbe Aufzählung der Faktoren "des empirischen Gebrauchs der Einbildungskraft" wird dann in umgekehrter Reihenfolge nochmals wiederholt. Man lasse sich hier nicht irre machen durch die Erinnerung an die Darstellung von II, 1-3 α, wo außer dem empirischen Gebrauch noch ein transzendentaler Gebrauch der Apprehension usw. aufgestellt wurde. Die Darstellung hier ist eine sachlich und zeitlich ganz andere: hier sind Apprehension, Assoziation, Reproduktion und selbst Rekognition nur empirische Funktionen und dazu sind alle drei, auch die letzte, Funktionen der Einbildungskraft, und nur in der letzten sind - wie gesagt, in sehr unklarer Weise - dann erst die apriorischen Faktoren "enthalten", und dieses letztere wird der transzendentalen Einbildungskraft verdankt, welche, nach demselben Absatz, zwischen Sinnlichkeit und Verstand vermittelnd eintritt und eben die intellektuellen Begriffe des letzteren in das sinnlich gegebene Mannigfaltige erst hineinpraktziert.

III, δ In den vier folgenden Schlußabsätzen des Abschnittes III ist von der Mitwirkung der reinen Einbildungskraft nicht mehr ausdrücklich die Rede; wohl aber werden im ersten der vier Absätze "die ursprünglichen Erkenntnisquellen unseres Gemütes" als "subjektive Bedingungen" der Erfahrung hingestellt in einer Weise, daß dabei an die Einbildungskraft mitgedacht ist. In den folgenden drei Absätzen werden die "Regeln" wieder einzig auf den Verstand zurückgeführt und dieser wird dann wieder mit der transzendentalen Apperzeption identifiziert: der Grundgedanke ist, daß "der Verstand der Quell der Gesetze der Natur ist". Dieser Gedanke wird in verschiedenen Formen variiert.

S. Die "Summarische Darstellung" geht auf die bisher behandelten "subjektiven Erkenntnisquellen" nicht mehr näher ein. "Reine Einbildungskraft" und "ursprüngliche Apperzeption" werden nur erwähnt.
LITERATUR - Hans Vaihinger, Die transzendentale Deduktion der Kategorien in der 1. Auflage der Kr. d. r. V., in Philosophische Abhandlungen - dem Andenken Rudolf Hayms gewidmet von Freunden und Schülern, Halle a. S., 1902
    Anmerkungen
    1) Vgl. die gleichzeitig erschienene Ausgabe der "Prolegomena" durch Benno Erdmann, Einleitung IV-V, XXXII-XXXIX, LXXIX. Besonders Seite XXXVI wird auf die "Widersprüche" zwischen den verschiedenen Darstellungen hingewiesen. Zur Komposition der Transzendentalen Deduktion vgl. ferner Erdmanns Ausführungen in den "Philosophischen Monatsheften", 1883 (Eine unbeachtet gebliebene Quelle zur Entwicklungsgeschichte Kants) Seite 140f und 1884, Seite 89f (Mitteilungen über Kants metaphysischen Standpunkt in der Zeit um 1774).
    2) Über das große Verdienst dieser Ausgabe darf ich auf meine Besprechung derselben im "Archiv für Geschichte der Philosophie", Bd. IV, Seite 723-729 hinweisen, woselbst ich aber auch einzelne nicht unwesentliche Ausstellungen gemacht habe. Vgl. auch Busses Rezension von Adickes' "Kantstudien" in den Kant-Studien, Bd. 2, Seite 127.
    3) Über die chronologische Reihenfolge der einzelnen Abschnitte äußert sich Adickes mit weit mehr Zurückhaltung; er glaubt, daß "eine genaue Datierung der einzelnen Abschnitte nicht durchzuführen ist" (Seite 683). Doch hat Adickes darüber, wie er sich die Altersverhältnisse der einzelnen Abschnitte denkt, einige Vermutungen geäußert (Seite 683-684, verglichen mit XXV-XVII seiner Einleitung). Adickes hat jedoch wesentliche Ergänzungen hierzu in seinen "Kant-Studien" (1895), Seite 173f, sowie in den von mir herausgegebenen "Kantstudien" (1896) I, Seite 244f gegeben, worüber Näheres weiter unten mitgeteilt wird.
    4) Auch Günther Thiele in seiner "Philosophie des Selbstbewußtseins" (Berlin 1895, Seite 255) macht Unterschiede in der Deduktion A. Er begnügt sich aber mit der Andeutung, daß Kant in derselben "mit seinen Gedanken ringt und sie nicht weniger als viermal hintereinander darstellt", nämlich erstens A 98-114; zweitens A 115-119; drittens A 119-128; viertens A 128-130. (Außerdem gehören auch, wie Thiele richtig bemerkt, noch A 76-9, A 84-94 hierher.) Auf die Unterschiede jener vier Darstellungen ist Thiele nicht näher eingegangen.
    5) Die beiden ersten Funktionen werden unter "Durchlaufen" und "Zusammennehmen" nachher A 98 (= Abschnitt II, 1) der Apprehension zugeschrieben; nur die dritte ist später Sache des mit der Apperzeption identischen Verstandes.