cr-2Das BewußtseinsproblemErkenntnistheorie und Psychologie    
 
EMIL BULLATY
Zwei Grundfragen der Erkenntnistheorie

"Die Voraussetzungen der Erkenntnis bringen uns dazu, Bürgschaften für die Gültigkeit der Erkenntnis zu fordern, weil diese selbst, von Voraussetzungen abhängig gemacht, welche von der Erkenntnis nichts anderes als Bürgschaften für die Gültigkeit der gegebenen Sinnenwelt verlangen, uns solche zu bieten außerstande ist. Der Grund hierfür liegt doch offenbar nur im Mangel einer scheidewandlosen Berührung eines realen Subjektes mit einem gleichfalls realen Objekt. Darum muß es aber auch unsere erste Sorge sein, der Verknüpfung oder Verbindung von Subjekt und Objekt keine Hindernisse in den Weg zu legen. Diese hat man aber selbst geschaffen, indem man die Scheidung der gegebenen Sinnenwelt in ein physisches, reales Objekt und in ein psychisches, reales Subjekt vollzog."

Man muß noch lange nicht ein Widersacher einer Erkenntnistheorie sein, wenn man in die immer lauter werdende Klage mit einstimmt, daß eine Theorie der Erkenntnis unser philosophisches Bedürfnis nicht befriedige, weil sie auf das Erkenntnisproblem ihr ganzes Interesse konzentriert, alle anderen Probleme dagegen, ganz besonders aber das des Seienden, unberücksichtigt läßt. Diesen Vorwurf könnte die Erkenntnistheorie sich ruhig noch gefallen lassen, wenn sie dem Erkenntnisproblem auch in der Tat jene Förderung angedeihen ließe, die man sich für dasselbe von ihr verspricht. Führt schon die Abhängigkeit der Erkenntnistheorie von Voraussetzungen der Erkenntnis uns zur Einsicht, daß in der Erkenntnistheorie das Erkenntnisproblem niemals restlos aufgehen kann, weil eine aus bloßen Voraussetzungen der Erkenntnis ihre Motive schöpfende Erkenntnistheorie über Voraussetzungen der Erkenntnis nicht hinauskommt, an das Problem der Erkenntnis selbst somit gar nicht heranreicht, so wird unser in die eigenen Voraussetzungen der Erkenntnistheorie gesetztes Vertrauen noch dadurch erschüttert, daß es bisher auch der Psychologie nicht verwehrt werden konnte, die Voraussetzungen der Erkenntnis sich zu eigen zu machen (1) und von ihnen das Recht sich geben zu lassen, mit erkenntnistheoretischen Prätensionen [Anmaßungen - wp] aufzutreten.

Diese Sachlage würde es uns wohl zur Pflicht machen, uns die Frage vorzulegen, wie wir dazu kommen, Voraussetzungen der Erkenntnis zu machen, um uns über die Zweckmäßigkeit einer Erkenntnistheorie und über die Tragweite ihrer Aufgaben klar zu werden, ehe wir uns entscheiden, im heftigen entbrannten Streit der Meinungen für eine derselben Partei zu ergreifen. In den historische Denkrichtungen des Rationalismus und des Empirismus sozusagen aufgewachsen war auch die Erkenntnis von Haus aus schon mit Voraussetzungen belastet, mit welchen der Rationalismus und der Empirismus die Mission philosohischer Denkrichtungen angetreten haben. Diese haben es aber auch zu verantworten, daß die Erkenntnis über bloße Voraussetzungen, über die Annahme eines erkennenden Subjekts und eines erkannten Objektes nicht hinausgekommen ist.

Im Wechsel metaphysischer, erkenntnistheoretischer und psychologischer Grundansichten sehen wir sowohl das erkennende Subjekt als auch das erkannte Objekt mannigfachen Anfechtungen ausgesetzt; an der Annahme, daß es ein Subjekt gibt, welches erkennt und ein Objekt, welches erkannt wird, hat jedoch niemand zu rütteln gewagt. Mit der Annahme eines erkennenden Subjekts und eines erkannten Objekts ist auch die Realität beider unlösbar verknüpft. Woher haben wir aber das Recht, ein erkennendes Subjekt und ein erkanntes Objekt zu behaupten? Sowohl der Rationalismus als auch der Empirismus lehren es, mit dem prinzipiellen Unterschied jedoch, daß der Rationalismus sein erkennendes Subjekt und sein erkanntes Objekt außerhalb der empirisch gegebenen Sinnenwelt sucht und ein außersinnliches, reales, daher auch transzendentes Subjekt und ein diesem korrespondierendes, gleichfalls außersinnliches, metaphysisches, reales, aber begriffliches Objekt behauptet, der Empirismus dagegen das erkennende Subjekt und das erkannte Objekt innerhalb der empirisch gegebenen Sinnenwelt finden zu müssen glaubt und deshalb auch die Scheidung derselben in ein physisches Objekt und in ein psychisches Subjekt befürwortet. Dem Rationalismus sind Subjekt und Objekt intelligible, dem Empirismus sinnliche Realitäten. Nicht das Subjekt, das Ich, nicht das Objekt, sondern erst das denkende Ich als höchste, über die empirische Sinnenwelt sich erhebende Vernunfteinheit und ein ihm korrespondierender, erst rationalisierter, daher begrifflicher und metaphysischer Gegenstand gelten dem Rationalismus als unwandelbare, unverrückbare Realitäten. Nicht das Subjekt, das Ich, sondern das denkende Ich bildet den Ausgangspunkt des Rationalismus.

Wie der Rationalismus, von einem denkenden Subjekt ausgehend, ein diesem korrespondierendes begriffliches Objekt sich selbst schafft, so setzt der Empirismus, von einem empirischen Gegenstand ausgehend, ein diesem korrespondierendes, aber nicht mehr denkendes, sondern gleichfalls empirisches Subjekt, dasselbe auf Empfindungen, als etwas aus diesen Zusammengesetztes, aufbauend. Aber auch der Empirismus geht nicht vom wirklichen, sondern von einem durch ihn selbst erst gesetzten Objekt aus, indem er die jeder Gegenständlichkeit bare Anschauung mit dem nur gedachten Tatbestand der Gegenständlichkeit in Übereinstimmung zu bringen sucht, sie vergegenständlich und für die objektivierte Anschauung eine Erfahrung notwendig macht. Der Rationalismus vertritt die Einheit des erkennenden Subjekts und des erkannten Objektes, der Empirismus behauptet die Vielheit beider. Dem Rationalismus gilt das Subjekt als die höchste Vernunfteinheit, die er auch für das Objekt beansprucht. Der Empirismus will das Objekt in eine Vielheit psychischer Erscheinungen aufgelöst wissen.

Durch Rationalisierung eines realen Subjekts und eines realen Objektes war es dem Rationalismus gelungen, über den Abgrund, welcher sich in der Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt vor der Erkenntnis auftut, hinwegzukommen. Der Empirismus hat durch Doppelsetzung der gegebenen Sinnenwelt, durch Auflösung derselben in ein physisches Objekt und in ein psychisches Subjekt, die gegebene, durch Anschauung verbürgte Sinnenwelt, die Anschauung selbst, in bloße Voraussetzungen der Erkenntnis aufgelöst, anstelle eines rationalisierten, realen Subjekts und Objekts ein empirisches, gleichfalls aber reales, physisches Objekt und psychisches Subjekt treten lassen.

Aber auch nur als Realitäten gedacht und gesetzt wehren Subjekt und Objekt in ihrer Gegenüberstellung dem Gedanken, zueinander in scheidewandlose Beziehung gebracht und miteinander verknüpft zu werden, ohne sich gegenseitig aufgeben oder ineinander aufgehen zu müssen. Nicht die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt, sondern die Annahme ihrer Realität bildet dann ein Hindernis der Erkenntnis. Deshalb ergeben Subjekt und Objekt auch nur als Realitäten gesetzt und gedacht die Notwendigkeit einer wenigstens formalen, theoretischen Begründung der Erkenntnis, durch welche wenigstens die Möglichkeit einer in ihren Voraussetzungen sich erschöpfenden Erkenntnis plausibel gemacht werden soll. Damit ist aber die Grundlage für eine Theorie der Erkenntnis gegeben. Voraussetzungen der Erkenntnis sind es dann aber, welchen die Erkenntnistheorie ihren Bestand und ihre Existenzberechtigung verdankt. Die wirkliche Erkenntnis, der Begriff und Tatbestand derselben bleiben in ihr ganz aus dem Spiel. Die Voraussetzungen der Erkenntnis bringen uns dazu, Bürgschaften für die Gültigkeit der Erkenntnis zu fordern (2), weil diese selbst, von Voraussetzungen abhängig gemacht, welche von der Erkenntnis nichts anderes als Bürgschaften für die Gültigkeit der gegebenen Sinnenwelt verlangen, uns solche zu bieten außerstande ist. Der Grund hierfür liegt doch offenbar nur im Mangel einer scheidewandlosen Berührung eines realen Subjektes mit einem gleichfalls realen Objekt. Darum muß es aber auch unsere erste Sorge sein, der Verknüpfung oder Verbindung von Subjekt und Objekt keine Hindernisse in den Weg zu legen. Diese hat man aber selbst geschaffen, indem man die Scheidung der gegebenen Sinnenwelt in ein physisches, reales Objekt und in ein psychisches, reales Subjekt vollzog.

Mit welchem Recht dürfen wir aber die Gegenständlichkeit der Sinnenwelt behaupten, wenn diese in der Anschauung, in welcher die Sinnenwelt gegeben ist, ihre Unmittelbarkeit bekundet, da doch sonst eine Anschauung gar nicht denkbar wäre? Wie dürfen wir dann aber einer nichtgegenständlichen Sinnenwelt ein psychisches, gleichfalls empirisches Subjekt gegenüberstellen? Die empirische Sinnenwelt ist uns nicht als Subjekt und als Objekt gegeben, wohl aber wird die gegegene Sinnenwelt als Subjekt und als Objekt gedacht. Dann bleiben aber Subjekt und Objekt auf die Bedeutung lediglich rationalistischer Tatbestände beschränkt. Da die Sinnenwelt nicht als Subjekt und Objekt gegeben ist, von einer außersinnlichen Realität aber, also auch von einem realen Subjekt und Objekt, wir niemals Kenntnis erlangen können, so haben auch Subjekt und Objekt jeglichen Anspruch auf Anerkennung der von ihnen bisher behaupteten Realität verwirkt. Wir haben es dann im Subjekt und im Objekt weder mit einer rationalistischen noch mit einer empirischen Realität zu tun. Denn nicht das Ich, das Subjekt denkt, sondern das Ich, das Subjekt wird gedacht, ebenso wie die Gegenständlichkeit gedacht wird. Diese wird dann aber auch nicht durch das Subjekt gedacht.

Ein Subjekt, ein Ich, welches selbst schon einen rationalistischen Tatbestand darstellt, braucht nicht erst zu denken und kann es auch nicht, weil es selbst schon ein Gedachtes ist und mit dem gleichfalls nur gedachten Objekt - d. h. der Gegenständlich - frei von allen Hindernissen zu einer Erkenntnis sich verknüpft. Denn als rationalistische Tatbestände einer empirisch gegebenen Sinnenwelt vollziehen Subjekt und Objekt anstandslos ihre Verknüpfung. Diese ist dann aber wie in der Mathematik eine rein synthetische, logische, aber keine psychologische, weil Subjekt und Objekt selbst mit den Ansprüchen nur logischer Tatbestände, bloßer Denknotwendigkeiten der empirischen in der Anschauung gegebenen Sinnenwelt auftreten und deshalb auch nur eine ihrem logischen Charakter angemessene, von allen Hypothesen freie Verknüpfung zulassen.

Mit der Feststellung eines rein logischen Subjekts und Objekts ist über die beiden Grundfragen der Erkenntnistheorie, ob es ein reales Subjekt und ob es ein reales Objekt gibt, entschieden. Dann hat aber eine bloße Erkenntnistheorie jede Existenzberechtigung eingebüßt, weil mit der Ablehnung eines realen Subjektes und eines realen Objektes ihr ihre Voraussetzungen, welche die Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis ergeben und zu diesem Zweck eine theoretische, formale Begründung der Erkenntnis notwendig machen, verloren gehen. Bedarf es dann aber noch einer Erkenntnistheorie, in welcher wir uns mit theoretischen Bürgschaften für die Gültigkeit einer auf bloße Voraussetzungen gegründeten Erkenntnis begnügen müssen, wenn in der scheidewandlosen und hindernisfreien Verbindung von Subjekt und Objekt die Gültigkeit der Erkenntnis schon verbürgt ist und nicht auf die bloße Erkenntnisform eingeschränkt werden muß? Dieser logischen Verknüpfung eines rein logischen Subjektes mit einem rein logischen Objekt werden wir schon deshalb die Bedeutung der Erkenntnis zugestehen dürfen, weil wir von dieser nach wie vor nichts mehr verlangen als die volle Gewähr für eine unbehinderte und scheidewandlose Verknüpfung des Subjektes mit dem Objekt.

Nur die Annahme eines gegebenen realen Subjektes und eines gegebenen realen Objektes hindert uns daran, einen Standpunkt zu gewinnen, der uns jeder Notwendigkeit entbindet, die Erkenntnis von Voraussetzungen abhängig zu machen. Indem wir Subjekt und Objekt nur als gedachte Tatbestände der in der Anschauung gegebenen Sinnenwelt anerkennen, finden wir die bisher in der Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt entdeckten erkenntnistheoretischen Hindernisse des Dualismus einer Innen- und Außenwelt und der Unterscheidung eines Physischen und Psychischen beseitigt und in der durch die angeführten erkenntnistheoretischen Hindernisse bisher verlegten und abgesperrten Anschauung den Standpunkt der erkenntnistheoretischen Unmittelbarkeit begründet.

Diese erkenntnistheoretische Unmittelbarkeit der Anschauung zum grundlegenden Prinzip erhoben, von welchem wir in der Aufstellung und Formulierung philosophischer Probleme auszugehen haben, um voraussetzungslos in die Behandlung derselben einzutreten, bringt uns auf den erkenntnistheoretischen Standpunkt, dessen Vorzüge jenem Standpunkt gegenüber, welcher die Notwendigkeit einer Erkenntnistheorie als philosophischer Einzeldisziplin ergibt, darin sich äußern, daß er nicht mit dem Subjekt und Objekt, sondern mit der Anschauung des Subjektes und Objektes zum Ausgangspunkt philosophischer, streng kritischer Forschung macht und dadurch in die Lage kommt, über den Tatbestand des Subjektes und Objektes sich Rechenschaft zu geben, um in ihnen Elemente einer voraussetzungslosen Erkenntnis zu entdecken: während die Erkenntnistheorie von der Annahme eines realen, sowohl rationalistischen als auch empirischen Subjekts und Objekts ausgeht, in diesen Voraussetzungen die Erkenntnis abhängig macht und dann zu diesem Zweck die Überwindung der in diesen Voraussetzungen entdeckten erkenntnistheoretischen Hindernisse der Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt des Dualismus einer Innen- und Außenwelt und der Unterscheidung eines Physischen und Psychischen fordert, welche - erkenntnistheoretische Hindernisse - sie durch die von ihr geschaffenen Voraussetzungen der Erkenntnis dieser und der Anschauung selbst in den Weg legt. In der Erkenntnistheorie bleibt die Erkenntnis an Voraussetzungen haften, über die sie nicht hinauskommt, in diesem erkenntnistheoretischen Standpunkt geht das Erkenntnisproblem restlos auf, weil derselbe uns die Möglichkeit eröffnet über Begriff und Tatbestand des Subjektes und Objektes als Elemente der Erkenntnis uns Aufschluß zu geben und dadurch einen voraussetzungslosen Erkenntnisbegriff uns gewinnen zu lassen. Mit den Voraussetzungen der Erkenntnis sind auch die erkenntnistheoretischen Hindernisse der Anschauung überwunden und mit ihnen fallen auch die Schranken, welche zwischen Bewußtsein und Sinnenwelt die Voraussetzungen der Erkenntnis aufgerichtet hatten. Der Standpunkt der erkenntnistheoretischen Unmittelbarkeit ist dann der Standpunkt der Bewußtseinsunmittelbarkeit. (3)
LITERATUR - Emil Bullaty, Zwei Grundfragen der Erkenntnistheorie, Bericht über den III. Internationalen Kongress für Philosophie, hg. von Theodor Elsenhans, Heidelberg 1909
    Anmerkungen
    1) Hierzu mein Aufsatz über "Erkenntnistheorie und Psychologie" im Archiv für systematische Philosophie, 1906.
    2) Hierzu mein Aufsatz über "Das Problem der Erkenntnis" in der Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Jahrgang 1908
    3) Siehe hierzu meine Aufsätze über "Das Bewußtseinsproblem" im Archiv für systematische Philosophie, Jahrgang 1900 und 1902.