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FRANZ STAUDINGER
Identität und Apriori
[Eine logisch-erkenntniskritische Untersuchung]
[1/4]

"Ich muß die Art, wie sich mein durchaus subjektives Vorstellen auf Objekte bezieht, erforschen. Eine Methode, welche von einem persönlichen Ich absieht, und von den in wissenschaftlicher Erfahrung fixierten Objekten ausgeht, muß somit als von vornherein irrig betrachtet werden."

"Die Identität in ihrer allgemeinsten Form ruht auf dem Verhältnis der Mehrheit von Vorstellungen zur  Einheit des Gegenstandes. Diese Beziehung wurde zwar von der älteren Logik gekannt, wie aus gelegentlichen Bemerkungen hervorgeht, aber doch in seiner grundlegenden Bedeutung  verkannt. Man legte Nachdruck auf die Einheit des Gegenstandes und stellte die Formel  A = A auf. Diese Form, sagt aber von einer Identität des Objekts gar nichts aus. Sie sagt nur, daß ein Ding ein Ding, ein Pudel ein Pudel ist."

"Nicht bloß die heutige Wahrnehmung von der Sonne ist eine andere als die gestrige, die heutige Sonne selbst ist nicht mehr die, welche gestern leuchtete. Keiner der gestrigen Licht- und Wärmestrahlen berührt mich heute. Dennoch aber sage ich: die gestrige Sonne ist mit der heutigen eins. Das heißt aber nichts anderes, als daß ich einen fortdauernden Zusammenhang des Gegenstandes selbst, auf den meine zeitlich durchaus getrennten Vorstellungen gehen, voraussetzen muß."


1. Problem und Methode

In dem langen Streit um das Apriori hat sich der Fragepunkt neuerdings nicht unwesentlich verschoben. Die Frage, "ob gewisse Elemente der Anschauung und des Denkens dem Geist ursprünglich angehören oder der Gewohnheit und Erfahrung entstammen", war bei KANT auf das Engste mit zwei anderen Fragen verknüpft. Es handelte sich erstens darum, zu erforschen, ob und wie weit unsere Vorstellungen Geltung für sogenannte Dinge-ansich beanspruchen können, zweitens ging die Frage darauf, wie die Urteile der Mathematik und Naturwissenschaft eine unbedingte Geltung beanspruchen können.

Die erste Frage ist heute beim Positivismus wie beim erkenntniskritischen Rationalismus abgetan. Jener löst die Welt in einen "Zusammenhang geistiger Phänomene", diese die Dinge ansich in einen "Inbegriff wissenschaftlicher Erkenntnisse" auf. Beide kümmern sich also nicht mehr, oder nur nebenher, um die Frage, wie es kommt, daß das Subjekt eine wirklich existierende Welt außerhalb seines Bewußtseins annimmt; ja man weist diese Frage als töricht ab. (1)

Dagegen tritt, besonders in dem heute durch HERMANN COHEN vertretenen Rationalismus die zweite Frage doppelt stark, ja fast in Ausschließlichkit hervor: worauf beruth die Gültigkeit der apriorischen Folgerungen der Mathematik und mathematischen Naturwissenschaft? Erst in zweiter Linie handelt es sich hier um die Frage, woher die Begriffe, aus denen solche Folgerungen abgeleitet werden, stammen, in erster Linie um den Grund der Geltung von Schlußfolgerungen aus bereits vorhandenen Begriffen und Erkenntnissen (2).

Diese Frage sucht der Positivist, bei dem sie mit der Frage nach der Genese unseres Erkennens verquickt ist, auf genetischem und analytischem Weg zu lösen. Er lenkt das Augenmerk auf die Relativität und Variabilität der Wahrnehmungsinhalte und deren Gegebensein, er betont den sinnlichen Ursprung der Begriffe und will, von der gemeinen Erfahrung ausgehend, durch eine fortwährende Berichtigung derselben zu allgemeineren und bestimmteren Feststellungen gelangen. (3)

Der Rationalismus dagegen geht von den geistigen Begriffen und Normen selbst aus, und sucht die Geltung der Erkenntniselemente dadurch zu begründen, daß er ihre Notwendigkeit für die wissenschaftliche Erfahrung aufzeigt (4).

Beide Richtungen leiden nun meines Erachtens an einer Einseitigkeit, die sich nicht bloß im oben angeführten Verwischen der Frage nach den außerhalb der Vorstellung liegenden Beziehungspunkten, sondern ganz wesentlich in dem von ihnen selbst gestellten Problem zeigt.

Der Positivismus, so sehr wir ihm Beifall schenken, wenn er von einer Analyse des Bewußtseins ausgeht, und wenn er das "im gegenwärtigen Bewußtseinsmoment Enthaltene für das Allerrealste" erklärt, springt gar zu gern von der bloßen Analyse des im Bewußtsein Gegebenen zu einer entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung über, und vermengt die Frage, woraus Etwas besteht, mit der anderen und späteren Frage, wie Etwas wird (5). Hiergegen sagt COHEN mit Recht: die Entwicklungsgeschichte setzt ein hohes Stadium der Anatomie voraus, das sie alsdann erhöhen kann; aber die Entwicklungsgeschichte kann der deskriptiven Anatomie nicht vorausgehen. (6)

Sodann aber übersieht der Positivismus allzusehr einen Unterschied zwischen zwei Arten von Folgerungen, auf die KANTs Untersuchung abzielt, und die MILL einmal beiläufig durch die Frage bezeichnet hat, wie es kommt, daß in einigen Fällen ein einziges Beispiel zu einer vollständigen Induktion genügen soll, während in anderen Myriaden übereinstimmender Fälle ohne eine einzige bekannte oder nur vermutete Ausnahme einen so kleinen Schritt zur Feststellung eines allgemeinen Urteils tun (7). Indem der Positivismus diese Frage auch aus Gewohnheit, Erfahrung, Denkunmöglichkeit des Gegenteils etc. lösen will und den prinzipiellen Unterschied verkennt, wird es ihm unmöglich, eine genugtuende Lösung zu finden, und er ist unvermögend, in dieser Hinsicht den Rationalismus zu überwinden.

Denn dieser schiebt gerade jenen Unterschied in den Vordergrund seiner Betrachtung und betont nachdrücklichst das Problem, welches darin liegt, daß wir in der Mathematik und Naturwissenschaft Schlüsse a priori wagen, deren Gültigkeit für die Erfahrung nie bezweifelt wird. Beruth aber im Betonen dieses Problems das wesentliche Verdienst dieser Richtung, so läßtk die Art, wie dasselbe gelöst werden soll, methodisch umso mehr vermissen. Statt, wie man aus den Voraussetzungen erwarten sollte, mit der Anatomie des subjektiven Bewußtseins zu beginnen, sofern sich dieses auf Objekte bezieht, wird sofort von diesemm subjektiven Bewußtsein, dem allein es doch darauf ankommt, zu wissen, ob es richtig oder falsch denkt, abgesehen. Wenn auch natürlich zugegeben wird, daß jedes Erkennen ein "Erlebnis des Subjekts" ist, so soll doch bei der erkenntniskritischen Untersuchung "vom Verhältnis des Vorstellenden zum Vorgestellten abstrahiert" werden. (8) Es werden vielmehr diejenigen Elemente des Bewußtseins von vornherein
    "als Elemente des erkennenden Bewußtseins bezeichnet, welche hinreichend und notwendig sind, das Faktum der Wissenschaft zu begründen und zu festigen." (9)
Dadurch wird aber zuerst einmal die Beantwortung auf einen dogmatischen Boden gestellt. Die Wissenschaft ist schon Faktum, nicht mehr Frage. Gefragt wird nur nach den Geisteselementen, durch die diese Gültigkeit ausgesagt wird. Da aber die hierzu erforderliche Nachforschung, wodurch wir etwa genötigt sein möchten, solche Objekte vorzustellen, nicht im Subjekt vorgenommen, sondern eine solche Untersuchung  a limine [von vornherein - wp] als psychologisch abgewiesen wird, so sind wir darauf angewiesen, die Erklärung in den innerhalb jener Wissenschaften vorliegenden Begriffen und Anschauungsformen selbst zu suchen. Darum bewegt sich zweitens die Beweisführung in einem Kreis. Denn den Rechtsgrund dieser Anschauungsformen und Begriffe, die in platonischer Selbständigkeit vor uns dastehen und den Objekten zugrunde liegen, finden wir eben nur in den Wissenschaften, die eben dadurch begründet werden sollen. Allein wie können sie dann die Wissenschaft begründen und festigen? Sind sie notwendig, weil sie Bedingungen der Möglichkeit einer solchen wissenschaftlichen Erfahrung sind, und die Erfahrung (= Wissenschaft) ist begründet, weil sie durch die Einheit jener Bedingungen möglich gemacht wird. Der Zirkel liegt zutage. Wir erhalten so bestenfalls eine Beschreibung der zur Wissenschaft gehörigen Begriffe, aber keine Begründung.

Immerhin sind die Bemühungen COHENs verdienstvoll genug, und wäre es nur dadurch, daß sie uns zwingen, den Punkt, auf den es vor allem ankommt, scharf ins Auge zu fassen. Die dadurch bewirkte Trennung zweier Fragen, die bei KANT beisammen liegen, kann nur dazu dienen, den Blick für ihren Unterschied zu schärfen, und die Bedingungen, die zur Lösung einer jeden derselben erforderlich sind, leichter erkennen zu lassen.

Diese beiden Fragen lassen sich in folgender Weise formulieren:
    1) Worauf beruth unsere gemeine Erfahrung? d. h. welches sind die Elemente derselben und wo liegt deren Ursprungsort?

    2) Worauf beruth unsere wissenschaftliche Erfahrung? d. h., wodurch sind wir berechtigt, aus bereits gebildeten Begriffen Folgerungen zu ziehen, welche ohne Weiteres eine objektive Gültigkeit für Gegenstände der gesamten Erfahrung haben?
Es fragt sich jetzt, welche dieser beiden Fragen zuerst in Angriff zu nehmen ist, bzw. welche am ehesten trotz des Offenstehens der anderen eine Lösung verspricht. Oberflächlich betrachtet scheint dies die erste Frage zu sein. Allein, wie ich die Frage nach der chemischen Zusammensetzung eines Stoffes nicht beantworten kann, ehe ich das Verfahren der chemischen Untersuchung kenne, so kann ich auch die Elemente der geistigen Verknüpfungen bei der Konstituierung der gemeinen Erfahrung und deren Ursprungsort nicht finden, bevor ich das Verfahren des Geistes selbst in seinen Gründen und Wirkungen erkannt habe. Dieses Verfahren aber lehrt nur die Antwort auf die zweite, die logisch-erkenntniskritische Frage kennen, und die erste, die real-erkenntniskritische Frage muß darum zurückstehen.

Die gegenwärtige Untersuchung stellt sich allein die Beantwortung der zweiten Frage zur Aufgabe. Sie will bloß erörtern, wie der Geist da verfährt, wo er mit dem Anspruch auf apodiktische Gültigkeit aus Begriffen schließt, und wird darum nur soweit vordringen, als es zur Lösung dieses Problems notwendig ist. Die erste Frage, die nach dem Ursprungsort der Apriori, und die damit zu verbindende nach der Realität der Außenwelt bleiben ganz ausgeschlossen.

Die Methode, nach der wir diese Frage lösen, wird nun freilich anders sein, als sie COHEN für die allein richtige hält, anders auch freilich, als die Anhänger der genetischen Methode es belieben. Sie wird weder vom Objekt als solchem, noch vom Subjekt als solchem (in rein psychologischer Weise) ausgehen, sondern vom Verhältnis des Subjekts, und zwar des individuellen Subjekts, zu beliebigen Objekten.

Nun könnte man freilich mehrere Methoden anwenden, um zu ein und demselben Ziel zu gelangen, wie es in der Mathematik mehrere Methoden gibt, die quadratischen Gleichungen zu lösen. Allein bei allen Methoden muß doch ein Gedanke gleich sein, wenn die Lösung nicht verfehlt oder dem Zufall preisgegeben werden soll: das Objekt der Untersuchung muß im Auge behalten werden.

Wenn ich nun wissen will, wie mein Gedanke beschaffen sein muß, um ein Objekt richtig zu erkennen, kann ich nicht vom Objekt als solchem ausgehen. Dieses wird ja zwar stets als unabhängig von den subjektiven Bedingungen meines Denkens vorgestellt. Es ist, was es ist, ob mein Urteil darüber sich nachträglich als wahr oder als falsch herausstellen sollte. Allein bei der Erkenntniskritik handelt es sich ja eben um die Bedingungen, welche machen, daß ich, das Subjekt, ein Urteil über ein Objekt als wahr bezeichnen muß. Diese Bedingungen sind also nur im Geist, und zwar in dessen Beziehung zu Objekten anzutreffen. Folglich kann ich sie nicht aus etwaigen Bedingungen des Objekts als solchen finden, denn darüber will ich mich gerade vergewissern, ob ich diese richtig erfaßt habe. Ich muß vielmehr die Art, wie sich mein durchaus subjektives Vorstellen auf Objekte bezieht, erforschen. Eine Methode also, welche von einem persönlichen Ich absieht, und von den in wissenschaftlicher Erfahrung fixierten Objekten ausgeht, muß somit als von vornherein irrig betrachtet werden.

Umgekehrt dürfen wir uns aber auch nicht auf den bloß psychologischen Standpunkt stellen. Denn wenn ich die Psyche als solche betrachte, so sind diejenigen Gedanken, welche wahr, und diejenigen, welche falsch urteilen, im Geist gleich wirklich, und wir können aus einer Beschreibung dieser seelischen Vorgänge als solcher kein Kennzeichen für die Richtigkeit oder Unrichtigkeit unserer Urteile finden.

Diese Erwägungen zwingen uns darum, beide Methoden und ebenso auch die oben angeführte genetische Methode zu verwerfen, nicht weil sie andere Methoden sind, sondern weil sie sich nicht auf das Ziel unserer Erkenntnisfrage beziehen. An jede Einzelmethode, welche sie auch sein mag, haben wir die Forderung zu stellen, daß sie frägt: Wie verhält sich das subjektive Vorstellen zu dem Objekt, welches dadurch vorgestellt wird?

Diese Frage läßt sich von mancherlei Ausgangspunkten aus verfolgen. Wir könnten mit der Beziehung der einzelnen Vorstellungen aufeinander und auf das Ich beginnen; es wäre möglich, eine Analyse der äußeren Beziehungen vorzunehmen, und von hier aus weiter zu gehen; ja die Tatsache daß wir Widersprüche in unserem Denken finden, könnte, richtig analysiert, zum Ziel führen; und so noch manch anderes mehr.

In dieser Hinsicht ist also der hier eingeschlagene Weg durchaus subjektiv. Ich habe gerade ihn gewählt, weil ich glaube, daß er auf dem verhältnismäßig kürzesten Weg zum Ziel führt, und daß er zugleich ein Hauptgesetz unseres Erkennens, das Gesetz der Identität, in seiner grundlegenden Wichtigkeit besser als ein anderer erörtern läßt.

Ich gehe darum von einer Tatsache aus, die  jedem,  der die Erkenntnisfrage ins Auge faßt, wie sie oben gestellt worden ist, leicht entgegentreten wird. Das erkannte Objekt erscheint nämlich bei einer solchen Betrachtung - wenn wir von der hierher nicht gehörigen kausalen Frage nach der Verändung des Objekts selbst absehen - als einheitlich und ungeschieden, während die darauf bezogenen subjektiven Vorstellungen zeitlich und inhaltlich gar mannigfaltig und verschieden sind. Die Vorstellungen eines Hauses sind überaus vielfältig und vielgestaltig, das Haus selber ist für das Bewußtsein ein und dasselbe.

Von dieser Tatsache, besser von der Frage nach der Identität soll darum die folgende Untersuchung ausgehen, und ich hoffe nach deren Erledigung mühelos die Frage nach dem Grund der Apodiktizit [Gewißheit - wp] apriorischer Schlüsse aus Begriffen auf Gegenstände der Erfahrung lösen zu können.


2. Analyse der
Identitätsbeziehungen

Die Identität in ihrer allgemeinsten Form ruht, wie wir eben sagten, auf dem Verhältnis der Mehrheit von Vorstellungen zur Einheit des Gegenstandes. Diese Beziehung wurde zwar von der älteren Logik gekannt, wie aus gelegentlichen Bemerkungen hervorgeht, aber doch in seiner grundlegenden Bedeutung  verkannt.  Man legte Nachdruck auf die Einheit des Gegenstandes und stellte die Formel  A = A  auf. Diese Form, auf die neuerdings LOTZE noch merkwürdigerweise den Nachdruck legt, sagt aber von einer Identität des Objekts gar nichts aus. Sie sagt nur, daß ein Ding ein Ding, ein Pudel ein Pudel ist. Dies zu behaupten fällt, wie SIGWART mir Recht sagt, niemandem ein. Es ist nicht der mindeste Grund gegeben, um, wie FRIES (10) will, der unreflektierten Auffassung  A  im Satzgegenstand eine reflektierte in der Aussage gegenüberzustellen. Wir haben nichts als eine blanke Tautologie, eine Gleichheit zweier Worte ohne erdenklichen Sinn ihrer Zusammenstellung. Man sollte in der Tat "aufhören, so etwas Sinnloses ein Denkprinzip zu nennen." (11)

Die hervorragendsten Vertreter der neueren Logik haben darum auch diese Auffassung der Identität aufgegeben. Allein der Gegensatz der Mehrfachheit von Vorstellungen zur Einheit des Gegenstandes tritt doch meist nicht scharf und ohne Beimischung anderweitiger Gedanken hervor. Von WUNDT wird z. B. die in jedem Urteil vorhandene Begriffseinheit als Identität gefaßt. Das ist einerseits zu eng, ,indem das Identitätsverhältnis schon in den noch nicht begrifflich gewordenen Beziehungen einzelner Vorstellungen auf einzelne Gegenstände seine Heimat findet. Es ist aber zu weit, sofern die Beziehung einer Aussage auf einen Gegenstand noch keine Identität mit diesem ist. Wohl muß ich, mich auf einen Gegenstand beziehend, denselben festhalten; allein mein Gedanke daran, daß ich gestern eine Sache lächerlich fand, ist nicht das gestrige Lachen selbst, sondern bezieht sich nur darauf. Das Urteil ist somit nicht notwendig mit dem Bewußtsein verbunden, daß der Gegenstand derselbe ist, der schon in einer anderen Vorstellung bezeichnet wurde. So recht WUNDT hat, wenn er sagt, der Satz der Identität gehe nicht auf Objekte, sondern auf das Verhalten unseres Denkens zu Objekten (12), so wenig reicht diese Bestimmung aus. Wir müssen ein bestimmtes Verhalten des Geistes, bzw. die Umstände angeben, dadurch derselbe sich bewogen fühlt, einen Gegenstand als denselben zu bezeichnen.

RIEHL scheint dem Kern der Sache näher gekommen zu sein, wenn er sagt, die Identität ruhe darauf, daß die Position  A  in jedem ferneren Zusammenhang des Denkens eindeutig festgehalten werden muß (13). Allein auch diese Bestimmung leidet an derselben Ungenauigkeit. Denn ein eindeutiges Festhalten findet auch bei bloßen Beziehungen auf den Gegenstand statt, ohne daß damit Identität gedacht wird. Ferner ist hier nur eine Forderung an unsere Aufmerksamkeit gestellt und kein Gesetz bezeichnet, dem das Denken unter gegebenen Umständen unabweislich folgt (14). Am Ende schwankt das Prinzip in der Anwendung bei RIEHL, und dessen analytische Identität "was ist, ist" kehrt wieder zur alten Tautologie zurück.

Dasselbe wäre im Wesentlichen auch gegen SIGWART zu sagen, dessen Prinzip der Konstanz nur eine psychische Bedingung der Identität, nämlich die Fähigkeit, Gedachtes im Gedächtnis festzuhalten, aber kein auf Objekte als solche bezügliches Denkgesetz ist.

Ein Gesetz kann nur in den einfachen Tatsachen enthalten sein, daß wir unter später zu erörternden Bedingungen mehrfache Vorstellungen unausweichlich auf denselben Gegenstand beziehen. SIGWART hat diesen Umstand in einer Polemik gegen WUNDT weit schärfer als in seiner Logik hervorgehoben. (15) Er sagt hier, Identität bezeichnet, daß, was wir zu verschiedenen Zeiten, oder unter verschiedenen Namen, oder in verschiedenen Zusammenhängen vorstellen, nicht vielerleit, sondern ein und dasselbe ist. Warum dieser Gedanke, der auch in LEIBNIZens  Identitas indiscernibilium  und bei KANT hervortritt (16), nicht für die Logik verwendet wird, sondern hierfür das psychische Prinzip der Stetigkeit gelten soll, ist nicht recht klar.

Wollen wir nun den Identitätssatz symbolisch darstellen, so geht aus dem Gesagten hervor, daß hierzu die Formel  A = A  unzureichend ist. Denn diese ist rein objektiv und sagt darum gar nichts. Wir müssen die Tatsache mehrerer Vorstellungen  a, b, c ... n,  ihre Beziehung (rel) auf das Objekt  A  und die Bestimmung (D) dieses Objekts berücksichtigen. Wir haben dann die Formel

(a + b + c ... + n) rel = DA

Die Relation verschiedener Vorstellungen auf einen Gegenstand ist die identische Determination (Bezeichnung oder Bestimmung) dieses Gegenstandes.

Im Grunde haben wir freilich bei dieser Formel noch ein wesentliches Moment des Identitätsbewußtseins außer Acht gelassen. Es könnten sich tatsächlich verschiedene Vorstellungen zu verschiedenen Zeiten auf denselben Gegenstand beziehen, ohne daß ein Identitätsbewußtsein vorhanden wäre, dann nämlich, wenn die vergangene Vorstellung des Gegenstandes ganz vergessen wäre. In diesem Fall erschiene der Gegenstand als etwas ganz Neues. Daraus folgt, daß, wenn Identität gedacht werden soll, in der gegenwärtigen Vorstellung nicht nur das Bewußtsein des Gegenstandes, sondern zugleich das Bewußtsein einer oder mehrerer früherer Vorstellungen desselben,, oder doch mindestens das unbestimmte Bewußtsein, ihn früher schon vorgestellt zu haben, vorhanden sein muß. Die jetzige Vorstellung  a  hat somit nicht bloß eine Relation zum Gegenstand, sondern zugleich Relationen zu den früheren Vorstellungen desselben.

Indessen eine Formel, die auch diese Beziehungen ausdrücken wolte, würde höchst umständlich und unübersichtlich werden, und es genügt, wenn wir uns bewußt bleiben, daß das Relationszeichen in obiger Formel nicht bloß die Beziehung auf den Gegenstand, sondern auch die Beziehung der letzten Vorstellung auf vorangehende einschließt.

Haben wir so, unserer Methode gemäß, das Identitätsbewußtsein einerseits von der bloß objektiven und tautologischen Identität, andererseits von subjektiv psychologischen Forderungen des konstanten Festhaltens eines Gegenstandes abgeschieden, so handelt es sich weiter darum, die Arten der Identitätsbeziehung festzustellen, ehe wir daran gehen, die Identität zu begründen.

Schon ein oberflächlicher Blick auf die Fälle, in welchen eine Identitätsbeziehung vorkommt, zeigt, wie durchaus verschiedenartig dieselben sind. Die Sonnenfinsternis des THALES ist mit derjenigen vom 25. Mai 585 identisch; der Rhein bei Basel ist derselbe Fluß wie der bei Köln; die Lampe vor mir ist dieselbe, die mir gestern leuchtete; das Mastodon [Mammut - wp] und der heutige Elefant gehören zur selben Tiergattung; das Blau der Campanula [Glockenblume - wp] ist identisch mit dem des Himmels; die Planeten bewegen sich nach demselben Gesetz um die Sonne; die eine Seite einer Gleichung hat dieselbe Größe wie die andere; der Begriff des rechtwinkligen Dreiecks ist derselbe, wo ein solches Dreieck auch vorkommen mag.

Diese Verschiedenheit zwingt uns, zu untersuchen, ob hier nicht eine Einteilung nach festen und in der Sache liegenden Einteilungsgründen möglich ist. Derartige Versuche sind auch schon gemacht worden. So unterscheidet KANT die  identitas indiscernibilium [Identität des Ununterscheidbaren - wp] der reinen Begriffe von der Identität der Erfahrungsgegenstände, SIGWART trennt die logische von der realen, RIEHL analytische und synthetische Identität.

Uns jedoch mit einer Kritik dieser und anderer Einteilungen zu beschäftigen, würde uns viel zu weit führen. Wir gehen darum der Sache selbst zu Leibe und knüpfen gelegentlich an kritische Bemerkungen an.

Das Prinzip der Einteilung ist uns durch unsere Auffassung der Identität und unsere Methode an die Hand gegeben. Handelt es sich bei der Identität um die Beziehungen mehrfacher Vorstellungen zu denselben Objekten, so haben wir erst einmal zu sehen, inwiefern die als identisch bewußten Objekte untereinander verschieden sein mögen, und sodann inwiefern verschiedene Arten, wie sich Vorstellungen darauf beziehen, zu unterscheiden sind.

In Bezug auf das Objekt tritt uns hier zunächst der Fall entgegen, wo wir ein vergangenes, in der Gegenwart abgeschlossenes Ereignis mehrfach vorstellen, mag dies nun ein inneres Ereignis, etwa eine frühere Vorstellung oder Gemütsbewegung, oder ein äußeres, wie eine geschichtliche Tatsache sein. Die auf ein solches gehende Identitätsbeziehung nennen wir  die abgeschlossene Identität. 

Auf einen solchen abgeschlossenen Beziehungsort können nun die beziehenden Vorstellungen erstens in der Weise gehen, daß gar nichts Einzelnes und Besonderes an einem vergangenen Ereignis, sondern dieses selbst in seiner Gesamtheit mehrfach vorgestellt wird. So kann ich mehrere Male daran denken, daß KARL der Große die Sachsen bekriegt hat, daß ich gestern eine Rechnung nicht lösen konnte, daß ich mich neulich über einen Brief freute, daß ich daran dachte, eine Reise zu machen und dgl. Wenn ich weiter gar nichts denke als eben dies oder aus einer Gruppe von Gedanken nur die heraushebe, die sich jedesmal auf das gleiche Geschehen im engeren Sinn beziehen, so ist der Inhalt der betreffenden Vorstellungen jedesmal der gleiche, und der Beziehungsort ist im strengsten Sinne identisch. Diese  strenge Identität  ließe sich durch die modifizierte Formel  (a + a' + a'' ... + an) rel = DA  bezeichnen.

Zweitens aber kann ich auch, vermöge eines hier nicht näher zu erörternden Grundvermögens unseres Geistes, eine einzelne Seite eines abgeschlossenen Gegenstandes ins Auge fassen. Man kann aus den Kriegen KARLs des Großen z. B. die Zerstörung der Irminsäule, die Hinrichtung der Sachsen an der Aller, die Flucht WITTEKINDs und dgl. gesondert betrachten. - Der Gedanke an die ungelöste Rechnung kann den Ansatz, die Bedingungen zu ihm, die Ausrechnung selbst, den Punkt, wo ich den Irrtum gewahrte, besonders herausheben. Jede dieser Separatvorstellungen hat jetzt für sich einen besonderen Beziehungsort, und wenn mehrere Vorstellungen nacheinander auf diesen engeren Ort gehen, so haben wir in Bezug hierauf wieder eine strenge Identität. Allein solange wir uns dabei bewußt bleiben, daß diese engeren Orte zu einem Gesamtvorgang gehören, beziehen sie sich zugleich insgesamt auf den Gesamtvorgang selbst. Die Beziehung auf diesen ist ihnen, so verschieden sie inhaltlich sein mögen, gemeinsam, und somit sind sie in Beziehung auf den Gesamtort identisch. Nicht der Inhalt, der ja verschieden ist, sondern die Beziehung ist aber hier, wohl gemerkt, Träger der Identität. Diese Beziehung ließe sich symbolisieren durch die Formel  (aDα + bDβ ... + nDν) rek = DA. 

In dieser Identitätsbeziehung ist aber zugleich noch etwas anderes gegeben, nämlich nicht bloß das Bewußtsein einer Beziehung, sondern zugleich das einer objektiven Verknüpfung. Jede Vorstellung, die sich auf einen Separatort bezieht, hat ja nicht nur das Bewußtsein der Beziehung auf den Gesamtort, sondern auch das Bewußtsein der früheren Beziehungen auf letzteren, wenn das Bewußtsein der Identität vorhanden sein soll. Da nun diese früheren Beziehungen auf andere Separatorte gehen, so liegt das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit der Separatinhalte im Gesamtort vor uns; das heißt aber: es ist das Bewußtsein einer Synthesis (S) der Separatorte selbst und ihrer Bestimmungen (i) am Gesamtort vorhanden.  iα + iβ + ...iν = SA. 

Bei solchen Identitätsbeziehungen und Verknüpfungen ist es nun freilich bis zu einem gewissen Grad der Willkür anheimgegeben, wie weit ich den Gesamtort fassen und hierauf die Zerstörung von  Irminsäule  und  Eresburg  beziehen; sodann kann ich die übrigen Kriege als besondere Beziehungsorte nehmen und alle miteinander schließlich unter die gemeinsame Vorstellung von KARLs Sachsenkriegen bringen. In dieser Hinsicht handelt es sich darum, die Forderung zu stellen, daß der einmal gewählte Beziehungsort streng festgehalten wird. Wie dieser Beziehungsort sich stufenweise immer mehr erweitern kann, und wie dadurch immer weiter abgestufte Identitätsbeziehungen und Synthesen entstehen, haben wir hier nur anzudeuten.

Aus dieser  synthetischen Identität  oder  Identität des Zusammenhangs  entwickelt sich drittens eine ganz eigenartige Identitätsform, die wir  Identität der Vertretung  nennen wollen. Jede Separat- oder Sondervorstellung war darin mit der anderen identisch, daß sie eine Beziehung auf den gleichen Gesamtort hatte. Darum kann auch eine jede als Vertreterin des Gesamtortes benutzt werden. Durch die Vorstellungen "Irminsäule", "Wittekind" kann ich mich nicht bloß auf die besonderen Orte, sondern auf die Gesamtorte beziehen. Es ist dann nicht nötig, die gesamten Vorstellungen oder eine allgemeine Vorstellung des Gesamtortes zu erneuern, um diesen dem Bewußtsein zu bezeichnen. Und in der Tat geschieht dies auch fast nie, selbst wenn der Gesamtort eine Anzahl deutlich hervortretender Besonderheiten enthalten würde. Auch dann, wenn ich allgemein KARLs Sachsenkriege nenne, treten mir meist nur ein paar Einzelheiten ganz flüchtig ins Bewußtsein, die mir den Gesamtzusammenhang vertreten. Oft wird diese Vertretung auch ganz ausdrücklich einem hervorstechenden Moment übertragen. So feiern die Franzsoen im Sturm auf die Bastille die große Revolution, wir Deutsche in der Leipziger Schlacht die Befreiung von NAPOLEON, im Sedanfest die Aufrichtung des deutschen Reiches. Diese Vertretungsidentität soll durch  a rel = D (d + β ... + ν) A  bezeichnet. Es können auch mehrere als charakteristisch aufgefaßte Merkmale diese ausdrückliche Vertretung erhalten, wie im oben angeführten Beispiel von der Sonnenfinsternis des THALES und der vom 25. Mai 585. Dann ist  a rel = b rel = DνA. 

Im letzten Fall tritt nun häufig das Objekt der beiden Vorstellungen ganz aus dem Hintergrund, die Tatsache, daß dieselben das Gleiche bedeuten, steht dagegen gleichsam für sich da. Dies ist z. B. bei den mathematischen Gleichungen, die freilich nicht in aller Hinsicht hierhergehören, der Fall. Wir setzen hier  a2 = b2 + c2  und denken kaum an den Beziehungsort, den diese Gleichung hat. RIEHL übersieht dies und will die Gleichung als solche als Identität, und zwar als synthetische Identität fassen. Hiergegen sagt WUNDT mit Recht, daß die Gleichung nicht als solche identisch ist, sondern daß nur in der Rücksicht, in welcher beide Seiten ins Auge gefaßt werden, nämlich im Hinblick auf die Flächengröße eine Identität besteht (17). Dieses Zurücktreten des Identitätsortes aus dem Bewußtsein, das sich auch da vielfach zeigt, wo sekundäre und tertiäre Orte betrachtet werden, und die primären dabei unbeachtet bleiben, ist eine höchst bemerkenswerte Tatsache, auf die jedoch hier nicht einzugehen ist.

An die Identität der Vertretung schließt sich nun ganz eng, wenn man will, als vierte Form die bloße  Bedeutungsidentität  an. Schon das vorhin genannte Beispiel von der Sonnenfinsternis des THALES gehört ihr, genau genommen, an. Denn es ist ein Unterschied, ob der Inhalt einer vertretenen Vorstellung selbst zu einem derjenigen Separatorte gehört, welche innerhalb des Gesamtortes synthetisch verbunden gedacht werden, oder ob er bloß durch irgendeine, vielleicht ganz zufällige Beziehung auf ihn, zur Vertretung derselben bestimmt wird. Dies kann, da wir zur Vertretung keinen Inhalt, sondern nur eine Beziehung auf den Gegenstand brauchen, so weit gehen, daß wir ganz willkürlich festsetzen, ein bestimmtes Wort oder Zeichen solle ein für allemal für einen bestimmten Gegenstand oder ein bestimmtes Ereignis gelten. "Das lange Parlament" ist eine solche Bezeichnung, die hergebrachterweise für das eine, bestimmte Parlament KARLs I. von England gilt und ansich gar keine Bedeutung hat als die, gleich einem Wegweiser unseren Geist auf jene Versammlung hinzulenken. Diese bloße Bedeutungsidentität bezeichnen wir, sofern verschiedene Vorstellungen die gleiche Vertretung 
haben, durch  q rel = r rel = DA,  und sofern die gleiche Vorstellung, bzw. das gleiche Zeichen in seiner Wiederkehr bedeutungsidentisch ist, mit  q rel = qn rel= DA. 

Wenden wir uns nun, nach Erledigung der Identität des abgeschlossenen Beziehungsortes, zur Frage nach einem zweiten hiervon zu unterscheidenden Ort, so tritt uns  die reale Identität  in Bezug auf einen, schon in der Vergangenheit existierenden, aber noch jetzt fortdauernden Gegenstand entgegene. Dieser Beziehungsort ist prinzipiell vom vorigen dadurch unterschieden, daß die Mehrfachheit der zeitlich folgenden Vorstellungen die Dauer des Gegenstandes selbst während dieses Zeitverlaufs voraussetzt. Die gestrige Vorstellung von der neulich verfehlten Rechnung ist zwar nicht die heutige Vorstellung derselben, aber die Rechnung selbst ist abgeschlossen ein und dieselbe. Aber nicht bloß die heutige Wahrnehung von der Sonne ist eine andere als die gestrige, die heutige Sonne selbst ist nicht mehr die, welche gestern leuchtete. Keiner der gestrigen Licht- und Wärmestrahlen berührt mich heute. Dennoch aber sage ich: die gestrige Sonne ist mit der heutigen eins. Das heißt aber nichts anderes, als daß ich einen fortdauernden Zusammenhang des Gegenstandes selbst, auf den meine zeitlich durchaus getrennten Vorstellungen gehen, voraussetzen muß. Es ist eine objektive Synthesis des Gegenstandes selber gedacht, die ganz unabhängig von der Zerstücktheit unseres Wahrnehmens bestehen soll. Diese Vorstellung der Dauer des Gegenstandes selbst ist das wesentliche Moment, welches unsere Substanzvorstellung konstituiert. Das Rätsel, welches hierin liegt, daß wir von ganz getrennten Vorstellungen, die doch jedesmal, streng genommen, nur gegenwärtige Gegenstände bezeichnen, zu der Vorstellung des Zusammenhangs eines einzigen, dauernden Gegenstandes übergehen, wird, obwohl es von KANT klar erkannt ist, noch allzuwenig der Aufmerksamkeit gewürdigt. Ob es KANT gelöst hat, und wie es zu lösen sein mag, ist freilich eine Frage, welche den Ursprungsort der Erkenntniselemente betrifft. Da wir die Untersuchung derselben abgewiesen haben, so müssen wir uns hier mit der Tatsache begnügen, daß wir gezwungen sind, solche Vorstellungen, die wir Wahrnehmungen nennen, auf einheitliche, mindestens von der ersten Wahrnehmung bis zur jetzigen dauernde Gegenstände zu beziehen.

Diese reale Identität, wie wir sie mit SIGWART nennen, läßt sich, indem wir dem Gegenstand die Zeitdauer  t  von der ersten Vorstellung  a  bis zur letzten  n  hinzufügen, durch die Forme symbolisieren  (a + b ... + n) rel= 1) A t (a - n). (18) Das Bewußtsein der Beziehung mehrerer Wahrnehmungen auf einen Gegenstand ist das Bewußtsein eines zeitlichen Zusammenhangs im Gegenstand selbst von der ersten bis zur letzten Wahrnehmung. Daß wir auch über diese Zeit hinausschreiten, dem Gegenstand eine Dauer vor der ersten Wahrnehmung zuschreiben und glauben, er werde auch noch nach der letzten weiter bestehen, ruht auf Gründen, die ebenfalls nicht an diese Stelle gehören.

Wenden wir uns nun wieder zu der Art der Vorstellungen, welche mit Identität auf einen realen Gegenstand gehen, so finden wir dieselben Unterabteilungen, wie bei der abgeschlossenen Identität.

Zunächst kann strenge Identität stattfinden, indem gleiche Wahrnehmungen auf denselben Ort bezogen werden. Das Licht, welches ich eben erblicke, ist dasselbe Licht, welches ich vorhin erblickte. Die Inhalt  a und a  etc. sind gleich und der Beziehungsort ist in einem strengen Sinn derselbe.

Sodann kann ich auch am Licht besondere Merkmale unterscheiden, z. B. die blaue Flamme am Grund, den Lichtkern, die äußere, dunklere Zone. Wiederholte Vorstellungen, die auf diese gleichen engeren Orte gehen, haben in Bezug auf solche wieder eine strenge Identität, jedoch in Bezug auf den Gesamtort nur eine Beziehungsidentität. Und dadurch, daß die gesamten Separatvorstellungen an einem Gesamtort verbunden gedacht werden, ist hier wieder eine Synthesis von Inhalten vorgestellt. Wie diese Synthesis bei den Wahrnehmungen verschiedener Sinne zustande kommt, entzieht sich unserer vorliegenden Erörterung. Wir müssen uns auch in Bezug hierauf mit der Tatsache begnügen, daß wir Licht, Wärme, Berührungsgefühle, Geruch auf dieselbe Flamme beziehen.

Auch die Willkürlichkeit in der Wahl des Beziehungsortes ist hier in gewissem Grad wiederzufinden. Ich kann ebenso ein Haus, wie eine Wand, ein Fenster, eine Scheibe zum Grundort für folgende Separatvorstellungen wählen, und die Aufgabe bleibt auch hier die Konstanz im Festhalten des einmal gemachten Beziehungsortes.

Zu diesen beiden Arten der Synthesis im Objekt gehört nun drittens die kausale Synthesis bei Veränderungen des Gegenstandes. Diese müssen wir jedoch, da sie der real-erkenntniskritischen Frage anheimfällt, wiederum von unserer Untersuchung ausschließen. Sehen wir von diesen Umständen ab, so zeigt die reale Identität des Zusammenhangs genau dieselben logischen Eigentümlichkeiten, wie die abgeschlossene Zusammenhangsidentität.

Auch die Vertretungsidentität findet sich hier wieder, und zwar spielt sie hier eine weit größere Rolle als bei abgeschlossenen Zusammenhängen. Wir erkennen die realen Dinge fast immer an irgendwelchen sogenannten Kriterien oder Kennzeichen, die an bestimmten Gegenständen als eigentümlich erscheinen. Wenn ich Morgens, aus dem Fenster blickend, Boden und Dinge mit einer weißen Fläche bedeckt sehe, zweifle ich nicht, daß Schnee gefallen ist, und warte gar nicht, bis ich dessen Kälte, Schmelzbarkeit etc. erprobt habe.

Dagegen hat hier das Wort, sofern es nicht den später zu behandelnden Begriff, sondern den einzelnen Gegenstand bezeichnet, eine geringere Bedeutung. Sehr wenige Dinge werden mit Eigennamen bezeichnet. Und außerdem führt das Wort und seine Beziehung nicht sofort die Überzeugung der realen Existenz des Dinges mit sich. Bei der abgeschlossenen Identität liegt der benannte Gegenstand als vergangenes Ereignis bereits dem Bewußtsein vor, und sobald ich das hierfür angenommene Wort ausspreche, führt es eine reale Beziehung auf das bestimmte Ereignis mit sich. Wenn ich von einem  Schneesturm  im letzten Jahr rede, so ist, falls nur ein einziger stattfand, kein Zweifel an der realen Beziehung im Bewußtsein. Wenn ich aber einen jetzigen Schneefall bezeichne, so verschafft das Wort und die bloße Vorstellung keine Überzeugung von der Realität der Beziehung. Ich bedarf der Wahrnehmung selbst, um objektiv eine reale Beziehung zu haben. In der Wahrnehmung müssen darum auch die Elemente enthalten sein, welche die Überzeugung einer realen Identität verschaffen.

Diese beiden Identitätsarten, dem der abgeschlossenen Identität des vergangenen Ereignisses und dem der realen Identität gegenwärtig wahrgenommener Gegenstände, schließt sich eine dritte  Identität,  die  des Begriffs an, welche sich mit jenen oft in der kompliziertesten Weise verflicht, oft aber auch in scheinbar autochtoner Geltung aufzutreten scheint.

"Weiß" bedeutet uns sowohl das gegenwärtige Weiß eines bestimmten Gegenstandes, wie auch eine Sinneswahrnehmung, die wir bei vielen Gegenständen wahrnehmen können. Das Wort "Vorstellung" kann eine bestimmte einzelne Vorstellung oder die immer wiederkehrenden Beziehungen des Geistes auf Objekte bezeichnen. Unter dem Wort "Löwe" verstehen wir den bestimmten Löwen, sowie eine Menge verschiedener Tiere, die nur in gewissen Eigentümlichkeiten gleich sind. Allein wir behalten doch hier deutlich im Bewußtsein, daß es verschiedene Beziehungsorte sind, die unter jenen Begriffen vereinigt werden. Wenn wir dagegen vom binomischen Lehrsatz, von Tugend, vom Naturgesetz reden, so scheint dies anders zu sein. Tugend bleibt Tugend, auch wenn nirgendwo ein tugendhafter Mensch zu finden wäre; der binomische Lehrsatz existiert, ungeachtet seiner Anwendungen und besonderen Vorstellungen, gleich einem realen Beziehungsort, als ein und derselbe Satz. Das Naturgesetz scheint keine Auswahl verschiedener Fälle zu sammeln, sondern vielmehr eine einheitliche Tatsache zu sein, nach der sich die einzelnen Fälle wie nach einem Herrscher richten.

Diese merkwürdige und scheinbar ganz verschiedene Natur der Begriffe hat dann auch zu seltsamen Vorstellungen über das Wesen des Begriffs geführt. Die platonische Lehre, welche noch heute bedenklich nachwirkt, stützt sich ganz wesentlich auf die scheinbare Einheit und jeder Willkür entzogene Unveränderlichkeit solcher Begriffe, wie die letztgenannten sind. Es muß darumm wesentlich unsere Aufgabe sein, zu zeigen, wie sich diese Begriffe konstituieren. Und wenn es gelungen ist, zu beweisen, daß auch sie nichts als eine besondere Art von geistigen Vereinigungen analytisch aufgefundener Separatvorstellungen von inneren und äußeren Objekten, d. h. völlig subjektiver Natur sind, so werden wir die Frage nach ihrem Apriori leicht zu lösen vermögen.

Zu diesem Zweck aber haben wir zunchst den psychischen Grund aller Identitätsbeziehung zu erörtern. Bisher haben wir nur beschrieben, wie mannigfaltig sich das Bewußtsein auf identische Objekte bezieht; wir haben aber den geistigen Grund nicht angegeben, warum wir gezwungen sind, verschiedene Vorstellungen auf einheitliche Objekte zu beziehen. Bevor wir darum den Begriff selbst zergliedern und zeigen können, daß auch hier die drei oder vier Unterarten der Identitätsbeziehung herrschen, müssen wir uns dieser Aufgabe zuwenden.
LITERATUR - Franz Staudinger, Identität und Apriori, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 13, Leipzig 1889
    Anmerkungen
    1) So z. B. FRIEDRICH PAULSEN, Über den Begriff der Substantialität, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 1, Seite 506
    2) Diese Frage steht bei aller sonstigen Verschiedenheit derjenigen von WOLFF prinzipiell nahe. (Vgl. RUDOLF EUCKEN, Apriori - angeboren, in "Geschichte und Kritik der Grundbegriffe der Gegenwart", Seite 71)
    3) ERNST LAAS, Idealismus und Positivisms III, Seite 5.
    4) COHEN, Kants Theorie der Erfahrung, zweite Auflage.
    5) LAAS, a. a. O., Seite 15f; Bd. I, Seite 18f, 32.
    6) LAAS, a. a. O., Seite 7
    7) JOHN STUART MILL, Logik I (Übersetzt von SCHIEL), dritte deutsche Auflage, Seite 371
    8) PAUL NATORP, Über objektive und subjektive Begründung der Erkenntnis, Philosophische Monatshefte 1887, Seite 260 und 269.
    9) COHEN, a. a. O., Seite 77
    10) FRIES, Neue Kritik der Vernunft I, Seite 320 (Vgl. GEORG NEUDECKER, Grundlegung der reinen Logik, Seite 7).
    11) SCHMITZ-DUMONT, Theorie der Begriffebildung, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 10, Seite 215 (Vgl. SIGWART, Logik I, Seite 83 und TRENDELENBURG, Logische Untersuchungen II, Seite 95.
    12) WUNDT, Logik I, Seite 504f
    13) RIEHL, Der philosophische Kritizismus II, Seite 228f.
    14) RIEHL, a. a. O., Abschnitt 3
    15) SIGWART, Logik I, Seite 77f und Logische Fragen, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 4, Seite 483.
    16) KANT, Kritik der reinen Vernunft (Ausgabe KEHRBACH), Seite 241, im Folgenden zitiert als "Kb".
    17) WUNDT, Logik I, Seite 72
    18) Von hier ab lassen wir der Kürze halber die weiteren Symbolisierungen, die sich ergeben, weg.