cr-3O. F. Gruppe    
 
FRITZ MAUTHNER
OTTO FRIEDRICH GRUPPE(1)

"Denn wo man schänkt konkreten Geist,
Solch Hörsaal nie sich leer erweist."

Erst vor wenigen Wochen hat ARTHUR TREBITSCH, Verfasser eines anderen "Antaios", auf O.F. GRUPPE als auf einen vergessenen Philosophen mit warmen Worten hingewiesen und bei dieser Gelegenheit erzählt, wie ganz zufällig er zu der Bekanntschaft der Schriften GRUPPEs gekommen sei, denen jetzt seine Liebe gehöre. Mir, der ich mich seit nun vierzig Jahren in der philosophischen Literatur recht aufmerksam umsehe, ist es mit O.F. GRUPPE nicht anders ergangen.

Es mag fünf oder sechs Jahre her sein, daß ich die Geschichte der vossischen HOMER-Übersetzung studierte, aus diesem Anlaß ein Buch "Deutsche Übersetzerkunst" von O. F. GRUPPE anschaffte und darin einige Kapitel (von BÜRGER bis SCHLEGEL) nachlas. Später, vor bald drei Jahren, führte ich an der italienischen Riviera mit dem Dichter, der dort einfach  il poeta tedesco (der deutsche Poet) heißt, eine fast gelehrte Unterhaltung über den ungleichen Wert der verschiedenen Ausgaben von VOSSENs Odyssee-Übersetzung.

GERHART HAUPTMANN hatte uns in Portofino die Freude gemacht, sein wahrhaft schönes Drama "Der Bogen des Odysseus" vorzulesen; und angesichts des Meeres, im Eckzimmer des Castel Paraggi, kam es zu der philologischen Unterredung über den deutschen Ersatz für einige Worte und Namen HOMERs. Ich berief mich bei meiner Meinung, daß die erste Ausgabe die beste sei, auf GRUPPE, konnte mich aber des Einzelnen nicht mehr besinnen. Nach Hause zurückgekehrt, langte ich die "Deutsche Übersetzerkunst" heraus und las die Arbeit von Anfang bis zu Ende durch.

Ich lernte ein sehr gutes Buch gründlicher kennen. Meine Neugier wurde aber jetzt besonders gereizt durch einige tiefdringende und seine Bemerkungen über den Einfluß fremder Sprachen auf die Muttersprache und über das Wesen der Übersetzung. Vielleicht hatte der Verfasser noch mehr Lesenswertes über diese Dinge geschrieben. Zu meiner Überraschung und zu einiger Beschämung fand ich in den gangbarsten Handbüchern den Namen des Mannes verzeichnet und dazu eine lange Liste seiner Bücher, die im ersten Augenblick auf eine bedenkliche Vielseitigkeit schließen lassen konnten.

Der Mann hatte mehr als zwanzig Bände über Philosophie und Theologie, Altphilologie und deutsche Literatur, aber auch eigene Poesien veröffentlicht. Und sein Wirken war verschollen; vielleicht mit Recht. Da fiel mir plötzlich einer der Titel auf: "Antaeus, ein Briefwechsel über spekulative Philosophie in ihrem Konflikt mit Wissenschaft und Sprache" (1831).

Mich ergriff die fast aufregende Hoffnung, in diesem Buch aus der Hegelzeit einen stärkeren Gegner HEGELs zu finden, als selbst SCHOPENHAUER mit seinen göttlichen Grobheiten oder gar TRENDELENBURG mit seiner doch auch verschulten Sprache einer gewesen war. Hätte dieser O. F. GRUPPE nicht bewußt und klar das Wort Sprache seinem Titel eingefügt, dann hätte ich seinen "Antaeus" wohl kaum so bald aus einer Bibliothek entliehen.

Als ich dann das Werk mit wachsender Freude (abgesehen von einigen allzu geschwätzigen Briefen) zu Ende gelesen hatte, stand es bei mir fest: dieser GRUPPE ist der bedeutendste Gegner HEGELs und der scholastischen Philosophie überhaupt, ist nach Form und Inhalt einer der besten philosophischen Schriftsteller Deutschlands und hat sich der Einsicht in die sprachkritischen Ideen, deren Fassung und Verbreitung ich längst zu meiner Lebensaufgabe gemacht habe, beinahe bis zur Berührung genähert, hat einige dieser Ideen schon vor achtzig Jahren ausgesprochen. In einer planen Schreibweise, mit einer Fülle unaufdringlicher Gelehrsamkeit.

Sofort wurde es mein Wunsch, dieses vergessene Werk einem neuen Geschlecht in einem Neudruck vorzulegen. Dieser Wunsch wurde noch lebhafter, als ich seit jenem Tage die anderen Schriften GRUPPEs studierte und bald zu der Überzeugung gelangte, daß zwei spätere philosophische Werke des Verfassers (von 1834 und von 1855) an einigen Stellen noch tiefer in die Kernfrage eindrangen: in den Gegensatz zwischen der Spekulation und ihrer philosophischen Terminologie.

Gleich hier möchte ich bemerken, daß meine Natur mich verhindert, den von mir wiederentdeckten Schriftsteller nun durch offiziös übertreibende Lobreden zu einem Geisteshelden auf allen den vielen Gebieten machen zu wollen, auf denen er rastlos tätig war. Insbesondere möchte ich mich für den Poeten O.F. GRUPPE nicht einsetzen. Von seinen lyrischen, ethischen und dramatischen Arbeiten werden ich später noch, so kurz wie möglich, reden. Aber auch eine satirische Komödie gegen HEGEL, die im gleichen Jahr mit dem "Antaeus" und ebenfalls noch bei Lebzeiten HEGELs erschienen war, wurde mir zu einer Enttäuschung.

Ganz unverständlich ist es mir, wie GUTZKOW (in einer Rezension von 1832) diese Komödie höher stellen konnte als den "Antaeus"; es wäre denn die Bosheit schon bei dem 24-jährigen GUTZKOW kräftiger entwickelt gewesen als der Sinn für Poesie und der philosophische Ernst.

O.F. GRUPPE hatte die Komödie, ohne sich zu nennen, erscheinen lassen unter dem Titel "Die Winde oder ganz absolute Konstruktion der neuen Weltgeschichte durch Oberons Horn, gedichtet von Absolutulus von Hegelingen". Trotzdem GRUPPE zu gleicher Zeit den "Antaeus" herausgab, die entscheidende Kritik HEGELs, fühlte er sich in schwächlicher Bescheidenheit nicht als Überwinder des berühmten Philosophen; und so fehlte ihm der wilde Grimm, der etwa eben in diesen Jahren den jungen Rivalen HEGELs, den Berliner Privatdozenten SCHOPENHAUER, beseelte; und die graziös rücksichtslose Bosheit eines ARISTOPHANES, eines HEINE war dem Poeten GRUPPE nun gar völlig versagt.

So kam nicht viel mehr als ein stellenweise lustiger, fachsimpelnder Bierkult heraus. Oberon hat die Zauberformel verloren; "drum nur ist unsere Ehe so langweilig, die Weltgeschichte drum so gradezeilig." HEGEL ist im Besitz der Formel zu einer Weltkonstruktion. GRUPPE wagt es, ganze Paragraphen aus HEGELs "Enzyklopädie" wörtlich in seine Posse aufzunehmen, und HEGELs Prosa wirkt mitunter komischer als die erdichtete Parodie; auch will es mir scheinen, als habe GRUPPE an einigen Stellen den mündlichen Vortrag HEGELs wirksam parodiert.

Genug, dem Philosophen wird seine Zauberformel von einem Diener des Oberon, einem Winde, gestohlen und das philosophische Berlin gerät darüber außer sich. Die eigentliche Handlugn ist konfus und schlecht komponiert; ein neuer Streit zwischen Oberon und Titania soll dadurch geschlichtet werden, daß der Wind nach HEGELs Zauberformel in Oberons Horn stößt und dadurch einige neue Weltgeschichten (Revolution und NAPOLEON) in die Erscheinung treten. Dann folgen Maskenfeste, deren Salz, wenn es einst zu spüren war, längst verflüchtigt ist. Am Besten gelungen ist noch die Verhöhnung des Hegelianers GANS (der Schankwirt Aaron Ganz), dessen Söhne lernen müssen, im Sinn des Systems ihr Gespienes wiederzuschlingen.

Allerlei weitere Anspielungen auf die Hegelianer HENNING, HINRICHS, HOTHO, MUSSMANN, WERDER und andere sind zu witzlos, um eine Untersuchung der einzelnen Beziehungen zu lohnen. Grotesk gut ist höchstens die Erfindung, daß der arme Wind bei seinem starken Blasen sich ganz ins Horn hineinbläst, dann sich selber mehrmals bei sich selbst vorbeibläst.
"Ich habe den Begriff gepustet,
Die Rückkehr in sich selbst fürwahr,
Aber nicht nur mit Haut und Haar
Blies ich mich durch: mit meinem Hauch
Kroch ich durch meinen eigenen Bauch."
Mit Mühe wurde der arme Wind von Oberon gerettet, der sich auf den Boden des bodenlosen Unsinns stellt. In einem Nachspiel übergibt Aaron Ganz seine Schankwirtschaft seinem ältesten Sohn Arroganz und ändert das Schild der Destille in "Zum konkreten Geist bei Arroganz". Der Zulauf von Berliner Bürstenbindern und Leinewebern ist nicht gering.
"Denn wo man schänkt konkreten Geist,
Solch Hörsaal nie sich leer erweist."
Ich möchte (aus dem Briefwechsel GOETHEs mit ZELTER) eine Stelle hersetzen, welche zeigt, daß GOETHE von GRUPPEs Komödie erfuhr, daß HEGEL sich ärgerte und wie man in HEGELs Freundeskreis über dieses Pamphlet urteilte. ZELTER, eben auch ein persönlicher Freund HEGELs, schreibt an GOETHE nach Mitte Mai 1831:
"Gegen HEGEL ist ein schlechtes Buch erschienen. Es heißt Die Winde. Dünste eines schlappen Magens. Man hatte es mir witzig genannt und ich habe mich durch einige vierzig Seiten gequält, bin aber eingeschlafen. Eine schale Nachäffung von Oberons und Titanias Goldener Hochzeit (aus GOETHEs Faust), "so dünn wie Zwirn und boshaft gemeint. HEGEL hat es auch angesehen und mein Urteil darüber schien ihm tröstlich. HEGEL ist ein sehr rechtschaffener Mann und ich glaube, daß er auch ein würdiger Gelehrter ist."
Ein Vierteljahr später herrscht in Berlin die Cholera; die Cholera ist der einzige Gesprächsstoff. ZELTER meldet:
"Wer nicht an der Cholera stirbt, von dem ist so wenig die Rede, als wenn er über die Straße hingeht."
Der junge Privatdozent SCHOPENHAUER flieht vor der Seuche aus Berlin, zunächst nur vorläufig; der von ihm so leidenschaftlich gehaßte HEGEL ist verstimmt und melancholisch. Er stirbt an der Cholera am vierzehnten November.

Wie über die Komödie, so sprechen und schreiben die Zeitgenossen noch oft über den Poeten und den Publizisten GRUPPE; fast nie über den Philosophen.

*

OTTO FRIEDRICH GRUPPE wurde am 15. April 1804 in Danzig geboren; als Sohn des begüterten Kaufherrn JOHANN FRIEDRICH GRUPPE; die Geburt erfolgte, während der Vater seine Geschäftsfreunde an einer festlichen Tafel bewirtete; die Mutter hatte sich bald nach Beginn der Tafel schweigend entfernt. Die Familie verarmte im Jahr 1813, weil zur Zeit der Belagerung von Danzin ein Brand sämtliche Speicher zerstörte. Wie sein Landsmann SCHOPENHAUER sollte GRUPPE Kaufmann werden; er besuchte die Bürgerschule und durfte erst in seinem sechzehnten Jahr auf ein Gymnasium gehen. Vom Vater will der Sohn die Neigung für die Wissenschaften, von der Mutter die Begabung für die Künste, besonders für die Malerei geerbt haben. Der Lebensabriß erzählt einen Zug vom Vater.
"Zu Anfang des Jahrhunderts wurde dem Vater das Anerbieten gemacht, eine Fabrik für Zichorienkaffee anzulegen (die Zeiten waren dürftig und die Kontinentalsperre hatte bekanntlich den Kaffee sehr verteuert); als er das Getränk gekostet hatte, lehnte er das Anerbieten ab, weil er nicht dachte, daß dieses Surrogat jemals Verbreitung finden könne. Ein anderer machte das Geschäft und wurde ein reicher Mann. Diese Geschichte war dem Dichter darum interessant, weil sie ein Vorspiel seines eigenen Lebens und Handelns war; auch er hat nie auf den schlechten Geschmack des Publikums spekuliert; er ist nie im Stande gewesen, ein Buch oder auch nur eine Zeile so oder anders zu schreiben, weil sie größeren Lohn bringen könnte."
Sein Abiturientenexamen machte er mit Auszeichnung; nur der Lehrer der Mathematik war nicht ganz mit ihm zufrieden. Bald nach der Prüfung, im Oktober 1825 fuhr er nach Berlin, um dort zu studieren. Er wohnte als Student und noch viele Jahre nachher in der Taubenstraße, gegenüber von E.T.A. HOFFMANNs Eckfenster.

Als Student war er kein Duckmäuser. Er hatte Zeit, sich als Schlittschuhläufer, als Jäger und als Schachspieler zu bewähren, bosselte gern in mancherlei Handwerk herum und soll sogar später irgendeine neue Papiersorte erfunden haben. Trotzdem scheint er während seiner Universitätsjahre, wie seine Kollegienhefte beweisen, erstaunlich fleißig gewesen zu sein. Und schon damals sehr vielseitig.

Unter anderen Vorlesungen hörte er auch natürlich die von HEGEL, dann aber, mit nicht geringem Nutzen, die des Philologien BÖCKH, des Geographen RITTER, des Astronomen IDELER, des philologischen Kritikers BECKER, des Ägyptologen ERMANN, des Historikers WILKEN, des Chemikers MITSCHERLICH und besonders eifrig des Germanisten LACHMANN; dem Bilde des Polyhistors würde ein Zug fehlen, wenn er nicht auch noch den Einfluß von ALEXANDER von HUMBOLDT willig erfahren hätte.

Mit LACHMANN durfte er persönlich verkehren. Es braucht nicht erst gesagt zu werden, daß der junge Student daneben noch malte und schon dichtete. Durch LACHMANN war er mit den jüngeren Germanisten bekannt geworden; SIMROCK gab damals eine Zeitschrift heraus, die "Staffette", in welcher Gruppe seine literarische Laufbahn mit Berichten über die Berliner Kunstausstellung begann (1828). Er ist der Kunstkritik, im Gedräng aller seiner übrigen Arbeiten, durch mehr als dreißig Jahre treu geblieben.

In den zehn Jahrenn von 1830 bis 1840 schrieb GRUPPE mit fast unbegreiflicher Fruchtbarkeit die meisten seiner philosophischen, philologischen und poetischen Werke.

Wenn der Raum dafür wäre und ich ein liberaler Parteischriftsteller, so müßte ich an dieser Stelle von einem dunklen Punkt im Leben GRUPPEs reden und ihn als "Reaktionär" an den Pranger stellen. GRUPPE fand nämlich 1842 eine Anstellung im preußischen Kultusministerium unter EICHHORN, hat in dieser Eigenschaft (1842 und 1843) zwei Schriften gegen BRUNO BAUERs Kritik der Grundlagen der christlichen Kirche losgelassen und ist denn auch für diese Leistung von BRUNO BAUERs Bruder (EDGAR BAUER: "Der Streit der Kritik mit Kirche und Staat") gründlich beschimpft worden: als Spießbürger, als schamloser Angeber.

Der heimliche Radikale VARNHAGEN von ENSE scheint sich (Tagebücher II) über diese Abfuhr zu freuen und verdächtigt noch zehn Jahre später den Charakter GRUPPEs. Es ist ganz wahrscheinlich, daß GRUPPE just für diese unerfreulichen Schriften mit dem Professortitel belohnt und mit Vorlesungen über klassische Philologie beauftragt wurde. (Ich weiß nicht, ob der Minister selbstherrlich verfügte oder ob die Fakultät befragt wurde.) Trotzdem liegt die Sache nicht so einfach, wie sie sich in den Köpfen der verdienstvollen Junghegelianer des Vormärz darstellt.

In einer biographischen Skizze, etwa aus dem Jahr 1854, die wahrscheinlich wieder von GRUPPE selbst herstammt, heißt es:
"Als Bekämpfer der hegelischen Philosophie war GRUPPE stets aufmerksam auf die aus ihr sich entwickelnden oder an sie sich anlehnenden destruktiven Tendenzen, zumal seit Irreligiosität im Verein mit Demokratie und Sozialismus aufzutreten begannen. Er trat mit offenem Visier dem für Kirche und Staat bedrohlichen Treiben entgegen. Im Jahr 1848 war er einer der Ersten, welche den über Bord schlagenden und die junge Freiheit bedrohenden Wogen ihre Brust als Damm entgegenstellten. Der Eindruck, den seine mit Wärme geschriebenen Artikel (im Journal Das neue Preußen) machten, gibt ihm einen Anteil an dem Verdienst der Rückführung des konstitutionellen Lebens in feste Ufer und in eine für die Dauer lebensfähige Gestalt."
Nun, so einfach, wie GRUPPE sein Vorgehen gegen die Jungehegelianer in diesem Rückblick und in den Streitschriften selbst darstellt, ist die psychologische Erklärung seines Auftreten wiederum nicht. Ich bin kein offiziöser Biograph. Ich zweifle nicht daran, daß GRUPPE bei den beiden Broschüren gegen BRUNO BAUER sich vom Minister EICHHORN hatte beeinflußen lassen, daß er der Regierung des unklar romantischen Königs diente. Aber in solchen Fällen hängt das moralische Urteil doch davon ab, wer der Mann ist, der einer Regierung seine Feder zur Verfügung stellt. Mag GRUPPE auch für seinen Dienst belohnt worden sein, er war auch in dieser Sache kein Soldschreiber.

Er war freilich von Herzen kein kirchlich gesinnter Mensch; aber er war in seinem politischen Glauben ein preußischer Altliberaler, heute könnte man etwa sagen: ein Freikonservativer. Und es darf nicht vergessen werden, daß er schon im "Antaeus" auf die Gefahr hingewiesen hatte, den die HEGELei gegen das Christentum barg in ihrer Anbetung der Begriffsbewegung, innerhalb welcher jede Religion nur ein zu überwindender Standpunkt sein konnte. Ich meine: in diesen unglücklichen theologischen Streitschriften hatte sich GRUPPEs Hass gegen HEGEL in einen Kampf gegen die junghegelianische Kritik verirrt und verrannt. (2)

Aus dem stillen Lebenslauf GRUPPEs ist wenig nachzutragen. Im Jahr 1850 vermählte sich der Herr Professor mit der Tochter des Historikers ADOLF MÜLLER (SCHOTTMÜLLER). Im Jahr 1862 wurde er zum Sekretär der Berliner Akademie der Künste ernannt, als ein Vorgänger seines in der Poesie erfolgreicheren Rivalen FONTANE; in dieser Stellung fühlte er sich ganz zufrieden. Im Oktober 1875 traf ihn ein Schlaganfall; er lebte noch elf Wochen. "Der Körper war hinfällig, aber der Geist war frisch und das sonnige, glückliche Gemüt des Dichters ohne Ahnung von Gefahr." Er starb am siebenten Januar 1876. Kein Nekrolog (Nachruf) verriet etwas über die Lebensleistung des Toten. Seine philosophischen Arbeiten waren schon damals vergessen.

*

Die merkwürdigste und persönlichste und den Dichtungen GRUPPEs ist die epische Dichtung "Firdusi"; sie ist 1856 bei Cotta erschienen und von den Zeitgenossen viel freundlicher behandelt worden als GRUPPEs philosophische Hauptwerke.

Ein Dichter von überragender Gestaltungskraft und reiner Sprachschönheit ist GRUPPE auch in diesem Werk nicht. Ein Epigone etwa von GOETHE und von HEINE. Die Erfindung ist aber sehr ansprechend und in guter Prosa vorgetragen wäre die Erzählung, auch ohne den Schmuck der gereimten Übersetzungsproben, heute noch gar lesenswert.

GRUPPE hatte eine bekannte Anekdote benützt. Sultan Mahmud verspricht dem Dichter ein Goldstück für jeden Vers des ungeheuren Nationalepos; hält dann nicht Wort und trägt seine Schuld erst an den sterbenden Dichter ab. Bei GRUPPE rächt sich Firdusi im ersten Zorn durch bitterböse Epigramme (zweizeilige Spottgedichte), die den stolzen Mahmud anfangs in Raserei versetzen, dann aber langsam zur Einkehr und Erhebung bringen. Firdusi ist inzwischen nach Bagdad entflohen, wo er sich am Hof einer gewaltig wachsenden Berühmtheit erfreut.

Die Ungerechtigkeit des Sultans Mahmud kann er nicht verschmerzen; Firdusi ist für sich selbst anspruchslos, verachtet das Gold, hat aber nach dem Tode seines einzigen Sohnes den eigentliche faustischen Plan gefaßt, seine Vaterstadt Tus, die unter der Dürre leidet, durch Vorüberleitung eines Flusses reich und glücklich zu machen. Für dieses Unternehmen hatte er sein unerhört hohes Dichterhonorar bestimmt. Deshalb zürnt er seinem Sultan Mahmud noch als ein Achtzigjähriger. Da aber der Khalif von Bagdad den greisen Firdusi jetzt auffordert, in einem neuen Gedicht die Taten der Araber zu verherrlichen, die Perserfürsten aber, auch Mahmud, zu verunglimpfen, da schüttelt Firdusi Bagdads Staub von seinen Füßen und wandert in seine Heimat zurück, um dort zu sterben.

Unterwegs wird er erkannt und Mahmud sendet eine glänzende Gesandtschaft nach Tus, die die einst versprochenen Goldlasten überbringt und die Versicherung der Gnade des Sultans. Firdusi ist aber zu Tus in der ersten Nacht gestorben und die Gesandtschaft begegnet eben seinem armseligen Leichenzug; Niemand in Tus hat gewußt, daß der längst verschollene Mitbürger Abul Kasem der unter dem Pseudonym Firdusi gefeierte Dichter war. Firdusis Erbin, seine hundertjährige Schwester, verwendet das Gold dazu, nach Firdusis Plan die gewaltige Wasserleitung auszubauen.

Auch vor einer genauen biographischen Untersuchung ist es mir gar nicht zweifelhaft, daß GRUPPE eigene Sehnsüchte in diese Schilderung eines Dichterschicksals hineingeheimnist hat. Leidenschaftlich tönt GRUPPEs stolze Erwartung eines Nachruhms: sein Werk soll seiner Seele Kind und Erbe sein;
"all mein Wert sei drin beschlossen,
Das soll leben, wenn ich sterbe!
Daß des Herzens Schlag auf Erden,
Wenn ich fort bin, noch kann schlagen,
Daß mein Wort zu den Geschlechtern
Tönen kann in späten Tagen!"
Und der Dichterphilosoph läßt Firdusi seiner greisen Schwester, der er sich als "ein Dichter von Gewerb" offenbart hat, auf die Frage, "Wird denn das bezahlt?" einsilbig antworten: "Schlecht!" Man sollte nicht übersehen, daß das Epos "Firdusi" von dem preußischen Beamten GRUPPE dem König FRIEDRICH WILHELM IV., "dem hohen Beschützer der Kunst", gewidmet ist.

Ich schicke mich an, dem Andenken GRUPPEs einen Teil der Schuld seiner Zeitgenossen zu bezahlen. Ich bin nicht der Gesandte eines Sultans; doch der Zufall hat es gefügt, daß ich im Jahr 1876, in dem Todesjahr GRUPPEs, nach Berlin übersiedelte; vielleicht bin ich, als ein Droschke mich nach mancherlei Irrfahrten vor meinen kleinen Gasthof brachte, dem armseligen Leichenzug GRUPPEs begegnet.

Törichte Phantasie! Das Datum will nicht stimmen, nicht einmal der Monat.

*

Ich bin mir gar sehr bewußt, einen arg hinkenden Vergleich zu wagen, wenn ich GRUPPE neben den im Grunde unvergleichlichen LESSING stelle. Aber die Ähnlichkeit wird doch überraschend groß, wenn ich an die literarische Leistung beider Männer erinnere und vorläufig von der Persönlichkeit absehe; dann überrascht bei beiden die Vielseitigkeit und wieder die Kühnheit fast auf jedem der verschiedenen Gebiete. Wie LESSING, war GRUPPE Philosoph und Ästhetiker, Philologe und Dichter.

Als Philologe war GRUPPE seinem großen unzünftigen Vorgänger vielleicht ebenbürtig; er machte, wie LESSING, von dem "Mut, zu irren", reichlichen Gebrauch, trat aber, wie LESSING, den antiken Autoren freier und kritischer entgegen als die Berufsphilologen. Als Ästhetiker beschränkte sich GRUPPE entweder auf geringere Fragen (wie die der Übersetzungsmöglichkeit); oder er lieferte, wie in seiner fünfbändigen Literaturgeschichte, ein gangbares Buch für den Buchhandel und mußte da mit Wasser kochen, was der tapfere LESSING sein Lebtage verschmäht hatte.

Als Denker jedoch steht GRUPPE, auch wenn man die Zeitumstände in Betracht zieht, höher als LESSING. Auch LESSING hatte sich von der herrschenden Philosophie seiner Zeit, der LEIBNIZens und WOLLFFs, innerlich befreit; besäßen wir aber nicht LESSINGs unschätzbares Gespräch im "Spinoza-Büchlein", so wäre LESSINGs Standpunkt aus seinen Schriften und Briefen nur schwer oder gar nicht zu erschließen gewesen.

GRUPPE dagegen hat die Modephilosophie seiner Zeit, die HEGELei, mit Scharfsinn und Gründlichkeit in drei wertvollen Büchern bekämpft, zuerst ( was nicht hoch genug angeschlagen werden kann und ihm vielleicht seine "Karriere" verdarb) noch bei Lebzeiten HEGELs. Ich durfte bei zwei wichtigen Begriffen, dem der Zufallssinne und des Zweckes im Verbum, auf LESSING als auf einen Vorgänger hinweisen; GRUPPE hat die sprachkritischen Ideen viel allgemeiner geahnt und Einzelnes in seinem Zorn gegen HEGELs Begriffsbewegung schon klar und bestimmt ausgesprochen.

Als Dichter stand GRUPPE, so viele Verse er auch hinterlassen hat, sehr tief unter LESSING, der freilich auch kein Poet im landläufigen Sinn war, kein Nur-Poet; der aber selbst in der Poesie das Höchste erreichte, weil er der Welt in eigener Form seine eigenste Persönlichkeit zu schenken hatte. Und das ist, wie gesagt, der Punkt, wo ich den prächtigen GRUPPE nicht weiter mit LESSING vergleichen darf.

GRUPPE war ein starker Kämpfer für die gute Sache, doch er besaß keine Kampfnatur. Er sagte, was er gegen HEGEL zu sagen hatte, mit erfreulicher Ruhe und Festigkeit, aber ohne die Leidenschaft des Hasses. Sogar sein aristophanisches Lustspiel gegen HEGEL ist ohne das grimmige Lachen, das hier nötig gewesen wäre. Die Zeitgenossen beachteten den gelehrten Angriff nicht, weil der Gegner nicht vernichtet schien; so blieb auch fast zu gleicher Zeit ROBERT MAYER in Deutschland durch Jahrzehnte unbeachtet, weil seinem milden Herzen die Kampfeslust fehlte.

Und im geheimen Zusammenhang damit auch die eindringliche Sprachkraft, ohne die wir uns die unmittelbare Wirkung eines LUTHER, eines LESSING nicht vorstellen können. So starb GRUPPE, als Ästhetiker, Philologe und Dichter ein wenig bekannt, ohne als Denker die gebührende Wirkung geübt zu haben.

Ich lege das erste seiner philosophischen Werke, den Antaeus, einem neuen Geschlechte vor. Mehr als achtzig Jahre nach seinem Erscheinen mag es für sich selber sprechen; nur wenige Zeilen mögen den Leser in den Gedankengang des Buches einführen.

Die Briefform ist gewählt, wird ab und zu in gründlichen Abhandlungen beinahe vergessen, aber von Zeit zu Zeit wieder anmutig aufgenommen. Ein begeisterter Schüler HEGELs versucht seinen Lehrer von der Wahrheit des hegelischen Systems zu überzeugen. Die Antworten dieses Lehrers bilden die Hauptsache des Buches: eine vernichtende Widerlegung der Philosophie HEGELs.

Die ersten Briefe scheinen auf eine Plänkelei hinauszulaufen; doch schon dem vierten Brief wird eine entscheidende Geschichte des Wortes "abstrakt" beigegeben. Im achten Brief wird langsam schwereres Geschütz aufgefahren und im zehnten Brief in klassischer Ruhe eine vorzügliche Kritik der ganzen nachkantischen Naturphilosophie gegeben. Nun fängt der Hegelianer langsam zu zweifeln an, läßt SCHELLING schon fallen und wird auf die Gefährlichkeit einiger hegelischer Abstraktionen (Sein, Werden) aufmerksam. Der Lehrer schlägt in die gleiche Kerbe und bereitet seinen Hauptangriff durch treffliche sprachphilosophische Darlegungen vor.

In einem Intermezzo bestreitet ein gläubiger Theologe HEGELs Reliogionsphilosophie. Unbekümmert um diese Nebenfrage holt nun der Lehrer, also GRUPPE selbst, im vierzehnten Brief zu den entscheidenden Schlägen aus. Die Sophisterei der spekulativen Sprache wird dargetan, auf die Häufigkeit und die Bedeutung der "reziproken (austauschbaren) Begriffe" wird hingewiesen. Der ganze lange Brief ist ein kritisches Meisterstück. Die Sprache gegen HEGEL wird allmählich heftiger und ironischer, da GRUPPE sich gegen die Konstruktionen HEGELs "Geschichte der Philosophie" wendet.

Nun ist der Glaube des jungen Freundes schon beinahe erschüttert; er hat inzwischen übrigens auch GRUPPEs Komödie gelesen. Mit immer reicheren Beispielen führt nun GRUPPE den Kampf gegen den Mißbrauch abstrakter Begriffe fort und stellt der hegelischen Philosophie der Geschichte eine (leider etwas langatmige) beinahe materialistische Konstruktion der Geschichte gegenüber. Wie vom Standpunkt eines altliberalen Ideals, wird HEGELs Lehre, alles Wirkliche sei vernünftig, widerlegt.

Der Hegelianer erklärt sich sehr hübsch besiegt; war auch erschreckt worden (ein neues Intermezzo) durch den Brief eines Kommilitonen, der über der hegelischen Philosophie erst verrückt und dann ein Pietist geworden war. Im letzten Brief zieht GRUPPE die Summe seiner brieflichen Untersuchungen. Er läßt HEGELn die Gerechtigkeit widerfahren, daß dessen überaus geistreiches System der Gipfel aller spekulativen Philosophie sei.

Meine Bewunderung für GRUPPEs außerordentliche Leistung darf mich nicht verhindern, auf zwei Punkte hinzuweisen, auf zwei Schwächen der Kritik, die die Wirkung abschwächen konnten. Was die Form betrifft, so ist die Schlagkraft von GRUPPEs Bildern nicht immer so stark wie bei anderen großen Zerstörern in der Philosophie. Und was die Sache betrifft, so scheint es, daß GRUPPE die letzte Konsequenz seiner Ideen nicht ziehen wollte oder konnte: er kritisiert fast nur die abstrakten Worte, kaum in besonders glücklichen Momenten die Sprache überhaupt; er scheidet noch zwischen Sprache und Denken. Ich glaube, die beiden Schwächen hängen zusammen: er war (ich erinnere wieder an ROBERT MAYER) menschlich bescheidener, als sein bahnbrechendes Werk er verlangt hätte.

Ich hoffe, GRUPPEs Bescheidenheit wird ihm bei der Nachwelt nicht mehr schaden.
LITERATUR - Fritz Mauthner, Otto Friedrich Gruppe, in  Die Zukunft, hrsg. von Maximilian Harden, Jhg. XXII, Berlin 1913, Seiten 314-325
    Anmerkungen
    1) Als zwölften Band der von ihm geleiteten (in München erscheinenden) "Bibliothek der Philosophen" bringt MAUTHNER den "Antaeos" (als erstes Stück der Philosophischen Werke GRUPPEs). Das Unternehmen der Bibliothek kann nicht oft, nicht eindringlich genug gerühmt, muß besonders Unzünftigen immer wieder empfohlen werden. Der Leiter steht als der freiste, tapferste Erkenntnistheoretiker dieser ängstlichen Zeit vor unserm Blick. Daß er in GRUPPEs Werk und Menschlichkeit so viel der Betrachtung Würdiges findet (wie schon die aus MAUTHNERs Einleitung hier gesammelten Fragmente verraten), überzeugt jeden Freund des Wahrhaftigen von der Pflicht, dem vergessenen GRUPPE die Gedächtnispforte zu öffnen.

    2) Auf den höheren Boden der Politik gehoben würde wenigsten die erste der beiden theologischen Kampfschriften, wenn eine Hypothese richtig wäre, die sich mir bei wiederholtem Lesen aufdrängte: daß nämlich die ganze Auseinandersetzung von dem Minister gewünscht wurde, um durch sie den König beeinflußen zu können. Dann wäre der Zweck vielleicht gewesen, zwar die Maßregelung der Junghegelianer, der "Philosophen auf Holzschuhen", zu verteigigen, aber zugleich vor einer Verschärfung der Reaktion, vor einem Zensurverbot, namentlich aber vor einer Begünstigung der Orthodoxen und der Frömmler zu warnen. Dem klugen Politiker EICHHORN wäre eine solche Benützung von GRUPPEs Feder wohl zuzutrauen.

    Beweise für meine Hypothese kann ich nicht beitragen. Wäre meine Vermutung aber auch unbegründet, so könnte doch zu Gunsten GRUPPEs daran erinnert werden, daß auch der ganzfreie LESSING gegen freigeisterische Theologen zu Felde zog: er will das unreine Wasser nicht eher weggegossen wissen, als bis er weiß, woher reineres zu nehmen.

    (Schlimmer liegt die Sache bei GRUPPEs zweiter Broschüre; da wendet sich der Philosoph doch allzu ministeriell gegen den erschrecklichen Atheismus; aber in dieser zweiten Schrift hatte GRUPPE viele Angriffe und Beschimpfungen abzuwehren. Übrigens: wer tolerant heißen will, muß auch gegen Gläubige tolerant sein.)