ra-1 DonatElsenhansSprangerW. SchuppeBecherVolkelt    
 
PAUL DUBOIS-REYMOND
Über die Grundlagen der Erkenntnis
in den exakten Wissenschaften

[ 1 / 2 ]

"Wenn wir schon nicht absehen, wie je vor unseren Augen bewußte Wesen entstehen können aus uns völlig tot erscheinendem Stoff (den wir z. B. einer beliebig hohen Temperatur ausgesetzt haben, bei welcher aus jedem Lebenwesen Wasserdampf, Kohlensäure, Ammoniak, Salze und Erden werden), so liegt uns noch viel ferner die Möglichkeit, daß wir je das Bewußtsein selbst in eine Kette natürlich befriedigender Vorstellungen werden auflösen können."

"Jeder Forscher, der nach vollem Genügen rang, versuchte wohl jene an die fruchtbaren Gefilde der empirischen Naturforschung grenzende Gedankenöde zu durchmessen: verzagend und verzichtend kehrte er zur einfachen Tatsache der Fernwirkung zurück. Für ihre Unbegreiflichkeit zeugt in der Tat alle darauf seit den längst vergessenen Versuchen der nach-newtonschen Cartesianer bis auf den heutigen Tag vergeblich verwendete Mühe. Denn diese Mißerfolge sind eben sicherlich nicht dem Ungeschick der einzelnen Forscher zuzuschreiben, so daß man meinen könnte, der rechte Mann werde noch kommen, der die Zauberformel findet; vielmehr haben alle, die sich seit Jahrhunderten an der Denkarbeit beteiligt haben, wenn sie nicht in Selbsttäuschung befangen waren, an den letzten Problemen ihre Kraft versagen sehen. Es gelingt eben nun und nimmermehr, Fernkraft und Masse auf wirklich und endgültig uns befriedigende Vorstellungen zurückzuführen."


Einleitung

VERGIL hat uns die schönen, berühmten Verse hinterlassen (Georgicon II, 490f):
    "Glücklich der, dem es gelingt, den Grund der Dinge zu erkennen,
    der, welcher über jeden Terror und unerbittliches Schicksal,
    über den Lärm einer verschlingenden Hölle hinwegschreiten kann."
Ja, glücklich zu preisen, wer die Ursachen des Geschehens und Erscheinens erkennt! Dem Genuß: die Gründe einer verwickelten Erscheinung zu durchschauen, überhaupt ein Problem zu lösen, das uns lange gequält hat, ist kein anderer zu vergleichen. Jeder wird sich davon in irgendwelchem Grad überzeugen, sei es auf technischem, sei es auf rein wissenschaftlichem Gebiet. Der Gedanke, die Kondensation außerhalb des Zylinders stattfinden zu lassen, von dem unsere moderne Dampftechnik ihren Ausgang nahm, wird JAMES WATT kaum mit geringem Entzücken erfüllt haben, wie KIRCHHOFF und BUNSEN ihre wichtige und heute so ergebnisreiche Deutung der Fraunhoferschen Linien.

Aber zu dieser unsagbaren Freude, welche befriedigter Erkenntnistrieb, erarbeitete Aufklärung verwickelter Verhältnisse und Schwierigkeiten gewährt, steht im Gegensatz die fortdauernde, zum schmerzlichsten Gefühl sich steigernde Unruhe, welche Probleme erregen, wenn sie allen unseren Anstrengungen trotzen, wenn wir nachgerade daran verzweifeln müssen, sie zu lösen. Doch tritt hier ein Unterschied ein:

Ein Anderes ist es, ob wir an der Lösbarkeit eines Problems nicht zweifeln dürfen, aber, wie das uns Mathematikern in der rechnenden Mathematik ja leider häufig genug widerfährt, die Aufgabe, die sicher eine Lösung besitzt, erschöpft und entmutigt beiseite legen müssen, entweder weil wir bei den gegenwärtigen Hilfsmitteln unserer Wissenschaft keine Möglichkeit mehr absehen, wie man die gesuchten Größen darstellen könnte oder weil es an einem Prinzip gebricht, welches sich uns nicht entüllen will. Zum Ärger über verlorene Zeit und Mühe und der inneren Beschämung über die Demütigung, welche unsere vermeintliche Kraft wieder einmal erfahren hat, gesellt sich das vielleicht nicht gerade edle Gefühl, daß nun später jemand anders, möglicherweise mit leichter Mühe, erreichen wird, was wir erstrebten.

Ein Anderes dagegen ist es, wenn wir einem Problem gegenüberstehen, dessen Lösung nicht deshalb versagt ist, weil uns unser Witz oder die Wissenschaft im Stich läßt, sondern weil wir zur Überzeugung gelangen, daß ihm menschliche Kräfte überhaupt nicht gewachsen sind, während es doch ansich vollberechtigt, ja gar nicht zu umgehen ist, falls wir nicht auf das Verhältnis eines Erscheinungsgebietes überhaupt verzichten wollen. Dergleichen Probleme stellen uns die letzten Abstraktionen, das allgemeine Grenzproblem der exakten Wissenschaften, die Mechanik, die Einwirkungen der Körper aufeinander und werden uns vermutlich noch manche andere Erscheinungsgebiete vorlegen.

Das Problem wird in diesem Fall seines ursprünglichen Charakters entkleidet und wird ein psychologisches. Wir fragen:  Weshalb begreifen wir den Vorgang nicht?  Seine Unlösbarkeit verliert zunächst ihren Stachel, um sich indessen alsbald mit einem neuen zu bewaffnen, der uns treibt, die eigentümliche Art der Beschränkung unseres Fassungsvermögens zu ergründen, welche uns am Begreifen der letzten Abstraktion hindert. Und diese Untersuchung soll uns nun beschäftigen. Um noch deutlicher ihren Gegenstand zu erkennen, wollen wir ihn an einigen Beispielen in der modernen Wissenschaft verfolgen.

Lehrreich ist zunächst in mancher Beziehung die Lehre von den Lebewesen.

Ich meine nicht die ungeheure Mannigfaltigkeit des Unerforschten, welche die Physiologie der Lebewesen birgt, sondern die dem oberflächlichen Blick zuerst sich darbietende Entwicklung der heutigen Arten des Pflanzen- und Tierreichs, mit den allgemenen Theorien, welche ihre Entstehung unserem Verständnis näher gerückt haben.

Wir haben vor uns die Reihe z. B. der Tierarten in aufsteigender Folge, die auf den ersten Blick häufig stetig erscheint, jedoch ebenso oft lückenhaft ist, ja näher betrachtet wesentlich den Charakter sprungweiser, oft verzweigter Änderung annimmt. Sie legt uns die Frage vor: Wie sind diese Arten seit jenen Zeiten entstanden, in welchen sich auf unserem Erdball die Bedingungen für die Existenz organischen Lebens allmählich einstellten?

Ohne irgendein neues Prinzip, welches lehrt, wie eine Tierform wenigstens innerhalb gewisser Grenzen in der Sukzessionsreihe ihrer Nachkommen in eine andere überzugehen vermag, kann man diese Frage nach der Entstehung der Arten nicht beantworten und wir verdanken dem großen CUVIER, in seiner Erklärung der Artenentstehung durch unmittelbare göttliche Schöpfung, das unumwundene und energische Geständnis, daß er ein solches Prinzip nicht besaß. Dies war seitens eines so tiefkundigen und höchsten Ansehens sich erfreuenden Forschers eine wissenschaftliche Tat von folgenreichster Bedeutung. Denn sie gab dem Problem den einfachsten Ausdruck. Das göttliche Eingreifen, den Deus ex machina [Gott aus der Maschine - wp] in diesem Drama herbeigezogen, um die Verwicklung, die der Dichter nicht aus der Handlung und den Charakteren heraus zu lösen vermag, zum befriedigenden Abschluß zu bringen - ihn galt es nunmehr in der Naturkunde entweer aufgrund ausreichender Erklärungen überflüssig erscheinen zu lassen oder seine Notwendigkeit zu erhärten.

Nun, es ist bekannt, daß etwa achtzige Jahre nach CUVIER das fehlende Prinzip, welches die Entstehung der Arten begreiflich macht, von DARWIN entdeckt wurde: das Prinzip von der  erblichen  Erhaltung der Abweichung des Kindes von den Eltern,' um es kurz auszudrücken.

Natürlich ist hier nicht der Ort, auf die Geschichte der geistigen Arbeit einzugehen, welche diese beiden Marksteine der Naturkunde verbindet. Genug, nachdem der DARWINsche Gedanke seine Wirkung getan hat, scheint uns die Berufung auf einen Schöpfungsakt nicht mehr nötig. Wir übersehen, wie etwa die heutigen organischen Formen allmählich entstanden sind. Wir lassen unserer Phantasie freien Lauf, die auf mannigfaltige Weise, z. B. aus den uns einigermaßen bekannten Organismen der tertiären Zeit, die höher organisierten Wesen durch Selektion entstehen läßt, eine Fortentwicklung mit vielfach toten Seitentrieben. Ja, wir gehen kühnlich weiter und weiter zurück und gelangen schließlich bis zu den einfachsten Organismen im Urschlamm der Erdoberfläche, aus denen sich, das ist das Ende dieses Gedankens, alles Lebende im Laufe einer ungeheuren Zeitdauer herausgestaltet hat.

Sogleich aber stehen wir wieder vor einem neuen Problem und zwar vielleicht noch tieferer Art wie das von DARWIN gelöste. Es ist das der  Entstehung  lebender Organismen überhaupt.'

Wir wollen uns die Entwicklungsgeschichte unseres Planeten so vorstellen, wie es jetzt wohl ziemlich allgemein geschieht: daß er, mit feurig-flüssigem Zustand beginnend, durch Abkühlung eine feste Kruste erhielt, auf der sodann schlammige Ablagerungen aus der von Dämpfen aller Art gebildeten Atmosphäre im Laufe langer Zeitperioden für die Existenz von Lebewesen tauglich wurden, die sich dann auch wirklich darin entwickelten. Es haben sich also, das scheint eine notwendige Folge jener Annahme zu sein, in völlig organisationslosem Mittel lebende Organismen gebildet.

Bekanntlich sind alle Versuche von LEEUWENHOEK bis auf PASTEUR mißglückt, eine  generatio aequivoca,  [Urzeugung - wp] d. h. eine Entstehung von Lebendem in toter Substanz hervorzurufen. Vielleicht würde dazu eine ganz bestimmte Zusammensetzung der Substanz aus toten, aber den Lebewesen angemessenen chemischen Substanzen, Albuminoiden, Salzen etc. erforderlich sein. Wer kann wissen, mit welchen physikalischen Agentien alsdann so eine Substanz behandelt werden müßte, damit sie endlich den ersehnten Anfang von Zellenbildung oder der ihr vielleicht vorangehenden Bildung von Amöben irgendwo erkennen ließe? Wer kann eben die besonderen Umstände ahnen, unter denen im Urschlamm auf der Erdoberfläche das erste Leben enstand? Doch brauchen wir nicht daran zu verzweifeln, daß der Forschungstrieb, welcher durch so ein Problem auf das mächtigste angeregt wird, es dereinst bewältigen werde.

Freilich ist angesichts der Erfolglosigkeit der bisherigen Versuche ebenfalls ein Schöpfungsakt angenommen worden, wodurch der erste Lebensodem, gleichsam in Lebensatomen, dem Urschlamm mitgeteilt worden wäre. Auch hat man, wodurch die Frage allerdings nur von unserer Erde auf andere Himmelskörper verlegt wird, die Hypothese aufgestellt, daß Meteore der Erde die ersten Lebenskeime überbrachten. Allein man kann, wie bemerkt, immer die Hoffnung hegen, daß auch dieses Problem sich einst, wie man zu sagen pflegt, auf natürliche Weise lösen lassen wird, d. i. ohne unserem Planeten und den uns geläufigen Vorstellungen fremde Elemente zur Hilfe herbeiziehen zu müssen, - daß man also, mit einem Wort, natürliche Bedingungen entdecken wird, unter denen in toter Substanz Leben entsteht.

An dieser Stelle ist die scharfe Grenze gezogen, bis zu welcher die erklärende Kraft des DARWINschen Gedankens sich erstrecken kann, wenn man die Probleme über die Beschaffenheit des Lebens selbst nach wie vor ausschließt.

Wir wollen aber noch weiter vorzudringen versuchen und sehen, welche Aufgaben sich nun dem Forscher darbieten. Es würde sich jetzt eine neue Ordnung von Problemen erheben: es sind die der  organischen Chemie.  Denn die tote Substanz, in der nach der Annahme Leben entstehen wird, muß doch aus Stoffen zusammengesetzt sein, die der Zusammensetzung der belebten Zelle gleichen. Und so würde es sich weiter um Darstellung des organischen Stoffes aus dem anorganischen handeln. Allerdings kommt uns hier die Chemie entgegen durch ihre synthetischen Bestrebungen, die ja schon die merkwürdigsten Erfolge aufweisen. Doch ist die Darstellung der eiweißartigen Stoffe und vieler anderer noch nicht gelungen. Indessen gerade hier zweifeln wir am wenigsten am schließlichen Gelingen.

So könnte man ohne Hilfshyothesen unvorstellbarer Natur dann doch die Stufen der Entstehung und Entwicklung der Lebewesen vom toten Urzustand der Erdoberfläche an bis auf unsere Tage in der Idee verfolgen und wieviele Aufgaben untergeordneter Natur diese Lehre auch noch darböte, im ganzen würde sie doch unseren Forschungstrieb befriedigen. Sie würde etwa wie historische und philologische Forschungen uns ein Bild eines Entwicklungsganges geben, bei dem wir vielleicht manche heute unausfüllbare Lücke zu beklagen hätten, aber nirgends würde die Lücke den natürlichen Zusammenhang des Überlieferten in Frage stellen.

Ein ähnliches Bild läßt sich von vielen anderen Wissenschaften entwerfen, wenn man ihre Endziele angemessen beschränkt, wie es bei der oben erörterten Lehre von der Entstehung der Arten sich von selbst ergab: so von der  Physiologie,  soweit sie das psychische Problem beiseite läßt, - von der  Geologie  mit der Glazialzeit [Eiszeit - wp] (man denke z. B. an die große Granitschale vor dem Berliner Museum, deren Block von den Norwegischen Alpen in die Mark befördert wurde), - von der  Mineralogie  mit der Entstehung der Diamanten, die man auch erschaffen wähnen könnte, - von der  Sternkunde,  die mit den Grundlagen des Gesetzes der Trägheit und der NEWTONschen Anziehung, sowie der Spektralchemie völlig auskommt. Lehrreich ist namentlich die  Meteorologie,  die trotz großer Anstrengungen sehr wenig zustande gebracht hat; weiß sie doch z. B., was die veränderlichen Luftströmungen betrifft, kaum aus noch ein, wie die unsicheren Prognosen unserer Zeitungen beweisen. Aber man kann sich denken, daß sie uns bei tieferer Kenntnis der Luftströmungen Respekt einflößen wird, wie sie denn schon einige merkwürdige Tatsachen ans Licht gefördert hat. Vorerst unbegreifliche Erscheinungen sind allerdings genug da, so die Rotationserscheinungen, als da sind die Taifune, die Wasserhosen, die von Herrn RAOUL PICTET beschriebenen Sandhosen in der Wüste bei Kairo, dann die Gewittererscheinungen, der Hagel, vor allem der plattenförmige, die Kugelblite und dgl. mehr. Sie alle aber harren für ihre Erklärung wohl nur auf Weiterentwicklung der Physik.

Alle diese Wissenschaften verbreiten also ihre Herrschaft über Gebiete der natürlichen Erscheinungen und ihre Probleme, mögen sie noch so schwieriger und tiefer Natur sein, versprechen eine Lösung mit den Hilfsmitteln ihres Erscheinungsgebietes. Jedenfalls haben wir nirgends das Gefühl, an die Grenzen unseres natürlichen Begriffsvermögens zu stoßen.

Anders verhält es sich mit den von uns bisher beiseite gelassenen  biologischen  Problemen.

Indem wir die Naturkunde auf die Entstehung der Arten beschränkten, ihre Ziele aber bis zur Entstehung des Lebenden überhaupt zurückverlegten, ließen wir die Möglichkeit offen, daß die Forschung dereinst auch Bedingungen entdecken werde, unter denen aus anorganischen Stoffen Leben hervorgeht, wie das ja auf unserem Planeten wahrscheinlich stattgefunden hat. Diese Möglichkeit mag nun einmal zur Tatsache werden oder nicht, jedenfalls ist mit ihr nicht zugleich angenommen, daß wir dann auch - oder daß wir überhaupt einmal erkennen werden,  was Leben ist,  worin der Vorgang besteht, der - beginnend mit der Bildung einfachster Zellen, dann fortschreitend zu engverbundenen, ein aufeinander angewiesenes Dasein führenden Zellengemeinden, sich hierauf gabelnd in die Entstehung der einfachsten Pflanzen- und Tierformen - schließlich emporführt zum erstaunlichsten Phänomen der uns umgebenden Erscheinungswelt: zum  Bewußtsein  und zur Seele.

Man kann angesichts des Abgrunds von Problemen, welcher sich an dieser Stelle öffnet, nicht mehr mit Zuversicht sagen, wir könnten das Wesen der Seele materiell begreifen, wenn wir nur erst gewisse Prinzipien von materiellen Wechselwirkungen entdeckt hätten, etwa wie wir die Entstehung der Arten begreifen mit Hilfe des DARWINschen Prinzips der erblichen Erhaltung der Abweichung von den Eltern. Und wenn einst zur Zeit der Enzyklopädisten himmelstürmender Tatendrang entfesselter Geister auch vor diesem Problem nicht zurückschreckte oder wenn kurzsichtiges Spekulieren seine übermenschlichen Formen nicht ahnt, so möchten ernste und scharfblickende Denker sich kaum je an seine natürliche Lösung geglaubt oder auch nur an die Zergliederung der seelischen Erscheinungen gewagt haben.

Hier also haben wir es mit Erscheinungen zu tun, welche wir schwerlich so verstehen werdn, wie man die Eisperioden oder die Witterungswechsel oder irgendwelche Vorgänge in der unorganischen Natur verstehen zu können glaubt oder hofft oder nur deshalb nicht verstehen zu können meint, weil uns das Material zum Verständnis der Vorgänge nicht mehr zu Gebote steht. Wir haben das Gefühl, daß die seelischen Erscheinungen ganz anderer Ordnung sind, wie die außerseelischen. Wenn wir schon nicht absehen, wie je vor unseren Augen bewußte Wesen entstehen können aus uns völlig tot erscheinendem Stoff (den wir z. B. einer beliebig hohen Temperatur ausgesetzt haben, bei welcher aus jedem Lebenwesen Wasserdampf, Kohlensäure, Ammoniak, Salze und Erden werden), so liegt uns noch viel ferner die Möglichkeit, daß wir je das Bewußtsein selbst in eine Kette natürlich befriedigender Vorstellungen werden auflösen können.

Doch diese an sich schon fremdartige und dem gewöhnlichen Vorstellungsgebiet des Menschen weit entrückte Erscheinngswelt des Seelischen ist es nicht, die wir im Gegensatz zu den Wissenschaften der sogenannten Naturkunde bringen wollen, von denen ich zu zeigen suchte, daß sie vermutlich nirgends menschlich Unbegreifliches ans Licht fördern. Es ist vielmehr das Forschungsgebiet der ihnen auch sonst gegenübergestellten  exakten Wissenschaften,  wie man sie nennt, darunter verstanden: die Mathematik, die Mechanik, die Astronomie, die Physik, die Chemie, sowie die Physiologie, soweit sie den ersteren hinsichtlich der Forschungsmethode zur Seite gestellt werden kann. Es ist, mit einem Wort, das in keiner Richtung Schranken kennende Streben des Naturforschers, zu den letzten Gründen der Erscheinungen vorzudringen, ein Streben, das sich in einer bestimmten Denkform kundgibt.

Es ist nämlich von jeher ein Ziel des naturwissenschaftlichen Denkens, das bereits in der Physik der Alten bemerkbar wird und dessen Anziehungskraft sich besonders nach fruchtbaren Perioden der induktiven Wissenschaften fühlbar macht: die Mannigfaltigkeit wenigstens einzelner Gebiete von Naturerscheinungen  durch Kombinationen von möglichst einfachen und gleichartigen Mechanismen -  wie man es nennt: zu  "erklären".  So wurde, von den älteren Bestrebungen in der bezeichneten Richtung abgesehen, die Gravitation auf eine unveränderliche Fernwirkung der Körperteilchen zurückgeführt, ebenso die Erscheinungen der statischen Elektrizität und des Magnetismus, während die elektromagnetischen Erscheinungen durch AMPÉRE mit Hilfe seiner Molekularströme, dann die elektrischen Erscheinungen überhaupt durch WEBERs berühmtes Gesetz erklärt wurden. Das sind nur ein paar hervorragende Beispiele unter zahlreichen, die sich bis ins physiologisch-psychologische Gebiet hineinerstrecken.

Das wissenschaftliche Denken schlägt fast unwillkürlich diese Richtung ein, welche ihm durchaus natürlich zu sein scheint. In der Tat, der Antrieb zu solchen erklärenden Konstruktionen entspringt sichtlich dem Unbehagen oder der Unruhe, welche verwickelte oder neue Erscheinungen erzeugen. Sie stören unseren Frieden. Er kehrt nicht eher wieder, bis die beunruhigende Erscheinung durch eine unserem Denkvorgang natürliche Sukzession von Vorstellungen mit solchen Endvorstellungen, die, gleichviel aus welchem Grund, unseren Frieden  nicht  stören, in lückenlosen Zusammenhang gebracht ist. Von der uns befremdenden Wahrnehmung oder Vorstellung sagen wir, falls ein solcher Zusammenhang hergestellt ist, daß sie  erklärt  sei und von uns, daß wir sie  begreifen  und  verstehen.  Das Verfahren, welches hierzu führt, wird gewöhnlich sein, daß man versucht, von verschiedenen einfachen, angemessen gewählten Grundvorstellungen aus und auf verschiedenen Wegen bis zu der uns rätselhaften Erscheinung vorzudringen. Es ist dies eben der Weg der  Synthese  und im allgemeinen der Weg der Entdeckung.

In diesem Sinne also ist ein Erscheinungsgebiet  erklärt,  wenn wir es auf die Wechselwirkung möglichst einfacher Mechanismen zurückgeführt haben und, wohl bemerkt, wenn wir uns über die Rätsel, welche die Beschaffenheit dieser Mechanismen etwa selbst noch birgt, hinwegsetzen.

Ist letzteres aber nicht unser Fall, sondern wollen wir die Elementarmechanismen selbst verstehen, so kann eine neue Ordnung von Problemen beginnen. Denken wir z. B. nur das das fernwirkende Atom, so wäre die Fernwirkung und die Natur des Fernwirkenden selbst zu ergründen.

Doch an diesem Problem sehen wir alle unsere Anstrengungen scheitern. Jeder Forscher, der nach vollem Genügen rang, versuchte wohl jene an die fruchtbaren Gefilde der empirischen Naturforschung grenzende Gedankenöde zu durchmessen: verzagend und verzichtend kehrte er zur einfachen Tatsache der Fernwirkung zurück. Für ihre Unbegreiflichkeit zeugt in der Tat alle darauf seit den längst vergessenen Versuchen der nach-newtonschen Cartesianer bis auf den heutigen Tag vergeblich verwendete Mühe. Denn diese Mißerfolge sind eben sicherlich nicht dem Ungeschick der einzelnen Forscher zuzuschreiben, so daß man meinen könnte, der rechte Mann werde noch kommen, der die Zauberformel findet; vielmehr haben alle, die sich seit Jahrhunderten an der Denkarbeit beteiligt haben, wenn sie nicht in Selbsttäuschung befangen waren, an den letzten Problemen ihre Kraft versagen sehen. Es gelingt eben nun und nimmermehr, Fernkraft und Masse auf wirklich und endgültig uns befriedigende Vorstellungen zurückzuführen.

Ich glaube den Grund hiervon in gewissen Eigenschaften unseres Denkens gefunden zu haben und habe schon vor langen Jahren den psychologischen Zusammenhang der Frage des fernwirkenden Atoms mit der seitdem (1) von mir behandelten Frage der  mathematischen Grenze  erkannt; ja es war das Atom, durch welches ich erst die Grenze verstand. Diese Einsicht wurde mir durch gewisse Betrachtungen über die Natur unserer Begriffe eröffnet, von denen ich bei der Untersuchung der mathematischen Grenze bereits das Nötige angegeben habe.

Wollen wir nun in die Natur der mechanischen Abstraktionen ein ebensolches Einsehen gewinnen, so ist es unumgänglich, jene Begriffsunterscheidungen wieder aufzunehmen und sie noch genauer durchzuführen. Denn das Verständnis für die Grundbegriffe der sogenannten exakten Wissenschaften ist, wenigstens allgemein zu reden, aus ihren Lehrgebieten selbst nicht zu entnehmen, sondern hier heißt es, auf grundlegende Eigenschaften unseres Denkens zurückzugehen und zwar in einer durch die Natur der zu erklärenden Begriffe scharf vorgezeichneten Richtung. Daher finden wir auch, soviel mir bekannt ist, diese Eigenschaften nicht oder doch nicht genügend erörtert in der eigentlichen Wissenschaft des Denkens, der Philosophie, die willkürlich gewählte Wege verfolgt, während uns die Probleme über die Grundbegriffe der exakten Wissenschaften aufgenötigt werden.  Jede Wissenschaft muß sich ihre Philosophie selbst schaffen,  wie wir das am leuchtenden Beispiel der Geometrie sehen.

Da nach dem Ebengesagten im allgemeinen und fürs erste wohl nur von einer  bedingten  Erklärung natürlicher Erscheinungsgebiete die Rede sein kann, so ist es nicht bloß eine Frage der korrekten Ausdrucksweise, sondern es ermangelt nicht tieferer Bedeutung, wenn wir das Wort "erklären" in dieser Verbindung tunlichst vermeiden. Denn es kann sich ja nur darum handeln, das Unerklärliche in seinen kleinsten Raum zurückzudämmen und auf seinen einfachsten Ausdruck zu bringen. Wir dürfen nicht die falsche Vorstellung erwecken, als ob am Ende der Vorstellungskette, welche von der zu erklärenden Erscheinung ausgeht, es nichts Rätselhaftes mehr gäbe, da doch hier das Rätselhafte gleichsam konzentriert ist.

Bekanntlich hat KIRCHHOFF im Vorwort zu seiner Mechanik an die Stelle des Wortes "erklären" das Wort  "beschreiben"  gesetzt und dieses "Beschreiben" ist Gegenstand mannigfacher Deutungen geworden, die aber unter sich nicht im besten Einklang sind. KIRCHHOFF selbst ist, wenigstens im Druck, nicht wieder auf diesen Punkt zurückgekommen.

Von den hier entwickelten Anschauungen aus müßte man allerdings der KIRCHHOFFschen Ausdrucksweise insofern den Vorzug geben, als sie jener falschen Vorstellung einer  vollständigen  Erklärung der Erscheinungen keinen Vorschub leistet. Allein sie sagt meines Erachtens dann doch wieder zu wenig. Mit dem Wort "beschreiben" bezeichnet man durchaus nicht das, was die mechanische Forschung tatsächlich und vernünftigerweise sich von alters her bis auf den heutigen Tag als Ziel setzt und wohl auch fernerhin sich setzen wird. Jedenfalls wäre es nur eine höchst gezwungene Anwendung des Wortes. Man  beschreibt  eine Landschaft, einen Vorgang, d. i. ein räumliches oder zeitliches Nebeneinander von Gegenständen. Aber die Herleitung eines mannigfaltigen Erscheinungsgebietes aus den einfachsten Elementen des Erscheinens ist keine Beschreibung. Hier sagt man, wie mir scheint, zutreffender: die  Synthese  oder die  Konstruktion  oder der  Aufbau des Erscheinungsgebietes aus einfachsten Mechanismen  und so wollen wir uns auch in Zukunft ausdrücken.

Es besteht noch ein tieferer und, wie ich glaube, ausschlaggebender Grund, den Ausdruck "beschreiben" für unzureichend anzusehen: die Aufstellung des einfachsten Mechanismus, der die Synthese eines Erscheinungsgebietes gestattet, entspringt einem Denkprozeß, der uns nicht allein natürlich ist, insofern wir ihm mit Vorliebe folgen, sondern aus dem das Denken geradezu zum wesentlichen Teil besteht, ich meine - der  Begriffsbildung Wie im folgenden ausführlicher gezeigt werden wird, verhält sich in der Tat z. B. das fernwirkende Atom zu den Erscheinungen der Gravitation ähnlich wie ein Begriff (gewisser Natur allerdings) zu dem Vorstellungsgebiet, von dem er abgezogen ist. Ein Vorstellungsgebiet erzeugt mit Notwendigkeit in der mechanischen Forschungsrichtung mindestens einen Begriff; und wenn man nun vom Begriff aus, durch Hineintragen geeigneter willkürlicher Elemente, den Weg zurück zum Vorstellungssystem oder richtiger zu jeder besonderen ihm angehörigen Vorstellung zeigt, so kann man das nicht eine Beschreibung nennen, sondern es ist eine Art Umkehrung der Begriffsbildung, die eben passender  Synthese  oder  Konstruktion  genannt wird. (2)

Bevor wir es versuchen, einen Überblick über die zur Konstruktion der Naturerscheinungen bis jetzt hervorgesuchten Mechanismen zu geben, erscheint es nützlich, die vorstehenden allgemeinen Bemerkungen über die Ziele, welche die Naturforschung sich steckt, etwas eingehender und schärfer durchzuführen.
LITERATUR - Paul Du Bois-Reymond, Über die Grundlagen der Erkenntnis in den exakten Wissenschaften, Tübingen 1890
    Anmerkungen
    1) In meiner "Allgemeinen Funktionentheorie", Tübingen 1882
    2) Daß KIRCHHOFF selbst nichts anderes beabsichtigte, als dem Ausdruck "Erklärung" entgegenzutreten, schließt der Verfasser aus einer Unterhaltung mit ihm aus der Mitte der 70er Jahre. Es handelte sich um das Webersche Gesetz und der Verfasser bemerkte: es sei schade, daß man sich dabei nichts denken könne, worauf KIRCHHOFF erwiderte: das sei ja ganz gleichgültig, wenn es nur gelingt, damit die Erscheinungen "darzustellen". Das war sein wörtlicher Ausdruck und der Verfasser ist damit hinsichtlich der mechanischen Forschungsrichtung völlig einverstanden, wie der Text lehrt, nur daß er hier die Frage in der metamechanischen Richtung weiter verfolgt.