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KARL LEONHARD REINHOLD
(1758 - 1828)
Über die bisherigen Schicksale
der kantischen Philosophie

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"Die ... metaphysischen Dogmen der Wolffianer gerieten einerseits über die neuen und vielfältigen Anwendungen jener (wolffischen) Grundsätze aufs Empirische in Vergessenheit, andererseits aber durch die immer weiter um sich greifende Freiheit des Denkens in Verfall, und der streng systematische Vortrag büßte in eben dem Verhältnis sein voriges Ansehen ein, als die Beispiele fesselfreier und geschmackvoller Einkleidung philosophischer Untersuchungen unter uns zahlreicher wurden. Es wurde nun über jede menschliche, bürgerliche, häusliche Angelegenheit von der größten bis zur kleinsten in Prosa und in Versen philosophiert."

Die Widersprüche, mit welchen jedes der neuen Lehrgebäude behaftet war, konnten bei dem immer mehr überhand nehmenden Ekel an metaphysischen Untersuchungen, der Angewohnheit über anschauungslose Vorstellungen zu philosophieren, und der Schwierigkeit sich aus den Labyrinthen so vieler entgegengesetzten, und mit gleichem Scharfsinn unterstützten Meinungen herauszufinden, kaum dem kleinsten Teil der kleinsten Anzahl sichtbar werden, die noch an Schriften dieser Art einiges Interesse gefunden haben.

"Gesetzt, die Kr. d. r. V. hätte das große Problem der Entdeckung allgemeingültiger Prinzipien wirklich abgelöst; sie enthielte bereits das durch die Natur unseres Erkenntnisvermögens bestimmte, und in seinen Gründen bis an die Grenzen alles Begreiflichen zurückgeführte, einzig mögliche System aller spekulativen Philosophie?"

Da die Periode, welche in der Geschichte der deutschen Philosophie unmittelbar auf die LEIBNIZ-WOLFFische folgte, gegenwärtig noch nicht vorüber ist: so darf es umso weniger befremden, daß ihre Vorzüge sehr verschieden beurteilt werden, und daß man ebensowenig darüber einig ist: ob man ihr den Namen der eklektischen oder im Gegenteil der empirischen beizulegen sollte; als ob man ihr bevorstehendes Ende zugleich auch für das Ende oder vielmehr für den Anfang des goldenen Zeitalters der Wissenschaft anzusehen hat. Sonderbarer dürfte es beim ersten Anblick scheinen, daß die Meinungen auch über die vorhergegangene nicht weniger geteilt sind, und daß selbst dasjenige Verdienst ihres Stifters, wodurch derselbe den Grund zur gegenwärtigen gelegt hat, sogar von den Verteidigern und Lobrednern der letzteren so oft und so sehr verkannt wird. WOLFF hatte dadurch, daß er den Entdeckungen des großen LEIBNIZ wissenschaftliche Form gegeben hat, ein vollendetes System dogmatischer Metaphysik aufgestellt, dem kein Dogmatiker nach ihm etwas Beträchtliches zu nehmen oder hinzuzufügen gewußt hat, und von welchem die späteren Eklektiker nur dann erst abzuweichen anfingen, als sie beim Vortrag der Metaphysik die wissenschaftliche Form für die rhapsodische [bruchstückhaft, unzusammenhängend] aufgaben. Noch nie hat ein philosophisches System eine so schnelle und so allgemeine Aufnahme gefunden, als das LEIBNIZ-WOLFFische. Es wurde nach einem heftigen aber nur sehr kurz dauernden Widerstand von den besten Köpfen der Nation, und von den mittelmäßigen angenommen, und der größere Teil der akademischen Lehrer wetteiferte mit dem besseren, sich für eine Philosophie zu erklären, in welcher man die schwersten und wichtigsten Aufgaben der Spekulation mit noch nie gesehener Gründlichkeit und Klarheit aufgelöst hat und das Interesse der Religion und der Moralität mit den kühnsten Ansprüchen der Vernunft vereinigt fand. Allein eben darum und fast ebenso bald verloren die wesentlicheren Grundsätze dieser allgemein beliebten Philosophie den Reiz der Neuheit. Sie erhielten durch ihren vielfältigen Gebrauch die Popularität gemeiner und alltäglicher Maximen, und die Selbstdenker waren im Kurzen genötigt, sich am Leitfaden derselben auf das Feld der Beobachtung hinauszuwagen, nachdem ihnen WOLFF auf dem Feld der Spekulation so wenig zu tun übrig gelassen hatte. Nichts war natürlicher, als daß der zergliedernde Scharfsinn seine Arbeit an den konkreten Erfahrungsbegriffen fortsetzt, nachdem sie an den abstrakten Notionen [Vorstellungen - wp] vollendet schien, und daß man zu beobachten anfing, nachdem man zu definieren aufhören mußte. Einige neueren Schriftsteller haben das Verdienst der beobachtenden Philosophie dadurch in ein helleres Licht zu setzen geglaubt, daß sie dieselbe mit der herabgewürdigten WOLFFischen in den schärfsten Kontrast stellten, ohne zu bedenken, daß die Probleme, welche von der ersteren der Natur vorgelegt wurden, größtenteils durch die so sehr verschrieenen Definitionen der letzteren, entweder zuerst aufgeworfen, oder doch näher bestimmt worden sind, daß das Studium der Erfahrung keineswegs dem, gemeinen auch noch so gesunden Verstand, sondern nur der durch Prinzipien geleiteten, und durch Spekulation geübten Vernunft gelingen konnte, und daß sie durch planloses Herumtappen aufgegriffenen, und durch bloße Zufälle erworbenen Sachkenntnisse ohne das wissenschaftliche Gepräge, das ihnen der systematische Geist aufdrückt, rohe und meistens unbrauchbare Schätze bleiben müßten. Die philosophische Welt ist durch die Schule der neueren Empiriker mit Kompilatoren [Autor, dessen Arbeit im Wesentlichen aus dem Sammeln oder Zusammenstellen von Werken oder Zitaten anderer Autoren besteht - wp] bevölkert; aber durch die WOLFFische sind ihr die Stifter der eigentlichen Psychologie und Ästhetik gebildet worden, durch welche die glücklichsten Versuche der Engländer in diesen Fächern an Gründlichkeit und Vollständigkeit so weit übertroffen wurden. Aus der wolffischen Schule sind die Stifter der gereinigten Theologie und des geläuterten Geschmacks hervorgetreten, philosophische Theologen und philosophische schönen Geister, durch welche die Fackel der Philosophie in Gegenden gebracht wurde, wo sie in Deutschland bis dahin noch nie geleuchtet hatte - vom geheimnisvollen Dunkel des Allerheiligsten bis in die Kabinette der Minister und Fürsten, und an die Putztische der Damen. Ein Zusammenfluß günstiger Umstände, deren Aufzählung nicht hierher gehört, schien den Einsturz der alten leidigen Scheidewand zwischen Welt und Schule vollendet zu haben, und die wolffischen Grundsätze wirkten ungehindert auf dem neueröffneten unermeßlichen Feld fort, während die auf sie gebauten metaphysischen Dogmen der Wolffianer einerseits über die neuen und vielfältigen Anwendungen jener Grundsätze aufs Empirische in Vergessenheit, andererseits aber durch die immer weiter um sich greifende Freiheit des Denkens in Verfall gerieten, und der streng systematische Vortrag in eben dem Verhältnis sein voriges Ansehen einbüßte, als die Beispiele fesselfreier und geschmackvoller Einkleidung philosophischer Untersuchungen unter uns zahlreicher wurden. Es wurde nun über jede menschliche, bürgerliche, häusliche Angelegenheit von der größten bis zur kleinsten in Prosa und in Versen philosophiert. Um die neue Ausbeute aufzunehmen und nur einigermaßen in Ordnung zu bringen, wurden die neuen Fächer vervielfältigt; Anthropologie, Geschichte der Menschheit, Philosophie der Geschichte, der Sprache, der Erziehungskunst usw. wurden in den Rang der Wissenschaften, und neu eroberter Provinzen der Philosophie eingesetzt.

Was würden LEIBNIZ, WOLFF, BAUMGARTEN von demjenigen gedacht haben, der ihnen vorhergesagt hätte, daß eine Zeit kommen wird, wo die Metaphysik in eben dem Verhältnis verlieren muß, in dem die Philosophie gewinnen wird? Diese Zeit ist wirklich dagewesen und sie ist noch lange nicht vorüber. Aber freilich hat sich die Bedeutung des Wortes Philosophie während derselben sehr verändert. Das eigentliche Gebiet dieser Wissenschaft wurde immer unbestimmter, je weiter die Philosophen ihre Eroberungen ausgebreitet haben. Das Ansehen und der Einfluß der ehemaligen Königin aller Wissenschaften sank umso tiefer, je weniger man ihr und je mehr man der Erfahrung zu verdanken anfing, welcher man endlich auch sogar die unentbehrlichsten Prinzipien zueignete, je mehr diese nach und nach ihr wissenschaftliches gelehrtes Gepräge verloren, und den Namen der Aussprüche des gesunden Menschenverstandes angenommen hatten. Indessen daß die positive Theologie und die Volksreligion durch allmähliche Reinigung der Mythologie an Sittlichkeit und Vernunftmäßigkeit zugenommen hat, die Kenntnis unseres Planeten durch physische Geographie, Länder- und Völkerkunde außerordentliche Fortschritte tat, und die empirische Seelenlehre von allen Seiten her mit den wichtigsten Aufschlüssen über die verborgensten Eigenheiten des menschlichen Geistes und Herzens bereichert wurde, wurden die rationale Theologie, Kosmologie und Psychologie teils vernachlässigt, teils mißhandelt. Diese Teile der Metaphysik, die kurz vorher das was DESCARTES und LEIBNIZ für den Inhalt, WOLFF und BAUMGARTEN aber für die Form derselben getan hatten, auf den unerschütterlichen Grund einer allgemeingültigen Ontologie für die Ewigkeit gebaut haben, und die vollendete Schutzwehre der Religion und der Moral gegen Aberglauben und Unglauben auszumachen schienen, wurden nun auf einmal, selbst von Verteidigern der Religion und Moral, als unhaltbar und entbehrlich aufgegeben. Es war dem größeren Teil des philosophischen Publikums, der mit Aufsammeln und Zusammenordnen von Tatsachen alle Hände beschäftigt hatte, umso weniger zu verdenken, daß er das heiligste Interesse der Menschheit durch sich selbst und den gesunden Menschenverstand ebensosehr gesichert, als durch die Metaphysik gefährdet glaubte, da die letztere unter den Händen der Wenigen, die ihr noch aus Beruf oder Neigung oblagen, das Systematische und Allgemeingültige, wodurch sie allein ihre vorigen Ansprüche zu rechtfertigen vermocht hätte, immer mehr und mehr verlor. Auch die Metaphysik sollte auf Erfahrung gegründet, und LEIBNIZ durch LOCKE berichtigt, oder vielmehr die Theorien von beiden sollten miteinander vereinigt werden. Die Notwendigkeit und Allgemeinheit der ontologischen Prinzipien wurde in eben dem Verhältnis verdächtiger als der Versuch sie von der Erfahrung abzuleiten allgemeineren Beifall fand. Aus den Grundsätzen waren nun Meinungen geworden; sie erschienen in jedem neuen philosophischen Werk in eine andere Formel eingekleidet, jeder denkende Kopf suchte sie nach seiner Weise zu bestimmen, baute sich ein eigenes System und benutzte dabei die Bruchstücke älterer einander entgegengesetzter Systeme, die ihm in das Seinige zu passen schienen.

Man hatte nach und nach alle großen Geister, die sich eigene Bahnen gebrochen hatten, beschworen. Allein die Antwort eines jeden war von jedem seiner verschiedenen Beschwörer anders verstanden worden (1), weil man über den Sinn der Fragepunkte nicht einig, und derselbe durch nichts Allgemeingeltendes bestimmt war. Die auf diese Weise entstandenen philosophischen Versuche, von denen manche noch von zwanzig Jahren das größte Aufsehen gemacht haben würde, fanden jetzt ebensowenige und nur ebenso kalte Tadler als Bewunderer. Die Widersprüche, mit welchen jedes der neuen Lehrgebäude behaftet war, konnten bei dem immer mehr überhand nehmenden Ekel an metaphysischen Untersuchungen, der Angewohnheit über anschauungslose Vorstellungen zu philosophieren, und der Schwierigkeit sich aus den Labyrinthen so vieler entgegengesetzten, und mit gleichem Scharfsinn unterstützten Meinungen herauszufinden, kaum dem kleinsten Teil der kleinsten Anzahl sichtbar werden, die noch an Schriften dieser Art einiges Interesse gefunden haben. Auch die Scharfsichtigsten unter ihnen mußten nicht selten durch Genieschwünge und schimmernde Diktion, am öftesten aber durch die rhapsodische Form der Einkleidung geblendet werden, die eine notwendige Folge unbestimmter Begriffe und unzusammenhängender Grundsätze ist, Schriftstellern aber, denen sie Bequemlichkeit, und Lesern, denen sie Unterhaltung gewährt, die gesegnete Frucht des echten philosophischen Geistes und des gebildeten Geschmacks heißt.

In den Lehrbüchern nahm die Philosophie in eben dem Verhältnis die Form der Geschichte an, als sie sich von der Form der strengen Wissenschaft entfernte. In der Logik wurde überhaupt Vorstellungen haben mit denken verwechselt, größtenteils nur empirische Psychologie abgehandelt, und der eigentlichen Gesetze des Denkens gemeinhin nur im Vorbeigehen, nicht selten mit Mißbilligung unter der Rubrik "verjährter Spitzfindigkeiten", erwähnt. Der Raum, welcher der Metaphysik bestimmt blieb, wurde gewöhnlich durch die Aufzählung der berühmtesten metaphysischen Lehrmeinungen, und die Beurteilung derselben nach den sogenannten Aussprüchen des gesunden Verstandes ausgefüllt. Man fuhr freilich noch immer fort die Grundwahrheiten der Religion und der Moral zu demonstrieren, aber mit Beweisen, denen kaum mehr der lächerlichste Kathederstolz selbst Allgemeingültigkeit zutraute. Der eine Verfasser stellt ein ganzes Heer von Argumenten auf, deren jedes er schon darum für unüberwindbar hält, weil die Wahrheit, von der die Rede ist, nicht bezweifelt werden darf. Ein anderer, überzeugt, daß nur ein einziger Beweis gelten kann, widerlegt alle übrigen, und glaubt dadurch den Seinigen genug erhärtet zu haben, der aber leider von einem mißgünstigen Kollegen als erschlichen und widersprechend empfunden wird. Ein dritter endlich hilft sich aus der Verlegenheit, in welche ihn die Kollision seines Skeptizismus mit seiner Amtspflicht versetzt, dadurch, daß er alle bisher bekannt gewordenen Beweise historisch vorlegt ohne sich ausschließend für einen derselben oder zusammengenommen für alle zu erklären. Was Wunder, daß die breite Heerstraße der neuen Schulphilosophie, auf welcher sich die Anführer selbst unaufhörlich einander in den Weg treten, von Selbstdenkern, die durch keinen näheren Beruf auf dieselbe verschlagen werden, immer mehr und mehr verlassen wird! Einige dieser letzteren haben neuerlich mit SPINOZA den entgegengesetzten, aber viel konsequenteren Dogmatismus, andere mit PASCAL den Supernaturalismus, andere endlich mit HUME den dogmatischen Skeptizismus vorgezogen: während der große Haufen von Halbdenkern, der gleichwohl nicht blödsinnig genug ist, um das immer zunehmende Schwanken der erschütterten Metaphysik nicht wahrzunehmen, zu allem, was sich nicht mit Händen greifen läßt, zu zweifeln anfängt, und auf seine unphilosophische Gleichgültigkeit, die alles, was nicht ohne Schwierigkeit zu erklären ist, dahingestellt sein läßt, unter dem mißbrauchten Namen des kantischen Skeptizismus stolz tut.

Indessen, daß sich der Mangel allgemeingültiger Prinzipien durch die angeführten Erscheinungen in der philosophischen Welt ebenso laut angekündigt hat, als das Bedürfnis derselben bei der übrigens so hoch gestiegenen Kultur immer dringender wurde, erschien das berühmte Werk des königsbergischen Philosophen, welches nichts geringeres zum Zweck hat, als jenem Mangel auf immer abzuhelfen, und welches, wie einige dafürhalten, diesen Zweck unmöglich verfehlen kann. Noch nie ist wohl ein Buch, ein einziges ausgenommen, so angestaunt, bewundert, gehaßt, getadelt, verketzert, und - mißverstanden worden. Einige Jahre hindurch schien man kaum das Dasein desselben bemerkt zu haben, und wenn es gegenwärtig die allgemeine Aufmerksamkeit des philosophischen Publikums beschäftigt, so ist ihm diese Ehre nur sehr allmählich und nicht so viel durch sich selbst als durch außerordentlich anpreisende und verschreiende Berichte zuteil geworden. Bisher haben sich noch sehr wenige Schriftsteller von Bedeutung für das kantische System erklärt, das sich von allen bisherigen auch dadurch auszeichnet, daß es entweder durchgängig angenommen oder verworfen werden muß. Aber diese wenigen haben in demselben die vollendete, völlig befriedigende Theorie des menschlichen Erkenntnisvermögens, die einzig mögliche Quelle allgemeingültiger Grundsätze, und das in der Natur des menschlichen Geistes gegründete System aller Systeme gefunden. Nichts war natürlicher, als daß diese und ähnliche Urteile, die von den Freunden der Kritik der Vernunft denjenigen, die das Werk selbst nicht gelesen oder nicht verstanden hatten, auch nicht bewiesen werden konnten, vom größten Teil als stolze Anmaßungen und lächerliche Übertreibungen aufgenommen wurden. Es fehlte nicht an einigen unbärtigen und bärtigen Schriftstellerchen, die teils um etwas Neues zu Markte zu bringen, teils um ihren Tiefsinn bewundern zu lassen, sich zu Aposteln des alleszermalmenden Kants aufwarfen, und durch die Art wie sie sich dabei benahmen, den Unwillen und den Spott wirklich verdienten, gegen den die denkenden Verehrer des kantischen Verdienstes, durch alles was sie zur Bestätigung ihrer Urteile vorbringen konnten, kaum gesichert waren. Eine beträchtliche Anzahl philosophischer Köpfe, auf welche Deutschland mit Recht stolz ist, und unter diesen die Meisten der berühmteren akademischen Lehrer, haben sich entweder gegen das ganze neue System, oder welches in der Tat eben dasselbe ist, gegen wesentliche Teile desselben erklärt, und die Natur der Sache brachte es mit sich, daß diese Männer die Kritik der Vernunft durch ihre Einwürfe und Bedenklichkeiten umso tiefer herabsetzen mußten, je erhabener der Rang gewesen wäre, den sie ihr eingestanden haben würden, wenn sie ihre Prüfung ausgehalten hätte. Eine nicht unbeträchtliche Anzahl aus dem Schriftstellertross ergriff auch bald bei der Behandlung des neuen Modeartikels lieber die Partei gegen KANT: denn hier hatten sie ungleich berühmtere Namen auf ihrer Seite, und die gewisse Aussicht, nicht etwa zu den Nachbetern, sondern zu den Widerlegern und Belehrern des Mannes zu gehören, dem selbst seine angesehensten Gegner ihre Bewunderung nicht versagen konnten. Sie wiederholten daher die Angriffe ihrer hohen Alliierten, oder ahmten dieselben vielmehr mit den von jenen abgeborgten Waffen nach, die das, was sie in solchen Händen an voriger Schärfe verloren hatten, am schweren Nachdruck gewannen, der dem bleiernen Witz eigentümlich ist.

Die allgemeinste unter den vielen Klagen, die bisher über die Kritik der Vernunft vorgebracht worden sind, legt ihr Unverständlichkeit zur Last. Diese Klage wird auch sogar von denjenigen geführt, welche das kantische System widerlegt zu haben glauben, und die sich eben darum billig zutrauen sollten, daß sie es verstanden hätten. Gleichwohl ist noch keiner unter den zahlreichen Gegnern desselben aufgestanden, der behauptet hätte, er habe den Sinn davon durchgängig gefaßt; keiner, der nicht wenigstens sich selbst gestehen müßte, er habe an vielen Stellen unüberwindliche Dunkelheit gefunden. Die meisten halten diese Dunkelheit für eine natürliche Folge der offenbaren Widersprüche, die sie an den ihnen verständlichen Stellen gefunden zu haben meinen; während die Anhänger des neuen Systems die Quelle dieser Widersprüche in jener Dunkelheit entdeckt zu haben behaupten, die ihnen wenigstens nicht unüberwindlich gewesen sein soll, so schwer sie auch ihrem Geständnis nach zu überwinden war. Ihre Antworten auf alle bisherigen Einwürfe, so wie die Erklärungen die Herr KANT selbst über einige derselben bekannt gemacht hat, haben keinen anderen Inhalt, als daß sie die Gegner über den mißverstandenen Sinn der Kr. d. V. zurechtweisen; wodurch sie aber auch gewiß den Vorwurf vielmehr eingestehen als ablehnen, daß eine Schrift die von so vielen scharfsinnigen Köpfen und sonst so ganz kompetenten Richtern mißverstanden wird, äußerst dunkel sein muß.

Diese Hauptanklage gegen ein Werk, das wenigstens im Hinblick auf das was von ihm verheißen wird, von so allgemein anerkannter Wichtigkeit ist, verdient umso mehr eine nähere Beleuchtung, je mehr es sich in der Folge zeigen wird, daß sie mit dem von mit geschilderten Zustand der herrschenden, sogenannten ekektischen, Philosophie innigst zusammenhängt, daß von ihren eigentlichen Gründen das ganze bisherige Schicksal der neuen kantischen bestimmt worden ist, und daß sich aus diesen Gründen alle übrige gegen KANT lautgewordenen Anklagen über Wiederherstellung scholastischer Spitzfindigkeiten, unnütze Spracherneuerungen, Einführungen eines trostlosen Skeptizismus, Aufstellung eines neuen Idealismus, Umsturz der Grundwahrheiten der Religion und der Moral vollkommen befriedigend erklären lassen.

Gesetzt, die Kr. d. r. V. hätte das große Problem der Entdeckung allgemeingültiger Prinzipien wirklich abgelöst; sie enthielte bereits das durch die Natur unseres Erkenntnisvermögens bestimmte, und in seinen Gründen bis an die Grenzen alles Begreiflichen zurückgeführte, einzig mögliche System aller spekulativen Philosophie? -
    "O! so müßte ja dieses System selbst von allen Schwierigkeiten frei sein, alle Irrwege der Spekulation vermeiden, nicht neue Unbegreiflichkeiten an die Stelle der alten setzen; es müßte höchst faßlich sein, und durch eine über alle Sophismen spitzfindiger Grübelei siegende Analytik alle Einwürfe zu Boden schlagen, und allen unfreiwilligen Täuschungen des wahrheitsuchenden Forschers abhelfen. - Wie können anderen, die wir dasselbe kennen oder nicht kennen, uns so große Dinge von einem dogmatischen System versprechen, dessen Beweise äußerst abstrus und den wenigstens Menschen faßlich sind, und dessen Resultate sich von den Prinzipien der bekannten Metaphysik, und den simplen Lehren der schlichten Menschenvernunft gleich weit fern bleiben!" (2)
Es würde zu nichts nützen, wenn ich diesem beweislosen Tadel, die ebenso beweislosen Lobsprüche derjenigen, die in der Kr. d. V., alle die angeführten Forderungen wirklich erfüllt oder gar übertroffen glauben, entgegenstellen wollte. Ich bedarf aber auch, um meine Betrachtungen aller jener Einwendungen ungeachtet fortsetzen zu können, keines günstigen Vorurteils für die Partei zu der ich mich bekenne. Es ist genug, wenn mir meine Leser, wie ich wohl sicher annehmen darf, einräumen: Es finde keine absolute Unmöglichkeit statt, daß die Kritik der Vernunft eben sowohl von ihren Gegnern, als von ihren Verteidigern mißverstanden wird; ungeachtet bisher die ersteren sowohl an Zahl als an Zelebrität [Feierlichkeit - wp] den letzteren überlegen waren. Es war nicht nur der größere, sondern auch sogar der bessere Teil von NEWTONs gelehrten Zeitgenossen, der (zumal in den ersten Jahrzehnten nach der Bekanntmachung der neuen Entdeckungen desselben) in der nunmehr allgemeingeltenden Theorie des großen Mannes eine Entfernung von allen bis dahin bekannten Prinzipien der Physik wie auch den simplen Lehren des schlichten Menschenverstandes, Widersprüche, Unbegreiflichkeiten, und vor allen Dingen unüberwindliche Dunkelheit in den Beweisen gefunden hat. Fast ein halbes Jahrhundert hindurch würde man in Frankreich über den Newtonianer gelächelt, und mit so viel Bitterkeit, aber nur mit etwas mehr Feinheit als unsere gegenwärtigen Popularphilosophen über die kritischen gespottet haben, der seinen Zeitgenossen vorhergesagt hätte, daß die Attraktionstheorie von ihren Nachkommen ebenso allgemein angenommen und bewundert wird, als sie ein Menschenalter vorher verworfen und herabgesetzt wurde? Was würde man vollends in Rom über die Behauptung geurteilt haben: NEWTON habe Mittel gefunden, die von der täglichen Erfahrung widerlegte, der heiligen Schrift widersprechende, vom apostolischen Stuhl verdammte Lehre von der Bewegung der Erde zu einer so unwidersprechlichen Gewißheit zu erheben, daß sie einige Jahrzehnte nachher auf allen philosophischen Kathedern dieses Hauptsitzes der Rechtgläubigkeit mit Vorwissen und guter Bewilligung des obersten Glaubensregenten selbst gelehrt, und verteidigt werden würde? -
    "Newtons System hat diesen Triumph seiner mathematischen Evidenz zu verdanken, auf welche doch wohl das kantische keinen Anspruch zu erheben hat."
Gleichwohl hat selbst durch diese mathematische Evidenz die beinahe allgemeine Empörung der gleichzeitigen Philosophen gegen NEWTON, welche mit der gegenwärtigen gegen KANT eine so auffallend Ähnlichkeit hat, nicht verhindert werden können. Denn auch diese Evidenz hing von Beweisen ab, die selbst für den größten Teil der damaligen Mathematiker unverständlich waren; oder zumindest von ihnen dazu erklärt wurden. Wie? wenn nun die kantischen Beweise für die Wenigen, welche sie bisher verstanden haben, eine logische Evidenz hätten, die in Rücksicht auf ihre überzeugende Kraft der mathematischen, die anfangs auch nur von einigen wenigen an denen NEWTONs wahrgenommen wurde, wirklich zur Seite stünde? - Welcher Philosoph ist nicht gegenwärtig von jeder falschen Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren, und der sechzehn Schlußformeln überzeugt? Allein wer erinnert sich nicht der Zeit, wo man die Wichtigkeit und Unentbehrlichkeit dieser logischen Spielwerke mit eben der logischen Evidenz einzusehen wähnte, mit der man gegenwärtig das Gegenteil wirklich einsieht? Den vielen und berühmten Verteidigern jener vier syllogistischen Figuren mußte die gegenwärtige Übereinstimmung über die Nichtigkeit derselben ebenso unmöglich vorkommen, als den heutigen Verteidigern der vier metaphysischen Systeme (des Spiritualismus, Materialismus, dogmatischen Skeptizismus und Supernaturalismus) der unvermeidliche Umsturz dieser einander entgegengesetzten Systeme, und der dadurch erhaltene Frieden auf dem Gebiet der spekulativen Philosophie, unbegreiflich und ungereimt scheinen muß.

Gesetzt nun, das in der Kritik der Vernunft vorhandene System der Prinzipien der eigentlichen Philosophie, wäre wirklich allgemeingültig, es wäre so ganz in der Natur des menschlichen Geistes gegründet, daß es von jedem, der dasselbe durchgängig verstanden hätte, als wahr befunden werden müßte; (eine Voraussetzung, von der ich hier nichts weiter behaupte, als daß sie keine absolute Unmöglichkeit hat) so behaupte ich:
    "daß erstens in der Natur eines solchen Systems zusammengenommen, mit dem gegenwärtigen Zustand der Philosophie, zweitens in der Art wie dieses System im kantischen Werk vorgetragen ist, und vorgetragen werden mußte",
Gründe vorhanden sind, aus welchen sich vollkommen begreifen läßt, warum die Kritik der Vernunft nicht nur vom größten, sondern auch vom besseren Teil gleichzeitiger Philosophen mißverstanden werden mußte; Gründe, aus welchen sich, wie ich offen bekennen darf, das bisherige Schicksal der kantischen Philosophie auf eine Art erklären läßt, die ebensowenig etwas der Ehre ihres Stifters vergibt, als dem Ruhm ihrer verdienstvollen Gegner zu nahe tritt.

Sollten die neuen Prinzipien wahrhaft allgemeingültig, und ihrer Natur nach dazu gemacht sein allgemeingeltend zu werden, so müßten sie jeder bisherigen philosophischen Sekte volle Gerechtigkeit widerfahren lassen, mit der größten Bestimmtheit das Wahre, das in den respektiven Grundsätzen jeglichen Systems enthalten ist, in sich fassen, das Falsche ausschließen, und dadurch ein System aufstellen, welches jedem Selbstdenker das, was er aus seinem Gesichtspunkt richtig gesehen hat, wieder finden läßt. Indem nun zu diesem Zweck bei der Entwicklung der neuen Prinzipien manche der paradoxesten Behauptungen hervorgesucht und in Schutz genommen, manche der ausgemachtesten hingegen bezweifelt, und widerlegt werden müßten, so ist nichts natürlicher, als daß es der erste Versuch dieser Art, und wäre er auch noch so meisterhaft ausgefallen, sowohl mit denen, welche dem gegenwärtigen Zustand der Philosophie seine Form gegeben haben, als auch mit den übrigen, welche von demselben die Form ihres Philosophierens erhalten haben, verderben müßte, oder welches eben so viel heißt, daß er sowohl von den unter sich einigen Popularphilosophen, wie auch von den untereinander streitenden Metaphysikern mißverstanden und - widerlegt werden müßte.

Um zu seinem erhabenen Ziel zu gelangen, müßte der neue Versuch einen Weg einschlagen, der demjenigen gerade entgegengesetzt ist, auf welchem der große Haufen der Popularphilosophen bequem und unbesorgt fortzuschleudern gewohnt ist. Anstatt des leichten und unterhaltenden Herabsteigens vom Allgemeinen zum Besonderen, vom Abstrakten zum Konkreten, von ununtersuchten für ausgemacht genommenen Grundsätzen zu Tatsachen, müßte er nicht nur das mühsamere und langweiligere Hinaufsteigen wählen, sondern, sollte anders etwas auf immer Entscheidendes bewirkt werden, dasselbe bis zu einer Höhe fortsetzen, die noch von keinem der tiefsinnigsten Forscher erreicht wurde. Um seine aufzufindenden Prinzipien mit dem Wahren an allen bisherigen Systemen zu vereinigen, müßte er von Behauptungen, welche von keiner Sekte bezweifelt werden können, ausgehen; das heißt: das Allgemeinste, das die bisherige Philosophie aufzuweisen hat, müßte ihm das Besondere werden, von dem er sich zum Allgemeinen bis an die Grenze alles Begreiflichen erheben müßte, von der er alsdann zu erweisen hätte, daß sie wirklich die Grenze alles Begreiflichen ist. Wie sollte ihm der Popularphilosoph ohne Schwindel folgen können? -

Was sollte aber auch den Popularphilosophen bewegen können, die ungeheuren Schwierigkeiten zu überwinden, die eine Untersuchung dieser Art für ihn haben muß? Ihm kann es nicht einmal im Traum einfallen, daß es der Philosophie an unentbehrlichen Prinzipien mangeln sollte. Die Seinige ist auf Formeln gebaut, die durch die für sich stehenden praktischen Grundwahrheiten, zu deren Beweis sie auf allen Akademien gebraucht werden, geheiligt und bewährt, aus der Schule ins gemeine Leben übergegangen sind, und nun als Aussprüche des allgemeinen Menschensinns gestempelt aus dem gemeinen Leben wieder in die Schule aufgenommen werden; Formeln, die man nicht bezweifeln darf, ohne nicht dadurch seinen Anspruch an den sensus communis [Gemeinsinn - wp], und mit demselben sein Recht, den Namen eines Philosophen einzubüßen. Wie abgeschmackt muß ihm nun jeder Versuch vorkommen, den Sinn jener Formeln zu prüfen, die er für unerklärbar hält, weil sie seiner Meinung nach, jeder Erklärung für unerweislich, weil sie jedem Beweis zum Grund liegen müssen? Trifft er endlich gar auf Resultate, die sich mit diesen für ihn ewigen Wahrheiten, oder vielmehr mit dem Sinn, in welchem er die Formeln derselben genommen hat, nicht vereinigen lassen, o! so muß ihm schon dieser Umstand allein für die gründliche Widerlegung des neuen Versuches gelten. Er muß es für die leichteste Sache von der Welt halten, solche ausgemachte und nur durch seine Sophisterei unterstützte Ungereimtheiten vor den Augen des Publikums in ihrer ganzen Blöße darzustellen. Er hält dies für seine heiligste Pflicht, da er überzeugt ist, daß mit jenen Formeln zugleich die Fundamente der Religion und Moralität erschüttert, und durch die ungeheure Anmaßung Verstand und Vernunft selbst zu kritisieren, eine bisher unerhörte Zweifelsucht eingeführt werden muß. In dieser Meinung wird er gerade durch den Umstand bestärkt, der das vornehmste Kriterium für die Richtigkeit des neuen Versuches ist, "daß dieser nämlich das Wahre, das jedem System eigen ist, aufnimmt", und in dieser Hinsicht die eigentümlichen Entdeckungen, die der dogmatische Skeptizismus, der Materialismus und der Supernaturalismus aus ihren einseitigen Gesichtspunkten gemacht haben, wieder aufstellt und bestätigt. In den Augen des Popularphilosophen ist dieses das gewisseste Merkmal der Verwerflichkeit der neuen Prinzipien. Er ist gewohnt jene drei Systeme für längst widerlegte Irrtümer, für unglückliche Folgen der leidigen Abweichung vom gesunden Menschensinn, und der Verirrung in das bodenlose Land der Schimären zu halten. Die neue Philosophie wird ihm nun für die ganze Summe der Ketzereien und des Unheils verantwortlich, wodurch ihm jedes jener einzelnen Systeme verabscheuungswürdig geworden ist.

Noch schlimmer, wo möglich, müßte die Aufnahme ausfallen, welche unseren allgemeinen Prinzipien von den Metaphysikern, oder weil doch die meisten unter ihnen gegen diesen Namen protestieren dürften, von den selbstdenkenden Philosophen, die sich mit der Auflösung spekulativer Probleme beschäftigen, bevorstünde. Die bisherige Ontologie, welche den Materialisten wie den Spiritualisten, den Spinozisten wie den Theisten, den Fatalisten wie den Deterministen bisher mit ihren Grundsätzen versehen hat, und eben darum auf den Schutz von allen zusammengenommen sicher zählen kann, müßte durch den neuen Versuch vom Rang der Wissenschaft der ersten Erkenntnisgründe entsetzt und in ihren ausgemachtesten Grundsätzen als die Quelle eines gemeinschaftlichen Mißverständnisses der Vernunft angegeben, und überführt werden. Wie sollte dieses durch ein einziges Buch einem Mann begreiflich gemacht werden, der von den Prinzipien seiner bisherigen Vorstellungsart umso lebendiger überzeugt ist, je mehr ihm die letztere Zeit und Mühe gekostet, und je mehr er sie durch die Gründlichkeit und den Reichtum seines Talents zu unterstützen und auszuschmücken gewußt hat. Seine Grundsätze haben ihm ihre Festigkeit schon dadurch genugsam bewährt, daß sie sein Lehrgebäude durch so lange Zeit getragen haben. Ihre Unumstößlichkeit kann ihm umso weniger verdächtig gemacht werden, je weniger sie ihm entweder bei dem Überblick des vollendeten Gebäudes selbst als die Grundfeste desselben sichtbar sind, oder auch je mehr er sich bewußt ist, daß sie bei der Grundlegung selbst durch feinen Scharfsinn und Fleiß eigentümliche Bestimmungen erhalten haben, wodurch sie gegen die gewöhnlichen Einwürfe, welche sonst die Grundsätze seiner Partei treffen, gesichert wären.

Je mehr der geübte Denker für die Metaphysik, und je mehr sie für ihn getan hat, desto unmöglicher wird es ihm werden, dieselben neben dem neuen Versuch vor dem Richterstuhl seiner Vernunft als bloße Partei auftreten zu lassen. Er hat diesen Richterstuhl seiner Metaphysik eingeräumt, das heißt: einem Richter, vor welchem notwendigerweise jede Partei, die seine richterliche Befugnis in Anspruch nimmt, vor aller Untersuchung verloren haben muß. Hierdurch wird unserem Philosophen alle unparteiische Prüfung der neuen Lehre unmöglich, und es ist im Grunde nicht viel mehr als eine leere Formalität, wenn er ihre Rechtfertigung über eine Behauptung, die seinen Grundsätzen widerspricht, vernimmt, und gegen alle Parteilichkeit protestiert. Denn er versteht diese Rechtfertigung nicht, und er lernt sie umso weniger verstehen, je mehr er überzeugt ist, daß dasjenige, was irgendeinem Menschen verständlich ist, auch Ihm verständlich sein muß. Die Gründe seines Gegners müssen ihm ungereimt vorkommen, weil sie auf das, was er für ausgemacht hält, auf seine Prinzipien, die er alle Augenblick auch dort, wo er von ihnen abstrahieren sollte und wollte, unvermerkt unterschiebt, zurückgeführt, wirklich einen ganz anderen Sinn erhalten müssen, als sie in der Tat haben, und weil er diesen Sinn nur dann rein und unverfälscht auffassen könnte, wenn er sein Urteil über einzelne Teile solange aufzuschieben vermöchte, bis er das Ganze, in welchem allein jeder Teil seine eigentliche Bedeutung und Bestimmung erhält, übersehen hätte. Diese Übersicht wird aber in demselben Augenblick unmöglich, wo das Vorurteil auch nur in einen einzigen der Hauptplätze einen fremden Sinn hineingetragen hat. Wer z. B. der Behauptung: "die Grundwahrheiten der Religion und der Moral lassen sich nicht demonstrieren" den Sinn unterlegt: Es gäbe keine allgemeingültigen Gründe für sie; den Satz: "Raum und Zeit rein vorgestellt sind bloße Formen der Anschauung" für gleichlautend hält mit: Raum und Zeit sind nichts als bloße Vorstellungen; "die Dinge außerhalb von uns können nur als Erscheinungen erkannt werden" mit: Die Dinge ansich sind nichts als Erscheinungen, und dgl. mehr, der kann freilich ein System, das aus solchen Hauptsätzen besteht, nicht anders als höchst abgeschmackt, abenteuerlich, und wenn man will, auch sogar gefährlich finden.

Wenn der Beurteiler einem wahrhaft zusammenhängenden System auch nur einen einzigen ungereimten Bestandteil auf diese Weise aufgebürdet hat, so mag er bei der darauf folgenden Prüfung noch so unparteiisch, arglos, sorgfältig zu Werke gehen, das Verstehen des Ganzen wird ihm gleichwohl schlechterdings unmöglich bleiben.

Man vergesse nicht, daß sich die neuen allgemeingültigen Prinzipien mit keiner Metaphysik, sie mag in ihrer eigentümlichen Gestalt vorgetragen, oder durch eine poetische Imagination in schöne Bilder eingehüllt werden, vertragen kann, daß aber auch durch sie jedes metaphysische System auf eine bisher unerhörte Art gewürdigt, und gegen die Angriffe von jeder metaphysischen Sekte geschützt werden muß. Der neue Versuch wird also jeden offenbaren und maskierten Metaphysiker überzeugen müssen, daß seine seine Philosophie nur halbwahr, die Philosophie seiner Gegner aber nur halbfalsch, und folglich - um nichts besser als die Seinige wäre. Sei auch hier seine Vernunft über allen Einfluß empörter Selbstliebe erhaben; wird er auch mit dem besten Willen seiner langgewohnten mühsam erworbenen Vorstellungsart auf einmal entsagen können? Solange aber diese auf sein Studium des neuen Versuches einwirkt, solange wird er dasjenige, was in demselben gegen das versteckte Falsche seiner Grundsätze vorgebracht wird, für eine Verteidigung des offenbaren Falschen an den Grundsätzen seiner Gegner, und was zur Rechtfertigung des versteckten Wahren an den Grundsätzen seiner Gegner gesagt wird, für eine Bestreitung des Unstreitigen an den Seinigen halten müssen. Ist er daher ein Dogmatiker, so wird er die neue Philosophie für den Versuch eines Skeptikers halten, der die Gewißheit allen Wissens untergraben soll; ist er ein Skeptiker - für die stolze Anmaßung auf den Trümmern der bisher einander entgegengesetzten dogmatischen Systeme einen neuen und alleinherrschenden Dogmatismus einzuführen; ist er ein Supernaturalist - für einen feinangelegten Kunstgriff die Unentbehrlichkeit historischer Urkunden der Religion zu verdrängen, und den Naturalismus ohne Polemik zu begründen; ist er ein Naturalist - für eine neue Stütze der sinkenden Glaubensphilosophie; ist er ein Materialist - für eine idealistische Widerlegung der Realität der Materie; ist er endlich ein Spiritualist - für eine unverantwortliche Beschränkung alles Wirklichen auf die unter dem Namen des Gebietes der Erfahrung versteckte Körperwelt (3). Und nun lasse man diese Beurteiler ihre Berichte an das philosophische Publikum abstatten, so wird ein beträchtlicher Teil desselben in seinen Meinungen über das neue sonderbare Werk in ebenso viele Parteien zerfallen, als dasselbe berühmte Gegner gefunden hat, in Parteien, die teils durch das Urteil ihrer Anführer abgehalten das Werk selbst zu lesen, teils durch dasselbe bestimmt werden, darin zu finden, was jene gefunden haben. Ein kleinerer Teil, dem das Widersprechende in den verschiedenen Aussprüchen gleich kompetenter Richter auffällt, hütet sich seine Zeit und seinen Verstand an ein Buch zu wagen, aus welchem selbst die Philosophen von Profession nicht klug werden können. Aber nur der allerkleinste Teil ist scharfsichtig und gerecht genug, um die Widersprüche in den beschuldigenden Aussagen der Zeugen als eine günstige Vorbedeutung für die Unschuld der angeklagten neuen Philosophie anzusehen.
LITERATUR - Karl Leonhard Reinhold, Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, zweite Auflage, Prag und Jena 1795 (Vorrede)
    Anmerkungen
    1) Man vergleiche zum Beispiel was in der neuesten Zeit Mendelssohn, Jacobi, Rehberg und Herder über den Spinozismus geschrieben haben.
    2) Was ich hier aus dem "Versuch über Gott, die Welt und die menschliche Seele", von Heinrich Corrodi, Berlin 1788 entlehnt habe, dürfte wohl von den meisten, wo nicht gar von allen Gegnern des kantischen Systems unterschrieben werden.
    3) Lauter wirkliche über die Kritik der Vernunft von ihren berühmten Gegnern in öffentlichen Druckschriften gefällte Urteile.