p-4 F. StaudingerMFKA. Kroner M. PalágyiH. Ruin    
 
WILHELM ENOCH
Der Begriff der Wahrnehmung
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"Was ich nicht denken kann, das kann ich auch nicht wahrnehmen. Wenn dieser Satz richtig ist, so würde er eine Bedingung aussprechen, unter welcher alle Objekte stehen müssen, welche für mich wahrnehmbar sein sollen: sie müssen für mich denkbar sein. Dadurch würde die Wahrnehmung an das Denken gebunden und zwar in einer Weise, die unmittelbar dazu berechtigt, jene als ein modifiziertes oder als ein beschränktes Denken zu bezeichnen."

"Durch die Wahrnehmung, sagt man, wird das Materielle erkannt, durch das Denken das Formelle. Die einen halten die Materie für das Bessere, weil sie allein das Reale ist, das Wirkliche; die anderen aber ziehen die Form vor, weil sie das Reine, das Schönere, das Erkennbarere ist."


Kapitel 3
Wahrnehmung und Denken
[Fortsetzung]

§ 43. Es ist nicht schwierig, die physiologischen Bedingungen der Wahrnehmung, welche im Vorangehenden erörtert sind, mit dem Begriff der Apperzeption in Verbindung zu setzen. Wir verstanden unter Apperzeption - man verzeihe die Wiederholung der Erklärung - einen Zusatz, den, wie es scheint, jede Äußerung der Erkenntnis oder des Gefühls oder des Willens verträgt, durch welchen dieselben als bewußte erklärt werden. Man kann das Ich als den Begriff erklären, durch welchen die verschiedensten Äußerungen der Spontaneität zusammengefaßt werden. Indem irgendein Objekt bemerkt wird, findet die dabei ins Spiel tretende Aufmerksamkeit, falls sie selbst bemerkt wird, ihren Ausdruck in einem Satz, dessen Subjekt das Ich ist, und welcher, je nachdem, wofür der augenblickliche Zustand des physiologischen Subjekts gehalten wird, lautet: Ich sehe, ich höre, ich nehme wahr, ich fühle, ich denke, ich will. Wie nun die Aufmerksamkeit sich in dergleichen Apperzeptionssätzen ausdrückt, so kann ihre Ausübung auch selbst Apperzeption genannt werden. Die Apperzeption hat ihre Regeln oder Grundsätze, deren Richtigkeit freilich einer besonderen Prüfung bedarf. Einer derselben läßt sich vielleicht in diese Form bringen: Was ich nicht denken kann, das kann ich auch nicht wahrnehmen. Wenn dieser Satz richtig ist, so würde er eine Bedingung aussprechen, unter welcher alle Objekte stehen müssen, welche für mich wahrnehmbar sein sollen: sie müssen für mich denkbar sein. Dadurch würde die Wahrnehmung an das Denken gebunden und zwar in einer Weise, die unmittelbar dazu berechtigt, jene als ein modifiziertes oder als ein beschränktes Denken zu bezeichnen. Der genannte Satz aber ist vielleicht angreifbar und müßte besser so lauten: Was sich nicht denken läßt, das läßt sich nicht wahrnehmen. Auf diese Weise würde er besser mit der gewöhnlichen Menschenvernunft übereinstimmen, welche nicht zugeben wird, daß ein physiologisches Subjekt, das heißt, irgendein gewöhnliches Individuum nicht wahrnehmen kann, was ihm zu denken unmöglich war, bevor es etwas wahrgenommen hat. Aber in dieser Fassung verliert der Satz seine Beziehung zur Apperzeption. Es gibt jedoch noch eine dritte Fassung desselben, in welcher diese Beziehung wiederhergestellt wird, und welche deshalb hier genannt werden soll; sie lautet: Was ich nicht denken wollen kann (oder: denken darf), das kann ich auch nicht wahrnehmen. Dieser Satz darf vielleicht auf den vornehmen Gedanken eines Grundsatzes Anspruch erheben, umso mehr, als er nicht nur geeignet ist, dem Denken eine Regel zu geben, sondern zugleich auch dem Willen, und deshalb ebenso sehr ein praktischer Grundsatz ist, wie ein theoretischer. Aus welchen Gründen er als ein im hohen, ja vorzüglichen Maß vernünftiger oder Vernunftgrundsatz gelten kann. Er knüpft die Wahrnehmbarkeit an die Denkbarkeit und überhaupt an die Apperzeption. Da er aber die Wahrnehmbarkeit des Objekts von den Bedingungen der Wahrheit der Erkenntnis abhängig macht, so bildet er den passenden Übergang zu einer neuen Betrachtung, die eben von diesem Gesichtspunkt der Wahrheit ausgeht.

§ 44. Zuvor jedoch soll noch bemerkt werden, daß der physiologische Gesichtspunkt, von welchem aus Empfindlichkeit und Aufmerksamkeit als die Bedingungen der Wahrnehmung gefunden werden, sich in einen überführen läßt, der den Namen eines transzendentalen verdient. Damit jedoch das Nachfolgende nicht mißverstanden wird, so muß darauf hingewiesen werden, daß hier das Wort "physiologisch" im weitesten Sinne gebraucht wird, nämlich in der seiner Ableitung entsprechenden Bedeutung des naturwissenschaftlichen, jedoch mit der Beschränkung auf die experimentelle Naturwissenschaft. Dieser Wortgebrauch ist umso gerechtfertigter, als ja nicht nur die Physik eine Voraussetzung für die besondere biologische Physiologie ist, sondern auch diese, wie sich in unserer Zeit mehr und mehr herausgestellt hat, in den experimentellen Untersuchungen der Physiker berücksichtigt werden muß. Wenn man nun am physiologischen Standpunkt in seiner ganzen Strenge festhält, so hat eine jede physiologische Untersuchung es nur mit Beziehungen zwischen Körpern zu tun. Es ist aber in jeder physiologischen Untersuchung auch die Beziehung anderer Körper auf den eigenen Leib des Untersuchungen vorhanden. Dieselbe wird freilich aus methodischen Gründen mit Recht vernachlässigt; aber sie ist immer vorhanden, und ihre Berücksichtigung ist ebenfalls aus methodischen Gründen für eine andere Untersuchung erforderlich. Dieselbe geht davon aus, daß die Beziehung zwischen einem beliebigen physiologischen Objekt und einem beliebigen physiologischen Subjekt als eine dynamische Projektion jenes auf dieses angesehen werden kann; oder mit anderen Worten: das Objekt kann als eine Modifikation, als ein Modus des Subjekts (immer des physiologischen) angesehen werden. Diese Betrachtung und Bezeichnung hat für die Physiologie kaum irgendeinen Wert. Sie führt aber zu folgendem: Zu allen physiologischen Untersuchungen gehört der Physiologe; sein Leib ist der Träger der Projektionen aller Objekte; oder, alle Körper, welche für ihn vorhanden sind, sind Modifikationen seines Leibes, welcher daher in hervorragender Weise den Namen des Subjekts verdient. Alle Körper können unter diesem Gesichtspunkt mit einem zwar alterümlichen aber zeichnenden Ausdruck als objektive (d. h. auf ein Objekt bezügliche, von ihm verursachte) Modi eines Subjekts betrachtet werden. Auch diese Auffassung ist ohne jeden Wert für die physiologische Untersuchung. Denn wenn man jener selbst die äußerste Allgemeinheit gibt, indem man sie so ausdrückt: Alle Dinge sind objektive Modi des Subjekts: so ist dennoch vom physiologischen Gesichtspunkt unter Subjekt und Objekt nichts anderes zu verstehen, als was die Physiologie darüber lehrt. Dieselbe kann freilich den biologischen Standpunkt, von welchem sie ausging, verlassen und sich auf den der physikalischen Hypothese stellen. Alsdann verlieren allerdings Subjekt und Objekt einen großen Teil der Merkmale, welche sie als Körper einer biologisch-physiologischen Untersuchung haben. Aber zur Erklärung dieser Merkmale sind dann metaphysische Hypothesen nötig. Das Subjekt muß dann ebensowohl metaphysisch rekonstruiert werden wie das Objekt. Hierbei aber kann jener Satz, der das Objekt als einen objektiven Modus des Subjekts anspricht, genutzt werden. Man kann das Objekt zu einem Produkt des Subjekts machen, indem man dieses isoliert. Dazu aber ist nötig, daß man ihm ein Substrat giebt, eine metaphysische Unterlage, welche wie eine Monade von LEIBNIZ oder wie das Ich FICHTEs oder auch wie ein Atomkomplex gedacht werden kann. In allen diesen Fällen produziert das Subjekt aus sich das Objekt, sei es nun völlig spontan oder durch eine Selbstaffektion, sei es veranlaßt durch etwas anderes als das ist, was als sein Selbst definiert wurde. Wenn aber das Subjekt Ursache des Objekts wird, so ist es auch immer möglich, die Wahrnehmung auf das Denken zurückzuführen. Dasselbe steckt stets zu tief im Innern des ursprünglichen physiologischen Subjekts, als daß auch die subtilste metaphysische Spekulation, wenn sie einmal das Objekt aus dem Subjekt herleiten will, es zur Konstruktion des Objekts vernachlässigen könnte, es sei denn, daß sie sich dies geradezu vorgenommen hätte. Weil sich also vermuten läßt, daß die Auffassung, welche die Objekte aus dem Subjekt entstehen läßt, in die Gedankengänge zurückführt, durch die im vorigen Abschnitt die Intellektualität der Erkenntnis zu begründen versucht wurde, so mögen die Spekulationen von der Produktion des Objekts (zu denen auch die in § 28 erwähnte Objektivation SCHOPENHAUERs gehört) hier nicht weiter entwickelt werden.

§ 45. Wir kehren zu dem Satz zurück, der selbst den transzendentalen Gesichtspunkt noch nicht völlig ausspricht, aber doch eine Vorstufe desselbe ist, zu dem Satz: Alle Dinge sind objektive Modi des Subjekts. Er ist bereits ziemlich unbestimmt, aber er muß noch unbestimmter werden; denn solange noch Dinge angenommen werden, ist immer der physiologische Standpunkt festgehalten und der wahrhaft transzendentale noch nicht erreicht. Soll ferner das Subjekt völlig aufhören, ein physiologisches Subjekt zu sein, so müssen alle Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt, welche von einem physiologischen Standpunkt herrühren, aufgehoben werden. Nur die Beziehung des Objekts zum Subjekt selbst darf übrig bleiben. Der Satz, der diese ausdrückt, kann dann lauten: Das Subjekt ist eine Bedingung der Objektivität, ein Satz, den ich, wiewohl ich den seltsamen Klang der Worte scheue, noch angemessener so ausdrücken möchte: Die Subjektivität ist eine Bedingung der Objektivität. Um von diesem Satz einen Gebrauch zu machen, um aus ihm Einsichten herzuleiten, muß untersucht werden, ob sich, bei Aufhebung jeglicher physiologischer Begründung, irgendwelche Objekte finden lassen. Wenn es solche gibt, so können die Bedingungen dieser Objekte für die Subjektivität in Anspruch genommen werden. Daß diese Art von Subjektivität aber als die Natur des physiologischen Subjekts angesehen wird, dafür hat man weiter keine anderen Gründe, als den begrifflichen Zusammenhang, welcher zwischen der Subjektivität überhaupt und dem physiologischen Subjekt besteht. Es gelten nun als Objekte nicht-physiologischer Art mathematische Gestalten und reine dynamische Verhältnisse; ihre Objektivität ist freilich anderer Art als die der physiologischen Objekte; ihre Existenz wird nicht mit der Berufung auf das Zeugnis der Sinne begründet und ist daher auch anderer Art als die der physiologischen Objekte, weshalb man dann sogar mit Recht fragen kann, inwiefern sie eigentlich den Namen von Objekten verdienen. Diese Frage gehört jedoch zu denjenigen, deren Beantwortung nur durch den Hinweis auf die Tat oder durch die Tat selbst möglich ist. Es rechtfertigt die Beziehung, in welche sie zu den materialen Objekten (der Physiologie) gesetzt werden, durch den Gebrauch, den man vom Begriff formaler Objekte macht. Ich muß mir jedoch versagen, diese Gedanken weiter auszuspinnen, so unvollständig sie sind. Sie sind Ansätze, die, wie mir scheint, bei einer weiteren Ausspinnung auf dasjenige führen müssen, was KANT unter der Ableitung der Bedingungen möglicher Erfahrung verstand. Die Tendenz einer solchen Untersuchung geht dahin, zu erweisen, daß ohne die Voraussetzung der Intellektualität der Erkenntnis Objekte überhaupt nicht möglich sind. Der Nachweis selbst aber steht im engsten Zusammenhang mit einer Untersuchung über die Bedingungen der Wahrheit der Erkenntnisse, von der nachher kurz gehandelt werden soll.

In der soeben versuchten schwachen Skizze einer Ableitung der Intellektualität der Erkenntnis als einer subjektiven Bedingung der Objektivität ist gar keine Rücksicht genommen auf diejenige Erforschung der subjektiven [mfk] Bedingungen, welche mittels des sogenannten Selbstbewußtseins oder aus den sogenannten Tatsachen des inneren Bewußtseins vermeintlich gewonnen werden können. Nun soll gewiß nicht geleugnet werden, daß nicht auch der Begriff Ich und der Satz "Ich bin" für derartige Untersuchungen den Ausgangspunkt abzugeben vermöchten. Vielmehr muß hier, wo es sich um die Aufzeigung möglicher Betrachtungsweisen handelt, ausdrücklich hervorgehoben werden, daß dieser Ausgangspunkt ebenfalls möglich ist. Aber es scheint mir zugleich, daß das Ich und die an diesen Begriff geknüpften Sätze sich nur dem Ausdruck, nicht aber dem Gedankengang und Inhalt nach, von denjenigen unterscheiden, welche davon ausgehen, alle Objekte als objektive Modi des Subjekts zu bestimmen. Aber genug von diesen schwierigen Dingen, über die viel Begründetes zu sagen, eine ungeheure und doch vielleicht stets unzulängliche Anstrengung des Denkens und Arbeitens erfordert, wenn man nichts Verworrenes hervorbringen will, über die wenig zu sagen, auch nur wenig gefördert, über die aber gar nichts zu sagen der Wunsch hindert, im Zusammenhang der Untersuchung keine Lücke zu lassen, sondern sie lieber durch eine unzulängliche Erörterung freimütig einzugestehen, als sie durch ein kluges Schweigen zu verdecken.

§ 46. Wir gehen nun zur Untersuchung der Wahrheit der Erkenntnis über, um zu sehen, welche Gesichtspunkte sich für das Verhältnis der Wahrnehmung zum Denken aus dieser Betrachtung ergeben. Gewiß läßt sich sehr viel über den Anteil sagen, den einerseits die Wahrnehmung, andererseits das Denken an der Wahrheit der Erkenntnis hat. Das meiste aber, was dieser Art vorgebracht werden kann, gewährt weniger eine Einsicht in die Natur der Wahrnehmung, als eine Ansicht über den Wert derselben, insofern sie ein Mittel der Erkenntnis ist. Die Natur [ding-ansich] der Wahrnehmung, ihr Begriff, muß vielmehr als bekannt vorausgesetzt werden, wenn man über ihren Wert urteilen will. Dies hat aber nicht verhindert, daß von jeher über den Wert der Wahrnehmung, namentlich im Vergleich zum Wert des Denkens, sehr viel geurteilt worden ist, indem zumeist das Wesen und der richtige Begriff derselben als bekannt angenommen wurden, obwohl zumeist wahrscheinlich mit Unrecht. Der Vorzug, welcher bald dem Denken vor der Wahrnehmung, bald dieser vor jenem zugestanden wird, kommt eigentlich den Erkenntnissen zu, oder gar den ferneren Wirkungen, die durch die Erkenntnisse eines jeden jener beiden Vermögen hervorgebracht werden, wird aber von den Produkten auf die Mittel oder Ursachen übertragen. Aus dem Umstand aber, daß sowohl das Denken wie die Wahrnehmung als das Vorzüglichere angesprochen sind, können die, welche in diesem Streit nicht nur Stellung nehmen, sondern eine von den beiden streitenden Parteien anzuerkennende Entscheidung geben wollen, vielleicht den Schluß ziehen, daß weder das Denken noch die Wahrnehmung derjenigen Vorzüge völlig ermangelt, welche von den Liebhabern der einen oder der anderen Erkenntnisart für jede allein in Anspruch genommen werden. Mit kantischen Ausdrücken läßt sich vielleicht am besten aussprechen, welche Eigentümlichkeiten dem Denken und der Wahrnehmung hinsichtlich ihres Wertes zugeschrieben sind. Durch diese, sagt man, wird das Materielle erkannt, durch jene das Formelle. Die einen halten die Materie für das Bessere, weil sie allein das Reale ist, das Wirkliche; die anderen aber ziehen die Form vor, weil sie das Reine, das Schönere, das Erkennbarere ist. Nun gibt es aber keine Erkenntnis, die ausschließlich nur die Form betrifft; selbst das reinste Denken kann sich nicht ganz von der Materie frei machen; und wenn es sich die Befreiung von der Materie vornimmt, so gerät es in das Gebiet des Leeren und Inhaltlosen, so wird es ein Spiel, nicht allein mit leeren Gedanken, sondern sogar mit leeren Worten. Andererseits aber gibt es auch keine Erkenntnis, die bloß materiell wäre. Die Wahrnehmung, so gedankenarm sie werden kann, würde doch nie völlig gedankenlos, weils sie sonst ganz aufhören würde. Sie tritt stets mit dem Anspruch auf, auch wo er unausgesprochen bleibt, denkbar zu sein. Sie verrät dies dadurch, daß sie nicht glaubt, verändert zu werden, wenn sie in Worte gefaßt wird. Wo eine Wahrnehmung aber in einem Satz behauptet wird, da wird sie als begründet behauptet, bzw. als begründbar. Nun kann man sagen, daß die Begründung oder der Anspruch auf Begründung erst immer durch das Aussprechen in die Wahrnehmung hineingetragen wird. Aber wie wäre dies möglich, wenn nicht sie selbst diesen Anspruch erheben würde, auch ohne daß sie ausgesprochen wird? Kurz: man kann sagen, weil die Wahrnehmung einen Anspruch auf Wahrheit erhebt, und nach der Meinung vieler Menschen mit Recht, eben deshalb enthält sie auch ein Denken in sich. Also führt auch diese Betrachtungsweise auf die Annahme der Intellektualität der Erkenntnis überhaupt und der Wahrnehmung insbesondere.

§ 47. Alle die im Vorangehenden beigebrachten Gesichtspunkte für diese Annahme finden ihre Zusammenfassung und Bestätigung dadurch, daß wir nun zeigen, inwiefern sich die drei oben (§ 30) unterschiedenen Ansichten vom Wesen des Denkens auf die Wahrnehmung anwenden lassen. Erstens kann die Wahrnehmung so gut wie das Denken als eine Erkenntnis begrifflicher Gegenstände angesehen werden. Zwar sind die Objekte der Wahrnehmung keine reinen Begriffsgegenstände, wie sie etwa erkannt werden könnten, wenn das Denken ganz und gar bei sich, mit den eigensten Produkten des Geistes beschäftigt wäre. Aber es erscheinen doch die reinen Begriffe in den Objekten der Anschauung in einer solchen Weise, daß sie von diesen losgelöst werden können, was nicht möglich wäre, wenn sie nicht mit den materialen Elementen der Gegenstände zugleich wahrgenommen werden würden. Ja, der einzelne Gegenstand könnte kein Objekt der Wahrnehmung sein, besäße das Subjekt nicht den Begriff oder Gedanken eines Gegenstandes überhaupt, und all die anderen Begriffe, ohne welch Objekte der Erfahrung unmöglich sind. Eine Wahrnehmung, welche nicht den Gegenstand als etwas überhaupt erkennen würde, hätte gar kein Objekt. Aber auch, wo der Gegenstand als ein bestimmterer wahrgenommen wird, etwas als etwas Farbiges, wird zugleich der Begriff der Farbe, und somit auch der der Qualität, erkannt. Dabei ist es natürlich gleichgültig, woher der Begriff stammt, ob aus dem Subjekt oder aus dem Objekt. Dieses Verhältnis der Wahrnehmung zum Denken bleibt ganz dasselbe, auch wenn man die zweite Auffassung vom Wesen des Denkens teilt, nach welcher demselben keine besonderen, reinen, von den Gegenständen der Wahrnehmung ablösbaren und ursprünglich abgelösten Gegenstände zukommen, sondern das Denken nur eine besondere Richtung der Aufmerksamkeit auf die Formen und Beziehungen der Objekte ist. Da ohne das Bemerken der Formen und Beziehungen die Gegenstände überhaupt nicht erkannt werden würden, so muß die Wahrnehmung entweder in dieser eigentümlichen Tätigkeit bestehen, oder doch an ihr teilhaben. Ein Gegenstand muß notwendig in einer zeitlichen Beziehung, meistens auch in einer räumlichen wahrgenommen werden, jedenfalls aber in den begrifflichen Formen, nämlich als Gegenstand überhaupt oder als etwas Daseiendes [existe pas], auch in irgendeiner Quantität, Qualität und Relation. So sehr diese Formen Gegenstände des Denkens sind, so sind sie doch zugleich auch stets Teilinhalte der Wahrnehmung. Die dritte Ansicht vom Wesen des Denkens wird das Letztere gern zugeben, daß daß die Formen und Beziehungen wahrgenommen werden; aber sie wird dieselben nicht als besondere Denkobjekte anerkennen. Sie hält das Denken für nichts anderes als ein derartiges Anschauen, welches bei vorhandener Sprachfähigkeit das Sprechen oder ähnliche Ausdrucksbewegungen ermöglicht. Auf diesem Standpunkt wird es kaum möglich sein, einen Unterschied von Denken und Wahrnehmung festzuhalten, da ja diese ebensowohl zum Sprechen befähigt, wie die andere Art der Anschauung, die es noch gibt, die Erinnerung. Die Wahrnehmung ruft Worte und Sätze unmittelbar auf die Zunge; sie kann, wie die Erinnerung, von einem fortlaufenden Sprechen begleitet werden. Das Wahrnehmungsobjekt hat seinen Namen und seine Benennung so gut wie der Gedanke, der auf diesem Standpunkt wohl nur als ein Erinnerungsobjekt gelten kann. Der Grundgedanke dieser ganzen Erörterung über das Verhältnis des Denkens zur Wahrnehmung läßt sich so ausdrücken: Die Wahrnehmung steht wie die Anschauung überhaupt nicht in einem wesentlichen Gegensatz zum Denken; man kann denkend anschauen und anschauend denken; während ein Denken ohne Anschauung leer ist, ist ein Anschauen (also auch ein Wahrnehmen) ohne Denken sogar blind und deshalb auch gar keine Erkenntnis.

§ 48. Es bleibt jetzt noch übrig, die besonderen Erklärungen der Wahrnehmung als eine Art oder Äußerung des Denkens zu entwickeln. Wie oben (§ 30) vorausgeschickt wurde, zerfällt das Denken nach der gewöhnlichen Ansicht in drei Tätigkeiten oder Arten, in ein Begreifen oder Begriffsbildung, in Urteilen und Schließen. Man kann somit die Frage aufwerfen, welche von diesen drei Denkarten an der Wahrnehmung beteiligt ist, oder ob vielleicht alle drei zum Wahrnehmen erforderlich sind, kurz, in welchem Verhältnis die Wahrnehmung zu ihnen steht. Man könnte den Versuch machen, die hauptsächlichsten der darüber möglichen Ansichten zu entwickeln, indem man berücksichtigt, daß von den drei Arten des Denkens eine jede als die wesentlichste, als die den anderen zugrunde liegende angesehen werden kann, und daß dadurch die Möglichkeit einer verschiedenartigen Erklärung der Beziehung des Denkens zur Wahrnehmung gegeben ist. Wir müssen es uns aber versagen, in die Tiefen dieser Erörterung einzudringen; die Schwierigkeiten sind zu groß; und uns damit begnügen, nur zwei Ansichten zu besprechen, nämlich zuerst diejenige, nach welcher die Wahrnehmung ein Urteilen ist, und sodann diejenige, welche sie mit dem Schließen in Verbindung setzt. Die Wahrnehmung aber als Begriffsbildung, als Begriffsentwicklung oder als ein Begreifen darzustellen, dies scheint fast eine Unmöglichkeit. Dennoch möchten wir nicht mit Sicherheit behaupten, daß dies unmöglich ist; denn was wäre wohl einer entschlossenen Spekulation unmöglich? Wir verzweifeln aber an unserer Fähigkeit, sie durchzuführen und fühlen uns auch nicht imstande, die Wahrnehmung als Art des Urteilens und des Schließens auf rein spekulativem Weg darzustellen. Wir werden uns vielmehr, besonders hinsichtlich der urteilstheoretischen Erklärung der Wahrnehmung, an die tatsächlich gemachten Versuche halten. FRANZ BRENTANO hat in seiner "Psychologie vom empirischen Standpunkt" (Leipzig 1874) hat den Versuch gemacht, die Wahrnehmung als eine Art des Urteils darzustellen, manche haben sich an ihn angeschlossen und viele sind seinen Anregungen gefolgt. Die Klarheit seiner Darstellung, die Scharfsinnigkeit seiner Beweise, das Einleuchtend seiner Absicht sind durchaus geeignet, seiner Ansicht Freunde zu werben. Wir wollen dieselbe im Folgenden wiedergeben und zugleich die Fäden aufzeigen, welche dieselbe mit den dargestellten allgemeinen Gedanken über die Intellektualität der Wahrnehmung verbinden. Dabei werden wir, ohne eine abschhließende Beurteilung der Lehre BRENTANOs zu beabsichtigen, nicht umhin können, einige Einwände gegen dieselbe mit anzuführen.

§ 49. Der Zweck von BRENTANOs Untersuchungen ist vorzüglich, die Gültigkeit einer von ihm neu aufgestellten Einteilung der psychischen Phänomene, wie er es nennt, oder der Seelenvermögen, nachzuweisen. Er unterscheidet drei Hauptklassen: Vorstellung, Urteil und Phänomene von Liebe und Haß. In dieser dritten Klasse vereinigt er, was er in der gewöhnlichen Psychologie und auf in dem hier vorausgesetzten System als Gefühl und Wille unterschieden wird. Vorstellung und Urteil aber entstehen durch eine Trennung der sonst angenommenen Klasse des Erkenntnis- oder, wie es auch oft genannt wird, Vorstellungsvermögens in zwei besondere Klassen. Die Erkenntnis zerfiel bei uns in Anschauung und Denken; jene aber in Wahrnehmung und Erinnerung. Da nun BRENTANO seine Vorstellung in Empfindungs- und Phantasievorstellung einteilt, so deckt sich sein Begriff der Vorstellung mit unserem der Anschauung und sein Sprachgebrauch entspricht einer (§ 17) erwähnten Anwendung dieses Wortes. BRENTANOs Urteilsklasse ist durchaus dieselbe wie die, welche wir Denken nennen. Seine Bezeichnung drückt aus, daß er die zugrundeliegende Funktion des Denkens, die eigentliche Tätigkeit des Verstandes (im engeren Sinne des Wortes) im Urteilen findet und Begriff und Schluß auf jenes zurückführt. Der hauptsächlichste Unterschied zwischen dem System BRENTANOs und dem gewöhnlichen besteht in der veränderten Stellung des Begriffs der Wahrnehmung, und im Verhältnis desselben zu dem der Empfindung. Diese nahmen wir als eine Art der Wahrnehmung an, so daß das Empfundene immer auch ein Wahrgenommenes ist. Bei BRENTANO ist es der Empfindung nicht wesentlich, daß ihr Inhalt wahrgenommen wird; er braucht nur vorgestellt (bei uns: angeschaut) zu werden. Dadurch, daß der Begriff der Wahrnehmung ganz aus dem Gebiet der Vorstellung herausgesetzt wird, unterscheidet sich BRENTANOs System am eingreifendsten von den gebräuchlichen; denn die Trennung von Vorstellung und Urteil ist in der Unterscheidung von Anschauen und Denken, oder nach einer noch älteren Bezeichnung, von niederem und höherem Erkenntnisvermögen, bereits vorgebildet. Auch die Vereinigung von Gefühl und Wille in eine Klasse ist nur die Wiederherstellung derjenigen Zusammenfassung, die sie ehemals unter dem Namen des Willens oder des praktischen Seelenteils vereinigte. Rein vom Gesichtspunkt der Einteilung aus betrachtet, ist das auffallendste am System BRENTANOs, wie gesagt, die Stellung der Wahrnehmung. Wenn man genauer in dasselbe eindringt, so sieht man, daß auch alles von diesem Begriff abhängt. Die Unterscheidung der Hauptklassen selbst hat BRENTANO zwar zum Hauptgegenstand seiner Erörterung gemacht, aber dieselbe gipfelt in seiner Theorie des Urteils. Für die Richtigkeit derselben ist sein Begriff der Wahrnehmung der Prüfstein. Gehen wir auf das Einzelne nun genauer ein.

§ 50. CARL STUMPF, der ein Anhänger BRENTANOs ist, hat in seiner ausgezeichneten "Tonpsychologie" (1883, Seite 96) folgende Erklärung der Wahrnehmung: Sie sei das Bejahen oder Bemerken (Erfassen, Setzen, Anerkennen) eines Inhaltes. Die Inhalte zerfallen nach ihm in absolute oder Sinnesinhalte (auch Empfindungen genannt) und in relative oder Relationen (Verhältnisse, Beziehungen), die sich an oder zwischen den absoluten Inhalten befinden. Beide Arten von Inhalten können für sich, aber natürlich auch zusammen wahrgenommen werden. Im Ganzen versteht STUMPF unter Wahrnehmung hier das, was beispielsweise WUNDT als Apperzeption bezeichnet, einen Begriff, den auch STUMPF annimmt, aber lieber durch das Wort Auffassung bezeichnen möchte. Hinsichtlich der experimentellen Untersuchungen, welche STUMPF in der Tonpsychologie anstellt, bewährt sich sein Begriff der Wahrnehmung durchaus. Da er im Hinblick auf dieselben gebildet ist, so trifft hier zu, was wir über psychologische Begriffe und ihre Bezeichnung vorausschickten (vgl. oben § 10), daß jene bestimmt und diese eindeutig sind, sobald anstelle der allgemeinen psychologischen Spekulation bestimmte Vorgänge und ihre Untersuchung die Grundlage der Begriffsbestimmung und Bezeichnung werden. Die allgemeinere Bedeutung dieses Begriffs der Wahrnehmung werden wir bei BRENTANO suchen müssen und zu diesem Zweck nun denselben innerhalb der übrigen Begriffe seines Systems betrachten. Von vornherein ist klar, daß dabei alles auf das Verhältnis der Wahrnehmung zur Empfindung ankommt. Denn wie es ja einerseits allgemein zugestanden und auch von BRENTANO angenommen wird, daß die Wahrnehmung durch Empfindung bedingt ist, oder zumindest ein wichtiger Teil der Wahrnehmung, nämlich die äußere, auf Empfindung beruth, so ist andererseits der Hauptpunkt aller Meinungsverschiedenheiten über die Psychologie der Wahrnehmung der, wie aus Empfindung Wahrnehmung wird. Außerdem ist, wie sonst auch, die Empfindung für BRENTANO dasjenige Element der psychologischen Untersuchung, mit dem sie zu beginnen hat, oder welches ihre letzte Voraussetzung ist. Das Letztere trifft in der Psychologie BRENTANOs insofern zu, als er zwei Arten von Vorstellung unterscheidet, nämlich solche, die auf Empfindung und solche, die auf Phantasie (Einbildungskraft) beruth. Die Vorstellung ist ihm die einfachste Art des Bewußtseins, woraus folgt, daß die Empfindung, insofern sie Ursache der Vorstellung ist, nicht mit zum Bewußtsein gehört; sie ist als ein physisches Phänomen anzusehen; ihr eigentliches Wesen ist deshalb ein metaphysisches. Denn nach BRENTANO kommt nur den Tatsachen der inneren Erfahrung, also den Erscheinungen, die das Bewußtsein ausmachen, eine unmittelbar zugestehende Wirklichkeit zu. Das Wesen der physischen Phänomene dagegen ist metaphysisch. Der Unterschied von Empfindung und Vorstellung, wie ihn BRENTANO auffaßt, ist der Unterschied des Unbewußten und des Bewußten, ein Unterschied, den wir einen metaphysischen nennen. Dadurch, daß für BRENTANO die Vorstellung die den anderen Formen des Bewußtseins zugrundeliegende Form desselben ist, hat die Psychologie für ihne eine selbständige Grundlage; umsomehr, als er den Unterschied der Empfindungsvorstellung von der Phantasievorstellung wahrscheinlich für einen solchen ansieht, der unmittelbar durch die innere Wahrnehmung erkannt wird. In der Form der Vorstellung aber äußert sich auch diejenige Kraft oder das Vermögen, welches für alles Bewußtsein erforderlich ist, nämlich die Rezeptivität oder Empfänglichkeit. Durch Vorstellung werden die Inhalte gewonnen, empfangen oder gegeben, auf welche sich die weiteren Tätigkeiten des Bewußtseins beziehen. So bewahrt BRENTANOs Begriff der Vorstellung das meiste von dem, was auch sonst unter diesem Begriffe verstanden wird. Aber er unterscheidet sich dadurch von anderen Auffassungen, daß das Merkmal der Erkenntnis ausdrücklich von ihm ausgeschlossen ist. Durch Vorstellen wird nach BRENTANO nichts erkannt, sondern nur etwas für die Erkenntnis gegeben. Die Vorstellung ist ihm aber nichts anderes als die Repräsentation eines Objekts, aber Repräsentation ohne das Bewußtsein der Repräsentation, also eigentlich nur ein psychisches Bild. Er findet durch seine innere Wahrnehmung in sich ein Vermögen, Inhalte vorzustellen, abzubilden, ein Vermögen, das aus sich heraus nichts erkennt, sondern erst Erkenntnis wird, wenn eine andere Tätigkeit hinzukommt. Da ich keine psychologische Lehre verstehe, wenn ich mich bloß auf den Standpunkt desjenigen stelle, der sie vorträgt, so sei mir gestattet, hier für die Unterscheidung von Vorstellung und Erkenntnis nicht nur BRENTANOs Mittel der inneren Wahrnehmung zu benutzen, sondern auch die Gesichtspunkte, welche im Laufe dieser Untersuchung aufgefunden werden. Um dies aber zu können, muß BRENTANOs Gedanke in unsere Sprache übersetzt werden. Denn für uns war Vorstellung und Erkenntnis kein Gegensatz; im Gegenteil, je nach der Definition der "Vorstellung" ist diese die Art zum Begriff der Erkenntnis oder die Gattung. BRENTANO versteht unter Erkenntnis das Bewußtsein der Wahrheit oder Falschheit, oder das Wissen. Uns war das Problem aufgestoßen, wie Anschauung ein Wissen werden kann, ob dazu nicht das Denken erforderlich ist und als die maßgebende Ansicht darüber hatte sich das kantische Wort "Anschauung ohne Begriff ist blind" herausgestellt. Denselben Sinn hat, wie mir scheint, die Lehre BRENTANOs, daß die Vorstellung nicht Erkenntnis ist. Das Eigentümliche derselben ist aber, daß sie für jeden kantischen Satz, der sich eigentlich nicht auf die Natur unseres Geistes bezieht, sondern auf die verschiedenen Methoden, durch welche wir Erkenntnis erlangen, eine psychologische Begründung gibt, oder ihn vielmehr ins Psychologische übersetzt. KANT würde ferner sagen, daß die Anschauung ohne Begriff überhaupt kein Objekt hat, daß sie aber immer noch in gewisser Weise eine Erkenntnis ist, insofern, als sie, sobald nur irgendein Begriff, sei es auch der allgemeinste und unbestimmtest, hinzukommt, sich zur Erkenntnis zu erhellen beginnt. Nach BRENTANO jedoch hat die Vorstellung wohl einen Inhalt, aber derselbe ist kein erkannter. Es liegt hier offenbar ein Unterschied in der Auffassung zwischen KANT und BRENTANO vor; aber es ist zweifellos, daß dieser bei seiner psychologischen Unterscheidung vom kantischen Gesichtspunkt, den wir oben den transzendentalen genannt haben, geleitet ist.

§ 51. Diejenige Tätigkeit, auf welcher nach BRENTANO die Erkenntnis beruth, ist das Urteilen. Nur im Urteil liegt Erkenntnis vor. Die eigentümliche Natur desselben - wir würden sagen, des Denkens überhaupt - schien uns schwierig anzugeben zu sein. Die unbestimmte und sehr allgemeine, ja metaphysische Kraft der Spontaneität sollte es erklären. BRENTANO aber weiß aufgrund der inneren Erfahrung, die Natur des Urteils sehr genau zu beschreiben; er sagt, es sei ein Anerkennen oder Verwerfen des vorgestellten Inhalts. Diese Erklärung erscheint insofern annehmbar, als sie den Begriff der Spontaneität illustrieren kann. Dieselbe erschien als eine eigentümliche Aktivität, dem Willen ähnlich, aber nicht mit ihm zusammenfallend. Anerkennen bezeichnet in der Tat eine derartige Tätigkeit, welche einerseits eine Äußerung des Willens, nämlich ein Billigen, Vorziehen, andererseits aber Erkenntnis oder mit BRENTANOs Ausdruck: Vorstellung ist. Der Begriff der Anerkennung ist also mit dem der Spontaneität verwandt. Ob er nun, er, der als ein Begriff der inneren Erfahrung, als ein empirischer Begriff in Anspruch genommen wird, besser geeignet ist, das Denken zu erklären, als jener "metaphysische" Begriff der Spontaneität, darüber wagen wir nichts zu entscheiden. Daß aber mit dem Begriff der Anerkennung einem speziellen Problem, nämlich dem der Wahrnehmung nicht geholfen werden kann, das zu zeigen wollen wir nicht unterlassen.

Daß die Wahrnehmung als eine Art des Urteils gelten kann, kann man daraus entnehmen, daß sie mit dem Anspruch auftritt, Erkenntnis zu sein. Deshalb gibt BRENTANO auch jenem Wort die Bedeutung des Für-wahr-nehmens. Nun hat eine Anerkennung im Sinne eines Für-wahr-nehmens oder Führ-wahr-haltens einen unbezweifelbaren Sinn gegenüber einem Satz, gegenüber einer ausgesprochenen oder unausgesprochenen Behauptung, oder, wie wir die letztere nennen wollen, gegenüber einem Gedanken. Aber was soll es heißen, daß man einen absoluten Sinneninhalt, einen bloßen Vorstellungsinhalt anerkennt oder gar verwirft? Um ein Beispiel BRENTANOs zu benutzen, so kann ich einen "gelehrten Vogel" insofern verwerfen, als mir diese Kombination von Worten ziemlich seltsam oder nutzlos oder albern vorkommt, aber es gelingt mir weder den Inhalt dieser Vorstellung zu verwerfen, noch anzuerkennen. Die Zumutung, einen Vorstellungsinhalt zu verwerfen oder anzuerkennen, erscheint mir vielmehr wie etwa das Ansinnen, die Tugend zu vergolden oder zu versilbern. Meine innere Erfahrung lehrt mich im einen wie im anderen Fall, daß ich dergleichen gar nicht versuchen möchte. Wenn man mir nun gar sagt, daß einen Vogel wahrnehmen so viel heißt wie ihn anerkennen, und daß das Anerkennen des Vogels den Unterschied der Wahrnehmung desselben von der Vorstellung desselben ausmacht, so muß ich aufgrund einer aufrichtigen Gewissens- und Bewußtseinsprüfung gestehen, daß ich den Wortkombinationen "Anerkennung eines Vogels" so wie etwa "Begabung eines Vogels" keine Anerkennung zuteil werden lassen kann; ja, sogar der gelehrte Vogel scheint mir weniger verwerflich zu sein als der bejahte Vogel. Mit diesem Argument aus der inneren Erfahrung scheint mir die vorliegende Wahrnehmungstheorie, welche auf diesem Fundament aufbaut, widerlegt werden zu können. Was die anderen Argumente, welche BRENTANO zugunsten seiner Theorie anführt, angeht, besonders die Rückführbarkeit aller Sätze auf die Form von Existenzialsätzen, so betrifft dies mehr die Urteilslehre im Allgemeinen, als die Theorie der Wahrnehmung. Aber es tritt auch hierbei hervor, daß der Begriff der Gültigkeit oder Richtigkeit zwar ein Prädikat ist, welches Sätzen zukommt, d. h. der Zusammensetzung von Worten, aber nicht einzelnen Wörtern. Nach BRENTANO stellen die Formeln: "A ist" und "A ist nicht" die Form aller Sätze dar, insofern sie Urteile ausdrücken. Nun muß jeder zugeben, daß, wenn die Bedeutung des "ist" und des "ist nicht" Anerkennung und Verwerfung sein soll, der Satz A deshalb anerkannt wird, weil er für richtig oder für gültig gehalten wird und ebenso verworfen wird, weil er für falsch oder für ungültig gehalten wird. Wollte aber einer dies umkehren und sagen: weil man einem Satz zustimmt, deshalb soll man ihr für wahr halten, weil man ihn verwirft, deshalb für falsch, so würde er die Wahrheit von der Willkür abhängig machen. Das Gültigkeitsbewußtsein oder das kritische Verhalten kann sich aber nur auf Sätze, auf Behauptungen, auf Gedanken erstrecken; von einem bloßen Vorstellungsinhalt, von einem absoluten Inhalt, wie es eine Farbe ist, oder von einer bloßen Relation, wie Größe oder Länge, kann man nicht sagen, sie seien wahr oder falsch, auch nicht von ihren Namen, daß er falsch oder richtig ist. Selbst von einem zusammengesetzten Ding kann man nicht sagen, es sei falsch oder wahr. Freilich läßt sich dies nicht an einer Formel erkennen, welche nicht nur die Unterschiede der Sätze und zwar durchaus bedeutungsvolle Unterschiede derselben völlig verdeckt, sondern, was viel schlimmer ist, die Verschiedenheit unserer Gedanken, denen schon die Sprachmittel nicht in angemessener Weise zu folgen vermögen, völlig aufhebt. Behauptet man von einem Gegenstand, daß er wirklich ist, so bedeutet das nicht, daß der Gegenstand wahr ist; behauptet man von einem Satz, daß er wahr ist, so heißt das nicht, daß er wirklich ist. Wahrheit und Wirklichkeit dürfen nicht als gleichbedeutend gebraucht werden; dem widerstrebt schon der gesunde Menschenverstand, der durch eine verwickelte Erörterung unanalysierbarer Begriffe nur getrübt, nicht geklärt werden kann, und dessen Aussage das einzige Zeugnis einer inneren Erfahrung ist, welches diesen Namen verdient.
LITERATUR - Wilhelm Enoch, Der Begriff der Wahrnehmung, [Inaugural-Dissertation] Hamburg 1890