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THOMAS ACHELIS
Die Ethik der Gegenwart in ihrer
Beziehung zur Naturwissenschaft

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"Das sittliche Bewußtsein ist das Bewußtsein von allgemeinen Zwecken und Zielen, denen die besonderen Willensäußerungen sich unterzuordnen haben."

"Eine Reihe von Handlungen von selbst anzufangen, d. h. aus dem bodenlosen Nichts in das wirkliche Dasein zu rufen, gehört zu den Überspannungen der idealistischen Philosophie, die aus ihrer Spontaneität eine Welt neu gestalten, ja schaffen zu können meinte."

"Mit der Durchführung des Prinzips der Kooperation, auf dem die vollere Lebensnutzung und der vollere Lebensgenuß beruth, wurden die Menschen so abhängig voneinander, wurden ihre Interessen so eng verflochten, daß die Leiden des Einzelnen, wie sein Wohlergehen auf den Zustand der Gesamtheit in entsprechendem Sinn zurückwirken."

Von diesem Standpunkt aus hat jüngst die bezüglichen Probleme von STRUVE anschaulich in einer Arbeit behandelt, von der ich Einiges, da sie einen ähnlichen psychologisch-genetischen Weg verfolgt, wie der unsrige es ist, mitteilen will:
    "Was beim rohen Naturmenschen die äußeren Mächte nur langsam bewirken, das wird im Kulturleben durch die Erziehung dem Kind vom ersten Augenblick seines Lebens an systematisch eingeimpft. Es wächst direkt in eine feste Lebensordnung ein und wird gewöhnt, sich selbst und seine Handlungen in sie einzufügen. Und Niemand kann leugnen, daß schon in diesen primitivsten Formen der Ein- und Unterordnung besonderer Handlungen unter ein Allgemeines, daß in dieser Zusammenfassung einzelner Willensmomente unter ein gemeinschaftliches Ziel schon das Wesen der Sittlichkeit gegeben ist. Denn auch die vollkommensten Erscheinungen der Sittlichkeit sind nichts Anderes als eine derartige Einfügung der einzelnen Willensäußerungen in ein höheres allgemeineres Ziel, das dem Geist als seine sittliche Bestimmung vorschwebt ... Das Individuum gelangt zuletzt in einen Zustand, in welchem es aufgrund dieser Einsicht (nämlich, daß eine Unterordnung unter die sozialen Normen zweckdientlich ist) die innere Nötigung, als Pflicht empfindet, die zufälligen Willensäußerungen selbsttätig zu bekämpfen und ihnen nur dann freien Raum zur Entwicklung zu gestatten, wenn sie mit jenen allgemeinen Zwecken und Zielen nicht in Kollision treten. - - - Der Unterschied zwischen gut und böse, sittlich und unsittlich wird dadurch auf den Unterschied zwischen einer sich in das Allgemeine einfügenden und einer mit dem Allgemeinen in Kollision tretenden Willensäußerung zurückgeführt. Das sogenannte Gewissen ist die Reaktion, welche in der Gesamtheit der Willensstrebungen durch eine besondere Willensäußerung hervorgerufen wird. Das sittliche Bewußtsein ist das Bewußtsein von allgemeinen Zwecken und Zielen, denen die besonderen Willensäußerungen sich unterzuordnen haben." (Zur Psychologie der Sittlichkeit, Philosophische Monatshefte, Bd. 18, Seite 18f)
Der Verfasser entwickelt sodann, allerdings nicht auf ethnologischer Grundlage, aber doch im Prinzip mit unserer Ausführung übereinstimmend, den relativen Charakter jener sittlichen Norm, die sich als Gesetz dem Individuum zu erkennen gibt und der steten sozialen Umbildung nach den verschiedensten Seiten unterliegt. Für meinen augenblicklichen Zweck ist das Wesentlich die Beziehung und ununterbrochene Wechselwirkung des Menschen zu jenen geschichtlich entwickelten Organisationsformen, die eine Entstehung und Entfaltung sittlicher Vorstellungen erst verständlich erscheinen läßt. Nimmt man vorläufig mit KANT den Willen als das Vermögen, den Vorstellungen entsprechende Gegenstände entweder hervorzubringen oder doch sich selbst zur Bewirkung derselben, d. h. seine Kausalität zu bestimmen (Kritik der praktischen Vernunft, Einleitung, Seite 15, KIRCHMANN-Ausgabe), so bleibt doch bis zu der späteren Bestimmung des Menschen durch die bloße Form des Sittengesetzes oder der Autonomie, die gänzlich von sinnlichen Motiven absieht, ein großer Schritt. Woher diese Norm, falls sie nicht durch die früher erwähnte Spaltung des empirischen und intelligiblen Subjekts gestützt wird? Dieses Produkt einer rein spekulativen und daher philosophisch unzulässigen Methode kann erst erfahrungsgemäß begründet werden durch den von uns versuchten Hinweis auf die realiter geschehenen Erfahrungen des Individuums, die ihren systematischen Ausdruck eben in jenem, nun als abstrakt angesehenen Gesetz gefunden haben. Denn das Sittengesetz ist eben nichts weiter als der Niederschlag, die Kristallisation aller unendlich mannnigfaltigen ethischen Gefühle und Strebungen, die der Mensch in seiner geschichtlichen Entwicklung, d. h. in seinen verschiedenen Entwicklungsstufen geäußert hat, um dann auf dem Weg der Anerziehung und Vererbung als integrierender Bestandteil der Humanität und Zivilisation späteren Geschlechtern überliefert zu werden. Eine Freiheit aber als primäre Voraussetzung für diesen Prozeß im Sinne eines Vermögens, eine Reihe von Handlungen von selbst anzufangen, d. h. aus dem bodenlosen Nichts in das wirkliche Dasein zu rufen, gehört zu den Überspannungen der idealistischen Philosophie, die aus ihrer Spontaneität eine Welt neu gestalten, ja schaffen zu können meinte.

Will man jenen Ausdruck einer Autonomie noch festhalten, so kann er im streng induktiv empirischen Sinn nichts Anderes bedeuten, als die Bedingtheit des Willens durch sich selbst oder durch die in Form des Sittengesetzes gegebene Norm. Beides ist nämlich, wie ich schon angedeutet habe, identisch: Denn dieses Gesetz darf nicht mechanisch als abstrakte, leere Formel gefaßt werden, die über den eigentlichen Inhalt des Geschehens schwebte, sondern als systematische Zusammenfassung der einzelnen konkreten sittlichen Phänomene selbst; dieser scheinbar externe Faktor ist nichts Anderes als die Entfaltung und Entwicklung unserer eigenen Persönlichkeit (im Kampf mit Anderen und mit der Natur). Nicht fremdartig stehen uns diese Regulative unseres Handelns gegenüber, sondern als immanente Ingredenzien unseres eigenen Wesens, da sie ja tatsächlich die verschiedenen Entwicklungsstufen bezeichnen, in welchen die sittliche Natur unseres eigenen makrokosmischen Ich sich fixiert hat. Erst durch diese direkte Wesensgemeinschaft wird die Forderung KANTs verständlich, daß das Sittliche den Willen unmittelbar, d. h. eben ohne großen Aufwand logischen Nachdenkens und gemütvoller Affektion bestimmen soll, daß das Gefühl der Achtung vor der Majestät des Gesetzes und das Gebot der Pflicht immerfort ein reges Entgegenkommen in uns findet. KREYENBÜHL bemerkt richtig:
    "Autonomie bezeichnet die Tatsache von ungeheuerster Bedeutung, daß der Inhalt des Sittlichen dem Willen nicht als ein äußeres, fremdes, bloß abstraktes (generelles) Gesetz gegenübersteht, sondern die wahre Substanz und das eigentliche Wesen des menschlichen Geistes selbst ist. Somit ist auch Freiheit im wahren positiven Verstand vom Inhalt des Sittengesetzes nicht verschieden, sondern das Vermögen, als autonomer Wille, als wahrhafter Geist, als ethische Persönlichkeit tätig zu sein." (Die ethische Freiheit bei Kant, Philosophische Monatshefte, Bd. 18, Seite 144f)
Nachdem wir so die unerläßliche Beziehung des Menschen zum System seiner ethischen Anschauungen im Allgemeinen bestimmt haben (ohne weiter zu untersuchen, welcherlei verschiedene Momente in jenem Ideal sich vereinigt haben), ist es unsere dringende Pflicht, den Gedanken zu Ende zu führen, der schon fortwährend diese Erörterung begleitet hat, wir meinen die Freiheit des Handelns. Eingedenk der früheren Einwände gegen ein grundloses Geschehen, überhaupt gegen jede Restriktion des Kausalgesetzes nehmen wir es als ausgemacht an, jenen Begriff nur widerspruchslos denken zu können unter der (sei es helleren oder schwächeren) Beleuchtung durch Motive. Ein motivloses Ereignis ist gerade so unmöglich, wie eine Bewegung, die von selbst anfängt, oder überhaupt ein Etwas, das aus dem Schoß des Nichts an das Tageslicht tritt. Mit dieser unweigerlichen Forderung der Determinierung ist aber sowohl deduktiv als psychologisch-empirisch die ganze geistreiche Beschreibung des Willens als eines primären Vermögens gegenüber dem Intellekt als einem sekundären Organ, wie sie SCHOPENHAUER und von HARTMANN gegeben haben, eine pure Fiktion, eine unhaltbare Phantasmagorie. Denn für die induktive Beobachtung existiert diese zugunsten eines metaphysischen Dogmas versuchte Trennung jener beiden psychischen Funktionen durchaus nicht, und man könnte eher wieder an den Ausspruch SPINOZAs denken, daß Wille und Verstand Eins sind, Äste ein und desselben Stammes: Denn tatsächlich gibt es kein Wollen, kein Begehren, weder ohne irgendeinen Inhalt, d. h. ein erstrebenswertes Objekt, noch ohne Motivation, d. h. ohne die dunkle oder deutliche Vorstellung dieses Prozesses.

Die mythischen Erzählungen, mit welchen von HARTMANN seine Leser über die blinde und vernunftlose Gier des Willens unterhält, der in unersättlichem Tatendrang sich in das Meer des Geschehens gestürzt hat, um dann, durch bittere Erfahrungen gewitzigt, schleunigst vom Schlachtfeld in die gesegnete Stille des Nirvana sich zurückzuziehen, mögen ein nicht unerhebliches Zeugnis für die anmutige kosmogonische Phantasie des Verfassers sein, mit der Erfahrung vertragen sie sich schlechterdings nicht. Woher wissen wir denn überhaupt etwas vom Willen und seinen Äußerungen? Doch nur aus dem Bewußtsein, daß wir derartige Phänomene in uns und an Anderen beobachten! Und dieses Bewußtsein sollte während der eigentlichen Ausübung der Handlungen träumen oder in einen tiefen Schlaf versinken, dem ungestümen Willen die Herrschaft allein überlassend, und dennoch hinterher imstande sein, uns von diesen Vorgängen zu berichten. WUNDT resümiert daher richtig:
    "Somit ist der Wille nur als Bewußtseinstatsache und uns nur als solche bekannt: er ist vom übrigen Inhalt des Bewußtseins so wenig losgelöst zu denken, wie die sonstigen subjektiven Zustände, die wir als Reflexe der Willenstätigkeit auffassen, die Gefühle und Affekte, jemals getrennt vorkommen von den Vorstellungen, auf welche sie von uns bezogen werden. Und wie uns der Wille nur aus dem Bewußtsein bekannt sein kann, so ist andererseits ein Bewußtsein für uns gar nicht denkbar ohne die innere Willenstätigkeit. Alle Verbindung der Vorstellungen ist abhängig von der Apperzeption. ... Das Selbstbewußtsein, wie es in der konstanten Wirksamkeit der Apperzeption seine Wurzel hat, zieht sich schließlich auf diese allein zurück, so daß, nach vollendeter Bewußtseinsentwicklung, schließlich der Wille als der eigenste und in Verbindung mit den von ihm ausgehenden Gefühlen und Strebungen als der einzige Inhalt des Selbstbewußtseins erscheint. ..." (Grundzüge der physiologischen Psychologie, Bd. 2, zweite Auflage, Seite 387)
Durch diese enge und unlösbare Verbindung beider Momente verschwindet die Möglichkeit einer willkürlichen Trennung psychischer Tatsachen, die ja überhaupt in der Geschichte der deutschen Philosophie eine so verhängnisvolle Rolle gespielt hat. Jene aktive Apperzeption verbindet die im Geist vorhandenen oder durch äußere Eindrücke angeregten Vorstellungen nach bestimmten psychologischen Gesetzen, und geschieht eine derartige Reproduktion vorzugsweise immanenter psychischer Elemente, so mag, wie WUNDT sich ausdrückt, für den draussen stehenden Beobachter die dann erfolgende spontane Bewegung das Merkmal sein, aus welchem er auf das Vorhandensein sowohl von Willen als von Bewußtsein zurückschließen kann (a. a. O., Seite398). Jedenfalls aber darauf müssen wir bestehen, ist dieser Vorgang einer Verdichtung eigener Gedanken zu Taten doch unzweifelhaft gerade so den Gesetzen des psychischen Mechanismus unterworfen, wie irgendeine andere geistige Funktion; auch hier eröffnet die unbedingte Anerkennung des Kausalitätsgesetzes einen weiten, für die menschliche Sehkraft unermeßlichen Ausblick auf eine ununterbrochene Reihe von Ursachen und Wirkungen. In dieser unendlichen Summe der Bedingungen ist die Möglichkeit jeglichen Geschehens beschlossen, und von diesem universellen Gesichtspunkt aus ist die Autonomie, d. h. das Verhältnis des Menschen zu seinem sittlichen Ideal gerade so determiniert, wie irgendein anderes, wie wir sagen, mechanisches Ereignis.

Es ist völlig nutzlos und widerstreite der Aufrichtigkeit, diesem ersten Kennzeichen wissenschaftlicher Forschung, für ein minimales Territorium der Welt ein Privilegium sui generis [aus sich selbst heraus - wp] in Gestalt einer spontanen, willkürlichen, das Heterogenste bald wollenden, bald negierenden Kraft, des bekannten liberum arbitrium indifferentiae [absolute Wahlfreiheit und Willkür - wp] zu verlangen und das Übrige getrost der Herrschaft des Kausalitätsgesetzes zu überlassen. Als ob es überhaupt eine grundlose Freiheit geben könnte! Freilich ist es für den beschränkten menschlichen Blick unmöglich, diese Kette von Ursache und Wirkung zu überschauen (was ja freilich überhaupt unmöglich ist, da diese Reihe weder einen Anfang kennt, noch ein Ende, also ewig und fortdauernd ist), aber nichtsdestoweniger müssen wir auch für die ethische Welt die Bestimmung des Willens durch das Kausalgesetz im Prinzip festhalten. Ebenso können wir es nicht als eine auch nur augenblicklich befriedigende Lösung des Problems ansehen, wenn in der Selbstbestimmung der Koinzidenzpunkt zwischen Freiheit und Notwendigkeit gefunden wird oder vielmehr der Triumph jener geistigen Macht über diese mechanische blinde. Denn soll nicht der ganze Komplex psychischer Zustände in ein chaotisches Gewirr auseinanderfallen, so gilt für die Beurteilung des Ich nach seiner inneren Seite der Grundsatz einer ursächlichen Verknüpfung ebenso, oder jede wissenschaftliche Untersuchung hört auf.

Der Wille geknüpft in seinen Äußerungen an den Zustand des ganzen Bewußtseins, von ihm getragen und in seinen Ausführungen geleitet, entwickelt durch die Anregungen der Außenwelt, vermag weder sich von diesem inneren und äußeren Zusammenhang loszulösen, noch auch aus dem Weltgesetz herauszutreten, eine Welt für sich zu schaffen, in der nicht das Kausalgesetz gültig wäre. Will man nun diese psychische Aktionsfähigkeit des Menschen, je nach der Apperzeptionskraft und sonstigen Veranlagung desselben sehr verschieden, durchaus Willensfreiheit nennen, so haben wir Nichts dagegen, nur verbinde man nicht die traditionellen Vorstellungen eines spontanen, unbedingten, prinzipienlosen Handelns mit diesem Wort.

Eine unglückliche Verkennung der Situation hat leider andauernd die rückhaltlose Anerkennung des Kausalitätsgesetzes für die besprochenen Fragen auch in der Gegenwart vielfach verhindert und damit eine einheitliche wissenschaftliche Weltanschauung unmöglich gemacht. Die Begründung des Handelns auf jene genau festgestellte Reihe von Bedingungen schien ängstlichen Gemütern einer völligen Korruption gleichzukommen, einer besinnungslosen Identifizierung von Gut und Böse, von Tugend und Verbrechen. Denn wenn nun doch einmal nicht von Willkür, von einer Wahl zwischen zwei Möglichkeiten die Rede sein kann, nun dann kann ja auch nur immer geschehen, was nach einem Schicksalsplan geschehen muß und alles menschliche Verdienst, aller Kampf um sittliche Güter schrumpft zu einer nichtigen Jllusion zusammen. Vielleicht ist die unvorsichtige Art, wie entschiedene Deterministen solchen Einwänden begegneten, nicht unwirksam zur Bestärkung solcher nichtigen Vorurteile gewesen; so leugnet z. B. CARNERI völlig die Möglichkeit eines sittlichen Verdienstes beim deterministischen Standpunkt (Grundlegung der Ethik, Wien 1881, Seite 295). Nichts kann falscher sein als diese Schlußfolgerungen; denn so sehr wir im Interesse einer konsequenten Weltanschauung die ausnahmslose Geltung des Kausalitätsgesetzes vertreten, so sehr für einen universellen Blick die Summe allen Geschehens fest und unabänderlich daliegen müßte und nichts Neues sich ereignen könnte, so unbedingt halten wir am Gefühl der Freiheit, als einer unbestreitbaren Tatsache des Bewußtseins fest. Das Gewissen, die Reihe unserer sittlichen Verpflichtungen, unsere Beziehung zu bestimmten Idealen, die Zwecksetzung für jegliches Tun, ja die Motivierung unseres Handelns durch irgendwelche Vorstellungskomplexe beweist, daß wir uns praktisch, d. h. empirisch in einem Verhältnis zu Anderen frei fühlen und wir nur in diesem Glauben handeln. Woher nun dieses Moment der Freiheit, der Verantwortlichkeit letztenendes stammt, daß wir uns als Schöpfer unseres Schicksals empfinden und nur unter dieser Voraussetzung sittliche Urteile und Verurteilungen aussprechen, wie dieser Glaube durch die anscheinende Souveränität und Unabhängigkeit unterstützt wird, mit der überhaupt unsere innere Apperzeption sich gleichsam aus sich selbst ernährt, wie es zugehen mag, daß die wissenschaftliche Einsicht von der Unmöglichkeit eines Sprungs, einer Kluft im Kausalitätsgesetz sich in ein und derselben Persönlichkeit wohl verträgt mit diesen Zugeständnissen rein praktisch subjektiver Art, das wird schwerlich jemals genügend erklärt werden.

Voreilig ist es nur und wenig treuer empirischer Beobachtung entsprechend, diese Tatsache jener praktischen Freiheitsidee, eine rein subjektive Erscheinung, zum Ingrediens [Inhaltsstoff - wp] des wirklichen Weltlaufs zu machen, dessen Verständnis doch erst anhob mit dem Augenblick, wo es der vorurteilsfreien Wissenschaft gelungen ist, die Launen und Bedürfnisse des menschlichen Begehrens und Wollens nicht mehr als Kriterien objektiver Erkenntnis sich aufdrängen lassen zu müssen. Sollen wir eine Vermutung wagen über die Lösung dieses Rätsels, so müssen wir auf Gedanken zurückgreifen, welche uns eine psychologische Überlegung an die Hand gibt; bekanntlich führt unsere Weltanschauung auf zwei stetig aneinander geknüpfte, aber nie auseinander ableitbare Elemente zurück, auf Bewegung und Empfindung. Jene schafft uns in psychogenetischer Entwicklung das Reich der Dinge mit ihren Eigenschaften und Zuständen, und ermöglicht es der wissenschaftlichen Forschung nach dem universalen Gesetz von Ursache und Wirkung, alles Geschehen bis in das kleinste Detail hinein nach streng mechanischen Bedingungen zu konstruieren. Hier ist Nichts von einer einzigen, Alles umfassenden Kraft zu bemerken, von Trieben und spontanen Regungen, die plötzlich auftauchen, um den bisherigen gesetzlichen Verlauf zu unterbrechen und dann wieder in das frühere Dunkel zu versinken: Alles folgt vielmehr, ohne jeden individuellen Wertunterschied ausnahmslos den allgemeinen Gesetzen des Kosmos, die in ihrer Gültigkeit nicht durch die rein zufällige Anwendung bedingt werden, sondern die ihre Bedeutung auch behalten würden, wenn durch ein urplötzliches Wunder alle Dinge aus der Wirklichkeit eliminiert würden. In diesem gleichsam absoluten Sinn pflegt die Naturwissenschaft meist die großen Verfahrensweisen der Natur anzusehen.

Umgekehrt eröffnet die Empfindung als polarer Gegensatz den Einblick in die feinen Verzweigungen, welche die psychischen Funktionen in ihren verschiedenartigen Entwicklungsstufen angenommen haben; hier ist es nicht in erster Linie die Aufstellung allgemeiner Gesetze, die unterschiedslos und abgesehen von jeglicher individuellen Gestaltung gelten, was die Aufmerksamkeit fesselt, sondern die Eigenart des einzelnen Elements, in dem irgendein geistiges Moment zum Ausdruck gelangt. Daher gestattet es diese Perspektive, von bestimmten Kräften zu reden, die dem Atom im Gegensatz zu anderen innewohnen, von Funktionen und Dispositionen, die analog unserem Bewußtsein auch den übrigen Dingen der Außenwelt zukommen sollen, von der Sensibilität, die Eindrücke der Umgebung in sich aufzunehmen und als Ausgangspunkte künftigen Handelns zu verarbeiten etc. Mit anderen Worten, wir haben in dieser doppelten Auffassung, diesem psychomechanischen Weltbild, einen Spiegel, der genau die Grundbedingungen unserer eigenen Existenz und unseres Bewußtseins wiedergibt; daher wird immerfort, entgegen der exakten wissenschaftlichen Tatsache einer durchgängigen Bedingtheit allen Geschehens, entgegen den streng mechanischen Grundsätzen unseres Verstandes die diametral gegenüberstehende Forderung unseres Gemüts ihre Stimme erheben, und aufgrund des inneren Gefühls von einer relativen Unabhängigkeit unseres Ich seitens der Außenwelt, im Hinblick auf die unbestreitbare Tatsache, daß diese Emanzipierung vom Kausalnexus uns als (wie wir glauben) notwendiger Schein im sittlichen Bewußtsein gegeben ist, das Prinzip des Indeterminismus und einer (wenn auch durch die Schranken des Organismus, der Vererbung, der Gesellschaft usw. bedingten) Freiheit vertreten.

Wir meinen mit vollem Recht für unser praktisches Verhalten, für unser Tun, das sich erwiesenermaßen auf jenes Phänomen stützt, aber aus demselben Grund gänzlich unzulänglich und ungerechtfertigt für unsere theoretische Einsicht, deren erste und wesentlichste Tat immer die rückhaltlose Anerkennung einer universalen ursächlichen Verknüpfung aller Erscheinungen bildet. Eine Reduzierung jedoch beider Grundsätze, nicht, wie wir wollen, auf eine lediglich subjektiv motivierte psychologische Notwendigkeit, sondern auf einen metaphysischen Ursprung führt, wie die Geschichte der deutschen Philosophie eindringlich genug gezeigt hat, weit von der gesicherten Straße kritischer Erkenntnis, in die wüsten Irrgänge theosophisch-mystischer Spekulationen.

Nachdem wir so ein Verständnis über den richtigen Ausgangspunkt der Ethik und ihre Methode erlangt haben, wird es unerläßlich sein, die Einwirkungen zu verfolgen, welche die Naturwissenschaft auch auf die Aufstellung der sittlichen Ideale ausgeübt hat. Es würde über den Bereich unserer jetzigen Aufgabe hinausgehen, historisch diesen Prozeß im Detail zu entwickeln; umso eher dürfen wir die früheren einseitig spekulativen Versuche, das Ziel des sittlichen Strebens dogmatisch zu deduzieren, an dieser Stelle mit Stillschweigen übergehen, als schon die eben abgeschlossene Erörterung die völlige Unmöglichkeit aus hypostasierten [vergenständlichten - wp] Begriffen, wie Tugend, Glückseligkeit, Gewissen, Gebot Gottes usw. abzuleiten. Wir folgen vielmehr der dankbaren Verpflichtung, die modernen, unter dem ganzen Druck entwicklungstheoretischer Ideen stehenden Anschauungen über die in Frage kommenden Probleme zu besprechen; vor Allem ist es das System des Utilitarismus, das, besonders auf englischem Boden, zu großer Blüte gelangt, sich in den schärfsten Gegensatz zu allen früheren supranaturalen Richtungen gesetzt hat.

Es ist wohl nicht zufällig, daß gerade in England von den Tagen des HOBBES, LOCKE, HUME bis BENTHAM, JOHN STUART MILL, SPENCER, SIDGWICK u. a. hinunter das Prinzip des common sense, das politisch eine so hervorragende Rolle gespielt hat, auch für die Entwicklung und Analyse ethischer Probleme bedeutsam geworden ist. Zwar fehlt es durchaus nicht an Konnivenzen [Nachsichtigkeiten - wp] an den meist hart verurteilten Intuitionismus, indem sich z. B. unvermerkt die Begriffe des Gewissens und der Sympathie als Stimulatoren des Handelns einstellen, und sich der common sense zu einem moral sense im intuitiven Sinn umwandelt: Allein für die weitaus meisten Behandlungen blieb doch das Prinzip der Nützlichkeit, freilich in höchst verschiedenartigen Modulationen, als zentraler Faktor bestehen. Die pessimistische Ansicht von HOBBES, begründet auf den ursprünglichen bellum omnium contra omnes [Krieg aller gegen alle - wp] und die Isolierung der mit ausschließlicher Machtvollkommenheit begabten Affekte von jeder Vorstellungstätigkeit, wurde durch BENTHAM zu einem universellen Egoismus umgeschaffen, mit dem Wort: The greatest happiness for the greatest number [Das größtmögliche Glück für die größtmögliche Anzahl von Menschen - wp].

Danach hat ein Jeder gleichen Anspruch auf Glück, das zu erstreben ein dem Menschen eingeborener Trieb ist, und der Weg dazu ist die Verleugnung des persönlichen Vorteils zugunsten eines fremden. Dieses System von Leistung und Gegenleistung, zu denen Jeder im Interesse seiner eigenen Wohlfahrt verpflichtet ist, dieses System also eines idealisierten Egoismus zeigt bedenkliche Seiten; denn zunächst ist es de facto sehr unwahrscheinlich, daß dieses Prinzip des wohlverstandenen Eigennutzens im Durchschnittsmenschen zur vollständigen Ausbildung gelangen wird, vielmehr spricht alle Wahrscheinlichkeit dafür, daß ihm diese ideelle Verwendung seiner aufopfernden Tätigkeit, wo nicht dauernd unklar bleiben, so doch sehr gelegentlich als Leitfaden seines Verhaltens sich herausbilden wird (vgl. LAAS, Idealismus und Positivismus, Bd. 2, Seite 189f). Dann aber verfällt er wieder unrettbar den Normen, welche die traditionellen Autoritäten in der Form bestimmter Pflichten ihm vorschreiben; und dieses Bewußtsein einer Abhängigkeit des Menschen von einer abstrakten Instanz leugnete gerade BENTHAM, der für die Apriorität dieses Verhältnisses die wechselnden Formen der Erfahrung einführen wollte. Ebenso ist der Satz vom gleichen Anspruch Aller an das Glück unrichtig; sowohl die völlig subjektive Verschiedenheit der Ansichten über die Qualität und Quantität des Glücks, als auch die faktische Unmöglichkeit einer zwangsweise erfolgenden sozialistischen Verteilung eines gleichen Anteils an Glück beweisen die Unausführbarkeit dieses Vorschlags.

Endlich hat SPENCER sehr glücklich gezeigt, wie der prinzipielle Altruismus, der also nur im Dienste Anderer oder der Nächsten tätig zu sein befiehlt, zu den unlösbarsten Konflikten und Verlegenheiten schließlich führt (vgl. die Tatsachen der Ethik, Seite 229). Denn nach den Forderungen dieser neuen Theorie muß ja Jeder sich außerstande fühlen, die ihm von seinem Mitmenschen aufgedrungenen Wohltaten en bloc anzunehmen, da sie offenbar eine Beeinträchtigung der Existenz, ja häufig eine Aufopferung des eigenen Selbst involvieren; außerdem sei es zugestanden, daß eine derartige Rezeption desjenigen, was sich das Individuum selbst zu erringen eigentlich verpflichtet ist, nur zur Schlaffheit und moralischen Laxheit führen kann. Diese Ansicht kann es also über ganz allgemeine Bestimmungen, die noch dazu jeder rationalen Anwendung entbehren, nicht hinausbringen, und sollte sie auch imstande sein, einige praktische Vorschriften über das Verhalten der Menschen aufzustellen, über die theoretischen Grundfragen der Ethik würde sie keinesfalls völligen Aufschluß gewähren.

Doch ohne uns in komplizierte Untersuchungen über das Verhältnis von Glück und Genuß, von der Bestimmungsfähigkeit des Menschen durch allgemeine und persönliche Interessen usw. einzulassen, erscheint es dem Zweck meiner Betrachtung entsprechender, in derjenigen Lehre ausführlicher und genauer die offenbaren Spuren darwinistischer Ideen nachzuweisen, welche gerade um dieses Momentes halber eine nicht geringe Berühmtheit erlangt hat, ich meine HERBERT SPENCERs oft erwähntes Werk "Die Tatsachen der Ethik". Schon in der ganzen Anlage zeigt dieser Autor seine Abhängigkeit von entwicklungstheoretischen Anschauungen; denn anstatt, wie es meistens geschieht, mit langatmigen Diskussionen über irgendwelche Moralbegriffe zu beginnen, legt SPENCER die biologischen Tatsachen seiner Darstellung zugrunde. Das Handeln ist ihm eine Anpassung an Zwecke und besteht in einer je nach dem Entwicklungsstadium des betreffenden Wesens sich immer mehr differenzierenden Kombination von Bewegungen, bis sie im absoluten Sinn mit einer vollkommenen Anpassung an Zwecke zur Erhaltung und Förderung der Gattung ohne Schädigung der betreffenden gleichlaufenden Interessen anderer Individuen abschließt: Natürlich nur ein Ideal, das selbst unter den höchsten Kulturformen auch nicht annähernd erreicht ist. Damit ergibt sich von selbst, daß dieser ganze Aufwand zweckmäßiger Bewegungen die Erhaltung des Daseins als eines wertvollen Gutes eo ipso voraussetzt und die pessimistische Diskreditierung der Existenz als subjektive Willkür zurückweist.

Im guten Handeln liegt somit das Moment des dadurch für das Individuum selbst produzierten Glücks eingeschlossen, und erst dieses Lustgefühl erklärt hinreichend die Pflicht, die aus einer allgemeinen Beziehung des Menschen zu bestimmten Tugenden oder abstrakten Rechtsgründen nicht abgeleitet werden kann (ebensowenig aus gegebenen, d. h. als vorhanden angenommenen Autoritäen, wie den Gesetzen Gottes oder des Staates). SPENCERs Theorie ist also eine hedonistische in einem universellen Sinn, berührt sich aber unmittelbar mit der utilitaristischen Lehre, gegen die er meines Erachtens vergeblich streitet. Denn seine Meinung, daß die sittlichen Fähigkeiten aus ererbten Veränderungen hervorgegangen sind, die durch gehäufte Erfahrungen verursacht würden; ist doch nichts Anderes als das Zugeständnis, daß nicht a priori über den Wert der Handlung entschieden wird, sondern nach ihrer Qualifizierung, zum Nutzen oder Schaden irgendeiner Organisationsform zu dienen. Ebenso ist die Bestimmung unseres Philosophen über die vollkommene Anpassung, um dadurch das Glück des eigenen und fremden Ich zu befördern, offenbar nur eine Umformung des Utilitarismus; denn diese Produzierung jenes Tatbestandes involviert die Herstellung zugleich eines Nutzens sowohl im persönlichen wie auch in einem allgemeinen soziologischen Sinn, ohne welches jenes Glück und Wohl ganz abstrakt im Leeren schweben würde.

Danach unterliegt auch nicht, wie er meint, das Nützlich völlig subjektiv schwankenden Bestimmungen, so daß jede Tat erst ad hoc [von vornherein - wp] auf dieses Merkmal hin untersucht werden müßte, sondern in der unerläßlichen Beziehung einer jeden Handlung zum Gesamtwohl des betreffenden Organismus finden wir, wie uns die frühere ethnologische Betrachtung überzeugt hat, den untrüglichen Wertmesser für die Beurteilung. Diese Handlungen lassen nun nach SPENCER eine vierfache Auffassung zu, eine physikalische, biologische, psychologische und soziologische. Der physikalische Standpunkt betrachtet den Menschen als reines und volles Naturprodukt und teilt ihm die Aufgabe zu, durch eine möglichst zweckmäßige Kombination der Akte und die Vermeidung störender Mächte ein Gleichgewicht herzustellen, das sich als maßgebendes Prinzip für alle Lebenserscheinungen zeigt. Die biologische Betrachtung faßt jenes Prinzip der Bewegungen noch genauer als die normale Funktionierung aller animalischen Regungen, der gegenüber jeder Exzess, jede ungenügende Adaption eine Störung und zuletzt den Tod des Organismus herbeiführt. Daher bringt auch jedes anregende, freudige Ereignis einen Überschuß in der Bilanz unseres Daseins und die höchsten Regulatoren des bewußten Handelns (obwohl die instinktiven automatischen Vorgänge schon auf ein ähnliches Resultat abzielen) sind die Schöpfungen von Freude und Leid. Mit dem dauernden Fortschritt muß nun eine immer vollkommenere Anpassung an die gegebenen und erreichbaren Zwecke individuellen und gesellschaftlichen Lebens eintreten, und vom biologischen Gesichtspunkt erscheint demgemäß die Ethik als eine Wissenschaft, welche diese verschiedenen Stufen systematisch, aber induktiv entwickelt.

Die psychologische Behandlung rekurriert auf den bekannten Dualismus unserer Existenz in Bewegung und Empfindung, oder, wie SPENCER es nennt: Erregung; aus dieser entwickelt sich im weiteren Verlauf ein immer komplizierteres Gebilde von Gefühlen und Gemütsbewegungen, aus jener eine Gruppe von motorischen Prozessen, die sich korrespondierend den inneren Differenzierungen gestalten. Das Ideal der bestmöglichen Anpassung von Handlungen an Zwecke ist demnach äquivalent der Komplikation jener korrespondierenden Reihen unseres Organismus und der Unterordnung der einfachen Erregungen unter zusammengesetzte, höher entwickelte. Hierdurch häuft sich im Laufe der Zeit eine immer wachsende Summe von Erfahrungen an, die sozial sich weiter vererben und den Grundstock des moralischen Bewußtseins ausmachen: So entsteht das Gewissen. Allmählich wird die ursprünglich rein autoritative Instanz zu einer wirklich moralischen Macht umgeschaffen, indem die Bekämpfung irgendeines sittlichen Übels nicht mehr durch äußere Motive (Furcht oder Strafe oder Ehrsucht) bestimmt ist, sondern durch die Einsicht in die naturgemäße, d. h. sittlich schädigende und den betreffenden ethnischen Komplex untergrabende Folge der Handlung selbst. Das Gefühl der Verpflichtung ist danach erwachsen einerseits aus den autoritativen Elementen, welche irgendein Gebot oder Verbot erlassen, und andererseits aus der immanenten Beziehung des Individuums zu diesen sozialen Regulatoren, und insofern enthält nach SPENCER die sittliche Nötigung immer indirekt das Moment eines Zwangs. Denn es ist für die Stufen der geläuterten Moralität klar, daß dieses Moment der Verpflichtung nur ein Übergangsstadium sein kann, indem nachgerade eine solche Anpassung an den vorgesetzten Zweck erfolgt, daß diese sich ohne jedes Gefühl der Abhängigkeit und Einschränkung vollzieht, rein als Ausdruck der eigenen Natur, die hierin ihre Befriedigung und Freude sucht. Unser Autor ist hier also bestrebt, entgegen dem kantischen Rigorismus eine ähnliche Versöhnung zwischen Pflicht und Neigung anzubahnen, wie sie schon SCHILLER versucht hat.

Der soziologische Gesichtspunkt endlich nimmt ausführlich einen Gedanken auf, der stillschweigend schon immer diese Ausführungen begleitet hat und gelegentlich auch offen zutage getreten ist, die Beziehungen, welche zur Unterordnung des Individuums unter die allgemeine Wohlfahrt führen. Diese werden sich stärker geltend machen, wenn die Ansprüche der Gesellschaft und individuellen Existenz härter miteinander kollidieren, z. B. in Kriegszeiten, wo die Interessen einer fremden Gemeinschaft geradezu systematisch vernichtet weren und das eigene Dasein diesem Zweck rücksichtslos zum Opfer fällt. Alle Stufen des sozialen Lebens zeigen daher einen stetigen Kompromiß zwischen den Ansprüchen, welche die Integrität des betreffenden Organismus stellt, und denen, welche vom Individuum zum Schutz oder zur Bequemlichkeit seiner eigenen Persönlichkeit ausgehen. Jede Assoziation besteht eben im unausgesetzten Austausch von äquivalenten Leistungen, die ebensowohl auf die Erhaltung der umschließenden ethnischen Form, als wie auf individuelle Konservierung hinauslaufen und zwar das letztere durch das erstere. Die Geschichte zeigt nun ein schrittweises Zurückgehen der Anforderungen, welche die Gesellschaft erhebt und dagegen eine Vermehrung individueller Ansprüche; je mehr folglich auch die Hemmungen der gemeinsamen Wohlfahrt wegfallen (durch eine Verminderung der Kriege, Wertschätzung friedlicher Tätigkeit, Organisation der sozialen Tugenden, wie Wohltätigkeit etc.), desto mehr wird die Förderung individuellen Lebens, das dann in der Herausbildung der allgemeinen psychologischen und soziologischen Momente zu einem persönlichen Charakter besteht, Hauptzweck der praktischen Ethik.

Die weitere Ausführung, die SPENCER diesen Problemen hat zuteil werden lassen, die Konstatierung der Relativität von Freude und Leid, die Untersuchung der einzelnen Kompromißstadien, in denen sich Egoismus und Altruismus begegnen, kann hier füglich von uns übergangen werden. Denn uns lag ja nur daran, die Impulse der Entwicklungstheorie auch in dieser Sphäre zu veranschaulichen, und schwerlich möchte ein passendes Beispiel gefunden werden können: Zuletzt werden wir freilich der kritischen Frage nicht ausweichen können, inwiefern diese universal-hedonistische Hypothese auch die Qualität des sittlichen Ideals genügend bestimmt. Zunächst treten uns die bekannten Vorstellungen der Selektionslehre frappant in der ganzen Untersuchung entgegen; da ist vor Allem die Anpassung an die Existenzbedingungen (hier die soziale Umgebung, welche das leitende Prinzip der Deduktion bildet, da sie mit Zwecken verbunden erscheint, in ihren höheren Differenzierungen nur als bewußte Handlung gefaßt werden kann). Wenn freilich SPENCER auf die möglichst genaue Adjustierung an die Lebenszwecke die Höhe und Vollkommenheit eines Lebewesens begründet, so wendet ROLPH mit Recht die rein subjektiv menschliche Schätzung dieses Verhältnisses dagegen ein, von der immer nur die Lebensart für menschliche Zwecke als besten adjustiert erscheint; im Übrigen soll es klar sein, daß jede Organisation und oft die primitivste am evidentesten ihren Lebenszwecken entspricht (Biologische Probleme, zugleich als Versuch einer rationalen Ethik, Leipzig 1882, Seite 30f).

Freilich will mir dünken, daß diese Korrektur eine so selbstredende ist, daß sie kaum besonders ausgeführt zu werden verdient; denn nach der ganzen Weltanschauung SPENCERs kann von einer absoluten Anpassung und demgemäß von einer absoluten Wertschätzung nie die Rede sein, sndern nur von einer sich stetig steigernden Korrespondenz innerer und äußerer Faktoren und einer nur relativen Wertbestimmung, so daß aber trotzdem unserer menschlichen Beurteilung dieser Prozeß einer graduellen Vervollkommnung in der Auswahl der Ziele für die verschiedenen Formen des Begehrens unterliegt. Also in diesem Sinne vollendet sich notwendig die rein animale Ethik schließlich in einer humanen. Ebenso fundamental ist der Gedanke der Konkurrenz oder der natürlichen Züchtung in biologischer und soziologischer Hinsicht zur Anwendung gelangt; im Mitbewerb um die Beschaffung der Existenzmittel ist unvermeidlich eine Kollision der betreffenden Organismen gegeben, die nur zur Unterdrückung und Vernichtung der weniger veranlagten führen kann. Das ideale Prinzip der Gleichberechtigung Aller zu gleichem Genuß muß fallen und vermag nur so noch indirekt behauptet zu werden, als es sich um die Rücksicht gegen die Interessen der Wesen handelt, die nicht auf gänzlich verschiedenen, sondern ähnlichen oder gar denselben Entwicklungsstufen stehen. Nur so kann der erbarmungslose Vernichtungskampf altruistisch umgewandelt werden, um aus der gegenseitigen Beziehung der Individuen zueinander und zu der gegebenen Organisationsform das Gefühl der Pflicht als einer absoluten Nötigung (schon um die eigene Existenz zu erhalten) abzuleiten.

Erst in diesen Phasen einer nicht mehr bestialischen, sondern humanen Selektion kann jene vollkommenste Lebensführung bestehen, von der wir oben gesprochen haben, die bei höchst ausgebildeter eigener Lebensnutzung zugleich (und zwar wesentlich dadurch) die Erringung gleicher Ziele anderen gleichartigen Wesen ermöglicht. Endlich zeigt sich der eminent darwinistische Charakter in dem Bestreben, für alle Produkte der Kultur, für alle Erscheinungen des höheren sittlichen Lebens die empirische Begründung in der induktiven Ableitung aus den Organisationsformen und den damit eo ipso gegebenen individuellen Anlagen zu liefern, und nicht mit einem salto mortale ins Transzendente ein ewiges Sittengesetz und eine motivlose Freiheit einzuführen. Der Kodex dieser natürlichen Ethik darf, wie von BÄRENBACH bemerkt, keinen Paragraphen enthalten, der irgendeiner Tatsache oder einem gesetzmäßigen Zusammenhang, welche die Physik, die Biologie, die Psychologie, die Soziologie festgestellt haben, widerstreitend. Das sittliche Handeln muß und kann sich nur innerhalb der Grenzen entwickeln, die für alle menschliche Tätigkeit durch die allgemeinen Gesetze der Bewegung, der organischen Entwicklung, durch die besonderen Gesetze der menschlichen Organisation, die Gesetze der psychophysischen und physischen Vorgänge, schließlich durch die speziellen Bedingungen der sozialen Organisation gezogen sind (Die Ethik Herbert Spencers, "Unsere Zeit", 1882, Seite 784).

Dieser methodische Aufbau, frei von allen metaphysischen und spiritualistischen Hypostasierungen, stützt sich letztenendes auf die reale Basis, auf die wir in unserer Darstellung immerfort hinzuweisen und verpflichtet gefühlt haben, auf die Ethnologie (die übrigens auch in dieser Zeitschrift von GÖRING eine eingehende Würdigung erfahren hat, vgl. Bd. 1, Seite 389f).

Dadurch erhebt sie sich aus dem engen Rahmen einer psychologisch-dialektisch gehaltenen Individualethik zum Rang einer empirisch, induktiv begründeten Sozialethik und gewinnt für alle ihre Probleme die mannigfachen Vorteile, welche wir früher für diese neue Methode und Formulierung der betreffenden Aufgaben schon zu verzeichnen versucht haben. Es wäre töricht, zu meinen, daß mit dieser Reform schon alles geschehen ist, daß im Besonderen die Behandlung und Präzisierung der Resultate, wie sie SPENCER gegeben hat, überall ausreicht; so bedürfen ohne Frage die Bestimmungen über das Gute und Moralische (welches im Gegensatz zum Unmoralischen eine innere Inkonsequenz und Planlosigkeit zeigen soll), die Herleitung des Genusses aus jeder normalen Aktion (wobei die Festsetzung einer bestimmten Grenze des Exzesses und der Vernachlässigung, deren Überschreitung das animalische Wesen in seinen Funktionen schwächt und schließlich aufreibt, natürlich ziemlich subjektiv ist), die Identifizierung von Moral und Genuß im Einzelnen noch vielfach genauerer Durchsicht und Verarbeitung: Allein der richtige Ausgangspunkt für die genetische Erklärung aller sonst supranaturalistisch dekretierten Erscheinungen in Gemäßheit unserer heutigen, wesentlich naturwissenschaftlichen Weltanschauung, mit einem Wort die rückhaltlose Anerkennung des Kausalitätsgesetzes auch in der ethischen Sphäre, was SPENCER mit Recht eindringlich betont, kann nicht entschieden genug hervorgehoben werden.

Hedonistisch-utilitaristisch ist das System, das uns jetzt beschäftigt, eine Verschmelzung, wie sich ROLPH richtig ausdrückt, der sorglosen Genußtheorie des ARISTIPP mit der klugen Berechnung des EPIKUR, übersetzt in den modernen Humanismus (Seite 45). Daß es sich hier nicht um eine Förderung und Bestärkung des privaten Egoismus handelt, daß alle Gründe, welche schon MILL gegen diese Unterstellung ins Feld geführt hat, auch hier zutreffen, bedarf nach dem Obigen keiner weiteren Auseinandersetzung. Ist doch die Veredelung der Menschheit, die Herstellung einer möglichst durchgeführten Anpassung unter den sozialen Formen, ist doch der Endzweck dieses Prozesses, die Identität von Moralität und Glückseligkeit nur in der Schonung und Pflege der anderen gleichlaufenden Interessen, also auf Kosten individueller Bequemlichkeiten und Vorteile zu erreichen. Allerdings involviert diese Entwicklung ein Moment, das bislang als gänzlich widerstreitend mit einer echten sittlichen Auffassung gegolten hat, ja das als das diametrale Gegenteil derselben von der idealistischen wie auch der realistischen Philosophie meist gebrandmarkt ist, die Lust. Schon oben erinnerten wir an die bekannte Formulierung KANTs, der, in dem Wunsch ein möglichste reines Kriterium allen Handelns zu erhalten, jeden materialen Beweggrund aus der Ethik verbannte und nur die abstrakte Gesetzmäßigkeit zurückbehalten hat.

Es ist unschwer einzusehen, daß auch seine Bestimmung im kategorischen Imperativ wesentlich utilitaristisch gefärbt ist, gleichsam eine universelle Ausdehnung des Utilitätsprinzips auf jegliches menschliche Handeln in der Welt (falls man es nicht vorzieht, zur Interpretation dieser Verpflichtung mystisch-theologische Gründe zu zitieren). Ebenso bekannt ist, wie die spätere Gestaltung jener Hypothese konsequenterweise auch der hedonistischen Motivierung andauernd Konzessionen gemacht hat, so vor allem in der ästhetischen Verwendung derselben durch SCHILLER. Auch in der neuesten Zeit hat es nicht an solchen gefehlt, die, im Übrigen völlig den Standpunkt der spekulativen Ethik teilend, doch gerade in diesem Punkt dem Rigorismus des Königsberger Weisen zu opponieren sich veranlaßt fanden. So LOTZE, der sich folgendermaßen äußert:
    "Es ist gar nicht mehr zu sagen, worin der Wert oder die Güte eines Gutes oder Guten dann noch bestehen soltle, wenn man sich das so Bezeichnete außerhalb aller Beziehung zu einem Geist denkt, der daran Freude haben könnte. Nehmen wir an, in der ganzen Welt gäbe es gar Niemanden, der überhaupt Lust oder Unlust über irgendetwas empfinden könnte, so wüßte man gar nicht, zu welchem Ende in dieser Welt etwas geschehen sollte, und noch weniger, inwiefern eine Handlung besser sein sollte als irgendeine andere, da ja jeder neue Zustand b, der durch eine Handlung erzeugt wird, aller Welt ebenso gleichgültig sein würde, wie der frühere a, den sie verändert hat. Mit einem Wort: es gibt gar keinen Wert oder Unwert, der ansich einem Ding zukommen könnte; beide existieren bloß in Gestalt von Lust und Unlust, die ein gefühlsfähiger Geist erfährt." (Grundzüge der praktischen Philosophie, Seite 7)
Und weiter:
    "Wenn wir auch als sittliche Wesen keinen Anspruch auf ein Wohl haben, das uns belohnen sollte, so würden wir doch theoretisch die Weltansich ganz absurd finden, die überhaupt noch von Geboten, nicht bloß von einem Müssen, sondern von einem Sollen spräche, obgleich die Erfüllung dieser Gebote nichts Besseres zur Folge hätte, als ohne ihre Erfüllung auch würde geschehen sein. Müssen wir also die Erzeugung von Gütern als den letzten Zweck allen Handelns betrachten, so haben wir auch keinen Grund, über die Seligkeit zu spotten, welche z. B. das Christentum ganz ausdrücklich als das Ziel der Sittlichkeit ausspricht. Die antiken und rigoristischen Lehren, die scheinbar jeden Lohn der Tugend perhorreszierten [ablehnten - wp], hatten doch auch einen vor Augen: er bestand in der Selbstachtung, die der Tugendhafte sich erhielt, und ohne welche er, wenn wenigstens sie nicht der Lohn seiner Entsagung gewesen wäre, ebenfalls keinen vernünftigen Grund gefunden haben würde, diese Entsagung zu üben." (Seite 15; vgl. Mikrokosmus, Bd. III, Seite 43, 425, 559 etc.)
Und wie das abstrakte Tugendideal in optimistischer Fassung, so unterliegt auch die pessimistische Formulierung von HARTMANNs, die quietistischer [religiös begründete Passivität - wp] Resignation das erstrebenswerte Gut erblickt, denselben unmittelbaren Beziehungen zu unserem Gefühl, das in bestimmten Wertschätzungen, getragen von den Erregungen der Lust und Unlust, sein Urteil zu erkennen gibt. Also so ganz neu und überraschend ist die Verwendung dieses Momentes bei SPENCER als solche nicht, nur die endgültige Reduzierung jeglichen Handelns auf dieses Prinzip könnte Bedenken erregen. Jene möglichst vollkommene Adjustierung der Zwecke, welche das Prinzip von SPENCERs Ethik ausmacht, ist offenbar auf dem Wunsch basiert, all denjenigen Leiden und Schädigungen zu entgehen, die sich aus dem entgegengesetzten Verfahren notwendig ergeben würden. In diesem Sinn ist für die primäre Entwicklung unbedingt der Satz der Utilitaristen zuzugeben, daß es sich ursprünglich um die Herstellung eines Überschusses der Freude über das Leid handelt; ebenso ist es unzweifelhaft (was auch von mehreren Forschern, z. B. BENTHAM, zugestanden wird), daß aus diesem Rangverhältnis beider Momente sich nur bestimmte Quantitätsunterschiede folgern lassen, so daß eine innere qualitative Verschiedenheit gänzlich illusorisch ist.

Aber es fragt sich sehr, ob wir überall für die komplizierteren Formen der ethischen Entwicklung mit diesen Zahlengrößen ein und derselben Skala auskommen können, und ob sodann überhaupt nur von einem temporären Überwiegen der Lust im Genuß gesprochen werden darf, und nicht vielmehr das echte und reine Glück keine arithmetischen Stufenverhältnisse anerkennt, sondern ein inkommensurabler, rein qualitativer Zustand ist, dem jegliche Begehrlichkeit, also auch die Ingredienz des Leides fehlt.

Zunächst ist zu beachten, daß das Glückseligkeitsstreben der Menschen ein höchst subjektiv divergentes ist und daß, obwohl nie alle, sondern immer nur eine kleine Anzahl der zu sogenannten Bedürfnissen fixierten Wünsche erfüllt werden kann, mit der stetig fortschreitenden Differenzierung das Ideal und der Inhalt dieser eudämonistischen Vorstellung sich immer reicher und voller ausbildet. Beruth dies für den primitiven Menschen und für das Tier wesentlich noch in der Eliminierung der störenden Hindernisse und Gefahren, ist also wesentlich prohibitiv und negativ, und erweitert es sich graduell immer zu komplizierterer und verfeinerter Gestaltung: So steht die Auffassung und der Anspruch an diesen Regulator des Lebens, wie sie der rohe Urmensch empfinden mochte und wie sie dem durch alle Errungenschaften der Kultur äußerst prädisponierten und entwickelten Zeitgenossen unserer Tage vorschweben, fast gänzlich unvereinbar einander gegenüber. Eben vermöge dieser unendlich vervielfältigten Ausbildung jenes sittlichen Ideals ist es eo ipso reicher und inhaltsvoller, wenngleich schwerer und seltener realisierbar wie das rohne, an die nächsten sinnlichen Eindrücke geknüpfte Bild, das den Wilden beseelt. Durch den verwickelten und doch so einfachen Mechanismus, mit welchem sodann das ganze gesellschaftliche Leben operiert, entwickelt sich im sozialen Verkehr durch rastlosen Austausch der Arbeitsleistungen ein bestimmtes, noch durch andere Normen getragenes System von Strebungen, die, obwohl sie individuellen Genuß bereiten, dennoch gleicherweise eine universale Glückseligkeit zu stiften sich bemühen. ROLPH schildert diesen Prozeß mit folgenden Worten:
    "Auf Grundlage der sich unablässig steigernden und komplizierenden Glückseligkeitsbestrebungen des Einzelnen wird der gewaltige Umschwung von der egoistischen zur altruistischen Lebensführung bewirkt. Das Zielt der individuellen Glückseligkeitsbestrebungen bleibt dieselbe egoistische Glückseligkeit, aber es ist jetzt nur auf dem Weg der Kooperation, des Altruismus zu erreichen. Mit der Durchführung des Prinzips der Kooperation, auf dem die vollere Lebensnutzung und der vollere Lebensgenuß beruth, wurden die Menschen so abhängig voneinander, wurden ihre Interessen so eng verflochten, daß die Leiden des Einzelnen, wie sein Wohlergehen auf den Zustand der Gesamtheit in entsprechendem Sinn zurückwirken. Heutzutage ist es dem Einzelnen unmöglich, irgendetwas in seinem eigenen Interesse zu tun, ohne einer Menge Anderer eben dadurch zu nützen. Und je komplizierter die Arbeitsteilung einerseits, und je lebhafter und vielseitiger die Glückseligkeitsbestrebungen, deren Maß sich in der Fülle der Bedürfnisse ausspricht, andererseits sind, umso mannigfacher ist die Interessenverkettung, umso entwickelter der Altruismus. Er wächst also im Verhältnis zum Wachstum der Intensität und des Inhalts der erstrebten Glückseligkeit." (Seite 165)
Wir sehen somit, wie aus der ursprünglich egoistischen Haltung des Prinzips, aus der Voraussetzung des individuellen Glücks, allmählich mit Notwendigkeit, je mehr die Associationsformen sich entwickeln, die Forderung eines universellen Hedonismus herauswächst, der selbstredend, da sein Inhalt sich immer spezifisch nach singulären Bedingungen modifiziert, eine einseitig subjektive Färbung trägt. Das Sittengesetze ist in dieser Auffassung der abstrakte Ausdruck all dieser realen Beziehungen, die zwischen den einzelnen Gliedern einer Organsiation obwalten, und die früher egoistisch-utilitaristische Rücksicht auf die Behauptung des eigenen Daseins in einem gegenseitigen Kampf erhebt sich zu der soziologisch-sittlichen Verpflichtung, durch die Steigerung des Lebensideals anderer, gleichartig organisierter Wesen die Entwicklung des ganzen ethnischen Komplexes, der Alle umschließt, zu fördern. Auch dies kann nur geschehen durch eine Reproduktion all derjenigen Erfahrungen und Eindrücke, die jene morphologische Bildung auf den Einzelnen ausübt und andererseits durch die spezifischen Reaktionen, die in Gestalt bestimmter, durch Vorstellungen motivierter Handlungen des Individuums vor sich gehen.

Diese, obwohl determiniert durch den ganzen psychischen Mechanismus und sodann durch das jedes Geschehen involvierende Kausalitätsgesetz, werden wir unbedenklich frei nennen können, sofern wir darunter nicht die blinde Willkür einer völlig unumschränkten und grundlosen Wahlfähigkeit, sondern die Äußerung und Entwicklung der eigenartigen Natur des Menschen verstehen, wie sie unter stetiger Beleuchtung durch das Bewußtsein sich zu bestimmten Taten entschließt. Aber richtig ist es, wenn für diesen kontinuierlichen Kompromiss zwischen Egoismus und Altruismus nicht ins Blinde hinein eine in jedem Augenblick fühlbare Vermehrung der Glücksempfindung zugelassen, sondern für einzelne Höhepunkte dieses Prozesses die vollständige Abwesenheit des Wunsches und damit des Leids, als einer Nichtbefriedigung desselben gefordert wird. So unzweifelhaft es ist, daß das gewöhnliche Getriebe des menschlichen Lebens auf ein infinitesimales [unendlich klein werdend - wp] Maximum, auf einen rein imaginären Punkt dieser Glückseligkeitsbestrebung hin arbeitet, der erreicht, sofort eine weitere Anspannung der Kräfte provoziert, gerade so unbestreitbar ist es, daß das wahre Glück eine Absorbierung [Aufsaugung - wp] jedes Begehrens enthält und somit des quälenden Stimulus entbehrt, der SCHOPENHAUER zur Fiktion der Negativität dieses und der Positivität des Leidens verführt hat.
    "Was man Glück nennt", sagt Heymans, "ist nichts Anderes als der Genuß, hervorgehend aus dem Zustand der Wunschlosigkeit." (Die Methode der Ethik, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 6, Seite 172)
Alle höchsten und edelsten Stimmungen, seien sie religiöser, ästhetischer oder ethischer Art, überzeugen einen Jeden unmittelbar von der Wahrheit dieses, freilich nicht die landläufigen eudämonistischen Erregungen treffenden Satzes. Aber ebenso unausweichlich ist auch die Konsequenz, daß die Steigerung des Glücks und die Bereicherung unseres Ideals nur möglich ist unter der unablässigen Reizung durch die Wünsche, die den Menschen von einer Entwicklungsstufe zur anderen treiben. Denn sonst müßte man (was gänzlich widersprechend ist) für alle Wertunterschiede dieser Reihe nur quantitative, keine qualitativen Differenzen zulassen, gestehen, daß das sittliche Bild, welches der Feuerländer sich über die Höhe seiner Entwicklung entwirft, materiell völlig identisch mit den komplizierten und feinsinnigen Elementen ist, die unser Bewußtsein uns an die Hand gibt. Das stumpfe Dahinbrüten, die tierische Befangenheit in der Knechtschaft der Natur, der brutale Egoismus einer primitiven Weltanschauung des Wilden kann gerade so wenig mit der geistig potenzierten und ethisch vollendeten Entwicklung eines Mannes unterer Tage verglichen oder gar inhaltlich auf dieselbe Wertstufe gesetzt werden, wie wir in der psychischen und moralischen Abgestorbenheit der Strebungen eines Blasierten oder eines forcierten [gesteigerten - wp] Asketen die Erfüllung wahren Glücks in einer angeblichen Wunschlosigkeit zu erblicken vermögen.

Das freilich dürfen wir am Schluß dieser Betrachtung nicht verhehlen, daß wir hiermit einen sehr engen, für Manche vielleicht unbequeme Zusammenhang des Erkennens und Handelns, der Logik oder Ethik geschaffen haben, oder drücken wir uns richtiger aus, daß wir auf denselben Ausgangspunkt nach dieser kritischen Durchmusterung der verschiedenen Standpunkte zurückgeführt werden, den uns schon die metaphysische Überlegung am Anfang nahe gelegt hat. Soll der oft zitierte Ausspruch von LEIBNIZ, uns als Spielgel der Welt anzusehen, kein leeres Wort, eine poetische Floskel bleiben, so ist es unbedingt notwendig, diese Resonanz auch auf die sittliche Sphäre auszudehnen; es ist ein gewaltsames und höchst subjektives Verfahren, den unlösbaren Konnex psychischer Kräfte derart zu lockern und zu zerreißen, daß man einigen Faktoren die Aufgabe einer logischen, anderen die der ethischen zuschreibt, ohne je an einen gemeinsamen Mittelpunkt zu denken, der alle diese Enwicklungen als Veränderungen seiner selbst empfände. Wie gesagt, alle pessimistische Verbitterung, alle raffinierte Blasiertheit streitet nicht gegen diesen Fundamentalsatz der Reziprozität logischer Erkenntnis und sittlicher Tätigkeit; aber mit dieser Überzeugung ist auch ein spezifischer, wenn auch vergleichbarer Wertunterschied der verschiedenen Ideale gegeben, die nicht zumindest von der Höhe und Reife der intellektuellen Ausbildung bedingt sind. So häufig im praktischen Leben sich jener Zusammenhang durchlöchert zeigen und anstatt dessen ein sehr labiles Gleichgewicht der ethischen Vorstellungen an die Stelle treten mag, so gewiß ist der Inhalt des Bewußtseins höher entwickelter Individuen nicht bloß logisch richtiger, sondern auch sittlich reicher, schon allein weil es ein viel größeres Gebiet der fraglichen Aufgaben beherrscht und mit klarer Unterordnung subjektiver Willkür unter die allgemeinen sozialen Normen diejenigen Handlungen verrichtet, welche entweder an ein weniger differenziertes Wesen überhaupt nicht herantreten, oder von ihm rein mechanisch vollzogen werden. Und in diesem Sinne kann man es wohl mit ROLPH für eine lösenswerte (durch staatliche und pädagogische Mittel unterstützte) Aufgabe halten, geradezu die Erweiterung der Glückskapazität der Menschen zu bewirken, weil hierin nach meiner Anschauung zugleich intellektuelle Aufklärung und sittliche Aufklärung bedingt ist. (Vgl. ähnliche Gedanken bei FECHNER, Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht, Seite 219f)

Noch einmal möchte ich auf SPINOZA hinweisen, der, mag auch seine Subsumierung des Willens als eines Vermögens des Bejahens und Verneinens unter eine rein logische Perspektive sich wenig psychologisch rechtfertigen lassen, doch die unmittelbare Wirkung des kritischen Denkens mit dem ethischen Verhalten sehr klar geschildert hat:
    "Alles, was man aus Vernunft erstrebt, ist nur die Erkenntnis, und die Seele hält, so weit sie sich ihrer Vernunft bedient, nur das zur Erkenntnis Führende für nützlich", und

    "Das Gut, welches Jeder, der der Tugend folgt, für sich begehrt, wünscht er auch den übrigen Menschen, und zwar umso mehr, je größer seine Erkenntnis Gottes ist." (Ethik IV, Lehrsatz 26, n. 37)

LITERATUR - Thomas Achelis, Die Ethik der Gegenwart in ihrer Beziehung zur Naturwissenschaft, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, siebenter Jahrgang, Leipzig, 1883