tb-1Beiträge zur Berichtigung ...AenesidemusDas menschliche Erkenntnisvermögen    
 
CARL LEONHARD REINHOLD
(1758 - 1828)

Briefe über die
Kantische Philosophie


 "Metaphysische Influenza  soll also das Übel heißen, womit die Gesundheit des deutschen Geistes gegenwärtig angegriffen ist, und das, wenn es auch einst, wie die Anfälle von Empfindelei, Geniedrang, Aufklärungssucht usw., durch die Hand der Zeit geheilt sein dürfte, dennoch eine weit nachteiligere Schwäche als alle bisherigen Seuchen des Geistes zurücklassen müßte."

"Die bilderreiche und schimmernde Diktion, durch welche einige unserer vorzüglichsten Schriftsteller ihren tiefsinnigen metaphysischen Spekulationen Klarheit und Reiz zu geben versuchten, hat die strengen aber gerechten Forderungen der philosophierenden Vernunft in dem Maße unbefriedigt gelassen, als sie die Einbildungskraft der Leser bezauberte. Der Glanz des Ausdrucks, durch den in diesen Produkten der phantasierenden Philosophie oder philosophierenden Phantasie die Unbestimmtheit und der Mangel der Grundbegriffe verhüllt wird, fließt mit der Verworrenheit dieser Begriffe in das so sehr behagliche Helldunkel zusammen, in welchem auch unsere besten Köpfe, beim bisherigen Zustand der Philosophie, die Vernunftgründe derjenigen Überzeugungen zu setzen gewohnt waren, welche sie eigentlich der Erziehung, dem Temperament, ihrer äußeren Lage, und allerlei anderen zufälligen Umständen schuldig waren, aber aus sehr begreiflichen Ursachen lieber der Vernunft verdanken wollten."


Vorrede

Die nächste Absicht der im gegenwärtigen Band gesammelten Briefe war nicht mehr meinen Freund zum Studium der Kantischen Philosophie einzuladen, sondern ihm dasselbe im Hinblick auf denjenigen Teil dieser Philosophie, der das unmittelbarste Interesse für ihn hat, den er am besten zu haben glaubt, und der mir nichtsdestoweniger am meisten einer Erörterung für ihn zu bedürfen schien, zu erleichtern. Die  Kritik der praktischen Vernunft  hat in seinem Herzen einen ebenso untrüglichen wie bereitwilligen Ausleger gefunden, der aber gleichwohl insofern mißverstanden werden kann, als man es bei den bloßen Aussprüchen desselben auch in solchen Fällen bewenden läßt, wo man die Gründe davon aufsuchen sollte. Der Gebrauch, den mein Freund von manchen Ausdrücken und Redensarten jenes wichtigen Werkes zu machen anfing, ließ mir kaum einen Zweifel übrig, daß bei seinen neuen Überzeugungen das sittliche Gefühl dem Geschäft der philosophierenden Vernunft nicht selten zuvor geeilt haben muß. Ich sah ihn Behauptungen, die nach der Absicht des Philosophen von Königsberg nichts als vorläufige Erläuterungen sein sollten, als Erklärungen und Grundsätze anwenden, und sich dadurch in die Notwendigkeit versetzen, dasselbe System, das ihn, im Ganzen genommen, über all seine Erwartungen befriedigt hat, in manchen einzelnen Teilen widersprechend zu finden. Überzeugt, daß ich seinen hieraus entstandenen Bedenklichkeiten auf keine andere Weise abzuhelfen vermag, entschloß ich mich zu dem Versuch, ihm das  ganze Fundament der neuen Moralphilosophie  aus einem Gesichtspunkt zu zeigen, der vom  Kantischen  gänzlich verschieden ist, und durch den er genötigt würde, die Teile desselben, die seinem Blick bisher zu nah gelegen hatten, in einer größeren Entfernung, diejenigen aber, die er in dunkler Ferne kaum zu bemerken schien, in der Nähe ins Auge zu fassen.

Ich schlug dabei folgenden Weg ein.

Einige ziemlich weit verbreitete und tief eingewurzelte Vorurteile gegen die Kantische Philosophie überhaupt, auf welche mich mein Freund aufmerksam gemacht hatte, wurden mir die Veranlassung, ihn für den Gang und die Methode meiner künftigen Betrachtungen im  ersten Brief  vorzubereiten.

Die  vorläufigen  Kenntnisse, durch deren Entwicklung ich hierauf den  neuen philosophischen Begriff von der Sittlichkeit  zu beleuchten unternehme, zerfallen in  Äußere  und  Innere. 

Die  Einen  gehen der ausführlichen Darstellung dieses Begriffs, und der durch denselben bestimmten Prinzipien der Moral und des Naturrechts, welche den Inhalt des  sechsten Briefes  ausmacht, im  zweiten  bis  fünften  vorher. Hier suche ich, durch die Erörterung des Widerstreits zwischen den bisherigen verschiedenen philosophischen Begriffen von Pflicht und Recht, und der Mißhelligkeit zwischen den Prinzipien der moralischen und der bürgerlichen Gesetzgebung, wie auch den Wissenschaften des natürlichen und des positiven Rechts, das Bedürfnis eines bestimmteren Begriffs vom Sittengesetz sichtbar zu machen, und zu zeigen, daß durch den von KANT aufgestellten Begriff die Mißverhältnisse gehoben werden, welche jene Uneinigkeit vorzüglich veranlaßt und begünstigt haben.

Die  inneren  Prämissen dieses Begriffs, welche nach allem, was in den Kantischen Schriften zum Vorteil desselben geleistet ist, gleichwohl noch erst zu entdecken übrig waren (oder es noch immer sind), betreffen die  eigentümlichen  Merkmale des  Willens,  insofern die  freie  Handlung desselben sowohl von der Wirksamkeit der bloßen Vernunft, wie vom unwillkürlichen Begehren verschieden ist. Zufolge des analytischen Gangs, an welchen die philosophierende Vernunft bei der fortschreitenden Entwicklung der Grundvermögen des Gemüts gebunden ist, konnten jene Merkmale nur erst  nach  dem vorläufig bestimmten Begriff von dem eigentümlichen  Gesetz  des Willens, welcher durch KANT zuerst aufgestellt worden ist, gefunden werden. Sie sind in der  Kritik der praktischen Vernunft  sowohl als in der  Grundlegung zur Metaphysik der Sitten  zwar nicht unrichtig, aber völlig unentwicklet vorausgesetzt, und die Aufstellung ihrer  bestimmten  Begriffe ist durch diese Werke zwar erst möglich, aber ebensowenig leicht als entbehrlich gemacht worden. Der Mangel dieser Bestimmtheit hat sich in allen mir bis jetzt bekannt gewordenen Schriften angekündigt, in welchen die Kantische Theorie der Sittlichkeit entweder beurteilt oder benutzt wird, und in denen die eigentliche und unbedingte Freiheit des Willens, die KANT bei jeder Gelegenheit behauptet, selbst von Freunden seiner Philosophie, entweder als etwas nicht Denkbares von der Hand gewiesen, oder ausdrücklich nur auf die  sittlich guten  Handlungen eingeschränkt, oder doch wenigstens durch Übertragung auf die Selbsttätigkeit der Vernunft auf eine solche Weise gedacht wird, daß man sie nur durch Inkonsequenz auf die  sittlich bösen  ausdehnen kann. Daß mir mein langwieriges und mühsames Forschen nach dem Charakter der Freiheit des Willens nicht ganz mißlungen ist, läßt mich die  Simplizität  und  Evidenz  hoffen, die ich nach einer gänzlichen Veränderung meiner bisherigen hierher gehörigen Vorstellungsart, in meinen gegenwärtigen Begriffen sowohl von  jener Freiheit,  als von der besonderen Art der  Notwendigkeit,  die der  Pflicht  - und der besonderen Art der  Freiheit,  die dem  Recht in engster Bedeutung  (1) eigentümlich ist, anzutreffen glaube, und durch welche es mir allein möglich werden konnte, in den  Versuch  einer neuen Darstellung der Grundbegriffe und Grundsätze der Moral und des Naturrechts (sechster Brief) die  Präzision  zu bringen, die einige Beurteiler in demselben gefunden haben. Wahrheitsliebende Selbstdenker allein können mich belehren: ob und inwiefern ich mich in dieser Hoffnung getäuscht habe; und die Wichtigkeit des Gegenstandes macht es mir zu besonderen Pflicht, sie um die Wohltat dieser Belehrung zu bitten.

Vorzüglich möchte ich, sofern es ohne Unbescheidenheit geschehen könnte, den Verfasser der merkwürdigen Rezension der Kritik der praktischen Vernunft in der Allgemeinen Literarischen Zeitung, Nr. 188 - 1788, dazu auffordern, dessen Einwendungen, wie er selbst andeuten zu wollen schien, mehr den Ausdruck als den Sinn der Hauptidee jenes Meisterwerks betroffen haben, und mir bei meinen Untersuchungen über die Freiheit fruchtbare Winke geworden sind. Ich kann mir, sowenig als er, in der Wirksamkeit der Vernunft eigentliche Freiheit denken, und sowenig als er, die Vernunft in dem Sinne  praktisch  nennen, als ob sie den vollständigen, durch sich selbst bestimmenden Grund einer Handlung des Willens enthielte. Auch weiß ich, daß man seine Einwürfe gegen die Freiheit, durch die Berufung auf den gemeinen und gesunden Verstand, oder auf die Tatsache des Bewußtseins und die Unbegreiflichkeit derselben solange vergeblich widerlegen wird, als man ihm nicht die  Denkbarkeit der Freiheit  an einem bestimmten Begriff vom  Willen  dargetan haben wird.

Die Wiederholungen, die ich mir bei der ausführlichen, im  achten  Brief enthaltenen Erörterung jenes Begriffs erlauben zu müssen glaubte, sind durch die mannigfaltigen Mißverständnisse, die ich von verschiedenen älteren und neueren angenommenen Vorstellungsarten zu besorgen hatte, veranlaßt, und vielleicht auch gerechtfertigt.

Nach dieser Ausführlichkeit konnte ich mich im  neunten  und  zehnten Brief  umso kürzer fassen, wo ich diesen Begriff gegen die bisherigen metaphysischen Vorstellungsarten von der  Seele,  und die bisherigen Überzeugungsgründe vom  Dasein Gottes  zu retten hatte.

Mit dem  elften Brief,  in welchem ich mich eben desselben Begriffs als eines  Schlüssels  zur  Geschichte der bisherigen Moralphilosophie  bedient habe, beschließen die Betrachtungen, welche sich mit der  inneren  Möglichkeit des künftigen Einverständnisses unter den Selbstdenkern über die Prinzipien dieser Wissenschaft beschäftigen.

Durch den  zwölften  und letzten  Brief  sollte die  äußere  Möglichkeit dieses Einverständnisses erläutert werden.

Auch von diesem  zweiten Band  ist ein großer Teil des Inhalts in verschiedenen einzelnen Aufsätzen durch den  teutschen Merkur  zur vorläufigen Beurteilung ausgestellt, und teils nach den auf diesem Weg erhaltenen Erinnerungen, teils nach eigenen späteren Einsichten bald berichtigt, bald ergänzt, bald völlig umgearbeitet worden.



Erster Brief
Über einige Vorurteile gegen
die Kantische Philosophie

Ihr langes Verzeichnis ungünstiger Urteile von berühmten Männern über die gegenwärtigen Beschäftigungen der philosophierenden Vernunft hat mich gar nicht befremdet. Haben Sie vergessen, lieber Freund, daß die Philosophie überhaupt, sie mochte auch was immer für einen Beinamen führen, unter den Priestern der Religion und der Gerechtigkeit nie viele Freunde gehabt hat? Fakta, und zwar lauter Fakta der  äußeren  bald natürlichen, bald übernatürlichen Erfahrung, waren von jeher die einzige echte Erkenntnisquelle, aus welcher die große und herrschende Partei der sogenannten  rechtgläubigen  Gottes- und Rechtsgelehrten alle religiöse Überzeugung und alles Recht abgeleitet wissen wollte. Aus dem nicht selten wohlgemeinten und imm wohlbezahlten Bestreben dieser Vormünder der übrigen Menschheit, die  handgreiflichen  Grundfesten, auf denen das zeitlich und ewige Wohl ihrer Zöglinge fest steht, unverrückt zu erhalten, wird die Abneigung derselben gegen die Neuerungen der Philosophen umso begreiflicher, je weniger es sich leugnen läßt, daß die meisten  positiven Glaubensartikel  und  Rechtstitel  in demselben Augenblick zu schwanken anfangen, wie man, im Hinblick auf die einen über die Möglichkeit, und im Hinblick auf die andern über die Rechtmäßigkeit der sie begründenden Tatsachen, zu philosophieren beginnt. Hätte die Philosophie, wie man ihr so oft eingeschärft hat, nur über diese zwei Punkte den Finger auf den Mund gelegt, so möchte sie dann alles übrige unter und über dem Mond, die Vernunft selbst nicht ausgenommen, kritisiert haben, ohne daß unsere positiven Theologen und Juristen davon mehrere Kenntnis genommen hätten, als unsere Ärzte, Geschichtsforscher, Dichter usw. (einige seltene Ausnahmen abgerechnet) von allen ihren Schicksalen, Entdeckungen, Vorschlägen usw. wirklich noch immer zu nehmen pflegen. Allein da sie in den letzteren Zeiten mehr als jemals in die ihr fremden Gebiete jener beiden Fakultäten einzudringen versucht hat; da es nunmehr zutage liegt, daß dasjenige, was sie  natürliche Theologie  und  Naturrecht  nennt, keineswegs ein bloßer Versuch sein soll, ebendasselbe, was in der  positiven Theologie  und  Jurisprudenz  auf sichtbare und hörbare, auch wohl fühlbare Tatsachen gegründet ist, zum Überfluß auch noch durch Vernunftbeweise zu unterstützen; da es weltkundig ist, daß die Resultate, welche von diesen beiden philosophischen Wissenschaften aufgestellt werden sollen, mit den symbolischen Büchern der drei privilegierten Religionen, mit den durch Herkommen und geschriebene Gesetze geheiligten Formen des Rechts, und mit den durch einen wirklichen, zum Teil uralten, Besitz verbürgten Gerechtsamen [Vorrechte - wp] geistlicher und weltlicher Obrigkeit nicht ohne große Einschränkung bestehen können: so hat es die Philosophie wohl nur dem toleranten Genius unseres Zeitalters zu verdanken, daß man, anstatt auf dem Weg Rechtens gegen sie vorzugehen, und ihr durch den obrigkeitlichen Arm Stillschweigen auferlegen zu lassen, sich bloß damit begnügt, ihr vor Publikum einen  bösen Namen zu machen.  Hierzu gibt der leidige Umstand, daß die politische Revolution in Frankreich, die man ihr zuschreibt, und die wissenschaftliche, mit welcher sie selbst in Deutschland heimgesucht wird, in  einem  Zeitpunkt zusammenzutreffen, eine ganz neue in ihrer Art einzige Veranlassung. Die Feinde der Philosophie sahen sich dadurch instand gesetzt, sie zugleich von zwei sehr empfindlichen Seiten anzugreifen, die Verderblichkeit ihres äußeren Einflusses und die Schwäche ihres inneren Zustandes durch zwei der ganzen Welt vor Augen liegende Beispiele zu beleuchten, und sie für die fürchterlichen Neuerungen, die sie in Frankreich auf den Gebieten der Theologen und Juristen angerichtet hat, durch die lächerlichen Neuerungen, die in Deutschland auf ihrem eigenen Gebiet vorgehen, hart genug büßen zu lassen. (2)

Es war zu vermuten, daß man über den bösen Namen, der jene beiden Beschuldigungen zusammengenommen bezeichnen soll, nicht lange verlegen sein würde; und der deutsche Gelehrte, dem Sie so wenig Dank wissen, daß er das gefährliche, aber Gottlob! noch nicht sehr weit weder unter uns noch im Ausland verbreitete Vorurteil:  "daß die deutsche Nation die erste des Erdbodens  ist," mit vieler  Sachkenntnis  widerlegt, hat für diesen Namen mit dem glücklichsten Scharfsinn das  Wort  gefunden. Da die neuen Gesetzgeber Frankreichs ihre Staatsverfassung auf (leider schwankende) Prinzipien des Naturrechts, die freilich im Hinblick auf das alte  physische  Prinzip des Stärkeren,  metaphysisch  heißen können, zu gründen versuchten; und da die gegenwärtige Reformation der Philosophie in Deutschland von der Kantischen Prüfung der  Metaphysik  ausging: so ist der Ausdruck  metaphysische Influenza  für beide Erscheinungen gleich passend, und muß nicht nur den theologischen und juristischen Feinden aller  Philosophie überhaupt,  sondern auch denjenigen Pflegern und Freunden der  bisherigen,  die aus sehr begreiflichen Ursachen die gefährlichsten und unversöhnlichsten Gegner der  Neuesten  sind, gleich willkommen sein.

Metaphysische Influenza  soll also das Übel heißen, womit die Gesundheit des deutschen Geistes gegenwärtig angegriffen ist, und das, wenn es auch einst, wie die Anfälle von Empfindelei, Geniedrang, Aufklärungssucht usw., durch die Hand der Zeit geheilt sein dürfte, dennoch eine weit nachteiligere Schwäche als alle bisherigen Seuchen des Geistes zurücklassen müßte. Da es eben dieselben Symptome sind, welche in den Augen der Gegner der neuen Philosophie eine  neue Krankheit,  in den Augen der Freunde aber die  Krise  und  künftige Genesung von einer alten  ankündigen: so dürfte eine kurze Beleuchtung derselben aus beiden so ganz entgegengesetzten Gesichtspunkten für  sie,  mein Lieber! der Sie bei jeder Streitsache gerne beide Parteien abhören, einiges Interesse haben.

Mit der Darstellung der gegnerischen Beschwerden sind  Sie  mir zum Teil in Ihrem letzten Brief selbst zuvorgekommen. Ich will das Wesentliche davon ausheben, und im Zusammenhang mit den übrigen Anklagen, die mir selbst zu Ohren gekommen sind, hier aufstellen. Sie mögen dann urteilen, ob die Gründe meiner Gegenpartei unter meiner Feder schwächer geworden sind.
    "Die philosophierende Vernunft", heißt es, "zieht sich seit zehn Jahren immer mehr aus dem Gebiet der Erfahrung zurück, worauf sie sich nach ihren langwierigen Verirrungen in den unfruchtbaren Regionen der Spekulation endlich zum Glück der Menschheit eingeschränkt, und wo sie bereits auf allen Feldern der gemeinnützigen Wissenschaften die reifsten Früchte erzielt hatte. Sie nimmt durch ihre neuesten Repräsentanten nicht nur diejenigen Resultate in Anspruch, welche sie über die wichtigsten Angelegenheit der Menschheit auf dem Weg der Beobachtung noch vor kurzem erhalten und aufgestellt hat: sondern sie spricht der Erfahrung geradezu alles Vermögen und Recht ab, über jene Angelegenheiten jemals bestimmte Aufschlüsse zu gewähren. Sie sucht für ihre neuesten Beschäftigungen Gegenstände hervor, die von allen wahren Bedürfnissen der Menschheit in einer ungeheuren Entfernung gelegen sind, und zerreißt jedes Band, wodurch diese Gegenstände mit den Dingen der wirklichen Welt sonst noch zusammenhängen. Man zergliedert mit der lächerlichsten Ernsthaftigkeit einen  Raum  und eine  Zeit,  die weder leer noch erfüllt, und  Substanzen die weder Geister noch Körper sein sollen. Die Verteidiger des gesunden Menschenverstandes unserer Zeitgenossen werden immer tiefer in Streitigkeiten hineingezogen, bei denen sie ihren eigenen einzubüßen Gefahr laufen; und während sich die Freunde und Gegner der  Kantischen  Philosophie weder einander gegenseitig, noch unter sich selbst verstehen, während aus jeder älteren Streitfrage eine Menge neuer hervorgehen, die polemisierenden Parteien sich mit jeder Buchhändlermesse vervielfältigen, und die Staubwolken, die den Kampfplatz verhüllen, für die wenigen Zuschauer, die ihre Zeit daran wagen, immer undurchsichtiger werden: tönt aus dem verwirrten unverständlichen Lärmen eine einzelne Stimme hervor, welche das Ende aller metaphysischen Zänkereien, neuentdeckte allgemeingeltende Grundsätze, eine einzig mögliche Philosophie, und ein Einverständnis im hohen Rat der künftigen Selbstdenker ankündigt, wodurch selbst die Glaubenseinheit der unfehlbaren und alleinseligmachenden Kirche beschämt werden sollte. Noch vor zehn Jahren hätte man dergleichen Armseligkeiten entweder mit verachtendem Stillschweigen angesehen; - auf Höchste würde der eine oder andere unter den großen Lieblingsschriftstellern der Nation im Namen aller übrigen durch lächelnden Spott oder mitleidiges Achselzucken sein Zeitalter gegen den ansteckenden Unsinn verwahrt haben. Aber heutzutage steigen sogar manche der berühmtesten Weltweisen unseres Vaterlandes in Person auf den Kampfplatz hinab, mischen sich unter die unberühmten und namenlosen Kämpfer, und erheben durch ihr Mitwirken den Wortstreit einiger Grübler zur Angelegenheit der deutschen Philosophie. Indem sich solche Männer zur Auflösung von Problemen verleiten lassen, welche zur Ehre der philosophierenden Vernunft nie hätten aufgeworfen werden sollen, werden diese Probleme selbst immer wichtiger, ziehen den Geist aufkeimender guter Köpfe von gemeinnützigen Gegenständen ab, und gewöhnen den angehenden Selbstdenker an Beschäftigungen, durch welche die Quelle der Empfindung ausgetrocknet, die Fittiche der Phantasie gelähmt, der Witz abgestumpft, der Scharfsinn zur Spitzfindigkeit abgeschliffen, die Sprache ihres Bilderschatzes beraubt, mit leeren Worten bereichert, um alle Kraft, Anmut und Geschmeidigkeit, die sie unter den Händen unserer schönen Geister und feinen Weltleute erhalten hatte, gebracht, und in den Zustand der scholastischen Barbarei, in welchem sich noch keine lebendige Sprache befunden hat, versetzt wird. - Und worin bestünde nun der Gewinn, der uns für diese Einbuße entschädigen sollte? Gesetzt auch, es gelänge den  streitenden  Parteien, was ihnen bis jetzt noch nie gelungen ist, und wozu nie weniger Anschein als eben gegenwärtig vorhanden war, über die  streitigen  Data zu ihren Streitfragen einig zu werden; was würde selbst durch ausgemachte  metaphysische  Wahrheiten gewonnen sein? Der größere, arbeitsamere, nützlichere Teil der Nation wird durch seine Berufspflichten, der kleinere, der im Schoße des Überflusses dem Vergnügen lebt, durch seine Abscheu vor aller Anstrengung, -  beide  werden durch den ihnen gemeinschaftlichen Mangel an Vorkenntnissen von der Teilnahme an den künstlichen Überzeugungen der Metaphysik ausgeschlossen, die ebenso schwer zu erringen sind, als sie, wie ihre Verteidiger prahlen, zum Wohl der Menschheit unentbehrlich sein sollen. Nur selten wagt es der Metaphysiker, die Kluft, durch die seine intellektuierte Welt von der wirklichen getrennt wird, zu überspringen. Desto schlimmer für seine Wissenschaft, wenn er den  salto mortale  gewagt hat. Denn nun erscheint diese erst in ihrer völligen Unbrauchbarkeit, die jedermann, ihn allein ausgenommen, in die Augen springt. In dem Augenblick, wo er die Gesetze seiner  Vernunftwesen  den Angelegenheiten der  Menschen  anzupassen versucht, zeigt sich der Widerspruch zwischen den Möglichkeiten, die er aus seinen Abstraktionen geschlossen hat, und der Notwendigkeit, die eine Folge des Wirklichen ist, im hellsten Licht. Ein Glück, wenn er die Staaten bloß auf dem Papier reformiert. Denn in diesem Fall ist er nur lächerlich. Er wird abscheulich, wenn er in die Triebfedern der politischen Maschine eingreift, die er in dem Augenblick zertrümmert, in dem er seine verbessernde Hand anlegt. Ein asiatischer Despot, der seine Willkür zum obersten Gesetz und die Befriedigung seines blinden, aber doch natürlichen Instinktes zum letzten Zweck seiner Regierung macht, kann in den Eingeweiden des Staates nicht unmenschlicher wüten, als der durch Metaphysik reformierende Weltbürger; indem er die Aussprüche der angeblich  reinen Vernunft  durchzusetzen im Begriff ist. Nichts ist ihm heilig außer dem System seiner ewigen Wahrheiten, mit denen alles Zeitliche im geraden Widerspruch steht, und denen er eben darum alles aufopfern muß, das Eigentum der  Bürger  den Ansprüchen der  Intelligenzen,  das Glück und Leben der wirklichen Menschen dem Abstraktum der Menschheit, das Heil der existierenden Staaten dem Wohl einer außer seiner Phantasie unmöglichen Weltbürgerrepublik. Wer denkt hier nicht sogleich an  Frankreich,  und zittert nicht vor dem endlichen Schicksal einer Nation, die durch unphilosophische Rechtsgelehrte, Staatsmänner und Fürsten zum Rang der ersten Nation in Europa erhoben, und durch Philosophie gegenwärtig an den Rand des Untergangs gebracht worden ist!"
Ich zweifle, ob ein Sachwalter, der die Klagen der Gegner der neuesten Philosophie vor dem Richterstuhl des Publikums vorzutragen bestellt würde, irgendeine Beschuldigung aufbringen könnte, die nicht als ein Grund oder eine Folge der hier aufgeführten anzusehen, und daher wenigstens insofern in denselben enthalten wäre. Da die Partei, welche ich bisher sprechen ließ, bei weitem die größere ist, und da die Klagepunkte, die ich hier zusammengestellt habe, so vielfältig wiederholt und so allgemein bekannt sind: so werden Sie es mir wohl nicht als Parteilichkeit anrechnen, wenn ich bei der Darstellung der teils noch niemals zur Sprache gekommenen, teils noch wenig bekannten Gründe, welche die Freunde der neuesten Philosophie ihren Gegnern etwa entgegenzustellen hätten, etwas weitläufiger werden sollte.

Vor allem dürften wohl diese Freunde gegen den Namen  metaphysische Influenza  aus dem Grund protestieren: weil ihre Philosophie, gesetzt auch, daß sie eine Krankheit heißen müßte, noch lange nicht so weit um sich gegriffen hat, daß sie mit irgendeinigem Schein des Rechts unter die epidemischen gezählt werden könnte. Die Zahl der Schriften, welche durch die neueste Philosophie veranlaßt wurden, und seit zehn Jahren erschienen sind, ist kaum so beträchtlich, al die Menge der Broschüren, die bald nach dem Regierungsantritt Kaiser JOSEPHs II. binnen einer Jahresfrist in der Stadt Wien  über die Stubenmädchen  herausgekommen ist. Man durchgehe die Klassifikationen der Messekataloge, welche in der allgemeinen Literaturzeitung seit mehreren Jahren aufgestellt sind; und man wird finden, daß die Rubrik der philosophischen Schriften überhaupt, nicht nur mit den übrigen zusammengehalten, wie sonst immer, eine der unbeträchtlichsten geblieben ist, sondern auch mit sich selbst verglichen, kaum merklich zugenommen hat. In der einen Hälfte dieser wenigen Schriften ist auf die Kantische Philosophie gar keine Rücksicht genommen: und bei der anderen Hälfte werden wohl  zehn Gegner  auf  einen Freund  dieser Philosophie gezählt werden müssen. Unter ihren Verteidigern befindet sich meines Wissens kein Einziger, der als Philosoph von Profession einen berühmten Namen errungen hatte, bevor er die Kantische Partei ergriff: desto mehrere hingegen, die weder das Talent noch die Kunst eines philosophischen Schriftstellers mit sich brachten; umso mehr solche, welche die Neuheit ihrer Bekanntschaft mit dem Geist ihres Lehrers durch die Ängstlichkeit und den Zwang äußerten, womit sie sich an den Buchstaben seiner Formeln festhielten, und deren Nmen man ebensowenig kennen würde, wie den dunklen Inhalt ihrer Versuche, wenn nicht ein Verteidiger der Kantischen Philosophie bisher noch immer eine Seltenheit gewesen wäre. Auf der anderen Seite besteht der größere Teil der Vielen, welche entwerder den gesunden Menschenverstand, oder irgendein bisheriges philosophisches System gegen KANT und seine Schule in Schutz genommen haben, aus berühmten Schriftstellern, deren Namen nicht nur zur Empfehlung ihrer Streitschriften, sondern auch bei einem nicht unbeträchtlichen Teil des Publikums zur Widerlegung ihrer Gegner hinreicht. Wie leicht muß es diesen nicht werden, im Angesicht einer Menge, von der sie unter ihre Lieblingsschriftsteller gezählt werden, ein neues und unbekanntes System vor dem Richterstuhl ihres alten und angenommenen seine Sache verlieren zu lassen, und ein weitläufiges, nur durch große Anstrengung des Geistes verständliches Werk, das so mancher nicht weiter als durch ihre Auflagen kennen zu lernen Lust hat, durch kurze, in einer gefälligen Sprache geschriebene, mit Witz und Laune gewürzte Abhandlungen zu widerlegen! Wenn also die Kantische Philosophie ein wirkliches Übel ist, so ist dasselbe im Hinblick auf seine Ausbreitung so ganz unbedeutend, daß man die vielen und ernsthaften Anstalten, die von so vielen berühmten Männern dagegen gemacht werden, notwendig für einen Zeitverlust ansehen müßte: wenn nicht durch eben diese Anstalten der wohltätige Einfluß und die Gründlichkeit der bisherigen Systeme in ein helleres Licht gesetzt, und dem gesunden Menschenverstand ein neuer Triumph bereitet würde.

Der allerdings sehr bedenklichen Klage, "daß durch die neueste Philosophie die  Erfahrung  herabgewürdigt wird," könnte man entgegensetzen: daß dieselbe nur von der  einen  Hälfte der Gegner geführt wird, während die  andere  eben dieselbe Philosophie beschuldigt, daß sie der Erfahrung  zuviel einräumt,  indem sie das menschliche Erkenntnisvermögen auf das Gebiet der Erfahrung eingeschränkt wissen will. Allein ihre Freunde behaupten, daß die Kantische Lehre von der Erfahrung von beiden Hälften mißverstanden wird, indem man sie nach dem vieldeutigen und schwankenden Sinn, den man mit dem Wort Erfahrung zu verbinden gewohnt ist, beurteilt. Die Erfahrung wäre nach allen Vorstellungsarten der bisherigen Sekten völlig verkannt; von den  Spiritualisten  zu tief herabgesetzt, von den  Materialisten  zu hoch erhoben, von den  Skeptikern  zu eng eingeschränkt, von den  Mystikern  zu weit ausgedehnt worden; und es bedürfe einer nur mäßigen Aufmerksamkeit auf das, was vor KANT von den Philosophen überhaupt, und noch jetzt von seinen Gegnern der Erfahrung zugleich zugemutet und abgesprochen wird, um sich zu überzeugen, daß es wirklich an einer bestimmten und von allen Selbstdenkern anerkannten Bedeutung dieses so wichtigen und so oft gebrauchten und gemißbrauchten Wortes fehlt.

Daß der Begriff von Erfahrung im Grad der Bestimmtheit, den er voraussetzt, um in der Philosophie mit Erfolg gebraucht werden zu können, schwer zu erringen sein muß, ließe sich schon allen daraus schließen, daß er von so vielen Philosophen ersten Rangs, die sich denselben durch so sehr entgegengesetzte Merkmale dachten und denken, verfehlt worden ist. Da er nicht ohne Vorsicht und Einschränkung aus dem gemeinen Sprachgebrauch geschöpft, und da er in seiner durchgängigen Bestimmtheit nur durch eine vollendete Zergliederung  aller  seiner Merkmale erhalten werden kann: so muß er freilich Untersuchungen herbeiführen, die mit Staats- und Landwirtschaft, Statistik, Taktik, Pädagogik, und wie die übrigen Fächer heißen, die man heutzutage vorzugsweise die  reellen  nennt, in keiner unmittelbaren Verbindung stehen, welche aber nichts desto weniger für alle diejenigen, welche die eigentlichen Quellen, die Grenzen und die verschiedenen Arten des menschlichen Wissens genau kennen zu lernen Beruf oder auch nur Lust haben, von unumgänglicher Notwendigkeit sind. Alle übrigen, die über diese dem Philosophen äußerst wichtigen Punkte entweder gar nichts zu denken, oder sich auf die Berichte anderer zu verlassen gewohnt sind, können und mögen das Nachforschen über den  Raum,  den man vom  Erfüllten  und  Leeren  unterscheidet, weil der  bloße  Raum weder im  Erfüllt-  noch im  Leersein  besteht, und über die  Substanz,  die man von  Körper  und  Geist  unterscheidet, weil unter der  bloßen  Substanz  weder  ein  Körper  noch ein  Geist  gedacht werden muß, - unerklärbar finden, und darum gleichwohl geschickte und verdienstvolle Gelehrte und Geschäftsleute sein. Aber sie werden in  dem  Augenblick lächerlich, in dem sie über die Entbehrlichkeit oder Unentbehrlichkeit von Fragen urteilen wollen, deren Sinn außerhalb ihres Gesichtskreises liegt, oder, indem sie sich gar einfallen lassen über Ungereimtheiten zu spotten, die freilich jederzeit in der mißverstandenen Behauptung des Philosophen liegen, wenn sie der Unphilosoph aus seinem eigenen reichen Vorrat einmal hineingelegt hat. Wenn es nur mit den Resultaten, welche die Kantische Philosophie aus ihren Untersuchungen über Raum, Zeit und Substanz zieht, seine Richtigkeit hat; so ist durch dieselben zwar nichts für die Meinungen von was immer für einer der bisherigen philosophischen Sekten, aber desto mehr für die künftige strengwissenschaftliche Philosophie, die auf ihrem Gebiet keine Meinung duldet, gewonnen. Die philosophierende Vernunft besitzt durch jene Resultate die genaueste Grenzbestimmung für das eigentliche Gebiet der Erfahrung; und der  Raum  und die  Zeit  sind dann die lange gesuchten und verkannten Grenzen - die Substanzen, die den Raum erfüllen (oder die Körper), sind die einzig möglichen Gegenstände der  äußeren,  und die Veränderungen in uns (oder Vorstellungen) die einzigen Gegenstände der  inneren Erfahrung.  Die philosophierende Vernunft wird auf eben demselben Weg mit sich selbst darüber einig, daß diese Grenzen der Erfahrung nur die in der Natur des menschlichen Vorstellungsvermögens bestimmten Schranken der bloßen  Erkennbarkeit  und  Begreiflichkeit,  keineswegs aber der  Denkbarkeit  der Dinge überhaupt sein können; daß gewisse, durch  Vernunft  allein Vorstellbare und der Sinnlichkeit unzugängliche Gegenstände, bei all ihrer Unbegreiflichkeit für den an die Sinnlichkeit gebundenen  Verstand,  gleichwohl durch  reine  und die Sinnlichkeit beschränkende Vernunft als wirklich gedacht werden müssen; und daß, wenn gleich durch die Gesetze unseres Erkenntnisvermögens jede Erfahrung und alles Begreifen von  unkörperlichen Substanzen  unmöglich gemacht wird, nichtsdestoweniger durch das in der Vernunft gegründete  Gesetz des Willens  eine völlig befriedigende Überzeugung von der Realität solcher Substanzen möglich ist. Eine Philosophie, die  damit  umgeht, mag freilich bei der gegenwärtigen Stufe der Kultur auch manchen berühmten Philosophen von Profession unverständlich sein. Aber der Vorwurf müßiger Spekulation kann sie nur in den Augen derjenigen treffen, die mit dem Pöbel nur dort Realität zu sehen gewohnt sind, wo sich etwas mit den Händen greifen läßt.

Der Widerspruch zwischen den eingewurzelten unbestimmten und den aufkeimenden bestimmteren Vorstellungsarten mußte notwendig zwischen den vielen Anhängern der einen, und den wenigen der andern den Streit veranlassen, der immer bei den allmählichen Fortschritten des menschlichen Geistes ebenso unvermeidlich wie zur Beförderung derselben unentbehrlich war. Eine Menge angenommener und weit ausgebreiteter Lehrsätze gezogen aus Prinzipien, die nur darum für ausgemacht galten, weil ihre Unrichtigkeit durch die Verworrenheit unentwickelter Grundbegriffe verborgen blieb, wurden durch die neueste Philosophie teils schlechterdings, teils in ihrem bisherigen Sinn in Anspruch genommen. Je öfter nun diese Lehrsätze von berühmten und unberühmten Philosophen von Profession mündlich und schriftlich vorgetragen, bewiesen und erörtert sind, je mehr sie in ihren Gründen und Folgen mit allen übrigen Begriffen jener Männer zusammenhängen: desto ungereimter muß das behauptete Gegenteil derselben erscheinen, dessen Beweis immer nur einen ganz neuen Begriff voraussetzt, der mit ihren älteren Überzeugungen nur durch eine durchgängige Berichtigung derselben vereinigt werden kann. Das Licht der Evidenz, das aus den neubestimmten Grundbegriffen hervorstrahlt, heißt dem Verteidiger der alten Systeme ein bloßer Schein der Wahrheit, den er umso eifriger zu vernichten strebt, je größer und bedenklicher derselbe für ihn ist. Er rafft daher von allen Seiten jeden für ausgemacht gehaltenen, und seiner Meinung nach keines Beweises bedürftigen Satz, oder wie er es nennt, jede Grundwahrheit zusammen, die er nur in irgendeine Verbindung mit seinem Lehrsatz bringen zu können hofft; und da er das eigentliche Fundament seines Systems gegen die neuen, demselben entgegengesetzten Grundbegriffe zu sichern genötigt wurde, so erscheint dieses System in seinen und seiner Anhänger Augen mit einer Festigkeit, die sie ihm bisher selbst noch kaum zugetraut hätten. Es wird mit der  größtmöglichen Stärke  vorgetragen.

Allein eben dadurch wird auch seine größte  wirkliche Schwäche  vor unbefangenen Zuschauern enthüllt. Der nachdrückliche Versuch ein philosophisches Lehrgebäude zu retten, nachdem einmal die Verworrenheit der Prinzipien, die seinem Fundament Haltung gab, hinweggeräumt ist, ist der letzte Stoß, durch den dasselbe zusammenstürzt.

Auf durchgängig bestimmte Grundbegriffe läßt sich nur ein  einziges  System bauen; und es ist nur eine  einzige Philosophie  möglich, die in ihren Grundsätzen der richtige Ausdruck der ursprünglichen Einrichtung unseres Erkenntnis- und Begehrungsvermögens, oder der notwendigen und allgemeinen Gesetze ist, an welche der menschliche Geist durch seine Natur gebunden ist. Jeder unbestimmte und folglich vieldeutige Grundbegriff erzeugt so vielerlei Systeme, wie sein Ausdruck in der Sprache Auslegungen zuläßt. Daher Materialismus und Spiritualismus, Skeptizismus und Supernaturalismus, worauf sich alle wirklichen und möglichen Systeme der bisherigen Philosophie zurückführen lassen. Da sich durch die völlig erschöpfende Zergliederung eines Grundbegriffs auch die vollständige Anzahl der Merkmale angeben läßt, die den Inhalt desselben ausmachen: so läßt sich auch die Anzahl der durch seine Unbestimmtheit möglichen Mißverständnisse, und der durch dieselben möglichen verschiedenen Systeme und Sekten erschöpfen. Der kritische Philosoph weiß daher, daß ihm kein philosophisches Lehrgebäude entgegengesetzt werden kann, das nicht in seiner  wesentlichen Form  schon vorhanden wäre, und daß alle künftig etwa aufzustellenden neuen Lehrbegriffe, den Einzigen, der sich durch die Kritik der reinen Vernunft ergibt, ausgenommen, nichts als Modifikationen der schon aufgestellten sein können. Er weiß, daß die Anhänger aller bisherigen und künftigen Sekten umso gewisser gegen seine Grundsätze zu Felde ziehen werden, je heftiger ihre Lehrgebäude durch dieselben erschüttert werden, und je weniger irgendeines derselben von dieser Erschütterung ausgenommen sein kann. Er weiß aber auch, daß er zu seiner Verteidigung nichts weiter nötig hat, als seine bestimmten Grundbegriffe durch die Entwicklung ihrer Gründe und Folgen zu beleuchten. Er enthält sich daher jeder eigentlichen Fehde, und überläßt es seinen Gegner, die unmöglich gegen ihn  gemeinsame  Sache machen können, da sie selbst in entgegengesetzte Parteien getrennt sind, sich untereinander aufzureiben. Ruhig sieht er ihrem Bestreben zu, ihre verschiedenen Lehrbegriffe neu aufzustutzen. Denn in dem Verhältnis wie die Bestimmtheit zunimmt, die sie demselben zu geben versuchen, kommt auch das Eigentümliche eines jeden, wodurch sie untereinander im geraden Widerspruch stehen, und wodurch sie durchaus nicht nebeneinander bestehen können, sichtbarer zum Vorschein. Ein äußerst merkwürdiges Beispiel dieser Art sind die Angriffe der Anhänger der LEIBNIZ'schen und der LOCKE'schen Philosophie auf die  Kantische.  Das unstreitig Wahre, das beide Parteien gegen den  Kritizismus  vorbringen, trifft keineswegs denselben, sondern den  Rationalismus  der einen und den  Empirismus  der andern; und indem beiden nicht KANT, sondern nur  sich selbst  untereinander widerlegen, arbeiten sie gegen ihre Absicht zum Vorteil eines Systems, das zwischen den ihrigen genau das Mittel hält.

Daß sich bei diesem Streit  Kantianer  und  Antikantianer  einfinden, die nur umso eifriger für die Formeln ihrer Lehrer fechten, je weniger sie den Sinn derselben verstehen, und welche, während die Selbstdenker mit der Befestigung ihrer verschiedenen Lehrgebäude beschäftigt sind, die von denselben herbeigeschaffenen Baumaterialien als Waffen ansehen, die sie einander entgegen schleudern - ist freilich nicht zu leugnen. Allein, wenn auch die Entscheidung der Fehde durch diese Kämpfer um keinen Schritt näher herbeigeführt wird, so wird sie doch ebensowenig durch dieselben weiter zurückgesetzt. Schriftsteller dieser Art finden gewöhnlich auch nur Leser ihres Gleichen, und da ihre verunglückten Spekulationen, so wie sie sich mit denselben der Grenze des Begreiflichen nähern, immer unverständlicher und ungenießbarer werden: so sind sie, nachdem einige gelehrte Zeitungen ihr Dasein angekündigt haben, selbst von ihrem eigenen Publikum vergessen.  Es ist durch das Wesen der Philosophie selbst genug dafür gesorgt, daß ein mittelmäßiger Kopf auf ihrem Gebiet ebensowenig beträchtlichen Schaden als Nutzen stiften kann. 

Das vorzüglichste und wichtigste Thema aller Philosophie überhaupt, läßt sich auf die Festsetzung der  letzten  und in dieser Eigenschaft allein zureichenden Gründe  unserer Pflichten und Rechte in diesem, und unserer Hoffnung für das zukünftige Leben  zurückführen. Eine der merkwürdigsten Eigentümlichkeiten der Kantischen Philosophie besteht darin, daß sich die Auflösung jenes großen Problems aus den ohne Rücksicht auf dieselbe aus dem Gemüt geschöpften Prinzipien von selbst ergibt, und daß das Problem selbst nicht etwa bloß der Zweck ist, dem die Untersuchungen der Kritik untergeordnet sind. Da sich dasselbe nur als ein solcher Zweck denken läßt, von dem man ohne die völlig bestimmten Begriffe von jenen Pflichten und Rechten usw. die erst durch die Auflösung erhalten werden sollen, keinen völlig bestimmten Begriff haben kann; so ist es begreiflich genug, daß man in jeder bisherigen Philosophie, die etwa von diesem Zweck ausging, immer schon als ausgemacht voraussetzte, was man durch die nachfolgenden Spekulationen herausbrachte. Die Kantische zeichnet sich von all denen, die sich mit dem erwähnten Problem beschäftigt haben, auch dadurch aus, daß jene Auflösung eine bloß natürliche und notwendige Folge ihrer Untersuchung über die ursprüngliche Einrichtung des menschlichen Geistes ist, und daß sie die Data des ganzen Problems nicht außer dem bloßen, allen Menschen gemeinschaftlichen, Erkenntnis- und Begehrungsvermögens aufgesucht wissen will. Während der Spiritualist diese Data in seiner Ideenwelt am Wesen der angeblich einfachen Substanzen, der Materialist in der Sinnenwelt am Wesen der angeblich ausgedehnten Substanzen entdeckt zu haben glaubt, der Supernaturalist dieselben außer dem Gebiet der Vernunft aus dem Reich der Gnade herholt, der Skeptiker aber für etwas erklärt, das dem menschlichen Geist auf keine Weise gegeben sein kann: - hält sich der kritische Philosoph an die bloße Zergliederung der notwendigen und allgemeinen Gesetze der vorstellenden Kraft, die er durch Reflexion über die zur  inneren Erfahrung  gehörigen  Tatsachen des Bewußtseins  kennt, und die er auch aus jenen Tatsachen ohne sonderliche Mühe und ohne Gefahr mißverstanden zu werden entwickeln würde, wenn ihm nicht die schwankenden Begriffe, halbwahren Grundsätze und vieldeutigen Formeln, die seine Leser durch ihre bisherigen philosophischen Überzeugungen mit sich bringen, und von denen er ihre Köpfe freilich nicht plötzlich wie mit dem Schlag einer Zauberrute zu reinigen vermag, Hindernisse in den Weg legten, die wohl nur bei den Wenigsten, und auch bei diesen nur sehr langsam, und nie völlig, sondern nur durch die gänzliche Übersicht des neuen Systems, gehoben werden können.

Da der Streit, der durch die Kantische Philosophie veranlaßt wird, nicht mehr auf den unfruchtbaren Feldern der  Metaphysik  über das Wesen der  Dinge ansich die selbst von ihren angeblichen Kennern so oft für  unbegreiflich  erklärt worden sind, noch auf dem heiligen Gebiet der Hyperphysik, über den Sinn von Sätzen geführt wird, die nach der Aussage ihrer eigenen Verteidiger nichts als  Geheimnisse  ausdrücken und für die Vernunft keinen Sinn haben dürfen; damit jeder genaueren Entwicklung der in der Natur unseres Gemütes bestimmten Grundbegriffe eine neues Mißverständnis entdeckt und weggeräumt wird: so wird es aufmerksamen und unbefangenen Zuschauern des Streites nach und nach immer begreiflicher und wahrscheinlicher, daß es ein letztes Mißverständnis gibt, das dem Streit, sowohl der bisherigen Systeme untereinander, als auch derselben aller mit dem Kantischen zugrunde liegt, und mit welchem der ganze Streit einmal enden muß. Auch schon die entfernteste Ahnung eines solchen Mißverständnisses muß den Selbstdenker, dem es mehr um Wahrheit, als ums sein bisheriges System zu tun ist, geneigt machen, der Stimme, und wenn es auch nur der Stimme eines einzelnen Mannes wäre, Gehör zu schenken, die jeden Streit, der  vor  der Entdeckung und Anerkennung eines obersten gemeinschaftlichen Grundsatzes allen Philosophierens geführt wird, für endlos und folglich auch für zwecklos erklärt, und welche den Streitern zu bedenken gibt: ob sie je hoffen können, sich untereinander über abgeleitete Prinzipien zu verstehen, ohne sich vorher über ein  ursprüngliches  und letztes vereinbart zu haben. (3)

Im Verhältnis in dem die Streitpunkte einfacher werden, nähert sich der Streit seiner endlichen Entscheidung. Die Zahl der unbefangenen Köpfe, in deren Augen er bereits geschlichtet ist, nimmt immer mehr zu. Viele, die vorher durch das Dunkle und Verwickelte der Streitfragen auch vom bloßen Zuschauen abgeschreckt wurden, nehmen nun an der weiteren Entwicklung tätigen Anteil. Unter diesen letzteren darf man freilich nur wenige, oder vielleicht gar keinen, von den Philosophen von Profession erwarten, die sich bereits  öffentlich gegen  die neue Philosophie erklärt haben. Vergebens wird sich diese gegen geübte Denker verteidigen, welche vielleicht schon mehrere Jahre hinduch gearbeitet haben, ihr ganze Gedankensystem mit den neuen Vorstellungsarten in den schärfsten Widerspruch zu setzen. Aber auch vergebens werden diese Männer die einmal vereinfachten Streitpunkte durch ihre Mißdeutungen verwirren. Ihre Einwendungen geben vielmehr den wenigen, denen das Ende des Streites am Herzen liegt, die erwünschte Gelegenheit, jene Vereinfachung weiter zu treiben, ihren Ausdrücken eine größere Bestimmtheit, ihren Behauptungen mehr Zusammenhang, ihren Grundsätzen passendere Formeln, ihrem Gedankengang eine auffallendere Simplizität, und ihrer Darstellung eine höhere Deutlichkeit zu geben.

In dem Verhältnis, wie sich die Untersuchung der neuesten Philosophie den letzten Prinzipien, und folglich den allgemeinsten, höchsten und einfachsten Begriffen nähert, muß freilich der Ausdruck dieser Untersuchung immer eigentümlicher, an Bildern ärmer, und überhaupt trockener werden. Die Darstellung der Fundamente der Elementarphilosophie läßt durchaus keinen anderen Schmuck zu, als den ihr die größtmögliche Nüchternheit der Spekulation, und die strengste Genauigkeit, Bestimmtheit und Kürze zu geben vermag. Wirklich hat die bilderreiche und schimmernde Diktion, durch welche einige unserer vorzüglichsten Schriftsteller ihren tiefsinnigen metaphysischen Spekulationen Klarheit und Reiz zu geben versuchten, die strengen aber gerechten Forderungen der philosophierenden Vernunft in dem Maße unbefriedigt gelassen, als sie die Einbildungskraft der Leser bezauberte. Der Glanz des Ausdrucks, durch den in diesen Produkten der phantasierenden Philosophie oder philosophierenden Phantasie die Unbestimmtheit und der Mangel der Grundbegriffe verhüllt wird, fließt mit der Verworrenheit dieser Begriffe in das so sehr behagliche Helldunkel zusammen, in welchem auch unsere besten Köpfe, beim bisherigen Zustand der Philosophie, die Vernunftgründe derjenigen Überzeugungen zu setzen gewohnt waren, welche sie eigentlich der Erziehung, dem Temperament, ihrer äußeren Lage, und allerlei anderen zufälligen Umständen schuldig waren, aber aus sehr begreiflichen Ursachen lieber der Vernunft verdanken wollten. Es ist überflüssig, die neueren Schriften hier mit Namen anzugeben, welche in diesem Geschmack z. B. für und gegen die  Offenbarung  philosophieren, und welche nicht nur alle Leser von Geschmack sehr angenehm unterhalten, sondern auch unter denselben diejenigen unfehlbar überzeugen, für welche ihr Thema schon vorher eine ausgemachte Wahrheit war. Der Supernaturalist verschlingt, preist und zitiert die philosophische Rhapsodie. welche die natürliche Religion zum Vorteil der Übernatürlichen bekämpft, und der Naturalist triumphiert über jedes neue Denkmal, das den Sieg der Vernunft über den blinden Glauben verherrlicht, und an welchem philosophischer Scharfsinn mit dichterischer Darstellungskunst um die Wette gearbeitet haben. Daß durch alle Versuche dieser Art, bei allem Wert, den ihnen das Gepräge des Geschmacks und Genies für immer zusichert, gleichwohl die Wissenschaft selbst und die philosophische Kultur des menschlichen Geistes nichts gewinnt; daß sie die herrschenden Grundbegriffe in ihrer alten Unbestimmtheit lassen, und die Herrschaft derselben immer weiter ausbreiten; daß sie die Prinzipien, auf deren Entwicklung beim alten Mißverständnis der Parteien alles ankommt, dem Publikum immer mehr und mehr aus den Augen rücken - ist noch nicht das Schlimmste, was sich gegen dieselben einwenden läßt. Sie sind es, die auch in den vorzüglichsten Köpfen den Wahn erzeugt haben, daß die  Populärität  philosophischer Schriften der Maßstab ihrer Gründlichkeit ist; daß philosophische Grundsätze nicht aufwärts durch ihre höheren Gründe, sondern abwärts durch ihre Folgen, allein Evidenz erhalten müssen, und daß ein philosophischer Versuch nur insofern gemeinnützig sein kann, als er seinen Lesern weniger Arbeit und mehr Unterhaltung verursacht. Durch sie ist nicht nur unter den Liebhabern der Philosophie, sondern auch unter den Philosophen von Profession selbst der Ekel und die Unfähigkeit in Bezug auf alle mühsamen Zergliederungen genährt und aufs Höchste getrieben worden. Ihnen - und nicht den vielen geistlosen Schulphilosophen, deren Rezitationen sich umso gewisser bald genug aus dem Gedächtnis ihrer Zuhörer verlieren, je mehr sie der Lehrer selbst nur seinem Gedächtnis verdankt - Ihnen, die als Selbstdenker auf Selbstdenker mit Nachdruck und Erfolg wirken, ist die gegenwärtig so allgemein verbreitete Abneigung der philosophischen Köpfe vor denjenigen Beschäftigungen zuzuschreiben, von denen sich allein eine Reformation der Philosophie erwarten läßt. Sie haben endlich das Meiste zur merkwürdigen Unbestimmtheit des  Begriffs der Philosophie  beigetragen, welche der Vieldeutigkeit der Worte  Genie, Freiheit, Aufklärung  und dgl. mehr nichts nachgibt, und die den Grund enthält, warum man selbst für manchen der berühmtesten Philosophen etwas Unverständliches sagt, wenn man entweder den Mangel einer bisherigen, oder die Unentbehrlichkeit einer künftigen Elementarphilosophie behauptet.

Wer das Lehrgebäude der neuesten Philosophie, ohne den volendeten Plan des Ganzen zu kenen, nun nach einigen der bisherigen Vorarbeiten, und zumal nur nach der Außenseite, unter welcher sich ihm das Fundament der Elementarphilosophie zeigt, beurteilen wil, der hat freilich Stoff genug über die Trockenheit dieser Philosophie zu spotten. Aber er gleicht auch einem - wie soll ich ihn nennen? - den vorübergehenden Zuschauer bei den soeben angefangenen Grundfesten zu einem künftigen Palast, den das nackte Gemäuer empört, der die Wohnungen der höheren Stockwerke dort vermißt, wo noch vom untersten Geschoß keine Spur zu sehen ist, und über den Baumeister unwillig wird, daß er nicht mit dem Dach begonnen hat.

Der wissenschaftliche und der populäre Vortrag tun sich wechselseitig Abbruch, wenn sie vermengt sind, sie unterstützen sich, wenn sie genau abgesondert werden. Wenn wir einmal ein vollendetes und anerkanntes System der vollständig aufgezählten, entwickelten und in die passendsten Ausdrücke eingekleideten Prinzipien der Philosophie besitzen werden: dann wird es dem philosophischen Schriftsteller ebenso unmöglich werden, sich der Kunstworte und didaktischen Formeln  außer  den  wissenschaftlichen Erörterungen  zu bedienen, als die wissenschaftlichen Grundbegriffe durch Metaphern und Allegorien auszudrücken. Er wird eine wissenschaftliche Sprache mit den Philosophen von Profession, denen er die  letzten  Gründe seiner Behauptung, und eine populäre mit den Nichtphilosophen, denen er nur die  nächsten  Gründe anzugeben hat, zu sprechen wissen. Auch für ein gemischtes Publikum wird er in dem Verhältnis populärer, allgemeinfaßlicher zu schreiben verstehen, je mehr ihn seine vollendete Kenntnis der allen Menschen gemeinschaftlichen, in der Natur des Vorstellungsvermögens bestimmten Gesetze der Vorstellung, an welche alle seine Leser gebunden sind, instandsetzen wird, bei den herrschenden Meinungen und Überzeugungen des Publikums, an die er die Beweise seiner Behauptungen anknüpfen muß, das unstreitig Wahre ans Licht zu ziehen, und das Streitige so lange in den Schatten zu stellen, bis es sich durch die Evidenz des Ausgemachten von selbst verliert. Während unserer Popularphilosophen sogar in ihren wissenschaftlichen Lehrbüchern allen Klassen von Lesern verständlich zu werden streben, werden sie in ihren für das gemischte Publikum bestimmten Abhandlungen nur umso unverständlicher, je häufiger sie denselben metaphysische Kunstworte und Formeln einmengen, deren schwankenden und vieldeutigen Sinn sie als gemein bekannt voraussetzen, vielleicht weil er ihnen selbst so wenig Zweifel und Kopfzerbrechen gekostet hat.

Daß der philosophische Schriftsteller, der die Grenzbestimmung und die Bearbeitung der eigentlichen Wissenschaft zum Geschäft seines Lebens macht, und folglich bei seinem lauten Denken nur die Philosophen von Profession vor Augen hat, in dem Verhältnis, als er mit den Grundfesten des Gebäudes beschäftigt war, weniger Muße hatte, an die Verzierungen desselben zu denken; daß er an Lebhaftigkeit der darstellenden Phantasie verlieren muß, was er an Feinheit des zergliedernden Scharfsinns gewann; daß ihm die Kunst des populären Vortrages in dem Grad fremder wird, als er im wissenschaftlichen Meister ist - ist eine ebenso unvermeidliche als unleugbare Folge der natürlichen Schranken des menschlichen Geistes. Sie trifft aber auch nur den Bearbeiter der in ihrem  Fundament noch unvollendeten  Wissenschaft, nicht den Darsteller gemeinnütziger Resultate der einmal feststehenden und geläuterten Wissenschaft selbst, der nicht des zehnten Teils von Zeit und Mühe bedarf, um zu verstehen, was der eine erfinden mußte, und um sich eigen zu machen, was ihm derselbe in die Hand gearbeitet hat; der folglich Muße genug hat, die schwere Kunst des populären Vortrages zu studieren, die dazu gehörigen Talente zu üben, und von den Rednern und Dichtern ebensoviel für den schönen Körper, als vom Philosophen von Profession für den Geist seines künftigen Werks zu gewinnen.

Durch die in allen ihren theoretischen Prinzipien mit sich selbst einige Vernunft wird die bildende Phantasie nur zum Vorteil des Zwecks eingeschränkt, für den sie bei der populären Darstellung philosophischer Resultate geschäftig ist. Jede ihrer Wirkungen wird in  dem  Verhältnis nachdrücklicher, wie die Richtung ihrer Kräfte bestimmter ist. Ihre Gleichnisse werden passender, ihre Bilder sprechender, ihre Gruppen harmonischer, der Ausdruck der Empfindungen einfacher und lebendiger, das Spiel des Witzes treffender und der Einklang aller zusammenwirkenden Fähigkeiten des Geistes auffallender: so wie die Arbeit des durch ein vollendetes System von Prinzipien geleiteten Scharfsinns gründlicher wird.

Es gibt vielleicht kein gewisseres Mittel, die Philosophie um allen wohltätigen Einfluß auf die Angelegenheiten des wirklichen Lebens zu bringen, als den noch vor kurzem so allgemein beliebten Versuch unserer sogenannten  Eklektiker,  die wissenschaftlichen Grundsätze der Philosophie zu popularisieren. Während diese popularisierten Grundsätze durch ihre (nur mittels einer strengen Deduktion aus den letzten Prinzipien vermeidliche) Unbestimmtheit alle ihre Anwendbarkeit einbüßen, gewinnen sie durch ihre Verbreitung unter dem gemischten Publikum einen Einfluß, bei dem es immer nur auf sehr zufällige äußere Umstände ankommt, ob die schlimmen Folgen des Falschen, das in jenen Formeln mit dem Wahren gepaart ist, die guten Folgen des letzteren nur aufwiegen oder überwiegen sollen. Seit den sinnreichen metaphysischen Träumereien des Pater MALEBRANCHE besitzt Frankreich keine andere Philosophie als die sogenannte populäre; und wenn Popularität das echte Kennzeichen wahrer Philosophie ist, so dürfte die französische nicht nur der deutschen, sondern selbst der englischen den Rang abgelaufen haben. Durch die, in Rücksicht auf einen eigentlich wissenschaftlichen Gehalt, in allen ihren Formeln nur halbwahren Grundsätze eines MONTESQUIEU, ROUSSEAU, VOLTAIRE u. a. sind die gleichfalls nur halbfalschen Maximen der Pfafferei und des Despotismus aus der Vorstellungsart desjenigen Teils der Nation verdrängt worden, der sich durch die Folgen dieser Maximen gedrückt fühlte, während ihm jene Grundsätze Erleichterung versprachen. Durch den unheilbaren Zustand der Administration, der sich nicht länger bemänteln ließ, und die vollendete Unerträglichkeit des Joches, das der größeren Anzahl durch die kleinere aufgebürdet war, machte nun die größere Anzahl durch die Mehrheit ihrer Arme jene popularisierte Philosophie geltend, welche der ganzen Wiedergeburt des französischen Staates das Gepräge ihres schwankenden Sinnes so sichtbar aufgedrückt hat: wovon sich das Wahre in ebensovielen weisen und gerechten, als das Falsche in übereilten und ungerechten Maßregeln der neuen Gesetzgeber äußert, und wodurch es dem aufgeklärten Menschenfreund bisher zweifelhaft geblieben ist: ob Frankreich einst seine politischen Übel nur verändert oder in der Tat vermindert haben werde? Eine Frage, deren Entscheidung von zufälligen äußeren Umständen, z. B. dem Erfolg der Finanzoperationen, den Talenten und dem guten Willen der Minister und Demagogen, den Veränderungen in der politischen Lage des übrigen Europas abhängt.

Solange wir nicht ein vollendetes System der letzten Prinzipien haben, die nichts als der bestimmteste Ausdruck der ursprünglichen Gesetze der vorstellenden Kraft sind; solange wir mit der Anwendung philosophischer Grundsätze  vor  ihrer durchgängigen Entwickung beschäftigt sind; solange wir  angewendete  Philosophie bearbeiten, ohne eine  reine  zu besitzen: solange wird auch sowohl der Philosoph von Profession auf dem Gebiet der Erfahrung, als der Geschäftsmann auf dem Gebiet der Philosophie, eine gleich mißliche Rolle spielen. Der letztere wird manches Gesetz der Vernunft, von dessen Gültigkeit die Würde der Menschheit abhängt, bloß weil demselben in der Erfahrung zuwidergehandelt wird, als eine grundlose Spitzfindigkeit verwerfen. Der erstere hingegen wird manche in der Tat grundlose Spitzfindigkeit der Welt aus ein Naturgesetz aufdrängen wollen. Die Unentbehrlichkeit der Erfahrung, und die Wichtigkeit des Beitrags, den sie zur Anwendbarkeit philosophischer Prinzipien zu liefern hat, kann durch nichts zu einer höheren Evidenz gebracht werden, als durch die streng wissenschaftliche Form jener Prinzipien, in welcher allein der eigentliche Sinn und Grenzen ihrer eigenen Gültigkeit vollständig sichtbar werden kann, und wodurch es sich ergibt, daß ihr Gebrauch nicht weniger von der Menge und Beschaffenheit der Erfahrungen, als vom wirklichen Besitz der Prinzipien selbst, der nur in ihrem  deutlichen Bewußtsein  besteht, abhängen muß.
LITERATUR - Carl Leonhard Reinhold, Briefe über die Kantische Philosophie, Bd. 2, Leipzig 1792
    Anmerkungen
    1) Worunter ich mir weder das Vermögen nach Gesetzen zu handeln, noch seine Pflicht zu tun, sondern nur die  Willkür,  die durch das Gesetz des Willens zugesichert ist, denken kann.
    2) "Wie viele solcher literarischer Seuchen", (schreibt ein ungenannter, aber gewiß nicht namenloser Schriftsteller im Neuen Teutschen Museum, Bd. 10, 1790, Seite 1029) "haben wir nicht in Deutschland erlebt zwischen der der YOUNGschen Nachtgedanken-Epidemie bis zu der jetzigen  metaphysischen Influenza!"  (Seite 1023. "Man hat wohl keine Beispiel, daß sich jemals ein metaphysischer Schwindelgeist über eine Nation so ausbreitet, wie wir ihn jetzt in Deutschland sehen: und dieses rechne ich Deutschland nicht als einen Vorzug an." Unter anderen Fehlern unserer Nation, die der Verfasser in seine reichhaltige Sammlung aufzunehmen vergessen hat, gehört wohl auch,  daß bei keiner anderen Nation das Vortreffliche, das sie wirklich besitzt, mehr verkannt wird. 
    3) Die Art, wie dieser Zuruf von den Gegner nicht nur, sondern auch von den Freunden der Kantischen Philosophie aufgenommen worden ist, beweist, daß er noch oft wiederholt werden muß, wenn sie ihn  verstehen  sollen. Die achtungswürdigen Männer, welche in der Allgemeinen Literaturzeitung den Ersten Band meiner  Beiträge und meine Schrift  Über das Fundament des philosophischen Wissens  beurteilt haben, finden meine Behauptung, daß von dem aus dem  Bewußtsein  geschöpften ursprünglichen  Begriff der Vorstellung  das Ende aller metaphysischen Streitigkeiten und der Anfang einer wissenschaftlichen und allgemeingeltenden Philosophie abhängt, aus dem Grund übertrieben, weil zu jenem Zweck  mehrere ursprüngliche  Tatsachen des Bewußtseins unentbehrlich wären, welches ich selbst in den Schriften behauptet habe, die, Gott weiß wie? zu dieser Erinnerung Gelegenheit gegeben haben. Freilich sind die  mehreren  ursprünglichen Tatsachen des Bewußtseins und die sich aus denselben unmittelbar ergebenden Begriffe nicht in einem einzigen Ersten, aber wohl  unter  denselben enthalten; und können also  vor  jenem  einzig Ersten  nie durchgängig bestimmt, und folglich insofern nur durch das  einzige Erste  gegen Mißverständnisse gesichert werden.