ra-1 H. RickertJ. Reinke    
 
LUDOLF KREHL
Pathologische Physiologie

"Es gibt einzelne Menschen, bei welchen auf der Höhe der Verdauung keine ungebundene Salzsäure vorhanden ist, während die große Mehrzahl solche hat. Dabei kann jenen Individuen ohne freie Salzsäure jede Beschwerde, jede Störung der Verdauung, jede Herabminderung der Leistungsfähigkeit vollkommen fehlen. Man wird sie also unseres Erachtens nicht als krank bezeichnen dürfen. Aber ich gebe zu, hier beginnen die Grenzen ineinander zu fließen. Und erst recht wird das der Fall sein, wenn ein Mensch klar und deutlich nachweisbare Funktionsstörungen irgendwelchen Organsystems viele Jahre lang hat, durch diese aber nicht im geringsten in seiner Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird. So ein Mensch ist in der Theorie krank."

Die pathologische Physiologie will zum Verständnis der als krankhaft bezeichneten Lebensvorgänge beitragen. Der Begriff des Krankhaften ist von COHNHEIM in seiner berühmten allgemeinen Pathologie eingehend erörtert worden: er ist charakterisiert durch einen eigenartigen (abnormen) Verlauf der gleichen Prozesse, welche die Lebenserscheinungen des gesunden Organismus ausmachen. Worin besteht nun das Abnorme, Eigenartige? Wir pflegen als normal die Lebensvorgänge zu bezeichnen, wie sie bei der Mehrzahl der Individuen verlaufen und bei denen die betreffenden Individuen sich gesund fühlen, ihre natürlichen Aufgaben verrichten können. So leicht und klar in manchen Fällen entschieden werden kann, ob die Funktionen eines Organismus normale oder abnorme Verhältnisse darbieten, so schwierig kann die Feststellung in anderen Fällen werden.

Nach der oben genannten Definition ist die ganze Reihe der lebenden Wesen von der niedersten Pflanze bis zum höchst organisierten Tier und dem Menschen Krankheiten unterworfen. Nun bietet die Organisation verschiedene Spezies, selbst wenn sie sich in der Tierreihe verhältnismäßig nahe stehen, ansich schon große Variationen, nicht nur in morphologischer, sondern auch in funktioneller Beziehung. Zum Beispiel die Ausscheidung der gleichen Menge von Harnsäure, welche für den Vogel die Regel bildet, würde bei jedem Säugetier einen krankhaften Zustand bedeuten. Also die Frage, ob eine Funktion für ein Individuum normal ist, darf nur nach dem Vergleich mit Individuen der gleichen Spezies beantwortet werden.

Diese Bemerkung könnte hier völlig unnötig erscheinen, da ja im vorliegenden Buch lediglich die krankhaften Funktionsstörungen des Menschen dargelegt werden sollen. Ihr Verständnis ist aber ohne eine sorgfältige Berücksichtigung der am Tier bekannt gegebenen Verhältnisse nicht mehr möglich.

Ich will nicht davon sprechen, welche Aussichten in der Zukunft auch für die Pathologie die vergleichenden Methode eröffnet. Sie hat für unsere Aufgaben bisher wohl nur deshalb eine so geringe Rolle gespielt, weil uns tatsächlich vorerst noch die äußere Möglichkeit und Gelegenheit fehlt, sie auszuüben. Aber wenn die Pathologie nicht ernsthaft hinter den anderen Zweigen der Biologie zurückbleiben will, werden wir mit aller Energie danach trachten müssen, eine enge Verbindung zwischen pathologischen und tierärztlichen Laboratorien zu erreichen, damit die vergleichende Methode auch in unserer Wissenschaft das Bürgerrecht erhält. Indessen brauchen wir schon jetzt das Tier in ausgedehntestem Maße zur Ausführung des pathologischen Experiments. Dieses ist uns bereits ein unentbehrliches Hilfsmittel für das Verständnis der pathologischen Vorgänge am Menschen geworden. Für seine Verwertung müssen wir aber natürlich die Unterschiede zwischen den morphologischen und funktionellen Verhältnissen der benutzten Tierspezies einerseits, des Menschen andererseits dauernd im Auge haben.

Ferner kommen innerhalb der gleichen Spezies sehr erhebliche individuelle Verschiedenheiten vor. So gibt es einzelne Menschen, bei welchen auf der Höhe der Verdauung ungebundene Salzsäure nicht vorhanden ist, während die große Mehrzahl solche hat. Dabei kann jenen Individuen ohne freie Salzsäure jede Beschwerde, jede Störung der Verdauung, jede Herabminderung der Leistungsfähigkeit vollkommen fehlen. Man wird sie also unseres Erachtens nicht als krank bezeichnen dürfen. Aber ich gebe zu, hier beginnen die Grenzen ineinander zu fließen. Und erst recht wird das der Fall sein, wenn ein Mensch klar und deutlich nachweisbare Funktionsstörungen irgendwelchen Organsystems viele Jahre lang hat, durch diese aber nicht im geringsten in seiner Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird. So ein Mensch ist in der Theorie krank. Für das praktische Leben würde man ihn so bezeichnen können, aber dies nicht zu tun brauchen.

Der Arzt muß sich in Hinsicht auf diesen Punkt der sehr verschiedenen Aufgaben des theoretischen Verständnisses und des praktischen Handelns in seinem Beruf klar bewußt sein. Wir haben  hier  nur mit dem ersteren zu tun. Aber es ist vielleicht nicht überflüssig, auch an dieser Stelle daran zu erinnern, daß vom Arzt manche in theoretischer Beziehung kranke Leute für das praktische Urteil als gesund angesehen werden dürfen. Jetzt, da wegen der Entschädigungsfragen Funktionsstörungen geradez gepflegt werden, muß, wenn nicht jede Energie des Menschen zugrunde gehen soll, seitens des Arztes für die Frage der Leistungs- und Lebensfähigkeit des Organismus zu beeinträchtigen.

Eine Theorie der krankhaften Lebensvorgänge führt in gleicher Weise wie die der normalen auf die Funktion der Elementarteile der lebendigen Substanz zurück. Es kommt demnach für jeden Krankheitszustand auf das Verhalten einer Reihe von Zellen und der aus ihnen zusammengesetzten Organe oder Organsystems hinaus, denn funktionell zusammengehörige Zellen liegen nicht immer beieinander, sondern können in höchst verwickelter Anordnung über die verschiedensten Orte des Körpers verstreut sein. Wir lernen ja mehr und mehr kennen, wie für den Ablauf einer bestimmten Funktion das Zusammenwirken verschiedenartiger Zellen notwendig ist.

Die Störung der Funktion geht natürlich immer mit einer physikalischen bzw. chemischen und morphologischen Veränderung der Zellstruktur einher, ja ist durch diese bedingt.

An dieser Tatsache wird dadurch nichts geändert, daß wir mit den gegenwärtig zur Verfügung stehenden Mitteln nicht entfernt in allen Fällen diese chemischen und morphologischen Veränderungen aufzufinden imstande sind. Man hat die Funktionsstörungen, in welchen das vorerst nicht möglich ist, vielfach als "funktionelle" von den anderen "organisch" bedingten abgetrennt. Doch hat diese Unterscheidung  in diesem Sinne  keinen wirklichen Wert, weil sie gewissermaßen eine zufällige, nämlich von einem augenblicklichen und daher zufälligen Stand der Forschung abhängig ist.

Eine vollständige Theorie der pathologischen Erscheinungen wird sowohl die Störung der Funktion an den erkrankten Zellen als auch die Art ihrer physikalischen, chemischen und morphologischen Veränderungen umfassen. Gegenwärtig sind aber nur bei den wenigsten Krankheitszuständen unsere Kenntnisse so weit fortgeschritten. Für eine Anzahl kennen wir lediglich die Störung der Funktion und den anatomischen Prozeß, in anderen vorwiegend den chemischen, bei einer dritten Reihe wissen wir wesentlich von bestimmten Funktionsanomalien, ohne daß die morphologische oder chemische Grundlage bisher hätte erforscht werden können.

Die Ausbildung unserer Kenntnisse hängt in erster Linie davon ab, wieweit die zur Verfügung stehenden Methoden der Forschung sich der zu lösenden Aufgabe als gewachsen erwiesen. Das ist für verschiedene Krankheitszustände sehr verschieden, daher die für die einzelnen Organe so ungleichmäßige Entwicklung unserer Kenntnisse. Es kommt dazu, daß zu bestimmten Zeiten bestimmte Arbeitsrichtungen unter dem Einfluß hervorragender Geister besonders in den Vordergrund treten. Rangstreitigkeiten, welche Betrachtungsweise - die funktionelle, chemische oder morphologische - für die Aufklärung der krankhaften Erscheinungen am meisten beitrage, wurden und werden noch heute vielfach erhoben. Das Müßige solcher Diskussionen leuchtet ohne weiteres ein, insofern als eben alle diese Arten von Veränderungen notwendig zusammengehören - wobei natürlich nicht geleugnet werden soll, daß in bestimmten Fällen  eine  Betrachtungsweise besonders helles Licht für das Verständnis eines Vorgangs gebracht hat. Unter allen Umständen aber ist es für ein endgültiges Urteil notwendig, jeden krankhaften Prozeß von allen Seiten ansehen zu können.

Die Ursache für das als krankhaft bezeichnete Verhalten der lebendigen Substanz kann nur darin zu suchen sein, daß sie unter abnormen Bedingungen lebt und daß es ihren regulatorischen Fähigkeiten nicht gelingt, die dadurch erzeugten Einwirkungen vollständig auszugleichen. Das Abnorme liegt zuweilen in einer fehlerhaften Organisationi des Protoplasma. Es wird entweder bereits in krankhaftem Zustand erzeugt, oder es beginnt sein Leben zwar normal, aber unter den gewöhnlichen Einflüssen des Lebens, welche der großen Mehrzahl der Individuen nichts anzuhaben vermögen, leidet die Struktur, Zusammensetzung und Funktion der lebendigenn Substanz, weil sie zu schwach angelegt ist. Im Leben spielen diese "endogenen" [im Inneren erzeugt - wp] Krankheitszustände offenbar eine bedeutende Rolle.

Häufiger aber treffen irgendwelche äußeren Einwirkungen die lebendige Substanz. Diese vermögen dann ihre Zusammensetzung, Struktur und Funktion zu verändern, und damit werden sie zu Krankheitsursachen. Sie können von der verschiedensten Art sein: Wärme und Kälte, Feuchtigkeit und Trockenheit, elektrische und chemische Einwirkungen, körperliche und geistige Verletzungen können den Organismus treffen, fremde Lebewesen in sein Inneres eindringen. Alle diese Momente führen letztlich auf chemischem oder physikalischem Weg zu einer Beeinträchtigung bestimmter Zellen.

Ob ein Mensch erkrankt, wird also für die endogenen Krankheitszustände davon abhängen, wie er angelegt ist. Für die ektogenen ist es zunächst Sache des Zufalls, z. B. ob jemand verletzt wird oder einer Vergiftung unterliegt oder auch einer Infektion. Aber auch hierbei spielen Momente eine große Rolle, welche im Menschen selbst liegen - für die meisten der Krankheiten sind sie sogar die Hauptsache. Es handelt sich also um die Frage: Durch welche Umstände wird das Erkranken des Organismus, den eine Schädlichkeit getroffen hat, erschwert oder begünstigt? So wie nach Einnahme bestimmter Mengen mancher Gifte jeder Mensch erliegt, so gibt es auch einzelne Infektionen, die nach dem, was wir wissen, entweder jeden Organismus krank werden lassen oder wenigstens die große Mehrzahl der Ergriffenen, während man bei vielen anderen Infektionen ebenso wie bei manchen Intoxikationen den einen der Krankheitsursache Ausgesetzten erkranken, den anderen gesund bleiben sieht. Die Umstände, von denen das abhängt, sind komplizierter und offenbar für die einzelnen Fälle nicht entfernt gleichartiger Natur; unter allen Umständen ist aber die physiologische Organisation hierfür von größter Bedeutung.

Jede Theorie der krankhaften Erscheinungen des tierischen Körpers wird also die verschiedensten Seiten des Lebensprozesses und das Verhalten der Elemente, an welchen er abläuft, nach den mannigfachsten Richtungen hin betrachten müssen. Wir behandeln hier nur ein umschriebenes Gebiet des großen Ganzen und versuchen  in  der gleichen Weise, wie die Physiologie die normale Funktion der Körperorgane darlegt, das Verhalten eben dieser Organe unter pathologischen Verhältnissen auseinanderzusetzen.' Wir versuchen die Bedingungen kennen zu lernen, unter welchen das pathologische Geschehen sich einstellt und wir bemühen uns schließlich seinen Verlauf in den einzelnen Kranheitszuständen zu verstehen.
LITERATUR - Ludolf Krehl, Pathologische Physiologie, Leipzig 1907