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DIMITRI MICHALTSCHEW
Philosophische Studien
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"Ein absolut Wertvolles, das für alle gilt, gibt es nicht. Was heißt das? Zuerst natürlich: es gibt nichts, was von allen wirklichen Menschen oder meinetwegen von jedem Bewußtsein notwendig als wertvoll anerkannt wird. Nur dies kann der nächstliegende Sinn der Allgemeingültigkeit des Wertvollen sein."


II.
Der teleologische Kritizismus

5. So heißt die philosophische Strömung, die meiner Ansicht nach die folgenrichtigste Durchführung jener Tendenz bildet, die wir soeben in Umrissen gezeichnet haben: die Begründung der Objektivität eines schlechthin Gültigen, und was für unseren Zweck noch mehr heißt, der Objektivität eines  Wertvollen.  Die hinfällige Analogie, im Gegensatz zu der unsere Untersuchung ihren Anlauf nahm, gelangt hier zum Paroxismus [fieberhafte Aufregung - wp], das Erkennen verwandelt sich in ein Anerkennen, das Urteilen stellt sich als ein Beurteilen heraus, das Müssen hört schließlich auf, ein Gegensatz zum Sollen zu sein, anstelle des willkürlichen Parallelismus zwischen Erkennen und Werten steht jetzt etwas Einheitliches,  das Erkennen als Werten.  "Form" und "Inhalt" auseinanderreißend, kommt die Philosophie der teleologischen Kritizisten dazu, das Sein, sogar das Gegebensein dem Sollen zu unterstellen, verwandelt damit das Wirkliche in eine Art des Wahren (also des Gültigen) und mit diesem sonderbaren dialektischen Kunstgriff gibt sie eine ethisch gefärbte Erkenntnistheorie. Im Zusammenhang damit steht auch jene konsequente und daher vielleicht so paradoxe  teleologische  Wendung, die der KANT-FICHTEsche Kritizismus bei dieser so anmaßenden zeitgenössischen Richtung nimmt. Deshalb wäre selbstverständlich für den teleologische Kritizismus die Zertrümmerung der Voraussetzungen des  Kritizismus überhaupt  gleichbedeutend mit einer Vernichtung der Grundlagen und des Gefüges der normativen Ethik, die nichts anderes ist als Einzelfall einer allgemeinen Problemstellung, die sich am klarsten in der Erkenntnistheorie kundgibt. (1) Wie wir soeben angedeutet haben, stellt sich hier das Wirkliche als eine besondere Art des Wahren und so der Begriff der Wirklichkeit schließlich als ein Wertbegriff dar. Deswegen wäre eine Diskussion über die Auffassung der Allgemeingültigkeit und Objektivität des Wirklichen (des Wahren) zugleich eine solche über das Wertvolle. Ferner: der teleologische Kritizismus hat bis jetzt eine geschlossene und gewissermaßen systematische Begründung bloß des Wirklichen als einer Art des Wertvollen gegeben; daher müssen wir auch bei einer Kritik dieser Art von Kritizismus natürlich unsere Aufmerksamkeit auf die Ansätze und den Ausbau des Geschlossenen fixieren. Von diesen Gründen ausgehend, werde ich versuchen, die Grundsätze der teleologischen Theorie des Wahren zu prüfen, nocht einmal unterstreichend, daß diese hier gleichbedeutend ist mit einer Prüfung der Lehre von der Allgemeingültigkeit (Objektivität) des  Wertvollen.  Und unsere These lautet eben: es ist unmöglich, sinnvoll und widerspruchslos eine  Allgemein gültigkeit des Wertvollen (eines Wertes überhaupt, meinetwegen des Sittlich-Wertvollen, der Moral) zu begründen. Wenn es aber nach uns keinen Sinn hat, von einem allgemeingültigen Wert zu reden, wenn es unmöglich ist, so etwas weder als Gegebenes (wie ich das in meiner "Grundlegung der Ethik" gegen SCHUPPE nachzuweisen suche), noch als eine "Aufgabe" für uns, wie das bei den teleologischen Kritizisten der Fall ist, also weder als etwas was  ist,  noch als solches, was für alle schlechthin  gilt,  zu begründen, dann müßte auch die Begründung der Objektivität der Wahrheit als eines allgemeingültigen Wertes unmöglich sein. Sollte jedoch das letzte möglich und  tatsächlich  widerspruchslos und sinnvoll durchgeführt sein, dann  fällt  meine These. Was aber, wenn sie beansprucht, richtig zu sein? Dann muß die Theorie, mit der der teleologische Kritizismus die Allgemeingültigkeit der Erkenntnis begründen zu können glaubt, falsch sein. Entweder - oder!

6. Wir wollen uns vor allem in großen Zügen Rechenschaft geben über die Stellung des in Frage stehenden Kritizismus in der Geschichte der "logischen" Entwicklung des erkenntnistheoretischen Problems. Das Grundproblem der Erkenntnistheorie, meinen die Vertreter dieser Lehre, ist selbstredend die Erkenntnis: das erkennende Subjekt sucht über die Voraussetzungen, über die Gründe und den Sinn seines eigenen Tuns klar zu werden. Was ist der Gegenstand der Erkenntnis, d. h. wodurch erhält das Erkennen seine Objektivität? So lautet, präziser ausgedrückt, die Hauptfrage der Erkenntnistheorie. Das ist aber sicher noch nicht genügend, um uns die Aufgabe der kritischen Erkenntnislehre klar zu machen. Es ist geradezu zweifellos, sagt sie, daß die Bedeutung des Erkennens auf der Überzeugung beruth: "daß wir eine auch vom erkennenden Subjekt unabhängige und insofern transzendente "Ordnung" zu entdecken vermögen, denn wenn das Erkennen einen Sinn haben soll, so müssen wir etwas auch  vom theoretischen Subjekt Unabhängiges  dabei erfassen". - Das ist ein Gedanke, in dem, unabhängig von der ungemein schlechten und mißverständlichen Art, wie er hier zum Ausdruck gebracht ist, etwas Wahres steckt, was schließlich jeder anerkennen wird. Ihn wird man fast bei allen gegenwärtigen Erkenntnistheoretikern finden. Indem ich etwas für wahr halte, will ich damit ausdrücken, daß es in Wirklichkeit so ist: es ist wahrhaftig so, und es ist wirklich so - in allen Sprachen sind das gleichbedeutende Ausdrücke. Nur im Klarmachen und Begründen dieser Tatsache trennen sich die Erkenntnistheoretiker, und was noch mehr heißt, gerade um die Erklärung dieses Faktums drehen sich alle Unterschiede in der modernen und in jeder Erkenntnistheorie überhaupt.

Die älteren Denker nahmen an, daß außer uns eine von uns unabhängige (materielle) Welt existiert, die sich irgendwie in uns widerspiegelt, und ihr Abbild ist unsere Erkenntnis von der Welt. Wahr sind jene unsere Kenntnisse, die irgendwie der Wirklichkeit, der ansich existierenden Welt "entsprechen". So ist also der "Gegenstand der Erkenntnis" ein von den erkennenden Subjekten unabhängige Wirklichkeit, die "außerhalb" des Bewußtseienden liegt. Sie ist es, die unserer Erkenntnis Objektivität verleiht. Später aber, besonders nach DESCARTES, begannen die Philosophen an der Existenz einer solchen Wirklichkeit zu zweifeln. Was uns gegeben ist, von dem wir wissen und  wissen können,  sind unsere Vorstellungen, wenn ich einen modernen Terminus gebrauchen wollte, würde ich sagen: "bloß das Immanente". Dasjenige aber, dem diese Vorstellungen entsprechen, ist uns nicht "unmittelbar" gegeben, richtiger und konsequenter: es kann uns überhaupt nicht gegeben sein, deshalb haben wir nicht das Recht von der Wahrheit als einer  Übereinstimmung  zwischen unseren Vorstellungen und der Wirklichkeit, die sie abbilden sollen, zu sprechen. Um zwei Sachen vergleichen zu können, müssen uns alle beide  gegeben  sein. Die Wirklichkeit jedoch ist uns nicht (die vorsichtigen aber wenig folgerichtigen Denker fügten hinzu: unmittelbar) gegeben. Wir können höchstens an sie "glauben", uns in unseren erkenntnistheoretischen Operationen genötig sehen, sie "anzunehmen" - obschon dieses "Annehmen" "Glauben" usw. die  Gegebenheit  des Angenommenen voraussetzt -, jedenfalls liegt der Beweis für eine von uns unabhängig bestehende "Wirklichkeit" jenseits jeder Möglichkeit. Nicht glücklicher stand die Sache mit denen, die versuchten, das "Abbilden" durch das "Wirken" zu ersetzen. Sie suchten nämlich unsere Vorstellungen und Kenntnisse als "notwendige Wirkungen" der angeblichen Wirklichkeit aufzufassen. Doch das Taufen des Abbildens mit den Namen "Wirkung", "Zeichen" usw. verändert den Sachverhalt nicht: mir sind bloß die Wirkungen der Dinge gegeben, aber die Wirkungen sind ja etwas anderes als die Ursachen. Wie kann ich nun wissen, ob die wirkenden Dinge den mir gegebenen "Zeichen" ("Wirkungen") entsprechen? Auf solche Weise mußte mit dem theoretischen Fiasko der dogmatischen Philosophie auch der philosophische Erkenntnisbegrifff eine Krisis erleiden. Er mußte revidiert werden. Diese Krisis äußert sich in dem Umstand, daß mit dem Zusammenbruch der dogmatisch angenommenen als außerhalb des Bewußtseienden liegenden und in diesem Sinne von ihm unabhängig bestehenden Wirklichkeit (mit dem Streichen des transzendenten Seins) auch der Gegenstand der Erkenntnis von der Bühne verschwand.

Was bisher die Objektivität der Erkenntnis möglich machte, fehlt jetzt. Das Seiende als Gegenstand der Erkenntnis und als etwas "außerhalb" des Denkens (Bewußtseienden) und unabhängig von ihm Bestehendes mußte konsequenterweise aufgegeben werden. Es ist augenscheinlich, daß man aus dieser Krisis nur dann herauskommen konnte, wenn es möglich wäre, eine  radikale  Reform in der Erkenntnistheorie zu unternehmen. Diese Reform eben beginnt mit KANT. Wenigstens maßt sich der Kantianismus eine solche an.

Für KANT lag der Grund für die Objektivität der Erkenntnis nicht mehr in irgendeiner von uns unabhängigen Wirklichkeit, deren vorstellungsmäßige "Abbilder" unsere Erkenntnis zu bilden haben, sondern in uns, will heißen, in unserem Bewußtsein als solchem, in der allgemeingültigen Art, nach der jeder von uns - soweit er Bewußtsein ist - denkt, urteilt, allgemein ausgedrückt: das Gegebene (die "Welt", die ihm als eine chaotische und formlose Masse von Empfindungen gegeben ist) bearbeitet. - Wie kommen wir zum Gegebenen, das ist eine Frage, bei deren Lösung - das läßt sich nicht bestreiten - im Kantianismus gewisse metaphysische und dogmatische Reste von der Spekulation seiner Vorgänger geblieben sind: ich meine das Ding-ansich als Affizierendes und die Empfindungen, als das formlos Gegebene, Verursachendes. Doch hat die Frage nach dem Ursprung und der Genesis des Gegebenen für die rein erkenntnistheoretische Aufgabe KANTs: die Begründung des Erkennens, keine Bedeutung. Und diese Begründung besteht darin, daß jeder von uns als Bewußtsein, das Gegebene, seine "Empfindungswelt, nach einer  allgemeingültigen Art  bearbeitet, formiert, und so die Möglichkeit entsteht, eine "gemeinsame" Welt zu haben, d. h. über gewisse Sachen in notwendige Übereinstimmung kommen zu können.

Gerade hier knüpft der teleologische Kritizismus an. Seine Originalität besteht in einer eigenartigen Deutung des Kantianismus, in einer teleologischen Umdeutung des Kritizismus; deshalb heißt er auch "teleologischer Kritizismus". Der Grund der Objektivität lag nach KANT in der allgemeingültigen Art der Bearbeitung des Gegebenen; nach den orthodoxen Kantianern heißt das: in der Tatsache, daß jedes Bewußtsein als solches so und so denken, das Gegebene bearbeiten, kategorial formen  muß  und  nicht anders kann.  Und wenn trotzdem die Menschen tatsächlich nicht immer in ihrem Denken zur Übereinstimmung gelangen, so kommt dieser Unterschied - wie z. B. WILHELM SCHUPPE erklärt, der meiner Ansicht nach die letzten Konsequenzen dieses orthodoxen Kantianismus gezogen und meisterhaft das Cartesianische Kriterium der Wahrheit benutzt hat - davon, daß wir nicht dieselbe Klarheit und Deutlichkeit über das Gegebene haben. Die objektive Wirklichkeit bildet den notwendig gemeinsamen Teil der Bewußtseinsinhalte, jenes Stück des Gegebenen überhaupt, das vom Gattungsmäßigen des Bewußtseins abhängig ist. Also müssen die Wahrnehmungen und Urteile der individuellen Bewußtseine, insoweit sie eben das Bewußtsein überhaupt sozusagen zum Ausdruck bringen, übereinstimmen, und muß im Falle der Nichtübereinstimmung mindestens Wahrnehmung und Urteil des einen (wenn nicht beider) nicht das Wirkliche zum Objekt haben, sondern auf Rechnung subjektiver Faktoren kommen. (2) - So steht es hier mit der Übereinstimmung und Verschiedenheit in unserer Erkenntnis.

Nein, sagt der teleologische Kritizismus, die allgemeingültige Art der Bearbeitung des Gegebenen ist nicht deshalb allgemeingültig, weil jeder als Bewußtsein so und so denken und kategorial formen muß und  nicht anders kann.  Keineswegs; er muß so und so denken (urteilen),  wenn  er die Wahrheit will, wenn also etwas absolut Gültiges anerkannt wird. Die Kategorien sind nicht Ausdruck der Allgemeingültigkeit - als etwas mit dem Bewußtsein Gegebenen - sondern sie sind Mittel, durch die wir zu ihr (als Aufgebenem, als absolut Gültigem) gelangen können. Man soll nicht meinen, daß wir in den Kategorien und Denkformen die Allgemeingültigkeit  konstatieren,  sondern umgekehrt, sie sind die einzigen  Mittel,  durch die wir den Zweck realisieren können, der in jedem Erkenntnisakt vorausgesetzt und anerkannt wird, und dieser Zweck ist die Wahrheit, der Wahrheitswert.

Bei den mehr oder weniger orthodoxen Kantianern nimmt man an, daß ich, soweit ich denke, nach bestimmten Kategorien urteile und nicht anders kann. Beim teleologischen Kritizismus gibt man zu, daß es (z. B. bei Kindern, Idioten usw.) möglich ist, trotz der Denkformen und Denkgesetze zu urteilen. (3) Oben, wie z. B. bei SCHUPPE, fließt der Irrtum aus der Unklarheit des  Inhalts,  den ich habe; hier bei WINDELBAND und RICKERT kommt er davon, daß ich nicht kategorial denke, daß ich mich nicht der enstprechenden  Formen  und Mittel bediene, um einen obersten Zweck zu realisieren. Im Zusammenhang mit diesem  formalistischen  Objektivismus steht auch das Kriterium der Wahrheit, zu dem der teleologische Kritizismus gelangt. Das Wahre vom Falschen unterscheidend, setzt jeder von uns voraus, daß es einen absoluten Maßstab, eine vom erkennenden Subjekt unabhängige und insofern transzendente Ordnung gibt. Diese Ordnung ist eben der Gegenstand der Erkenntnis, d. h. dasjenige, was die Objektivität des Erkennens möglich macht, und es ist ein Wert, ein Wahrheitswert, der zeitlos für jeden von uns gilt, und den jeder anerkennt, soweit er wahr von falsch unterscheidet. Von Wahrheit können wir bloß im Urteil reden. Aus dem bisher Dargelegten ist es aber klar geworden, daß dasjenige, was Gegenstand der Erkenntnis, des Urteils ist, nicht irgendein  Sein  ist, wonach wir uns richten können. Das Richtunggebende ist ein  Wert,  den wir anerkennen, soweit wir wahr von falsch unterscheiden, sofern wir also urteilen. Indem ich etwas für wahr halte, fühle ich mich  genötigt,  so und so zu urteilen, doch das ist nicht die Notwendigkeit eines  Müssens,  sondern die eines  Sollens.  "Sie tritt dem Urteilenden gegenüber auf als ein  Imperativ,  dessen Berechtigung wir im Urteilen anerkennen, und den wir gewissermaßen in unseren Willen aufnehmen. Daraus aber ergibt sich die entscheidende Einsicht: was mein Urteilen und damit mein Erkennen  leitet,  ist das unmittelbare Gefühl, daß ich so und nicht anders urteilen  soll."  Dieses Sollen ist der  Gegenstand  der Erkenntnis und indem wir uns nach ihm richten, wird das Denken zu einem Erkennen.

Das ist, in groben Umrissen dargelegt, die radikale Reform, die nach den teleologischen Kritizisten mit KANT begonnen hat und von ihnen abgeschlossen wurde. Und diese Reform macht nach unseren Philosophen derjenigen Krisis ein Ende, in der die alte Erkenntnistheorie mit dem Bankrott ihres Ansatzes: "Denken - (außer ihm bestehendes und von ihm unabhängiges) Sein" geraten war. Bevor wir in das Detail dieser "radikalen Reform" eingehen, wird es erforderlich sein, daß wir versuchen, uns über die Umstände, unter denen sich die frühere Erkenntnistheorie selbst vernichtet hat, Rechenschaft zu geben. Und das ist notwendig für meine Aufgabe, weil ich mich nicht von der Befürchtung befreien kann, daß die so gefeierte Reform nicht ganz gründlich ist, daß die neue, die reformierte, die  kritisch-teleologische  Erkenntnistheorie, obschon sie sich in vielen Punkten von der früheren unterscheidet,  wesentlich  an denselben' Sünden krankt, an welchen ihre Vorgängerin, die "dogmatische" Philosophie der früheren Zeiten, zugrunde gegangen ist.


III.
Die psychologistische Erkenntnistheorie

7. Vor allem fragen wir uns, auf welchem Boden ist diese Erkenntnistheorie entstanden? Es ist offenbar, dieser Boden, d. h. der Ausgangspunkt dieser Erkenntnistheorie war der Gegensatz "wahrnehmender Mensch - Sein", später "Denken - Sein" genannt. Zu diesem Gegensatz aber konnten die älteren Denker kommen, bloß weil sie den Wechsel und die Genesis ihrer Wahrnehmungen zu verstehen suchten. Für diesen Zweck setzten sie voraus, daß es außerhalb des wahrnehmenden Menschen ein unabhängig von ihm bestehendes Sein gibt, in dem die "Ursachen" dieses Wechsels liegen. Wie sie sich das Wahrnehmende dachten, das kommt hier nicht in Betracht, jedenfalls anfangs materialistisch, nachher als eine unkörperliche Substanz (Seele) (4) Wie die verschiedenen Philosophen das Verhältnis zwischen diesen beiden Faktoren faßten, interessiert uns an dieser Stelle nicht (5). Belangvoll ist, daß der Gegensatz der die sogenannte dogmatische Erkenntnistheorie möglich machte, derselbe war, der eine Psychologie ermöglichen kann. Sucht der Psychologe uns zu zeigen, wie das Bewußtsein zu dem kommt, was es hat, zu seinem Gegebenen (zu seinen Gefühlen, Wahrnehmungen, Vorstellungen usw.), wobei er voraussetzt, daß es außer dem Bewußtsein noch eine körperliche Welt gibt, die in gewissen Verhältnissen - schließlich Wirkungsverhältnissen - zum Seelischen steht, so will auch die frühere Erkenntnistheorie erklären, wie der erkennende Mensch zu dem kommt, was er hat, zu seinem Gegebenen, und für diesen Zweck setzt auch sie voraus, daß es außer dem  Bewußtsein  noch ein  Sein  gibt, das, indem es von der Seele "erfaßt" wird, sich in uns "abbildet", das Wahre im Gegebenen zustande bringt. Folglich ist der Boden, auf dem die frühere Erkenntnistheorie erwachsen ist, der psychologische, und darum werden wir diese Erkenntnistheorie eine  "psychologistische"  nennen, sofern sie von der Grund voraussetzung der Psychologie ausgeht. Und wirklich ist jene Wissenschaft, die mit dem Gegensatz Subjekt (Seele) und einem von ihm verschiedenen und als solches von ihm unabhängig bestehenden Sein (das Dingwirkliche) arbeitet, die Psychologie, und außerhalb dieses Gegensatzes ist diese als Fachwissenschaft unmöglich. Das erkennt auch HUSSERL an. "Es ist", sagt er, "das fundamentale Gebrechen der phänomenalistischen Theorien, daß sie die erlebte Empfindungskomplexion mit der Komplexion gegenständlicher Merkmale identifizieren. Jedenfalls sind die objektiven Einheiten der Psychologie und diejenigen der Naturwissenschaften nicht identisch, zumindest nicht so, wie sie als erste Gegebenheiten der wissenschaftlichen Bearbeitung harren. ... Sicher ist, daß sie (diese zwei Wissenschaften) nach ihren Ausgangspunkten, nämlich nach der originären Sphäre von Tatsachen, die sie zu bearbeiten unternehmen, und auch weiterhin in ihrem aufsteigenden Fortschreiten in erheblichem Maße voneinander unabhängig sind" (Logische Untersuchungen II, Seite 338) (6). Man sehe den heutigen Stand der Wissenschaft an! Sie will das Leben des Seelischen, d. h. die Gesetzmäßigkeit der Veränderungen des Nichtanschaulichen, des nicht im Raum Gegebenen verstehen. Diese Veränderungen aber - als gesetzmäßige, als Wirkungen - sind unbegreiflich außerhalb des Gegensatzes: Seelisches - Körperliches, Psychisches - Dingliches, (7) deren Wirkungseinheit das bildet, was wir gewöhnlich "Mensch" nennen.

Das  Erkenntnisproblem,  das auf dem Ansatz "Subjekt und von ihm verschiedenes und unabhängiges Objekt" aufgewachsen ist, war folgendes: Etwas  denken  bedeutete, etwas "im Bewußtsein" haben. Nun wußten die Leute genau, daß nicht alles, was wir "Denken" nennen, ein richtiges Denken ist und deshalb war bloß das "richtige Denken" Erkennen. Was hieß aber Erkennen? Zunächst etwas im Bewußtsein haben, und dann das Wichtigste: das  Seiende  im Bewußtsein haben oder  Besitz des Wirklichen.  Demnach  erkennt  nur, wer in Übereinstimmung mit dem Seienden, mit dem Wirklichen denkt. Die Wahrheit war deswegen eine Übereinstimmung zwischen Gedachtem und Wirklichem, Wahrnehmung und Wahrgenommenem, Vorstellung und Vorgestelltem, oder wie die traditionelle Formel lautet, zwischen Denken und Sein. Und im Anschluß an diese Auffassung der Wahrheit und der Erkenntnis waren die Bemühungen der früheren Erkenntnistheoretiker auf folgenden Punkt konzentriert: wie kommt der erkennende Mensch dazu, das Objekt, das Sein zu "ergreifen", zu "erfassen", zu "besitzen", zu "erkennen"? Für DEMOKRIT geschah das durch die Vermittlung materieller Bildchen, die sich von den Dingen (vom Seienden, dem Objekt) ablösen, dann sich nach verschiedenen Richtungen verbreiten und so auch in die Sinnesorgane des wahrnehmenden Menschen kommen. ARISTOTELES sogar, der erste, der verkündet hat, daß die Wahrheit nicht in den Wahrnehmungen und Vorstellungen gesucht werden soll, sondern in jener eigenartigen Manipulation mit dem Wahrgenommenen (Verbindung und Trennung von "Gedanken") von Seiten der Vernunft, die wir Urteil nennen, meint, daß die Elemente des Erkennens, die Wahrnehmungen, dem Wirklichen außer uns entsprechen. Daß das Gedachte dem Wirklichen "entspreche", vermittelt, wie er meinte, die Luft und das menschliche Fleisch. Nach ihm kommen in uns keine materiellen Bildchen, sondern das erkennende Subjekt verähnlicht sich geistig dem zu erkennenden Sein, und in dieser geistigen Verähnlichung nimmt die Seele (der wahrnehmende Mensch) die Form des zu erkennenden Gegenstandes an, und das heißt, nimmt ihn wahr. (8) Die mittelalterlichen Erkenntnistheoretiker rekurrierten auch zu irgendwelchen vermittelnden Welten, zu den bekannten  species intentionalis  [der absichtlichen Art - wp]. Es begannen statt "Substanzen" vom Objekt in das Subjekt bloß "Akzidentien" [Eigenschaften - wp] zu kommen. Noch später, an der Schwelle der neueren Zeit, bei HOBBES z. B., spielt die Vermittlung der Bewegung schon eine wichtige Rolle, usw.

Das Verhältnis zwischen Objekt und Subjekt, zwischen Sein und Bewußtsein, ändert sich. Zur Zeit DEMOKRITs, im Mittelalter, im 17. und 18. Jahrhundert, immer war es anders. Wie die moderne Psychologie das Problem von der Entstehung und dem Wechsel unserer Wahrnehmungen und Vorstellungen löst, das ist eine Frage, die außerhalb des Rahmens unserer Aufgabe liegt. Für uns war es wichtig zu zeigen, daß die frühere Erkenntnistheorie duchweg psychologistisch war, weil sie auf dem Boden der Psychologie und der psychologischen Grundvoraussetzung entstanden ist. Und dies war notwendig, um jetzt das Finale dieser Theorie des Erkennens zu verstehen.

Denken (Bewußtseiendes) und von ihm verschiedenes (und unabhängig bestehendes) Sein! Schon der heilige AUGUSTIN und nachher ganz klar DESCARTES und die Philosophen nach ihm begannen zu verstehen, daß in diesem Ausgangspunkt, soweit der Ansatz einer  Erkenntnis theorie ist, etwas Faules steckt. Das Einzige, was mir gegeben ist, von dem das erkennende Subjekt weiß und reden kann, sind meine bzw. seine Vorstellungen, die Abbilder der Wirklichkeit. Wie kann ich nun kontrollieren, daß diese Abbilder mit der Wirklichkeit übereinstimmen? Und was noch mehr heißt: woher kann ich wissen, daß es überhaupt eine solche Wirklichkeit (Sein) gibt? Diese Zweifelsfrage brauchte lediglich einmal  aufgestellt  zu werden, und die psychologistische Erkenntnistheorie war verloren. Alles, von dem wir wissen und wissen können, ist das Gedachte (Denken, Bewußtseinseiendes), außer ihm ist uns nichts anderes gegeben und kann nicht als Seiendes bewiesen werden. Auf solche Weise wurde das Sein, die Wirklichkeit als etwas von uns Verschiedenes und Unabhängiges gestrichen. Das eine Glied des Ansatzes der psychologistischen Erkenntnistheorie verschwand, es blieb nur das Subjekt, die Seele allein: der theoretische Triumph des Solipsismus [Nichts außer dem eigenen Bewußtsein existiert - wp] wurde gesichert. Ich sage theoretisch, denn in der Praxis "nahmen" es auch Männer wie z. B. HUME "an", die offen zugaben, daß es unmöglich sei, die Existenz eines solchen von uns unabhängigen Seins zu  beweisen.  In der folgerichtigen Entwicklung dieser Erkenntnistheorie mußte die Selbstvernichtung vollständig sein, mußte auch das Subjekt gestrichen werden. Und es geschah: das erkennende Subjekt konnte solange seinen Platz behaupten, wie es etwas gab, was es zu erkennen vermochte; jetzt aber, nachdem der Gegenstand der Erkenntnis verschwunden war, war ganz natürlich, daß auch das erkennende Subjekt aufhörte, noch  erkennendes  zu sein. Es trat Skeptizismus ein, und das war der Höhepunkt des erkenntnistheoretischen Nihilismus.

8. Weshalb hat die frühere psychologistische Erkenntnistheorie Bankrott gemacht? Es gibt verschiedene Meinungen darüber. Doch aus unserer Darlegung ist es offensichtlich, daß sie, logisch betrachtet, sehr schnell Schiffbruch erlitt, weil sie die Keime ihrer Selbstvernichtung bereits bei ihrer Geburt in sich trug. Schon aus ihrem Ausgangspunkt konnte der Aufmerksame ihren Tod herauslesen: Gegebenes - Wirkliches. Also das Wirkliche ist  kein Gegebenes  (es bildet eben einen Gegensatz zum Gegebenen), so lautet der Ausgangspunkt.  Es gibt keine  Wirklichkeit, so lautet der Endpunkt ihrer Entwicklung. Eigentlich kann keine Rede von einer "Entwicklung" sein, weil der Ausgangspunkt sich gar nicht vom Endpunkt unterscheidet, höchstens sprachlich. Also wenn wir jetzt eine Diagnose dieser Erkenntnistheorie geben wollen, müßten wir sagen, daß sie einen Zusammenbruch erlitt, nicht weil der Weg ihrer Entwicklung schlecht und nicht eben war, sondern weil sie von einem Dogma ausging, das ihre "logische" Existenz überhaupt unmöglich machte. Dieses Dogma war der Dualismus von Gegebenem (Bewußtseiendem) und Wirklichem. bezeichnet einmal das Wirkliche  schon im Ausgangspunkt  einen Gegensatz zum Gegebenen (Gedachten), hat man also  heute  das Wirkliche für etwas proklamiert, was nicht Gegebenes ist und kraft seiner Definition nicht sein kann, dann ist es kein Wunder, wenn diese Theorie der Erkenntnis  morgen  die Worte (nicht den Sinn, sondern die Worte bloß) ihres Ausgangspunktes ändert und sagt: "Einzig gegeben ist das Gedachte, im Gedachten haben wir keine Spur vom Wirklichen, es lebe der Solipsismus". Und wenn man in einer Geschichte der Philosophie liest, es mußte sich ein tiefsinniger Mann finden, der die entscheidende Konsequenz zog, daß das einzig Gegebene meine Vorstellungen (das Gedachte, das Bewußtseiende) sind, so ist das nichts als eine bloße Redensart. Richtiger würde man sagen, daß sich ein guter, aufmerksamer und philosophisch geschulter Stilist finden müßte, der die passendste Form einer schlechten und verhängnisvollen philosophischen Phrase gegeben hat.

Man hat den fraglichen Gegensatz auch anders formuliert: Immanentes - Transzendentes. Wir können nunmehr noch weiter gehen, um diesen Ansatz zu verdeutlichen und in seinen eigentlichen Sinn einzudringen.

9. Gegebenes - Wirkliches (Immanentes - Transzendentes): mit diesem Gegensatz haben die Philosophen sagen wollen, das, was unserer Erkenntnis Objektivität verleiht, was aus unserem Denken ein "richtiges Denken" (Erkennen) macht, was also Gegenstand der Erkenntnis ist, kann nicht ein Bewußtseiendes, es muß etwas vom Gegebenen Unterschiedenes sein. Der Ansatz der psychologistischen Erkenntnistheorie könnte also auch so lauten: der Gegenstand der Erkenntnis kann nicht Gegebenes sein,  er kann nicht in seinem "Rahmen" verstanden werden;  er hat in ihm keinen Sinn. So war es bei DEMOKRIT, bei den Stoikern, bei EPIKUR, bei den psychologistischen Erkenntnistheoretikern des Mittelalters (FRANZ SUAREZ z. B.) und der neueren Zeit, so ist es schließlich bei  jeder  psychologistischen Theorie der Erkenntnis, solange sie noch kein offenes Fiasko gemacht hat.

Auch das genügt uns aber noch nicht. Wenn wir in die psychologistische Erkenntnistheorie des 18. Jahrhunderts - als sich der Gegensatz zwischen Gedachtem und Seiendem besonders verschärft hatte, und als sie sozusagen in Agonie [Todeskampf - wp] war, - tiefer eindringen, könnten wir einen Haufen von Material für unsere Diagnose sammeln. Das Seiende, das Wirkliche, der Gegenstand des Erkennens kann nicht Gegebenes sein, er muß als ein Gegensatz zum Gegebenen aufgefaßt werden. Weshalb dieses? Wo liegt die Notwendigkeit für dieses Rekurrieren nach der Entgegensetzung von Bewußtseiendem und Wirklichem, allgemeiner gesagt, nach dem Dualismus von Gegebenem und Gegenstand der Erkenntnis? Weshalb kann denn der Gegenstand der Erkenntnis das Wirkliche, nicht Gegebenes sein? Die Antwort lautet: weil wir dann in einen unheilbaren Subjektivismus verfallen würden. Wenn alles Gegebenes ist, dann ist es eben nicht mehr Gegenstand der Erkenntnis, dann gibt es kein Wirkliches, kein Seiendes mehr. Im "Begriff" dieses "Gegenstandes" liegt es, daß er oder die Wirklichkeit etwas von mir, vom erkennenden Subjekt Unabhängiges ist. Die Rolle, die dieser Gegenstand der Erkenntnis auszufüllen hat, ist nämlich folgende: aus meinem Denken ein richtiges Denken, das will heißen, ein "Erkennen" zu machen, dem Gedachten Objektivität zu verleihen. Und wie könnte nun Objektivität dem Gegebenen das verleihen, was selbst Gegebenes wäre? Das ist eine widerspruchsvolle Aufgabe ... Der langen Rede kurzer Sinn ist, daß der Gegenstand der Erkenntnis nicht Gegebenes sein kann, weil er einmal gegeben, nicht mehr vom Denken, vom Bewußtsein unabhängig wäre.

Also die Wurzel des oben dargelegten Dualismus (zwischen Gegebenem und Seiendem) liegt in dem Satz, daß dem Bewußtsein nicht etwas gegeben und zugleich in seinem Bestehen von ihm unabhängig sein kann: das Wirkliche als etwas unabhängig vom Bewußtsein Bestehendes kann nicht dem Bewußtsein gegeben sein. Was dem letzteren gegeben ist, das ist eben von ihm abhängig. Auch so könnte man die selbstverständliche Voraussetzung der psychologistischen Erkenntnistheorie ausdrücken. - Wir wollen uns jetzt einmal diese selbstverständliche Voraussetzung der psychologistischen Erkenntnistheorie ausdrücken. - Wir wollen uns jetzt einmal diese selbstverständliche Voraussetzung näher ansehen: wir haben nunmehr die Wurzel seiner "Selbstverständlichkeit" aufzusuchen. Ich meine, sie liegt in einem fatalen Spiel mit den Worten "haben" und "gegeben". Es gibt "haben" und "haben" ... Wenn wir einen körperlichen Gegenstand (ein Einzelwesen) der elementarsten Analyse unterwerfen, so finden wir, daß er uns als ein notwendiges Zusammen von verschiedenen Bestimmtheiten: Größe, Gestalt, Ort, Farbe usw. gegeben ist. Für unser zergliederndes Denken ist eigentlich das Ding (Einzelwesen) nichts weiter als die notwendige Einheit dieser seiner Bestimmtheiten (Eigentümlichkeiten. Wer meinte, daß hinter dieser notwendigen Einheit der Bestimmtheiten, die ein Ding aufweist, noch etwas steckt, mag es ruhig suchen. Ihm antwortet der Geist der gegenwärtigen Philosophie mit den Worten des Dichters:
    Nichts ist drinnen, nichts ist draußen,
    Denn was innen, das ist außen.
Jede dieser Bestimmtheiten ist in jedem Augenblick in irgendeiner Besonderheit gegeben. Das Ding hat nicht Größe überhaupt, Farbe überhaupt und dgl., sondern es weist in dem Augenblick, in dem wir es betrachten, eine besondere Größe, eine besondere Farbe, eine besondere Gestalt, einen besonderen Ort usw. auf. Wenn ich sage, das Ding  A  hat dies und das, so heißt das: es ist seine Eigentümlichkeit, Beschaffenheit, Bestimmtheit, sein "Merkmal". Das Ding  hat  eine rote Farbe, runde Gestalt, zwei Meter Größe und dgl. heißt: das Ding  ist  rot, rund, zwei Meter groß. "Haben" bedeutet hier Zugehörigkeit einer Bestimmtheit zu einem Einzelwesen. Im Sinne dieses "Habens" kann man sagen, daß die körperlichen Einzelwesen (die Dinge) das haben, was sie sind, sie haben jenes, was ihnen zugehört. Denn natürlich sofern der Bleistift eine bestimmte Größe hat, wäre es widersinnig, zu behaupten, daß die Größe auch unabhängig von ihm bestehen kann. Hier haben wir ein Verhältnis des Einzelwesens zu seinen Bestimmtheiten, das, wie das gewissermaßen schon ARISTOTELES bekannt war, eine eigentümliche Korrelation bildet: es gibt kein Einzelwesen ohne Bestimmtheiten (Eigentümlichkeiten) und umgekehrt keine Bestimmtheiten, die nicht solche eines Einzelwesens wären; das eine ist untrennbar mit dem anderen verbunden, es setzt das andere voraus. Sofern aber die Bestimmtheiten dem Einzelwesen gegeben sind, hat es sie, und es macht keinen Sinn, zu sagen, daß sie auch unabhängig von ihm existieren können.

Außer Räumlichem finden wir in der Erfahrung (in dem, was uns gegeben ist) auch etwas anderes, was sich nicht als im Raum Gegebenes auffassen läßt, nämlich das Psychische, das Seelische. Jeder von uns spricht von Liebe, Freude, Wehmut usw., niemand hat aber bis jetzt gesagt, wo das im Raum ist, wovon er in einem solchen Fall redet. Daß es ihm gegeben ist, darüber kann kein Zweifel bestehen. Er spricht ja ernst davon, er unterscheidet es von anderen Sachen: auch der ganz Ungebildete weiß, was Liebe ist und sondert sie sehr gut vom Haß, die Freude von den Bäumen. Und doch ist das Seelische (die Seele, das Bewußtsein) nicht etwas Räumliches, im Raum Gegebenes.

Nun sagt jeder von uns, daß er als Seele dieses oder jenes  hat.  Ich behaupte z. B., daß in diesem Augenblick meinem Bewußtsein  Kirche, Tinte, Farbe, Buch  gegeben sind. Was für einen Sinn kann das Wort "hat" hier haben: das Bewußtsein  hat  dieses oder jenes. Oben bei den körperlichen Dingen bedeutete der Satz: ein Einzelwesen "hat" etwas (Farbe, Größe usw.), das letztere gehört zu ihm, ist seine Bestimmtheit (seine Eigentümlichkeit, sein Merkmal). Und deshalb können wir in solchen Fällen sagen: das Ding ist farbig, ist groß. Daß mein Bewußtsein in diesem Augenblick "blau" hat, daran zweifle ich nicht. Doch ich kann keinesfalls sagen, es  ist  demnach blau. Das wäre ja der größte Widersinn. Das Bewußtsein hat Räumliches, aber es fällt niemand ein zu behaupten, daß die Räumlichkeit seine Bestimmtheit oder Eigentümlichkeit wäre: räumliches Bewußtsein, Wehmut z. B., die im Raum gegeben ist! Das geht ja heute nicht. Etwa vor einem halbem Jahrhundert konnten sich immer noch vernünftige und philosophisch gebildete Menschen finden, die ernst etwas Ähnliches zu behaupten wagten. Heute aber klingt das ziemlich seltsam und unbegreiflich. Ich erinnere hier beispielsweise an den bekannten FRIEDRICH ÜBERWEG, der sagte: Die Dinge der Außenwelt sind unsere Vorstellungen. Da nun diese ausgedehnt sind, so sind es auch die Vorstellungen. Da ferner diese in der Seele ablaufen, so ist auch die Seele ausgedehnt, und da die Materie das Ausgedehnte ist zugleich materiell. (9) Die ganze Weisheit dieses lächerlichen Schlusses besteht darin, daß das Bewußtsein, eben weil es Räumliches  hat,  Räumliches  ist.  Und dieser Schluß beruth vor allem auf der Voraussetzung, daß zwischen Bewußtsein (Nichtanschaulichem, Psychischem) und Ding (Anschaulichem, Körperlichem) kein Unterschied besteht. Wenn er wirklich besteht, dann ist es selbstverständlich, daß das Bewußtsein etwas Räumliches ist,  eben weil es ein Ding ist,  und dann bleibt höchstens zu bedauern, daß es bis jetzt noch nicht gelungen ist, in einem Museum ein Exemplar davon auszustellen ...

Das Bewußtsein hat neben anderem auch Räumliches: das ist eine Tatsache. Und trotzdem ist es wenigstens eine ebenso unerschütterliche Tatsache der heutigen Psychologie, daß das Bewußtsein nichts Räumliches ist. Wenn "Haben" hier wie auch oben bei der Dingwelt "Zugehörigkeit" bedeutete, dann müßte das Bewußtsein etwas Räumliches sein, wie das ÜBERWEG meinte. Es ist aber offenkundig, wenn wir sagen: das Bewußtsein (das "Subjekt") hat die sogenannte "Außenwelt" (die Dingwirklichkeit, die Körperwelt, das "Objekt"), dann kann hier das "Haben" nicht mehr Zugehörigkeit bedeuten; es kann nicht heißen, daß dieses und jenes zu ihm gehört als seine Bestimmtheit. Freilich nennt man auch den  Teil  eines Einzelwesens etwas zu diesem letzteren  Gehöriges.  Und auf dem Gebiet der Körperwelt hat das seine gute Bedeutung. Doch es hätte keinen Sinn gehabt, das Räumliche für einen "Teil" des Nichträumlichen zu halten. Erstens ist das Bewußtsein kein Ding, und kein Mensch versteht, was es heißen sollte, die Seele habe "Teile", und ferner: wäre nicht der Löwe z. B., sondern die "Vorstellung" des Löwen ein Teil des Bewußtseins, so gibt es zwei Möglichkeiten - entweder ist diese "Vorstellung" etwas Materielles, dann müßte Räumliches zum Nichträumlichen  gehörig  sein (was würde das besagen?), oder die Vorstellung des Löwen ist etwas Nichträumliches (vom Löwen selbst Verschiedenes), dann steht man vor der alten Frage, die GASSENDI bereits an DESCARTES richtete: wie sieht ein nichtkörperlicher Löwe - als etwas dem Bewußtsein Gehöriges - aus? Nein, wenn man sagt, die Psyche  hat  Räumliches, so meint man augenscheinlich keine Zugehörigkeit. Vorläufig wollen wir diese zweite Art von "Haben" mit den Worten "Besitz und sein Besitzer" bezeichnen. - Einerseits also drücken wir mit dem Wort "hat" (wie das überall in der Dingwelt der Fall ist) eine Zugehörigkeit aus, d. h. wir wollen sagen, daß das, was  A  oder  B  hat, seine Eigentümlichkeit ist: das ist gewöhnlich das Verhältnis von Einzelwesen und Bestimmtheit, und hier kann und muß man entschieden betonen, daß es kein Einzelwesen ohne Bestimmtheiten gibt und umgekehrt keine Bestimmtheiten, die nicht solche eines Einzelwesens wären. Und was noch mehr heißt:  hier und nur hier  haben wir das Recht zu sagen, wenn  A  etwas hat (d. h. wenn es zu ihm gehört und seine Bestimmtheit ist), dann wäre es sinnlos, zu behaupten, die Bestimmtheit (das zu  A  Gehörige) könnte  ihm gegeben sein  und in derselben Zeit  von ihm unabhängig bestehen.  Auf der anderen Seite steht die zweite Bedeutung von "Haben", mit der wir auch nachher zu tun haben werden. Einstweilen können wir bloß folgendes bemerken: Das Bewußtsein hat sich selbst, seine Vorstellungen, Willensregungen, Gefühle usw. Wie sich das Ding verändert, indem es die Besonderheiten seiner Bestimmtheiten wechselt (früher war es eckig, jetzt ist es rund: früher hatte und jetzt und überhaupt immer hat das Ding die Bestimmtheit Gestalt, sie ist etwas Allgemeines, verändert sich nicht, sie bleibt, es wechseln nur ihre Besonderheiten), so hat auch hier das Bewußtsein immer die Bestimmtheit "Vorstellen", obschon sie in jedem Augenblick bald diese, bald jene Besonderheit aufweist: die Veränderung des Bewußtseins besteht im Wechsel der Bestimmtheitsbesonderheiten. Solche Bestimmtheiten des Bewußtseins sind nach der heutigen Psychologie Wahrnehmen und Vorstellen, Lustund Unlust haben, Unterschiedenes und Vereintes haben (das psychologische Denken) usw. Also wenn ich sage, das Bewußtsein stellt dieses oder jenes vor, so will ich damit ausdrücken, daß es eine besondere Vorstellung  hat.  Sofern ich behaupte, daß das Bewußtsein dieses oder jenes wahrnimmt, so sage ich damit, daß es eine besondere Wahrnehmung  hat.  So ist es auch mit dem Fühlen und mit dem Denken. Vorstellen, Wahrnehmen, Fühlen, Denken bezeichnen nicht dunkle und unheimliche Tätigkeiten des Bewußtseins, sondern es sind seine Grundbestimmtheiten, und die obigen Worte besagen nichts mehr als: Vorstellungen, Wahrnehmungen, Gefühle, Gedanken  haben.  Hier also bedeutet das Haben schlechthin Zugehörigkeit. Das Bewußtsein ist nichts weiter als die notwendige Einheit seiner Bestimmtheiten, deshalb gibt es keine Freuden und Schmerzen, Stimmungen und Leidenschaften, die dem Bewußtsein  gegeben,  ihm zugehörig und zugleich von ihm  unabhängig wären.  Hat man einmal anerkannt, daß etwas zum Bewußtsein gehörig ist, so verliert damit das Gerede vom unabhängigen Bestehen seinen Sinn. Nun hat aber das Bewußtsein neben  sich selbst,  außer dem, was zu ihm gehört, also außer seinen Bestimmtheiten auch etwas anderes, was nicht Psychisches ist und  ihm nicht zugehört:  das ist das Räumliche. Wir haben schon gesehen, daß das Ding immer das hat, was ihm zukommt, was seine Eigentümlichkeit ist. Das Bewußtsein ist etwas anderes als das Ding. Es hat sich selbst (jeder spricht von  seinen  Trieben, Willensentschlüssen, Gefühlen, usw.) und etwas  anderes.  Mit anderen Worten: Das Bewußtsein als ein nichtanschauliches Wesen hat sich selbst (das Nichtanschauliche) und das Anschauliche. Soweit es sich selbst hat, haben wir es mit dem Verhältnis von Einzelwesen und Bestimmtheit zu tun. Soweit es aber das Andere (das Anschauliche) hat, haben wir es nicht mehr mit  diesem  Verhältnis zu tun: das im Raum Gegebene (die Dinge, die Farben, die Töne und dgl.) ist dem Bewußtsein gegeben, doch es ist nicht seine Bestimmtheit, nicht etwas zu ihm Gehöriges, sondern es ist als Besonderheit seiner Bestimmtheit "Wahrnehmen-Vorstellen" gegeben. Wenn wir dieses Verhältnis von dem der Zugehörigkeit auch terminologisch trennen wollen, können wir, wie gesagt, ganz allgemein vom Besitzer (dem Bewußtsein) und seinem Besitz (dem Anschaulichen, der Außenwelt, der Körperwelt) reden. Wollte man weiter fragen: wie kann das Bewußtsein, das doch ein Nichtanschauliches ist, etwas "anderes", etwas Anschauliches haben? so ist unsere Antwort auf diese Frage der einfache Hinweis auf die  Tatsache,  daß wir als Seele Anschauliches haben. Diese Tatsache sagt uns im Besonderen klipp und klar, daß "die Unräumlichkeit der Seele keineswegs ein Hindernis dafür sein kann, daß dieses Bewußtsein auch Raum als Besonderheit seiner gegenständlichen Bewußtseinsbestimmtheit "habe", wie es ja auch Farbe, Geschmack, Wärme usw. "hat".

Wir werden nachher Gelegenheit haben, auf diesen tiefen Gedanken, der in Umrissen von JOHANNES REHMKE schon in der ersten Auflage seiner "Allgemeinen Psychologie" dargelegt war, zurückzukommen. Hier war es wichtig, den Unterschied zwischen "Haben" im Sinne von Zugehörigkeit und "Haben" im Sinne von Besitzen zu betonen. Diese Unterscheidung machte schon BOLZANO. Auch er scheidet die beiden Sinne des Wortes "Haben". "Nach dem ersten",, sagt er, "können wir von einer jeden an einem gewissen Gegenstand befindlichen  Beschaffenheit  erklären, daß er dieselbe  habe  ... In der zweiten Bedeutung verstehen wir aber darunter das bloße Besitzen ... eines gewissen Gegenstandes ... Nach der ersten Bedeutung ist das, was gehabt wird, jederzeit eine Beschaffenheit; nach der zweiten kann es sich auch auf einen Gegenstand, der gar keine Beschaffenheit ist, beziehen, z. B. Geld und dgl." (10) BOLZANO aber macht von diesem Unterschied keinen Gebrauch, er zieht keine Konsequenzen daraus und betont sogar ausdrücklich bei seiner Analyse der "Eigenschafts- und Verhältnisvorstellungen", daß er "das Zeitwort  Haben  jederzeit nur in der ersten oder  weiteren  Bedeutung nehme ... und sonach sagen kann, was immer gehabt werde, müsse eine Beschaffenheit sein." Was die wertvolle Intuition BOLZANOs verdirbt, besteht darin, daß er die zweite Bedeutung des Habens nicht auf das Bewußtsein angewendet hat - um daraus irgendwelchen Fingerzeig für etwaig Konsequenzen zu bekommen -, sondern bloß auf die körperlichen Einzelwesen: der Mensch hat Hände, wo schließlich die zweite Art von Haben bloß als eine Verschiedenheit der ersten, die auch von ihm für die "weitere" gehalten wird, aufgefaßt werden kann. Der Mensch hat Hände, das kann sehr leicht in dem Sinne gedeutet werden, daß die Hände etwas sind, was zum Menschen (als sein "Teil") gehört, was ihm zukommt; genauso wie das auch beim folgenden der Fall ist: das Haus hat einen Hof, usw. - SCHUPPE vereinigt seinerseits alle Abarten von "Haben" unter den Begriff der Zusammengehörigkeit. (11) Er bringt sie unter folgenden vagen Ausdrücken zusammen: "losere und engere, äußerliche und innerliche, vorübergehende und dauernde" Einheiten und Zusammengehörigkeiten, und verwischt damit den Unterschied, den wir machen. Daß etwas aber mit  A  zusammengehört, das besagt noch nicht, daß es zu ihm gehört, und daß es nicht unabhängig von ihm bestehen kann. Man wird vielleicht denken, daß ich den Weg meiner Untersuchung mit einer metaphysischen Lehre vom Bewußtsein kreuze, die hier für wenige überzeugende Kraft haben könnte. Der Zweck dieser Abschweifung aber war nicht zu beweisen, daß die Seele  ohne Widersprüche  als ein nichtanschauliches  Einzelwesen,  das die notwendige Einheit gewisser Bestimmtheiten ist, aufgefaßt werden kann. (12)

Mein Ziel war eben, die Aufmerksamkeit auf die beiden grundverschiedenen Bedeutungen von Haben zu lenken und ihre Verwechslung, die von verhängnisvoller Bedeutung für die meisten bisherigen erkenntnistheoretischen Richtungen gewesen ist, zu illustrieren.

10. Jetzt kehren wir wieder zu dem Punkt, an dem wir abgeschweift sind, zurück. Unsere Frage lautete: warum hat die frühere psychologistische Erkenntnistheorie Schiffbruch erlitten? Jetzt könnte man hinzufügen: warum  mußte  sie Bankrott machen? Es hat sich herausgestellt, daß der Grund dafür in ihrem Ausgangspunkt liegt: Erkenntnistheorie, bzw. "Seinslehre" kann nicht auf dem Boden der Psychologie aufgebaut werden. Jede psychologistische Theorie arbeitet mit dem Ansatz Gedachtes - Wirkliches, Gegebenes (Bewußtseiendes) - Gegenstand der Erkenntnis, Immanentes - Transzendentes. Die Psychologie als Fachwissenschaft muß und kann von nichts anderem ausgehen als von der Entgegensetzung: Bewußtsein und etwas von ihm Verschiedenes, Psychisches und Physisches. Für sie aber kann dieser Gegensatz gar nicht gefährlich oder vernichtend sein, er ist geradezu für sie notwendig. Sie fragt sich nicht: wie kommt das Bewußtsein zur  Erkenntnis  des Dingwirklichen, sie sucht bloß die Gesetzmäßigkeit der Veränderungen unserer Seele festzustellen, und in der Lösung dieser Aufgabe betrachtet sie oder setzt sie die Körperwelt (das Nervensystem) als wirkende Bedingung für diese Veränderungen voraus. Anders aber steht die Sache bei einer Erkenntnistheorie, die auf dem Boden der Psychologie erwachsen ist. Wie kommt es, so fragt sie, daß mein Denken ein objektives, richtiges Denken wird? Was ist also der Gegenstand der Erkenntnis? Und weil man in diesem Ausgangspunkt noch voraussetzt, daß das Wirkliche (der Gegenstand der Erkenntnis, das Richtunggebende) einen Gegensatz zum Gegebenen bildet, deshalb endet man unbedingt mit einem Streichen dieses "Gegenstandes" als Nichtgegebenen. Wir wollten aber noch tiefer in das Gemüt des psychologistischen Erkenntnistheoretiker eindringen, und deshalb haben wir uns das Problem gestellt: wie kommt er dazu, das Gegebene dem Wirklichen entgegenzustellen? Was veranlaßt ihn, etwas Transzendentes als Gegensatz zum Immanenten anzunehmen? Unsere Untersuchung hat jetzt auch diese Seite der Sache beleuchtet. Es hat sich zunächst ergeben, daß nach der psychologistischen Erkenntnistheorie das Wirkliche (der Gegenstand der Erkenntnis) dem Bewußtsein nicht gegeben sein kann, weil es, einmal Gegebenes, nicht mehr Unabhängiges (Objektives) in seinem Bestehen wäre. Das war die selbstverständliche Voraussetzung jeder psychologistischen Erkenntnistheorie (13); nunmehr wissen wir, was der Sinn dieser "Selbstverständlichkeit" ist, nämlich: selbstverständlich ist dieser Satz nur da, wo das Bewußtsein alles als zu ihm Gehöriges hat. Wie die Psychologie die Bestimmtheiten des Bewußtseins festzustellen sucht, d. h. dasjenige, was ihm zukommt - und in diesem Sinne kennt sie bloß das Verhältnis der Zugehörigkeit, so kennt auch die auf ihrem Boden erwachsene Erkenntnislehre keine andere Art von "Haben" als diejenige im Sinne der Zugehörigkeit. Deshalb sagt oder setzt sie auch als psychologistische Disziplin ganz konsequent voraus, wenn das Objekt dem Bewußtsein  gegeben  wäre - zur größeren Klarheit möchte ich sagen: im psychologischen Sinn "gegeben" -, dann könnte es nicht mehr in seinem Bestehen von ihm unabhängig sein. Mehr sagt sie uns nicht. Wir verstehen aber den Rest, er lautet: wenn der Gegenstand der Erkenntnis dem Bewußtsein gegeben wäre, dann wäre er zu  ihm gehörig,  und deshalb könnte er nicht etwas "Objektives", vom Subjekt in seinem Bestehen Unabhängiges sein.

11. Ganz sicher ist für eine Erkenntnistheorie, die auf dem Boden der Psychologie entstanden ist,  entweder  alles dem Subjekt (dem Bewußtsein) gegeben, und dann hat es gar keinen Sinn mehr, von "Objektivität der Erkenntnis" zu reden, weil alles, was dem Bewußtsein gegeben ist, zu ihm gehörig wäre - das ist der Standpunkt des absoluten Subjektvismus (Solipsismus);  oder  die Objektivität der Erkenntnis und der Wahrheit soll nicht und kann nicht geopfert werden, dann aber entstehen zwei Möglichkeiten:
    a) los vom Gegebenen, heraus aus dem Kreis des Bewußtseienden, um außerhalb des Immanenten etwas Transzendentes zu finden (14); es ist also nicht der  Gegensatz  zwischen dem Gegebenen und dem Gegenstand der Erkenntnis außer acht zu lassen: diese Entgegenstellung wird dabei auch immer offen oder heimlich vorausgesetzt;

    b) das Bestreben, eine immanente Philosophie zu schaffen, und zwar eine solche, die sich bemüht, die "Grenzen" des Gegebenen nicht zu verlassen, die also den Gegenstand der Erkenntnis im Gegebenen (Bewußtseienden) sucht. Doch eben weil sie die psychologistische Entgegensetzung von Subjekt und Objekt nicht preisgeben will, geht sie darauf aus, sie "abzuschwächen", indem sie erklärt, daß das zwei Momente sind, die nur in Abstraktion voneinander gesondert werden können, da das eine ohne das andere für sich allein gleich Null wäre, und daß das Ich eben nur dadurch  ist,  daß es sich seiner Inhalte bewußt ist, das Subjekt und das Objekt also "identisch" sind. Hierher fallen die verschiedenen sogenannten korrelativistischen Lehren: es gibt kein Subjekt ohne Objekt und umgekehrt kein Objekt ohne Subjekt. Die folgerichtigste und scharfsinnigste Form nimmt dieser Korrelativismus bei WILHELM SCHUPPE an, die wir soeben oben formuliert haben.
Es ist klar,, daß dieser letzte Ausgang, ebenso wie die neuen Gestaltungen, die die alte Spaltung zwischen Immanentem und Transzendentem aufnimmt, nur bei einer Reform des Bewußtseins möglich ist. Ohne eine solche Umgestaltung würden wir in die alte dogmatische Erkenntnistheorie zurückfallen, andererseits würde die Erklärung, das Objekt sei ein untrennbares Moment des Subjekts, mit dem Solipsismus zusammenfallen. Doch wollen die gegenwärtigen Erkenntnistheoretiker weder das eine noch das andere. Während die einen sich taub gegen die Schwierigkeiten der alten dogmatischen Erkenntnistheorie stellen, halten die anderen - und das sind die feinsinnigeren von ihnen - das eine ebenso wie das andere für widersinnig. Und sie meinen, wir würden zu diesem Widersinn nur dann nicht kommen, wenn wir zuerst den Begriff des Bewußtseins reformieren. Deshalb könnten wir auch folgende Form unseres obigen Schemas (der Möglichkeiten, zu denen die moderne auf psychologischen Grundlagen entstandene und folgerichtige Erkenntnistheorie getrieben wird) geben: Solipsismus oder unbedingte Reformierung des Subjektbegriffs als vorläufige Stufe zur Feststellung des Gegenstandes der Erkenntnis, der - dies ist und bleibt das Gemeinsame aller psychologistischen Erkenntnislehren - sich irgendwie dem Gegebenen, dem Bewußtseinsinhalt, entgegengesetzt, sogar dann, wenn er (wie das bei SCHUPPE der Fall ist) in den "Grenzen" des Immanten gesucht oder mit dem Gegebenen, dem Bewußtseinsinhalt, identifiziert wird. Jetzt ist es uns klar, weshalb es für eine psychologistische Erkenntnistheorie  notwendig  ist, von der Entgegenstellung "Gegebenes und Gegenstand der Erkenntnis" offen auszugehen oder sie vorauszusetzen.

12. Kraft dieser Notwendigkeit kann eine psychologistische Erkenntnistheorie nicht voraussetzungslos sein, sie kann es beim besten Willen nicht. Und weil die Philosophie als Grundwissenschaft (als die Wissenschaft, die es nicht mit irgendeinem Ausschnitt des Gegebenen unserer Welt zu tun hat, sondern "das schlechthin Allgemeine", "das allem Besonderen unserer Welt Gemeinsame" als Gegenstand ihrer Untersuchung hat) die einzige absolut voraussetzungslose, will heißen,  die  voraussetzungslose Disziplin sein muß, können wir auch hinzufügen: Die Untersuchungen der psychologischen Erkenntnistheorie können nicht  grundwissenschaftliche,  d. h. im eigentlichen Sinne des Wortes  philosophische  Untersuchungen sein. "Die allgemeine Betrachtung, die Untersuchung der Welt  im schlechtweg allgemeinen Sinne,  ist die besondere philosophische Arbeit" (JOHANNES REHMKE), wenn es überhaupt eine besondere philosophische Arbeit gibt: das ist auch meine Überzeugung. Wir haben diesen Gedanken nachher zu begründen und zu verteidigen. Ich habe ihn hier gestreift, um zu zeigen, weshalb - im Gegensatz zu den  Einzel wissenschaften - wir die Philosophie die  Grund wissenschaft nennen. Jede Einzelwissenschaft beginnt mit irgendeinem  Vor urteil: selbstverständlich bedeutet dies noch lange nicht, daß sie von einem falschen "Urteil" ausgeht; ich möchte lediglich den voraussetzungslosen Charakter der Philosophie hervorheben. Der Naturwissenschaftler arbeitet mit (dem Allgemeinen) der Dingwelt, ohne auch wissen zu wollen, daß es Philosophen gab, die die Wirklichkeit der Dingwelt bestritten. In diesem Sinne  setzt  er die Wirklichkeit der Körperwelt  voraus.  Er geht also von einem Vorurteil aus. Es kann dieses sein Urteil auch wahr sein, nun bedeutet ja ein Vorurteil noch nicht ein falsches Urteil. Entscheidend ist nur, daß er bei dem Versuch, die objektiven, die von uns unabhängigen "Verhältnisse" und "Gesetze" zu "entdecken", voraussetzt und  keinem Zweifel unterwirft,  daß es eine materielle Wirklichkeit, die uns gegeben ist, gibt, die aber in ihrer Existenz von mir, von dir, von jedem Bewußtsein unabhängig ist. Ob es eine solche von uns unabhängige Wirklichkeit gibt und ob dies nicht für die Philosophen ein "Schein", eine "Jllusion" ist, ist ihm ganz einerlei. Ob diese von uns unabhängige materielle Wirklichkeit nicht "in ihrem Wesen" etwas Psychisches ist, das interessiert ihn gar nicht. Vielfach hat er sogar keine Ahnung, worin diese philosophischen Grübeleien bestehen. Er geht also von einer Voraussetzung, einem Vorurteil aus, er setzt etwas voraus, worüber man streiten kann, und woran man gezweifelt hat, was aber für ihn als Fachwissenschaftler nicht in Frage steht. In diesem Sinne nehmen alle Einzelwissenschaften ihren Anfang bei einem Vorurteil, womit ich die Bedeutung ihrer Resultate durchaus nicht herabsetzen will. Meine Ansicht ist, daß sie es als Fachwissenschaften auch  nicht anders können.  - Dasselbe macht auch der Psychologe. Wenn es kein Anschauliches (Körperliches) als etwas Verschiedenes und in seinem Bestehen vom Nichtanschaulichen (Seelischen) Unabhängiges gäbe, dann würden die Veränderungen der Seele ein Mysterium sein.

Bloß die Philosophie als Grundwissenschaft will die absolut voraussetzungslose, d. h. vorurteilslose Disziplin sein. Eben weil ihr Gegenstand nicht ein bestimmter Ausschnitt unserer Welt, sondern das schlechthin Allgemeine ist, deshalb muß sie auch mit etwas absolut Zweifellosem beginnen, was wir nicht in Frage stellen können, was also jeden Zweifel und jede Frage ausschließt. Ob es so etwas gibt, und was es ist, werden wir nachher sehen. Von Belang ist hier zu verstehen, daß das Gerede von "Voraussetzungslosigkeit" sinnlos bei einer  psychologistischen  Erkenntnistheorie ist, weil sie als eine, die auf dem Boden einer  Einzel wissenschaft (der Psychologie) aufgewachsen ist, nicht voraussetzungslos sein kann. Wir haben oben gesehen, ihre Voraussetzung lautete: der  Gegenstand der Erkenntnis  kann nicht  Gegebenes  sein. Zwischen diesen zwei "Sachen" gähnt eine Kluft, deren beide Ränder wir mit den Worten Transzendentes - Immanentes, oder im günstigsten Fall (wie das bei einer "immanenten" Philosophie der Fall ist) "Objekt-Subjekt" ausdrücken. Wirtschaftet eine Philosophie mit dem Gegensatz Immanentes - Transzendentes, meinetwegen mit der Scheidung "Objekt - Subjekt" (Bewußtseiendes  und  Denkendes, Gegebenes  und sein Besitzer,  das Bewußtsein  und  sein Inhalt) - ganz gleich was für einen "verfeinerten" Sinn sie dieser Entgegensetzung beilegt -, dann ist es sicher, daß sie keine vorurteilslose Untersuchung geben kann. Das, glaube ich, ist schon klar genug geworden, so daß wir einen Schritt weiter gehen dürfen.

13. Auf den Trümmern des "dogmatisch" genannten Psychologismus erwuchs die "kritische", die Kantische Philosophie. Bekanntlich gibt es viele Deutungen dieser Philosophie. Es kann uns hier selbstverständlich nur die interessieren, die den Kantianismus als den großartigen Anfang des teleologischen Kritizismus darstellen will: und der letztere ist es eigentlich, der uns in den folgenden Kapiteln unserer Arbeit hauptsächlich beschäftigen wird. Mit KANT, als Urvater unserer philosophischen Generation, beginnt, sagt man, die Zersetzung der alten, psychologistischen Lehrmeinung von der Erkenntnis. Die Spitze dieser Überwindung sollen nun die philosophischen Untersuchungen von WILHELM WINDELBAND und HEINRICH RICKERT sein. Deshalb ist es zweifellos zweckmäßiger, wenn wir das Vollendete, das Geschlossene, statt KANT, der angeblich mehr in großen und tiefen Zügen den Weg dieser kritisch-teleologischen Philosophie vorgezeichnet hat, unserer Prüfung unterziehen. Und der gegenwärtig teleologisch gefärbte Kritizismus hat nicht die Anmaßung, sich als ein Novum zu empfehlen, sondern gibt sich für nichts anderes aus als eine notwendige Konsequenz der durch KANT herbeigeführten Epoche in der Philosophie.
    "Hundert Jahre sind nun seit KANTs Tod verflossen, und doch bewegen sich in Deutschland die meisten philosophischen Untersuchungen noch immer in psychologistischer oder metaphysischer Richtung. Das beweist, daß wir noch in den Anfängen der kantischen Bewegung stehen, daß man vielfach noch gar nicht begriffen hat, wodurch sich die durch KANT angebahnte Analyse und Begründung der logischen Voraussetzungen der Erkenntnis von der Psychologie oder der Metaphysik der Erkenntnis unterscheidet" (RICKERT, Gegenstand der Erkenntnis, Vorwort, Seite V).
Mit diesen wehmütigen Worten, ich möchte hinzufügen: mit diesem Anklageakt beginnt die Philosophie, die wir unten prüfen wollen, für die wir uns bemühen werden, folgende Gegenklage geltend zu machen: Ungefähr zwanzig Jahrhunderte sind schon verflossen, seitdem die psychologistische Erkenntnistheorie wütet, und bis jetzt haben die Priester der sogenannten Philosophie fast noch gar nicht begriffen, worin der Bazillus dieser philosophischen Epidemie besteht, die unter dem Schleier - horribile dictu [wie schrecklich! - wp] - des Kantianismus und des teleologischen Kritizismus das gegenwärtige philosophische Denken zu ersticken sucht.
LITERATUR - Dimtri Michaltschew, Philosophische Studien - Beiträge zur Kritik des modernen Psychologismus, Leipzig 1909
    Anmerkungen
    1) HEINRICH RICKERT, Gegenstand der Erkenntnis, Einführung in die Transzendentalphilosophie, 2. Auflage, 1904, Seite 234
    2) WILHELM SCHUPPE, Grundriß der Erkenntnistheorie und Logik 1894, Seite 170
    3) WILHELM WINDELBAND, Präludien, 2. Auflage, Seite 304
    4) HERMANN SIEBECK, Der Begriff des Bewußtseins in der alten Philosophie, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, 1882, 2. Heft
    5) HERMANN SCHWARZ, Die Umwälzung der Wahrnehmungshypothesen, 1895
    6) Vgl. auch RICKERT, Gegenstand der Erkenntnis, 2. Auflage 1904, Seite 220
    7) Zu welchen Schwierigkeiten und Absurditäten diejenigen kommen, die absichtlich eine Psychologie  über  diesen Gegensatz, also  über  die offene oder heimliche Voraussetzung jeder Psychologie bauen wollen, darüber siehe: "Wechselwirkung oder Parallelismus" von JOHANNES REHMKE, Festschrift für Rudolf Haym, 1902.
    8) GOSWIN UPHUES, Psychologie des Erkennens, 1893, Anhang
    9) FRIEDRICH ÜBERWEG, Einleitung in die Philosophie von Oswald Külpe, 3. Auflage, Seite 174
    10) BOLZANO, Wissenschaftslehre I, Seite 379
    11) SCHUPPE, Grundriß der Erkenntnistheorie, Seite 121 und 146
    12) Dieser Beweis ist gegeben und ausführlich begründet von REHMKE im schon erwähnten Lehrbuch der allgemeinen Psychlogie, einem der tiefsten und originellsten Bücher unserer philosophischen Literatur, das leider sehr wenig bekannt und gewürdigt und noch weniger verstanden ist.
    13) Besonders klar und ohne Vorbehalt hat in neuerer Zeit SCHOPENHAUER mit dieser "selbstverständlichen Wahrheit" spekuliert. (Die Welt als Wille und Vorstellung I, den Anfang, ferner das Kapitel "Zur idealistischen Grundansicht", Bd. II. Vgl. auch die drei Deutungen, die JOHANNES VOLKELT an seiner berüchtigten Phrase: "die Welt ist meine Vorstellung" gibt. Dieselbe selbstverständliche Wahrheit ist auch der Grund, der Leute wie HELMHOLTZ genötigt hat zu behaupten, daß der subjektive Idealismus theoretisch unwiderlegbar ist, obschon man an ihn die härtesten Ausdrücke der Verwerfung richtet (Vorträge und Reden, 1896, Bd. II. Seite 238f.) Und sie ist es, die heute bedeutende Naturforscher veranlaßt, zu behaupten, daß die Außenwelt für sie ein Buch mit sieben Siegeln sei, und daß die Annahme einer außer unserer Psyche existierenden Welt jeder Berechtigung entbehrt (siehe MAX KASSOWITZ, Nerven und Seele, 1906, das Kapitel "Skepsis und Realität", Seite 419f und 517).
    14) Interessant ist in dieser Hinsicht ZIEHEN, der außer dem Gegebenen, das er, weil "alles"  meine  Empfindung und Vorstellung ist, für zu mir Gehöriges hält, noch eine zweite Welt von "reduzierten Empfindungen" annimmt, die er für unerfahrbar (also transzendent) erklärt. Ohne diese unerfahrbaren, nicht empfundenen Empfindungen ist nach ZIEHEN das Verständnis der Welt unmöglich. Er sagt wirklich, daß diese "reduzierten Empfindungen" ("Reduktionsbestandteile") nur den Wert von Vorstellungen und nichts mit einem sogenannten Ding-ansich zu tun haben. Aber all das hilft nicht. Auch hier wie bei jeder anderen psychologistischen Theorie der Erkenntnis stehen wir auf dem Boden der Entgegenstellung: Gegebenes und Nichtgegebenes. ZIEHEN will in den Grenzen unserer Vorstellungen bleiben, d. h. hier, er sucht den Rahmen des Gegebenen nicht zu überschreiten, aber sein psychologistischer Standpunkt treibt ihn hinaus aus dem Gegebenn, hinaus aus den Vorstellungen und Empfindungen. Sind doch seine "reduzierten Empfindungen", wenn auch "Empfindungen", gar nichts Gegebenes, Gedachtes, Bewußtseiendes; Bewußtseiendes, das nie Bewußtseiendes werden kann! Vgl. seine Psychophysiologische Erkenntnistheorie. 2. Auflage. Prinzipiell von denselben Irrtümern ist auch HANS CORNELIUS befangen, der ebenfalls alles, was uns gegeben ist, für psychisch hält, offenbar, weil er es als zum Bewußtsein Gehöriges auffaßt: das sind heute die Gelehrten, die als Vertreter des Panpsychismus in der Erkenntnistheorie bekannt sind, der in unserem Sprachgebrauch dem Solipsismus entspricht, mit dem auch CORNELIUS hoffnungslos ringt (Psychologie als Erfahrungswissenschaft, 1897, Seite 116f; ebenfalls KLEINPETER, Die Erkenntnistheorie der Naturforschung der Gegenwart, 1905, Seite 19 - 42.