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WALTER KINKEL
Der Begriff des Affizierens, das Ding-ansich
und die Geltungssphäre der Kategorien


"Ich bin nicht der Ansicht Windelbands und Liebmanns, daß das Ding ansich einen Irrtum Kants verkörpert und also am Besten aus dem System Kants zu entfernen ist."

"Es sind uns Dinge als außer uns befindliche Gegenstände unserer Sinne gegeben, allein von dem, was sie ansich sein mögen, wissen wir nichts, sondern kennen nur ihre Erscheinungen, d. h. Vorstellungen, die sie in uns wirken, indem sie unsere Sinne affizieren."

Die Empfindungen sind alle (oder zum Teil) Eigenschaften wirklicher, unabhängig vom Subjekt existierender Dinge (also dieses Blatt ist weiß, auch wenn kein Mensch und überhaupt kein erkennender Geist es sieht); dann haben wir die Frage nach der Empfindung nicht mehr als Idealisten, sondern als Realisten beantwortet. Auch wenn man den Standpunkt Lockes einnimmt und zwischen primären und sekundären Qualitäten unterscheidet (also alle quantitativen Eigenschaften den Dingen, alle rein qualitativen dem Subjekt zuschreibt) ist man Realist; und die Unhaltbarkeit dieses Standpunkts ist wohl von Kant zur Genüge dargelegt worden."

Es sind wohl kaum zwei andere Begriffe des kantischen System so verschieden gedeutet und ausgelegt, so sehr umstritten worden, als die Begriffe des "Affizierens" und des "Dings-ansich". Schon gleich nach dem Erscheinen und Bekanntwerden der Kritik der reinen Vernunft gaben sie zu manchen Auseinandersetzungen Anlaß; sie stehen auch heute noch bei Vielen im Vordergrund des erkenntniskritischen Interesses. Mit den Problemen, die in diesen Begriffen verkörpert sind, hängt aber auf das Engste die Frage nach der Anwendbarkeit der Kategorien auf die Dinge-ansich und also nach der Geltungssphäre der Kategorien und der Erkenntnisgrenze der menschlichen Vernunft, zusammen. Diese bezeichneten Probleme sollen im Folgenden den Gegenstand einer kurzen Untersuchung bilden; insbesondere möchte ich dem Begriff des Dings-ansich wieder zu der ihm gebührenden Stellung verhelfen. Ich bin nämlich nicht der Ansicht WINDELBANDs und LIEBMANNs, daß das "Ding ansich" einen Irrtum KANTs verkörpert und also am Besten aus dem System KANTs zu entfernen ist. Ich sehe vielmehr in diesem Begriff eine notwendige Voraussetzung und Forderung der Erkenntniskritik und des menschlichen Verstandes. In Bezug auf die Anwendbarkeit der Kategorien glaube ich nicht, daß der so oft behauptete Widerspruch im System KANTs vorhanden ist. Dies wird sich ergeben, wenn ich zunächst feststelle, welche Rolle der Begriff des "Affizierens" bei KANT spielt. Hierbei wird es sich nicht vermeiden lassen, daß psychologische Erörterungen mit unterlaufen, da der Begriff bei KANT selbst häufig in einem psychologischen Sinn gebraucht wird. Aber meine letzte Absicht ist auch hier auf Erkenntniskritik gerichtet.

Will man in dieser Angelegenheit zur Klarheit kommen, so muß man vor allen Dingen versuchen, die Bedeutung der Ausdrücke bei KANT festzustellen, welche hierbei eine Rolle spielen. So ist zunächst die Verschiedenheit der Bedeutungen im Wort "Gegenstand" von Wichtigkeit. Hier hat nun schon VAIHINGER in seinem vortrefflichen Kommentar Bd. II, Seite 17 folgende drei Anwendungen dieses Wortes bei KANT konstatiert:
    1. der unbestimmte Gegenstand (d. h. der Gegenstand, sofern er noch nicht vom Verstand den Kategorien subsumiert ist);

    2. der (durch die Kategorien) bestimmte Gegenstand;

    Der Gegenstand als Ding-ansich.
Den unbestimmten Gegenstand nennt KANT auch "Erscheinung" (Kr. d. r. V., zweite Auflage, Seite 34 "der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung heißt Erscheinung"). Der bestimmte Gegenstand heißt meist Phänomenon (Kr. d. r. V., erste Auflage, Seite 248 "Erscheinungen sofern sie als Gegenstände nach der Einheit der Kategorie gedacht werden, heißen Phänomena"). Diese Terminologie wird aber nicht streng durchgeführt (1). Wir müssen also jedenfalls bedenken, daß der Ausdruck "Gegenstand" sehr verschiedene Bedeutungen hat, die jedesmal nach der betreffenden Stelle zu ermitteln sein werden.

Was nun den Ausdruck "Affizieren" angeht, so gebraucht ihn KANT, wie die unten angeführten Belegstellen ergeben werden, abwechselnd mit "rühren", "reizen", "einwirken" etc. und er drückt jedenfalls immer ein kausales Verhältnis aus. Ich behaupte nun und will es im Folgenden durch KANTs eigene Worte beweisen, daß dieser die folgenden vier Arten der Affektion unterscheidet:
    1. die Dinge-ansich affizieren unsere Sinnlichkeit;

    2. die so gegebene Empfindung affiziert den äußeren (oder inneren) Sinn;

    3. in der Erscheinungswelt stellt sich das unter 1. Genannte dar als die Affektion eines Sinnesorganes durch einen Körper im Raum;

    4. Das erkennende Subjekt affiziert sich selbst durch seine Erkenntnistätigkeit.
ad 1. Die Dinge-ansich affizieren unsere Sinnlichkeit und dadurch wird uns der Stoff der sinnlichen Anschauung, nämlich die Empfindung gegeben. Zur Begründung dieser (nicht allgemein anerkannten) Auffassung will ich zunächst auf folgende Stellen der Prolegomena hinweisen § 13:
    "Diese Gegenstände sind nicht etwa Vorstellungen der Dinge, wie sie ansich sind, und wie sie der pure Verstand erkennen würde, sondern es sind sinnliche Anschauungen, d. h. Erscheinungen, deren Möglichkeit auf dem Verhältnis gewissesr ansich unbekannter Dinge zu etwas anderem, nämlich unserer Sinnlichkeit beruth."
Hier ist "Gegenstand" offenbar im Gegensatz zum "Ding-ansich" gebraucht, welches durch sein Verhältnis zur Sinnlichkeit den Gegenstand erst möglich macht. § 13, Anmerkung II:
    "Ich dagegen sage: es sind uns Dinge als außer uns befindliche Gegenstände unserer Sinne gegeben, allein von dem, was sie ansich sein mögen, wissen wir nichts, sondern kennen nur ihre Erscheinungen, d. h. Vorstellungen, die sie in uns wirken, indem sie unsere Sinne affizieren."
Ferner: § 13, Anm. III:
    "Da sinnliche Erkenntnis die Dinge gar nicht vorstellt, wie sie sind, sondern nur die Art, wie sie unsere Sinne affizieren ..."
In diesen beiden letzten Fällen wird also klar ausgesagt, daß die Dinge-ansich unsere Sinnlichkeit affizieren, d. h. auf sie wirken. § 36:
    "mittels der Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit, nach welcher sie auf die ihr eigentümliche Art von Gegenständen, die ihr ansich unbekannt und von jenen Erscheinungen ganz unterschieden sind, gerührt wird".
Auf die Stellen in der Kr. d. r. V., erste Ausgabe, Seite 359-360, besonders 390-92, sei hier einstweilen nur hingewiesen, da ich später darauf zurückkommen muß. In der Streitschrift gegen EBERHARD (2) Seite 31:
    "Die Gegenstände, als Dinge-ansich, geben den Stoff zu empirischen Anschauungen (sie enthalten den Grund, das Vorstellungsvermögen, seiner Sinnlichkeit gemäß, zu bestimmen), aber sie sind nicht der Stoff derselben."

    Seite 35: "wie wir von einem ansich uns ganz unbekannten Objekt affiziert werden, und ..."
Sodann in der Schrift "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" (3), Seite 298:
    "daß alle Vorstellungen, die uns ohne unsere Willkür kommen (wie die der Sinne), uns die Gegenstände nicht anders zu denken geben, als sie uns affizieren, wobei was sie ansich sein mögen, uns unbekannt bleibt ..."

    Seite 299: "nämlich die Dinge ansich ..., da sie uns niemals bekannt werden können, sondern immer nur, wie sie uns affizieren ..."
dann: "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" (4), Seite 452:
    "der Gegenstand der Vorstellung, der nur die Art enthält, wie ich von ihm affiziert werde ..."
Nach diesen deutlichen Erklärungen KANTs geht es, wie schon VAIHINGER konstatiert hat, nicht mehr wohl an, die Tatsache abzuleugnen, daß KANT den Dingen ansich ein "Affizieren" im Sinne von "Ursache sein" und "Wirken" zugeschrieben hat; denn der Ausdruck "affizieren" wird ja, wie wir sahen, ganz identisch gebraucht mit "wirken", "rühren" etc. Im Sinne KANTs ist also das Ding-ansich nicht nur eine "vermeintliche Ursache", "eine nicht zu verscheuchende Jllusion", wie COHEN meint (5), aber freilich ist es auch nicht die volle Ursache der Erscheinung, sondern es gibt nur die Empfindung, welche erst in ihrer Auffassung durch Sinnlichkeit und Verstand zum Phänomen wird. Es ist auch nicht richtig (zumindest nach der Lehre KANTs), wenn COHEN sagt:
    "Die Erscheinung aber bezeichnet ein affizierendes Etwas im inneren wie im äußeren Sinn, weist auf ein solches hin als ein gegebenes. Sie setzt es nicht sowohl voraus, als sie es vielmehr selbst gibt." (6)
Auch STADLER bezeichnet das Ding-ansich als eine Jllusion (7) und WINDELBAND kommt sogar zu dem Resultat: "Die Unterscheidung von Ding-ansich und Erscheinung ist unhaltbar." (8) Ähnlich auch LIEBMANN in seiner Schrift "Kant und die Epigonen". Warum diese Forscher so einstimmig dem Ding-ansich den Krieg erklären, glaube ich zu sehen und will darauf später zurückkommen. Dennoch kann ich ihnen nicht beistimmen. Wenn man, wie diese Gelehrten das müssen, die Erscheinungen als die Ursache unserer Empfindungen auffaßt, sollte man doch bedenken, daß ja die Erscheinung ihrerseits erst durch die Empfindung (zumindest dem Stoff nach) möglich ist. Man kommt so also nicht über den von VAIHINGER (Komm. II, Seite 53 unter 2) angegebenen Zirkel hinaus. Alle Bedenken, welche jene genannten Anhänger KANTs haben, fallen weg, wenn man nur bedenkt, daß die Dinge-ansich nicht als Ursache der "Erscheinung", sondern lediglich der "Empfindung" angesehen werden. (Kr. d. r. V. transz. Ästhetik § 1:
    "Die Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, sofern wir von demselben affiziert werden, ist die Empfindung.")
Ein weißer Fleck, den ich in einiger Entfernung wahrnehme, ist als solcher noch keine Erscheinung, sondern lediglich Empfindung. Er existiert - aber nicht als Objekt der Wissenschaft, sondern nur als Wahrnehmung. Diese muß aber auch begründet sein.

ad 2. Wir haben eine Affektion des inneren oder äußeren Sinnes durch die gegebene Empfindung. Diese Art der Affektion, die wir auch gleich mit KANTs eigenen Worten als kantisch belegen werden, hat nur mehr psychologisches Interesse und setzt jedenfalls eine ganz bestimmte psychologische Auffassung des Raumes und der Zeit voraus. Die hierauf bezüglichen Stellen finden sich dann auch hauptsächlich in der Dissertation "De mundi sensibilis et intelligibilis forma atque principiis" vom Jahr 1770, die überhaupt in Bezug auf die psychologischen Ansichten KANTs sehr lehrreich ist. Man vergleiche folgende Stellen (9):
    § 2: "... forma, nempe sensibilium species, quae prodit, quatenus varia, quae sensus afficiunt, naturali quadam animi lege coordinatur". [die Form, nämlich die Art der sinnlichen Dinge, die insofern hervorgebracht wird, als die verschiedenen Dinge, die die Sinne berühren, durch ein Naturgesetz des Geistes koordiniert werden. - wp]

    "... ideoque, ut varia objecti sensum afficienta in totum aliquod representationis coalescant, opus est interno mentis principio per quod varia illa secundum stabiles et innatas leges speciem quodam induant". [Wie verschiedene Dinge die Sinne beeinflußen, damit sie zu einem Ganzen der Darstellung zusammengefügt werden können, bedarf es daher eines inneren mentalen Prinzips, nach festen und angeborenen Gesetzen eine bestimmte Erscheinung zu bilden. - wp]
Ferner § 14, Seite 407 (10), § 15, Seite 410 und 411. Dann Seite 413, § 15: "sensationes enim excitant hunc mentis actum ..." [denn die Empfindungen erregen den Akt des Geistes - wp]. Eine hierzu passende Stelle findet sich ferner in den "Reflexionen" (11). Es findet also tatsächlich auch eine Affektion durch die Empfindungen (varia!, nicht: Erscheinungen, phänomena) statt, welche aber ihrerseits durch die Affektion durch die Dinge-ansich gegeben sind. Natürlich ist dieser Akt (die Affektion durch die Empfindungen) nicht vom vorherbesprochenen zeitlich getrennt zu denken; indem die Empfindungen gegeben werden, affizieren sie den äußeren und inneren Sinn und erhalten dann durch eine "freie Tätigkeit des Geistes" ihre Ordnung. Dieser Gedanke klingt noch an in der Kr. d. r. V., zweite Auflage, Seite 34 "da das, worin sich die Empfindungen allein ordnen ...", obgleich in der Kr. d. r. V. sonst der rein erkenntniskritische Zweck in den Vordergrund tritt. Man könnte bei dieser Art der Affektion vielleicht an LOTZEs Lokalzeichentheorie denken.

ad 3. Dem unter 1) geschilderten Vorgang entspricht in der Welt der Erscheinungen eine Affektion des Sinnesorgans durch ein körperliches Ding im Raum. Natürlich ist jedes Sinnesorgan, sowie der ganze Leib, ebenfalls nur eine Erscheinung. Deshalb ist auch die Affektion eines Sinnesorgans durch ein Bewegliches im Raum nur eine Erscheinung, ein Verhältnis zwischen zwei Erscheinungen. Vgl. Kr. d. r. V., erste Auflage, Seite 387:
    "Aber wir sollten bedenken: daß nicht die Körper Gegenstände ansich sind, die uns gegenwärtig sind, sondern eine bloße Erscheinung, wer weiß, welches unbekannten Gegenstandes, daß die Bewegung nicht die Wirkung dieser unbekannten Ursache, sondern bloß die Erscheinung ihres Einflusses auf unsere Sinne ist, daß folglich beide nicht Etwas außerhalb von uns, sondern bloß Vorstellungen in uns sind, folglich, daß nicht die Bewegung der Materie in uns Vorstellungen wirkt, sondern daß sie selbst (folglich auch die Materie, die sich dadurch kennbar macht) bloße Vorstellung ist ..."
Unter diesem Gesichtspunkt will auch die Stelle in den "Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft" (12) (wie auch viele Stellen z. B. in der Anthropologie) betrachtet sein, wo es heißt:
    "Die Grundbestimmung eines Etwas, das ein Gegenstand äußerer Sinne sein soll, mußte Bewegung sein; denn dadurch allein können die Sinne affiziert werden."
Mit Recht sagt hierzu STADLER, "daß wir es auf dieser Stufe mit dem Noumenon nicht mehr zu tun haben", und daß wir diesem Satz
    "keinen anderen Rang beimessen dürfen, als dem Satz der Physiologie, daß alle äußeren Reize der Empfindungen Bewegungen sind." (13)
Auch die Psychophysik kann nichts anderes tun, als gesetzmäßige Zusammenhänge zwischen körperlichen und geistigen Erscheinungen konstatieren, aber durchaus nicht die Entstehung der Empfindung und des Bewußtseins erklären, da beide Arten der Erscheinung, die körperlichen und geistigen, das Bewußtsein voraussetzen. Die Empfindung kann also (nach KANTs eigenen Worten, die ich nochmals hier anführe) nicht durch die Affektion durch eine Erscheinung entstehen (Kr. d. r. V., erste Auflage, Seite 390-391):
    "Sie können aber alsdann mit dem, was sie unter einem Gegenstand äußerer Sinne verstehen, nicht den Begriff einer Materie verbinden, welche nichts als Erscheinung, folglich schon ansich bloße Vorstellung, die durch irgendwelche äußeren Gegenstände gewirkt worden, denn sonst würden sie sagen: daß die Vorstellungen äußerer Gegenstände (die Erscheinungen) nicht äußere Ursachen der Vorstellungen in unserem Gemüt sein können, welches ein ganz sinnleerer Einwurf sein würde, weil es niemandem einfallen wird, das, was er einmal als bloße Vorstellung erkannt hat, für eine äußere Ursache zu halten."
Demnach, um es zu wiederholen, ist es nicht kantisch, wenn COHEN das "affizierende Etwas" in der Erscheinung sucht, die "es nicht sowohl voraussetzt, als sie es selbst gibt". Das hier von KANT Gesagte gilt aber auch gegen SCHOPENHAUER, wenn er von der Materie sagt (14):
    "ihre Einwirkung auf das unmittelbare Objekt (das selbst Materie ist) bedingt die Anschauung, in der sie allein existiert."
Also: Die Materie existiert nur in der Anschauung; diese selbst (die Anschauung) ist aber erst ein Produkt der Einwirkung der Materie! der schönste Zirkel! Bei SCHOPENHAUER tritt überhaupt der Widerspruch sehr deutlich hervor, in den man sich verwickeln muß, wenn man die Einwirkung des Dings-ansich leugnet. Im Anhang zu seinem Hauptwerk (enthaltend die Kritik der kantischen Philosophie) tadelt er FICHTE (15), daß dieser nicht nur die Form, sondern auch die Materie aus dem erkennenden Subjekt ableiten wollte; er tadelt KANT (16), daß dieser sich in Bezug auf die Empfindung mit nichtssagenden Ausdrücken, wie "die Empfindung wird gegeben" etc., begnügt; und an anderen Stellen, daß er das Ding ansich mit Hilfe eines Schlusses von der Wirkung auf die Ursache einführt. Hören wir denn einmal, wie SCHOPENHAUER selbst diesen Fehlern abhilft. So z. B. Seite 567 heißt es:
    "Die Empfindung bezieht der Verstand mittels seiner alleinigen Funktion (Erkenntnis a priori des Kausalitätsgesetzes) auf ihre Ursache, welche eben dadurch in Raum und Zeit ... sich darstellt als Gegenstand der Erfahrung, materielles Objekt ... dennoch aber auch als solches noch Vorstellung bleibt, wie eben Raum und Zeit selbst."
Nach diesen Erörterungen SCHOPENHAUERs soll ich das Objekt im Raum als die Ursache der Empfindung denken, dasselbe Objekt - Anschauung - Erscheinung, welches doch erst, nach SCHOPENHAUERs eigenen Worten, zustande kommt durch diesen Gedanken, d. h. die Anwendung des Kausalitätsgesetzes! Wie wenig man aber das Ding-ansich als Ursache der Empfindung entbehren kann, dafür gibt auch LIEBMANN ein Beispiel ab. In seiner Schrift "Kant und die Epigonen" (17) bekämpft er das Ding-ansich auf das Heftigste und nennt es ein "hölzernes Eisen", einen "Parasiten" usw. LIEBMANN selbst kommt aber dann in einem anderen Werk "Über den objektiven Anblick" (18) zu einem (richtiger zwei) "transzendenten" Faktor der Anschauung, welcher im Grunde doch nichts anderes ist als ein verkapptes Ding ansich. LIEBMANN selbst lehnt zwar diesen Vergleich energisch ab. Wenn er aber die Formel aufstellt:
    "Der transzendente Faktor nötigt dem sensualen Licht- und Farbempfindungen ab, deren Inhalt vom intellektuellen Faktor in räumlicher Form objektiviert wird",
so fragt sich eben, ob der "transzendente" Faktor selbst anschaulich gedacht werden soll oder nicht? Ist das Erstere der Fall, so ist er in Raum und Zeit, also selbst eine Erscheinung und nicht transzendent; dann haben wir auch wieder den Zirkel, daß die Entstehung der Anschauung durch eine vorausgesetzte Anschauung erklärt wird; ist dagegen das Zweite der Fall, dann ist der transzendente Faktor wieder KANTs außerräumliches, außerzeitliches Ding-ansich.

ad 4. Die Affektion des erkennenden Subjekts durch sich selbst in seiner Erkenntnistätigkeit. Wir sahen, daß der innere und äußere Sinn (nach der psychologischen Theorie KANTs) durch die Empfindung affiziert werden und diese dann den Formen des Raumes und der Zeit gemäß ordnen. (Ich darf hier, wo es sich um eine klare Herausstellung der psychologischen Ansichten KANTs handelt, von meiner oben am Begriff des "inneren Sinns" geübten Kritik absehen.) Indessen hierdurch allein wird noch keine bestimmte Anschauung möglich; hierzu ist vielmehr
    "das Bewußtsein der Bestimmung desselben (des inneren Sinnes) durch die transzendentale Handlung der Einbildungskraft (synthetischer Einfluß des Verstandes auf den inneren Sinn"). (9)
nötig, die figürliche Synthesis. Der Verstand
    "übt, unter der Benennung einer transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft, diejenige Handlung auf das passive Subjekt, dessen Vermögen er ist, aus, wovon wir mit Recht sagen, daß der innere Sinn dadurch affiziert wird." (20)

    "Bewegung als Handlung des Subjekts (nicht als Bestimmung des Objekts), folglich die Synthesis des Mannigfaltigen im Raum, wenn wir von diesem abstrahieren und bloß auf die Handlung Acht haben, dadurch wir den inneren Sinn seiner Form gemäß bestimmen, bringt sogar den Begriff der Sukzession erst hervor. Der Verstand findet also in diesem nicht etwa schon eine dergleichen Verbindung des Mannigfaltigen, sondern bringt sie hervor, indem er ihn affiziert." (21)

    "So kann der Verstand, als Spontaneität, den inneren Sinn durch das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen der synthetischen Einheit der Apperzeption gemäß bestimmen." (22)
Wir erkennen uns nur, "wie wir innerlich von uns selbst affiziert werden ..." (23)
    "Ich sehe nicht, wie man so viel Schwierigkeit darin finden kann, daß der innere Sinn von uns selbst affiziert wird. Jeder Aktus der Aufmerksamkeit kann uns ein Beispiel davon geben. Der Verstand bestimmt darin jederzeit den inneren Sinn der Verbindung, die er denkt, gemäß zur inneren Anschauung, die dem Mannigfaltigen in der Synthesis des Verstandes korrespondiert. Wie sehr das Gemüt hierdurch affiziert wird, wird ein jeder in sich wahrnehmen können." (24)
Die psychologische Bedeutung dieses ganzen Vorganges der inneren Selbstaffektion wird in dieser letzten Stelle besonders klar. Offenbar handelt es sich hier um den rein psychologischen Unterschied der bloß perzipierten zur apperzipierten Vorstellung. Es ist die Tätigkeit der "aktiven Apperzeption", welche jene Selbstaffektion (oder wie WUNDT) sagt, jenes "Tätigkeitsgefühl" (25) hervorbringt. Dies geht auch auf das Deutlichste aus einer sehr sonderbaren und bemerkenswerten Stelle in der Preisschrift "Über die Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibniz' und Wolffs Zeiten in Deutschland gemacht hat" (26), hervor.
    "Das Ich aber in der zweiten Bedeutung (als Subjekt der Perzeption), das psychologische Ich, als empirisches Bewußtsein, ist mannigfacher Erkenntnis fähig, worunter die Form der inneren Anschauung, die Zeit, diejenige ist, welche a priori allen Wahrnehmungen und deren Verbindung zum Grunde liegt, deren Auffassung (apprehensio) der Art, wie das Subjekt dadurch affiziert wird, d. h. der Zeitbestimmung gemäß ist, indem das sinnliche Ich vom intellektuellen zur Aufnahme desselben ins Bewußtsein bestimmt wird."
Von was kann hier anders die Rede sein, als von jener Tätigkeit der aktiven Apperzeption, dadurch die bloß perzipierte Vorstellung aus dem Umkreis des Blickfeldes in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit gerückt wird und somit (in einem psychologischen Sinn) apperzipiert wird? Die erkenntnistheoretische Bedeutung dieses Vorgangs der Selbstaffektion, die überall hier herein spielt und im Nachweis der Phänomenalität des Ich gipfelt, soll Gegenstand einer gesonderten Untersuchung werden. An der oben erwähnten Stelle fährt KANT dann fort:
    "Daß dies so ist, davon kann uns jede innere, von uns angestellte psychologische Beobachtung zum Beleg und Beispiel dienen; denn es wird dazu erfordert, daß wir den inneren Sinn, zum Teil auch wohl bis zum Grad der Beschwerlichkeit, mittels der Aufmerksamkeit affizieren ..."
Wenn es nun aber richtig ist, daß KANT, wie wir unter 1. sahen, die Affektion unserer Sinnlichkeit durch die Dinge ansich lehrte, so ist damit doch auch zugegeben, daß sein System jenen so oft gerügten Widerspruch in sich birgt, daß er die Kategorien gegen sein eigenes Verbot über die Grenze der Erfahrung hinaus anwandte? (27) Somit komme ich auf meine zweite Frage, welche die Gültigkeitssphäre der Kategorien betrifft. Die einzig richtige Auffassung hat hier nun nach meiner Meinung schon DROBISCH entwickelt in seiner Schrift "Kants Dinge ansich und seiner Erfahrungsbegriff" (28). DROBISCH hat richtig gesehen, daß man hier vor allem die Begriffe "denken" und "erkennen" sondern muß - darin liegt das ganze Geheimnis, welches den angeblichen Widerspruch entfernt (29). KANT unterscheidet überall richtig und streng zwischen "denken" und "erkennen". Eine Erkenntnis ist für KANT immer nur vorhanden, wo sich Anschauung und Denken verbinden: das Denken (und somit auch die Kategorien) reicht weiter als die Anschauung, aber es vermag ohne Anschauung keine Erkenntnis zu geben; daher können, ja müssen wir die Dinge-ansich (als Ursachen der Empfindung) denken, aber wir können sie nicht erkennen. Die Schwierigkeit im Verständnis dieser so einfachen Sachlage wird hervorgerufen, einmal dadurch, daß man "denken" im populären Sinn mit "erkennen" gleichsetzt; dann aber auch dadurch, daß KANT von der "Anwendbarkeit der Kategorien" bald in dem Sinne spricht, daß wir die Kategorien "anwenden", indem wir "denken" mit ihnen, bald aber auch (was er eigentlich nicht dürfte), indem wir durch sie "erkennen". Über das "Denken-müssen" der Dinge-ansich wird hernach noch Einiges zu sagen sein. Jetzt will ich zunächst durch Zitate aus KANT die Richtigkeit meiner Kant-Interpretation belegen.

Belegstellen: Kr. d. r. V., zweite Auflage, Seite XXVI:
    "Gleichwohl wird, welches wohl gemerkt werden muß, doch dabei immer vorbehalten, daß wir eben dieselben Gegenstände auch als Dinge ansich, wenngleich nicht erkennen, doch wenigstens denken können."

    Seite 74: "Anschauung und Begriffe machen also die Elemente aller unserer Erkenntnis aus, sodaß weder Begriffe ohne ihnen auf einige Art zu korrespondierende Anschauung, nach Anschauung ohne Begriffe eine Erkenntnis abgeben können."

    Erste Auflage, Seite 253: "Ein reiner Gebrauch der Kategorie ist zwar möglich, d. h. ohne Widerspruch, aber hat gar keine objektive Gültigkeit, weil sie auf keine Anschauung geht, die dadurch Einheit des Objekts bekommen sollte."

    Zweite Auflage, Seite 309: "Wenn ich alles Denken (durch Kategorien) aus einer empirischen Erkenntnis wegnehme, so bleibt gar keine Erkenntnis irgendeines Gegenstandes übrig; denn durch bloße Anschauung wird gar nichts gedacht, und daß diese Affektion der Sinnlichkeit in mir ist, macht gar keine Beziehung auf irgendein Objekt aus. Lasse ich aber hingegen alle Anschauung weg, so bleibt doch noch die Form des Denkens, d. h. die Art, dem Mannigfaltigen einer möglichen Anschauung einen Gegenstand zu bestimmen. Daher erstrecken sich die Kategorien insofern weiter als die sinnliche Anschauung, weil sie Objekte überhaupt denken ..."
Ferner in der "Grundlegung der Metaphysik der Sitten" (30):
    "dadurch, daß die praktische Vernunft sich in eine Verstandeswelt hineindenkt, überschreitet sie gar nicht ihre Grenzen, wohl aber, wenn sie sich hineinschauen, hinein empfinden will."
Ferner in der Streitschrift gegen EBERHARD (31):
    "die Frage war, ob wir von dem, welchem keine korrespondierende Anschauung gegeben werden kann, eine Erkenntnis zu gewinnen hoffen können. Das wurde von der Kritik in Anbetracht dessen, was kein Gegenstand der Sinne sein kann, verneint; weil wir zur objektiven Realität des Begriffs einer Anschauung bedürfen ..."
Ferner "Kritik der praktischen Vernunft" (32) Seite 59:
    "daß der Begriff einer Ursache ... auf Dinge als reine Verstandeswesen allerdings angewendet werden kann. Weil aber dieser Anwendung keine Anschauung, als die jederzeit nur sinnlich sein kann, unterlegt werden kann, so ist causa noumenon in Anbetracht des theoretischen Gebrauchs der Vernunft, obgleich ein möglicher, denkbarer, dennoch leerer Begriff."

    Seite 57: "Wenn etwas noch fehlt, so ist es die Bedingung der Anwendung der Kategorien und namentlich der Kausalität, auf Gegenstände, nämlich die Anschauung, welche, wo nicht gegeben ist, die Anwendung zum Zweck der theoretischen Erkenntnis des Gegenstandes, als Noumenon, unmöglich macht."

    Seite 142: "zu jedem Gebrauch der Vernunft in Anbetracht eines Gegenstandes werden reinen Verstandesbegriffe (Kategorien) erfordert, ohne die kein Gegenstand gedacht werden kann. Diese können zum theoretischen Gebrauch der Vernunft, d. h. zu dergleichen Erkenntnis nur angewandt werden, sofern ihnen zugleich Anschauung (die jederzeit sinnlich ist) untergelegt wird ..."

    "jener Objekte (die Dinge-ansich) durch Kategorien bloß zu denken, welches, wie wir sonst deutlich gewiesen haben, ganz wohl, ohne Anschauung (weder sinnliche, noch übersinnliche) zu bedürfen, angeht, weil die Kategorien im reinen Verstand unabhängig und vor aller Anschauung lediglich als dem Vermögen zu denken, ihren Sitz und Ursprung haben."
Sodann: "Kritik der Urteilskraft" (33) Seite 353-354:
    "Verstandesbegriffe müssen, als solche, jederzeit demonstrabel sein (wenn unter Demonstrieren, wie in der Anatomie, bloß das Darstellen verstanden wird), d. h. der ihnen korrespondierende Gegenstand muß jederzeit in der Anschauung (reinen oder empirischen) gegeben werden können."
In der Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik (34):
    "damit eine Vorstellung Erkenntnis ist (ich verstehe aber hier immer ein theoretisches) dazu gehört Begriff und Anschauung von einem Gegenstand in derselben Vorstellung verbunden ..."

    Seite 535: "ist aber der Begriff ein reiner Verstandesbegriff, so liegt er ganz außerhalb aller Anschauung, und doch muß ihm eine solche untergelegt werden, wenn er zu einer Erkenntnis gebraucht werden soll ..."
Ferner die Stellen Seite 558, 584 etc. Dann "Reflexionen" (ERDMANN) Bd. II, Seite 282, Nr. 984 etc.; Seite 285, Nr. 988; Seite 407, Anm. zur Nr. 1409:
    "denn diese Begriffe gehören nicht notwendig Gegenstände der Sinne, wenn man nämlich dadurch nichts erkennen, sondern nur die Möglichkeit eines Gedankens davon haben will."
Vergleiche auch "Lose Blätter", Heft 1, Seite 139, Seite 120:
    "Anschauung ohne Begriffe, oder Begriffe ohne Anschauung machen keine Erkenntnis aus; nur durch ihre Verbindung kann ein Gegenstand erkannt werden."
Diese Stellen ließen sich noch durch viele andere vermehren.

VAIHINGER stellt in seinem Kommentar Bd. II, Seite 53 folgendes Trilemma auf in Bezug auf die affizierenden Gegenstände:
    1. "Entweder versteht man unter denselben die Dinge ansich; dann geraten wir auf den von Jacobi, Aenesidem u. a. schon aufgedeckten Widerspruch, daß wir die Kategorien Substantialität und Kausalität, welche doch nur innerhalb der Erfahrung Sinn und Bedeutung haben sollen, außerhalb derselben anwenden."
Dieser angebliche Widerspruch ist also, wie die oben angeführten Stellen beweisen, nicht vorhanden.
    2. "Oder wir verstehen unter den affizierenden Gegenständen die Gegenstände im Raum; da nun diese nach KANT aber doch nur Erscheinungen sind, also unsere Vorstellungen, so geraten wir auf den Widerspruch, daß dieselben Erscheinungen, die wir erst aufgrund der Affektion haben, uns eben jene Affektion verschaffen sollen."
Hierzu ist zu bemerken, daß die Affektion durch Gegenstände im Raum nur die Erscheinung jener unter 1. bezeichneten Affektion durch die Dinge-ansich ist; daß außerdem das Produkt der Affektion nur die Empfindung, nie die fertige Erscheinung ist.
    3. "Oder wir nehmen eine doppelte Affektion an, eine transzendente durch die Dinge-ansich und eine empirische durch die Gegenstände im Raum, so geraten wir auf den Widerspruch, daß eine Vorstellung des transzendentalen Ich nachher für das empirische Ich ein Ding-ansich sein soll, dessen Affektion nun im Ich außerhalb und hinter jener transzendentalen Vorstellung des Gegenstandes noch eine empirische eben desselben Gegenstandes hervorrufen soll."
Auch diese dritte Schwierigkeit ist meiner Auffassung nach nicht vorhanden, da bei mir die empirische Affektion nichts mit der Entstehung der Empfindung zu tun hat, da sie selbst schon zur Erscheinung gehört.

Auch WINDELBAND, in seiner Abhandlung "Über die verschiedenen Phasen der kantischen Lehre vom Ding-ansich" (35) vernachlässigt in seinen Ausführungen ganz den aufgewiesenen Unterschied zwischen Denken und Erkennen. So sagt er Seite 258:
    "da wir nur die sinnliche Anschauung besitzen und uns von einer anderen gar nicht einmal die Vorstellung ihrer Möglichkeit machen können, so existieren für uns Gegenstände nur in der Erfahrung."
Das wichtige Moment in der Frage nach dem Ding-ansich ist aber nicht der Gegensatz zwischen sinnlicher und intellektueller Anschauung, sondern zwischen Anschauung und Denken. Die Anschauung setzt den Stoff der Anschauung, die Empfindung voraus; diese setzt ihrerseits die Affektion und damit das Ding-ansich voraus. Ich kann daher das Resultat, zu dem WINDELBAND kommt, nicht billigen, wenn er sagt: "Die Unterscheidung von Ding-ansich und Erscheinung ist unhaltbar." (Seite 258)

Es gibt nun aber heute eine starke Philosophenschule, die behauptet, es sei unmöglich, sich das Ding ansich auch nur zu denken, geschweige denn es zu erkennen und infolgedessen zum Resultat BERKELEYs "esse = percipi" zurückkehrt. Zu ihnen gehört z. B. von SCHUBERT-SOLDERN, der diesem Gegenstand eine eigene Schrift gewidmet hat (36). Er bekämpft darin alles "transzendente Sein". Dieses aber definiert er so: "Das transzendente Sein ist jenes, das seinem ganzen Wesen nach Bewußtseinsdatum nicht sein kann und darf." (Seite 36) Der Fehler, der schon in dieser Definition steckt, erleichtert natürlich den Kampf hernach sehr. Immer wieder wird das eine Argument gegen das transzendente Sein ins Feld geführt:
    "Das Transzendente darf nicht Bewußtseinsinhalt sein, aber man muß doch etwas davon wissen und daher ist und muß es doch Bewußtseinsinhalt sein." (a. a. O.)
Hiergegen hat nun schon VOLKELT mit Recht bemerkt:
    "Ein unvorgestelltes und ungedachtes Sein zu denken wäre nur dann ein Widerspruch, wenn damit die sonderbare Meinung verknüpft wäre, daß das Sein, insofern und indem es von jemandem gedacht wird, eben in diesem Akt doch auch zugleich von ihm nicht gedacht würde. Dagegen fällt jeder Widerspruch weg, sobald sich, wie dies auch immer geschieht, die Meinung mit jenem Anspruch verbindet, daß das Ungedachtsein von dem durch das Denken unberührt gelassenen, nach wie vor draußen liegen bleibenden Sein gilt." (37)
Die gilt auch gegen SCHUPPE (38). Der Gedanke eines außerhalb des Bewußtseins existierenden Seins ist natürlich immer gedacht, aber damit wird das Sein selbst noch nicht zum gedachten. SCHUBERT-SOLDERN ist dann auch konsequenterweise ein erkenntnistheoretischer Solipsist.
    ("Erwägt man nun, daß auch der Leib des Mitmenschen nur in jenem subjektiven Zusammenhang gegeben ist, daß seine Vorstellungswelt mit ihren Gefühlen und Wollungen, ja daß seine individuelle Wahrnehmungswelt nur mittels seines in jenem subjektiven Zusammenhang gegebenen Leibes erschlossen werden kann, so ergibt sich der erkenntnistheoretische Solipsismus als unumstößliche Tatsache.") (39)
Daß also das Denken der Dinge-ansich kein Widerspruch weder bei KANT noch in der Sache ist, gilt mir für bewiesen. Es könnte aber dennoch einer sagen: wozu die Dinge-ansich? wozu ihre Affektion? Streichen wir doch beides, zumal ja die Dinge-ansich nach KANTs eigener Lehre unerkennbar, weil nicht anschaulich sind. Demgegenüber sage ich mit HÖLDER (40):
    "Von allen Tatsachen des sittlichen Bewußtseins abgesehen, läßt sich schon die Tatsache der Erkenntnis nur unter dieser Voraussetzung (der Dinge ansich) erklären."
Die Dinge-ansich bilden eine notwendige Voraussetzung der Erkenntnistheorie, denn ohne ihre Annahme stehen wir vor der Alternative
    1. entweder den Idealismus aufzugeben, oder

    2. ihn in einen Solipsismus zu verkehren.
Auf die Frage: woher stammt die Empfindung? bleibt, wenn man die Antwort: "aus der Affektion unserer Sinnlichkeit durch Dinge-ansich" verschmäht, nur die Wahl zwischen folgenden Antworten:
    1. die Empfindungen sind alle (oder zum Teil) Eigenschaften wirklicher, unabhängig vom Subjekt existierender Dinge (also dieses Blatt ist weiß, auch wenn kein Mensch und überhaupt kein erkennender Geist es sieht); dann haben wir die Frage nach der Empfindung nicht mehr als Idealisten, sondern als Realisten beantwortet. Auch wenn man den Standpunkt Lockes einnimmt und zwischen primären und sekundären Qualitäten unterscheidet (also alle quantitativen Eigenschaften den Dingen, alle rein qualitativen dem Subjekt zuschreibt) ist man Realist; und die Unhaltbarkeit dieses Standpunkts ist wohl von Kant zur Genüge dargelegt worden; oder

    2. man leitet nicht nur die Form, sondern auch den Stoff der Erkenntnis aus dem Subjekt ab: dann ist man auf dem solipsistischen Standpunkt Fichtes und Berkeleys angelant, für den eigentlich die ganze Erkenntnistheorie gar keinen Sinn hat: denn es ist ja außer dem erkennenden Subjekt gar nichts da, was erkannt werden könnte.
Beide Fälle scheinen noch eine dritte Ansicht zuzulassen, die z. B. FALCKENBERG (41) vertritt (als die eigentliche Meinung KANTs). Dieser beruft sich auf das transzendentale Bewußtsein oder die menschliche Gattungsvernunft und sagt: es gibt
    1. Das Ding-ansich außerhalb jeglichen Bewußtseins,

    2. die Erscheinung außerhalb des individuellen, aber innerhalb des transzendentalen Bewußtseins,

    Vorstellung der Erscheinung innerhalb des individuellen Bewußtseins.
Zu 2. gehören die apriorischen Formen des Raumes und der Zeit, nur zu 3. dagegen die Empfindungen wie "rot" und "süß" etc.

An diesem Standpunkt ist zunächst die Auffassung der Apriorität von Raum und Zeit als Formen der menschlichen Gattungsvernunft gewiß haltbarer und richtiger als die durchschnittlich rein psychologische Auffassung. Aber man darf dabei doch nicht vergessen, daß diese Gattungsvernunft nur in den Individuen existiert. Deshalb darf man die Erscheinungen nicht so selbständig machen, wie das FALCKENBERG tut, so daß die Erscheinung eine Sonderexistenz in der "menschlichen Gattungsvernunft" führt. Man bräuchte nur zu fragen: und wenn nun das Geschlecht der Menschen ausstirbt, was wird dann aus der Erscheinung? -

Auch bei der Auffassung der Kategorien und des Raumes und der Zeit als Formen der wissenschaftlichen, nicht psychologisch-individuellen Erkenntnis (42), bleibt doch die Frage nach dem "Stoff" aller Erkenntnis bestehen. Man kann den Stoff aller Erkenntnis nicht aus der Vernunft ableiten, weder aus der individuellen, noch aus einer Gattungsvernunft.

Wir müssen notwendig annehmen, daß die Welt existiert, auch wenn wir sie nicht erkennen; aber wie sie existiert, wenn wir sie nicht erkennen, ist eine unerlaubte Frage: denn sie schließt den Widersinn ein: die Welt zu erkennen, ohne sie zu erkennen.
    "Wer die Dinge ansich sehen will, gleich einem Menschen, der sich mit geschlossenen Augen vor den Spiegel stellt, um zum beobachten, wie er im Schlaf aussieht." (43)
Wenn man die Dinge-ansich als Substanzen, Ursachen etc. bezeichnet, so erkennt man dadurch nichts, weil man keine Anschauung von ihnen hat. Erkennbar werden sie erst, wenn sie uns affizieren, aber dann stehen sie auch sogleich unter den Regeln des wissenschaftlichen Bewußtseins. Will man mit KANT realitas phaenomenon und realitas noumenon (44) unterscheiden, so ist nur die erstere ein Gegenstand der Erkenntnis. Wir schaffen die Dinge der Erkenntnis nach, nicht dem Sein nach. Die Form stammt aus der menschlichen Vernunft, diese begründet die realitas phaenomenon; aber sie bedarf hierzu des Stoffes, der ihr gegeben wird. Das Ding-ansich bewahrt uns davor, entweder unsere Sinnlichkeit zu einer intellektuellen Anschauung oder unseren Verstand zu einem intuitiven Verstand zu machen. Wir erkennen von den Dingen nur soviel, "als wir in sie hineinlegen", aber wir schaffen sie nicht

Mit der Frage nach dem Ding-ansich hängt die Frage nach dem "Ich ansich" auf das Engste zusammen, die ich daher jetzt noch kurz besprechen will.
LITERATUR - Walter Kinkel, Beiträge zur Erkenntniskritik, Giessen 1900
    Anmerkungen
    1) Weiteres bei Vaihinger, Seite 31-32.
    2) Ausgabe Hartenstein 1868 und Bd. 6.
    3) Hartenstein, Bd. 4
    4) Hartenstein, Bd. 7
    5) Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, erste Auflage, Seite 253.
    6) Cohen, a. a. O., Seite 339
    7) Grundsätze Seite 47 ferner Stadler: Kants Teleologie und ihre erkenntnistheoretische Bedeutung, Seite 13.
    8) Windelband, "Über die verschiedenen Phasen der kantischen Lehre vom Ding ansich", Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 1, 1877, Seite 258.
    9) Bei Hartenstein, Bd. 2, § 2, Seite 400
    10) bei Hartenstein
    11) Benno Erdmann, Reflexionen Kants, Bd. II, 1884, Seite 98, Nr. 315.
    12) bei Hartenstein, Bd. 4, Seite 366.
    13) August Stadler, "Kants Theorie der Materie", Leipzig 1883, Seite 8 und 9.
    14) Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Reclam-Ausgabe, § 4, Seite 39
    15) a. a. O., Seite 557
    16) a. a. O., Seite 560.
    17) Liebmann, Cannstatt 1865
    18) Liebmann, Cannstatt 1869, Seite 157.
    19) Kr. d. r. V. zweite Auflage, Seite 154
    20) a. a. O., Seite 153-154
    21) Kr. d. r. V., Seite 155
    22) a. a. O., Seite 150
    23) a. a. O. Seite 156
    24) a. a. O. Seite 156; vgl. auch Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, zweite Auflage, Seite 331f.
    25) Vgl. Wilhelm Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, vierte Auflage, Bd. 2, Seite 267.
    26) Hartenstein, Bd. 8, Seite 531.
    27) vgl. Vaihinger, Kommentar Bd. 1, Seite 172, wo der Einwurf Brastbergers angeführt ist, sowie Bd. 2, Seite 35f, wo die Angriffe Jacobis etc. zusammengestellt sind.
    28) Drobisch, Leipzig 1885, Seite 14f.
    29) a. a. O.
    30) Hartenstein, Bd. 4, Seite 306
    31) Hartenstein, Bd. 6, Seite 28
    32) Hartenstein, Bd. 5
    33) Hartenstein, Bd. 5
    34) Hartenstein, Bd. 8, Seite 533 und 534
    35) Windelband, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 1, Heft 2, Seite 224f.
    36) Richard von Schubert-Soldern, "Über Transzendenz des Objekts und Subjekts", Leipzig 1882.
    37) Johannes Volkelt, Erfahrung und Denken, Leipzig 1886, Seite 188.
    38) Wilhelm Schuppe, Erkenntnistheoretische Logik", Bonn 1878, Seite 85 und 87.
    39) Schubert-Soldern, Das menschliche Glück, Tübingen 1896, Seite X.
    40) Alfred Hölder, Darstellung der kantischen Erkenntnistheorie, Tübingen 1874, Seite 101.
    41) vgl. Richard Falckenberg, Geschichte der neueren Philosophie", Leipzig 1892, zweite Auflage, Seite 284f.
    42) und diese Auffassung teile ich selbst auch.
    43) vgl. Dieterich, "Die kantische Philosophie in ihrer inneren Entwicklungsgeschichte", Freiburg 1885, Teil I, Seite 133.
    44) Kant selbst gebraucht diese Ausdrücke auch (z. B. causa noumenon).