ra-2R. GeijerA. DransfeldP. RéeL. KuhlenbeckJ. FriedmannF. Klein    
 
THEODOR ELSENHANS
Theorie des Gewissens

"Je mächtiger das Gefühlsleben eines Menschen Religion oder Kunst oder Wissenschaft umfaßt hat, umso empfindlicher rügt das Gewissen jede Verfehlung gegen die daraus erwachsenden Pflichten, sofern die ethische Bedeutung derselben überhaupt erkannt und damit eine Verschmelzung dieser Gefühle mit den Gewissensgefühlen gegeben ist."

Es ist erfreulich, daß das mehr und mehr wachsende ethische Interesse sich neuerdings auch dem Problem des Gewissens zugewandt hat. Zu lange blieb die Bearbeitung desselben der Theologie überlassen, welche in umfassenden Monographien (1) die geschichtliche Kenntnis und die religiöse Seite des Problems förderte, in der psychologischen Bearbeitung der Erscheinung aber, die doch in erster Linie eine Tatsache des Geisteslebens ist, zu wenig Fühlung mit der Methode und den Ergebnissen der neueren Psychologie hatte, um wirlich Stichhaltiges auf diesem Gebiet hervorzubringen. Dazu kam, daß in der Behandlung der Hauptfragen fast regelmäßig die verschiedenen Standpunkt der Betrachtung, der religiöse oder der spekulative, und der psychologische, miteinander vermischt wurden. Die Entscheidung einer psychologischen Frage wurden von religiösen Gesichtspunkten abhängig gemacht oder umgekehrt: oder es wurde gar das Gewissen als "religiös-sittliche Zentralinstanz" unmittelbar zur Grundlage der Dogmatik und Ethik gamacht.

Neuerdings ist nun das Problem des Gewissens auch mehrfach von anderer Seite in Angriff genommen worden. Der Jurist OPPENHEIM (2) behandelt die in Betracht kommenden Fragen unter besonderer Berücksichtigung der Ausbildung und Entwicklung des Gewissens im Individuum und der damit in Verbindung stehenden Fragen der Funktion, der Verkehrung, der Autorität und der Wandlung des Gewissens. Es war das Problem der Verantwortlichkeit, das den Juristen auf die Beschäftigung mit dieser Erscheinungsgruppe hinführte.

Von philosophischer Seite liefert MAX WENTSCHER einen Beitrag zur Theorie des Gewissens, in dem er drei Erscheinungsformen desselben: das Gewissen in seiner individuellen Ausprägung, das "öffentliche Gewissen", das Gewissen als sittliche Urteilskraft oder praktische Vernunft und das wechselseitige Verhältnis dieser Erscheinungsformen untersucht (3). PAUL BARTH setzt das Gewissensproblem in Bezug zur Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit (4). Schließlich gibt GERT CARRING vom sozialistischen Standpunkt aus "für denkende Arbeiter", jedoch auf wissenschaftlicher Grundlage eine Darstellung des Gewissens "im Licht der Geschichte" und "im Licht sozialistischer und christlicher Weltanschauung". (5)

In der Tat müssen die zahlreichen Berührungspunkte, welche die Ethik mit anderen Lebens- und Wissensgebieten hat, auf eine allseitige Bearbeitung des Gewissensbegriffs hinführen. Dies ergibt sich schon aus der Tatsache, daß der gewöhnliche Sprachgebrauch sich in diesem Wort die prägnanteste Zusammenfassung der Äußerungen des sittlichen Bewußtseins geschaffen hat. Ist der Wortvorrat eines Kulturvolkes zu einem großen Teil der Niederschlag unzähliger psychologischer Beobachtungen, so darf das Wort "Gewissen", um welches sich für das Volksbewußtsein die Erfahrungen des sittlichen Lebens unter einer eigentümlich starken Gefühlsbetonung gruppieren, auf die Beachtung des Psychologen, Ethikers und Soziologen Anspruch machen. Gelingt es, diese Tatsachen aufzuhellen und befriedigend zu erklären, so wird damit ein weiterer Schritt zur Lösung der ethischen Probleme überhaupt getan sein. Im Folgenden soll ein Versuch dazu gemacht werden, indem ich einige Hauptergebnisse meiner diesem Gegenstand gewidmeten Untersuchungen im Zusammenhang mit einigen sie begründenden Theorien und in der Auseinandersetzung mit anderen Arbeiten aus neuester Zeit in Kürze zur Darstellung bringe. (6)

Die in Betracht kommenden Fragen scheiden sich naturgemäß in zwei Hauptgruppen, von denen die eine sich auf das Wesen, die andere auf die Entstehung des Gewissens bezieht.


I. Psychologische Analyse
des Gewissensvorgangs

Da das Gewissen ein geistiger Vorgang ist, so kann das Wesen desselben ohne vorausgehende psychologische Analyse nicht festgestellt werden.

Von der alten Auffassung des Gewissens als eines besonderen Vermögens, welche diese Erscheinung als eine geheimnisvolle Kraft innerhalb des Seelenlebens isoliert in der Meinung, sie dadurch erklärt zu haben, können wir folglich absehen (7).

1. Ich knüpfe an die Erklärung an, welche MAX WENTSCHER (8) vom Gewissensvorgang gibt. Danach ist es allemal ein bestimmtes Verhalten, etwa eine  Handlung,  und zwar eine bereits vollführte, was die Gefühlsreaktion des Gewissens in Bewegung setzt. Und zwar ist es eigentlich nicht die Handlung selbst, was die Gewissensreaktion hervorruft, auch nicht, zumindest nicht unmittelbar, ihre Folgen, und was sonst immanent zu ihr hinzugehört, sondern eine  Vergleichung  der Handlung, bzw. unseres Verhaltens, mit einer  Pflicht vorstellung, eine Vergleichung, die wir nicht etwa willkürlich vollziehen, sondern die durch unvermeidliche Vorgänge uns aufgezwungen wird. Die Vorstellung der Handlung müsse aufgrund früher geschaffener Assoziationen - wenn auch vielleicht nur in der rudimentären Form von Gefühlsvorgängen - zugleich eine auf sie bezügliche Pflichtvorstellung ins Bewußtsein erhoben haben, die dann nach einer Ausführung der betreffenden Handlung umso stärker hervortreten müsse, je mehr sie bei der Handlung selbst zurückgedrängt wurde. Das gute Gewissen wäre dann das Gefühl der Beruhigung, mit dem uns vorschwebenden Pflichtbegriff in unserem Verhalten zusammengestimmt zu haben, das böse Gewissen das Gefühl der Unruhe und Unbefriedigtheit infolge des Widerspruchs unserer Handlung gegen die uns gegenwärtige Pflichtvorstellung.

Diese Schilderung des Gewissensvorgangs scheint mir den Tatbestand desselben für manche Fälle richtig zu charakterisieren, für sehr viele andere aber nicht. Wenden wir auch auf die Erscheinung des Gewissens den Grundsatz an, nichts als Bestandteil derselben gelten zu lassen, was sich nicht tatsächlich im Bewußtsein findet, so wird sich feststellen lassen, daß in einer großen Zahl von Fällen, die zweifellos als Gewissensregungen zu bezeichnen sind, ein so zusammengesetzter Vorgang, wie jene Vergleichung der Handlung mit einer Pflichtvorstellung, nicht wahrzunehmen ist. WENTSCHER deutet dies selbst an, wenn er bemerkt, daß diese Bedingung des Auftretens der Gewissensäußerungen vielleicht nur in der rudimentären Form von "Gefühlsäußerungen" erfüllt sein könnte. Dann aber ist jener Vergleich im Augenblick des Gewissensvorgangs eben kein Bestandteil des augenblicklichen Bewußtseinszustandes und daher kein wesentliches Merkmal der Gewissenserscheinung.

Wir werden uns strenger an das halten müssen, was auch WENTSCHER in seiner Definition des guten und des bösen Gewissens anerkennt: die charakteristischen Bestandteile des Gewissensvorganges, das was eine psychologische Analyse der Gewissensregungen als Grundelement derselben aufweist, sind  bestimmte Gefühle. (9) Wie diese Gefühle mit Vorstellungen und Wollungen zusammenhängen, wird sich im weiteren Verlauf unserer Untersuchung ergeben. Zunächst richten wir unsere Aufmerksamkeit auf diese Gefühle selbst.

Wir sehen in diesen  "Gewissensgefühlen",  wie wir sie kurz nennen wollen, eine besondere Art der  "ethischen Gefühle"  und gehen dabei von der Voraussetzung aus, daß sich durch diese letztere Bezeichnung eine Gruppe von Erscheinungen des Gefühlslebens von im wesentlichen übereinstimmender Qualität abgrenzen läßt. Innerhalb derselben mögen sich mancherlei Modifikationen finden, wovon noch zu reden sein wird: die Differenzen zwischen diesen sind aber nicht so groß, wie der Qualitätsunterschied dieser ethischen Gefühle von anderen Gefühlsgattungen, so daß die Berechtigung dieser Klassifikation dadurch nicht aufgehoben wird.

Von solchen ethischen Gefühlen ist das ganze Bewußtseinsleben des Kulturmenschen durchzogen. Nicht bloß vor, während und nach den eigenen Handlungen stellen sie sich ein, sondern auch bei jeder Vorstellung der Handlungen anderer, mag diese nun durch Äußerungen anderer Menschen, durch die Lektüre einer Erzählung, durch eine anschauliche Vergegenwärtigung im Drama oder auf irgeneinem anderen Weg vermittelt sein. Die Intensität dieser ethischen Gefühle kann dabei eine sehr verschiedene sein. Wie gering sie sein kann, wird uns deutlich, wenn wir uns zu Bewußtsein bringen, daß ein großer Teil unseres Wortvorrates mit ethischen Gefühlstönen versehen ist, die fast regelmäßig auftauchen, wenn die Wortvorstellung zu Bewußtsein kommt. Sie bilden eine Art Niederschlag des sittlichen Bewußtseins auf dem Sprachgebiet. Man darf nur Wörter wie: Mord, Verleumdung, Haß, Neid, Gemeinheit, Aufopferung, Großmut, Selbstverleugnung sich vergegenwärtigen, um dieses Mitschwingen ethischer Gefühle wahrzunehmen. So gering auch vielfach ihre Intensität sein mag, sie fehlen wahrscheinlich nur da vollständig, wo die Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Wortvorstellung als solche gerichtet ist, denn die zu einer solchen Festigkeit gediehene Assoziation hat ihre eigentliche Grundlage an der zwischen der Bedeutung des Wortes und dem ethischen Gefühlston bestehenden Assoziation. Fällt das Mittelglied, die Bedeutungsvorstellung aus, so mag auch die Reproduktion des begleitenden Gefühlstones unterbleiben. (10)

Größere Intensität besitzen die ethischen Gefühle, wo sie sich nicht bloß an eine durch das Wort vergegenwärtigte allgemeine Klasse von Handlungen, sondern an eine wahrgenommene oder vorgestellte einzelne Handlung knüpfen. Sind sie in ihrer Assoziation mit Wortvorstellungen losgelöst von der Beziehung zu konkreten Personen und darum abgeblaßt und von geringer Lebhaftigkeit, so steigert sich ihre Intensität, (11) je näher das Interesse an der Handlung dem fühlenden Ich selbst, rückt, und sie erreicht ihren Höhepunkt, wenn sich die ethischen Gefühle auf Handlungen des fühlenden Subjekts selbst beziehen, seien es nun gegenwärtige, vergangene oder zukünftige.

2. Damit sind wir an demjenigen Punkt angelangt, welcher innerhalb der ethischen Gefühle das spezifische Merkmal der  Gewissensgefühle  bildet. Die Regungen des Gewissens tragen zwar im allgemeinen denselben Charakter wie die Regungen des sittlichen Bewußtseins, welche etwa die Nachricht über eine von anderen Menschen begangene verwerfliche Handlung begleiten, aber sie erhalten ihre besondere Verschärfung und eigentümliche Betonung durch die  Beziehung auf das eigene Ich

Unser ethisches Gefühl reagiert deutlich, wenn wir von einer Handlung der Grausamkeit gegen Wehrlose lesen; peinigender aber sind die Vorwürfe, mit welchen unser Gewissen uns trifft, wenn wir uns selbst etwa eine Tat rücksichtsloser Selbstsucht vorzuwerfen haben. Die Beziehung auf das Ich gibt diesen ethischen Gefühlen eine bestimmte Färbung ihrer Qualität und eine Erhöhung ihrer Intensität, welche sie als eine besondere Gefühlsgruppe kennzeichnen. Der Einfluß dieses, man könnte kurz sagen reflexiven Charakters der Gewissensregungen kann sich über sämtliche Punkte im Gesamtgebiet des sittlichen Lebens, auch auf die an der Peripherie liegenden erstrecken. Es ist z. B. nicht ausgeschlossen, daß schon die einfache Wortvorstellung "Mord" für den, der eines Mordes schuldig ist, jenen intensiveren und durch die Beziehung auf das Ich qualitativ modifizierten Gefühlston erhält.

3. Wie lassen sich nun die Gewissensgefühle abgesehen von diesem spezifischen Merkmal näher bestimmen? In dieser Hinsicht nehmen sie in den Hauptpunkten durchaus an der Eigentümlichkeit der ethischen Gefühle teil.

Da zu vermuten ist, daß auch im Gewissensvorgang die drei Hauptarten psychischer Vorgänge vertreten sind, so wird es sich zunächst darum handeln, die Art des Zusammenhangs dieser Gefühle mit  Vorstellungen  und  Willensvorgängen  festzustellen.

Ein solcher Zusammenhang ergibt sich schon aus dem Anknüpfungspunkt derselben. Die ethischen Gefühle, welche zur Billigung oder Mißbilligung einer Handlung durch das Gewissen führen, setzen stets die  Vorstellung einer Handlung  voraus. Dieselbe kann in der unmittelbaren Wahrnehmung, oder in der Erinnerung, oder in einem mündlichen oder schriftlichen Bericht anderer gegeben sein. In der Vorstellung der Handlung selbst aber sind verschiedene Bestandteile enthalten, die ihrerseits wieder von ethischer Bedeutung sind. Zunächst gehört dazu die mehr oder weniger deutliche Vorstellung eines handelnden  Subjekts auf welches die Tat bezogen und das für dieselbe verantwortlich gemacht wird. In der spezifischen Erscheinung des Gewissensvorgangs ist, wie wir gesehen haben, dieses handelnde Subjekt identisch mit dem Subjekt der Gewissensregungen.

Bei dieser Vorstellung des Handelnden spielt ferner - zumindest auf höher entwickelten Kulturstufen - die  Absicht  eine maßgebende Rolle, welche dem Täter im Augenblick der Tat zugeschrieben wird. Die unabsichtliche Tötung eines Menschen wird von jedem ethischen Beurteiler unseres Kulturkreises anders gewertet als der Mord.

Weitere Elemente dieser den Ausgangspunkt des Gewissensvorgangs bildenden Vorstellung ergeben sich aus dem Begriff der  Handlung Die physiologisch-psychologische Seite derselben ist stets eine Bewegung, sei es nun eine Bewegung des Körpers überhaupt oder eine Ausdrucksbewegung im Besonderen mit Einschluß der Sprache.

Wie unterscheidet sich nun die ethisch-indifferente Bewegung von der "Handlung", die im durchschnittlichen Sprachgebrauch stets in irgendeiner Beziehung zum sittlichen Leben steht? (12) Dieselbe Armbewegung kann eine harmlose mechanische Wirkung haben, die das Gewissen völlig unberührt läßt, oder kann den Tod eines Menschen zur Folge haben und führt dann eine der stärksten Reaktionen des Gewissens herbei. Was also die ansich ethisch-indifferente Bewegung zur Handlung macht, ist die Wirkung derselben auf andere Menschen, der  Einfluß, den sie auf das Wohl oder Wehe lebender Wesen ausübt.  Diese Wirkung einer Handlung erstreckt sich oft auf eine große Zahl von Menschen und kann sich in unendlich zahlreiche Teilwirkungen verzweigen; wie z. B. der betrügerische Bankrott eines Bankhauses, durch welchen viele geschädigt werden. Und doch muß sich dieser ganze Vorstellungskomplex zu einem Gesamtbild zusammenschließen, um den Anknüpfungspunkt für das Auftreten ethischer Gefühle zu bilden. Wir sehen, wie verwickelt die Bedingungen des scheinbar einfachen Gewissensvorganges sein können.

Zugleich geht aus dieser Erwägung hervor, daß die Gewissensreaktion ein Sich-hineinfühlen in den Zustand der von der Handlung Betroffenen, eine Vergegenwärtigung der Gefühle voraussetzt, welche die Handlung in diesen hervorruft. Die Reproduktion dieser Gefühle geht als Bestandteil in den gesamten Gewissensvorgang ein. Wir werden daher bei der weiteren Erörterung des Gefühlscharakters des Gewissens darauf zurückzukommen haben. Hier handelt es sich zunächst um diejenigen psychischen Vorgänge, welche neben den Gefühlen als Bestandteile des gesamten Gewissensvorganges anzusehen sind.

4. Wurden bisher diejenigen Erscheinungen in Betracht gezogen, an welche sich die Gewissensgefühle anknüpfen, so wären jetzt die durch dieselben hervorgerufenen Vorgänge ins Auge zu fassen.

Der Einfluß derselben auf dem Gebiet des  Willens  läßt sich in Kürze charakterisieren. Wie andere Gefühle haben auch die ethischen die Tendenz, die Willenstätigkeit in Bewegung zu setzen oder - anders ausgedrückt - zu Motiven für das Wollen zu werden. Sie suchen die Verwirklichung der gebilligten, die Vermeidung der mißbilligten Handlung herbeizuführen, da bei diesem Prozeß stets das Subjekt der ethischen Gefühle und das handelnde Subjekt identisch ist. So erscheinen die ethischen Gefühle hier stets in der für das Gewissen charakteristischen Beziehung auf das Ich. Sie treten daher immer in der Form der Gewissensgefühle in den Kampf der Motive ein. Und zwar unterscheiden sie sich durch ein in diesem Fall ihnen regelmäßig anhaftendes Merkmal von sämtlichen anderen Motiven. Sie erheben nämlich den Anspruch,  unbedingt den Ausschlag zu geben.  Wohl liegt im Wesen des Motivs als solchem die Tendenz des Handelns zu bestimmen und auch die nicht-ethischen Motive streben darauf hin, aber ihr Anspruch darauf macht sich stets als ein bedingter geltend und läßt die Möglichkeit zu, höheren Ansprüchen weichen zu müssen. Die Gewissensmotive aber, wenn sie auch ihre unbedingte Forderung oft genug tatsächlich nicht durchsetzen, lassen sich auf keinerlei Vergleich ein, sondern treten stets mit dem Anspruch auf, unbedingt berücksichtig zu werden. Nur in einem einzigen Fall erleidet dieser Anspruch eine Modifikation, nämlich, wenn die Gewissensmotive mit  anderen  Gewissensmotiven in Konflikt geraten. Das Peinigende dieses Bewußtseinszustandes liegt gerade darin, daß von zwei verschiedenen Richtungen her unbedingte Ansprüche einander gegenübertreten, deren Befriedigung sich gegenseitig ausschließt. Psychologisch ist dieser Konflikt auch nicht lösbar, da es im Wesen der Gewissensmotive liegt, ihren Anspruch nicht aufzugeben, und so Forderung gegen Forderung steht. Eine Lösung ist nur künstlich möglich mit Hilfe einer ethischen Theorie, welche die in Betracht kommenden Handlungen von allgemeinen Regeln ableitet oder nach ihrem Wert für die Produktion von Gütern ordnet. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die aufgrund einer solchen Theorie gewonnene sittliche Einsicht sodann auf das Gefühlsleben selbst zurückwirkt und den Anspruch der Gewissensmotive in ihrer Beziehung auf die als minderwertig oder als minder verwerflich erkannte Handlung auch psychologisch modifiziert.

5. Damit befinden wir uns jedoch schon auf dem Gebiet derjenigen vorstellungsmäßigen und logischen Vorgänge, welche durch die Gewissensgefühle hervorgerufen werden. Gewöhnlich werden diese Vorgänge in einem  Urteil  zusammengefaßt. Im Gewissens-Urteil: "Diese Handlung ist gut, jene Handlung ist schlecht", wird vielfach das Wesen des Gewissens überhaupt gefunden. Neuerdings wird dieses Urteil - entsprechend der zentralen Stellung, welche dem Wertbegriff in der Ethik zugewiesen wird - auch noch genauer als  Wert urteil bestimmt.

Zunächst noch einige Worte über das Verhältnis des Wertbegriffs zum Gewissen. Es scheint mir - zumindest an dieser Stelle der ethischen Untersuchung - besser, von einer Verwendung dieses Begriffs abzusehen. Die Analyse des durch das Wort "Gewissen" bezeichneten Tatbestandes zeigt zwar bei manchen unter dem Einfluß intellektueller Bildung stehenden Gewissenserscheinungen zweifellos das Vorhandensein von Wertbegriffen, spricht aber keineswegs dafür, daß die durch das Wort "Wert" oder "Wertung" bezeichneten allgemeinen Vorstellungen ein integrierender Bestandteil des Gewissensvorganges sind. Sie können als Allgemeinbegriffe hauptsächlich wissenschaftlicher Prägung dazu dienen, eine große Gruppe von Tatsachen, auch nicht-ethischen, selbst nationalökonomischen Charakters zusammenzufassen, aber je abstrakter sie sind, desto weniger eignen sie sich, das Spezifische des im Gewissen zugrunde liegenden Tatbestandes zu bezeichnen (13).

Wie verhält es sich nun aber mit der zweiten Frage, welche der Begriff "Werturteil" in seiner Beziehung zum Gewissen nahelegt? Ist es überhaupt ein  Urteil,  welches das Wesen des Gewissens ausmacht, oder ist ist das Urteil der regelmäßige logische und sprachliche Ausdruck dessen, was in den Gewissensvorgängen erlebt wird? Schon aus unseren früheren Ausführungen ergibt sich, daß beide Fragen zu verneinen sind. Die Erscheinungen des Gewissens treten keineswegs bloß bei besonderen Anlässen auf, etwa nur bei Handlungen, deren Bedeutung über das Maß des Alltäglichen hinausgeht, bei Taten, deren Verwerflichkeit in die Augen fällt. So wenig der ästhetische Geschmack des Kulturmenschen sich nur regt bei der Betrachtung großer Kunstwerke oder hervorragend schönder Landschaften, so wenig ist die Äußerung des Gewissens beschränkt auf einige wenige Augenblick besonders wichtiger Entscheidung für das Gute oder für das Böse. Sie durchläuft vielmehr alle Stufen von einem schwachen ethischen Gefühlston, der dem bloßen Wort anhaftet, bis zu der folgenschweren Entscheidung, welche den ganze Apparat ethischer Motive und sittlicher Einsicht in Bewegung setzt. Gewissensregungen von wechselnder, während des gewohnheitsmäßigen Verlaufs des alltäglichen Lebens allerdings schwacher, in außerordentlichen Fällen wachsender Intensität begleiten unser ganzes Handeln, und jede Vergegenwärtigung fremden Handelns ruft in uns ähnliche Reaktionen hervor. In vielen dieser Fälle ist die Gewissensregung viel zu flüchtig, als daß es zu einem vollständig ausgeprägten Urteil kommen würde. Auftauchende und schnell wieder verschwindende Schwingungen des Gefühlslebens von der Qualität der Gewissensgefühle begleiten das Handeln, ohne daß ihre Bedeutung zu Bewußtsein gebracht wird. In manchen anderen Fällen kommt es allerdings zu wirklichen Gewissensurteilen. Die positive oder negative Bedeutung der Gewissensgefühle wird in einem Urteil zum Ausdruck gebracht. Dies geschieht besonders da, wo ein Anlaß vorliegt, den einzelnen Fall genauer ins Auge zu fassen und bei demselben länger zu verweilen. Dieser Anlaß kann im Subjekt selbst gegeben sein, z. B. in der außergewöhnlichen Bedeutsamkeit der Handlung und in einem Konflikt der Gewissensregungen oder in den ethischen Urteilen anderer Menschen, die von der durch das eigene Gewissen gewiesenen Richtung des Handelns abweichen oder eine solche Abweichung vermuten lassen und dadurch zur Fixierung der eigenen Gewissensäußerung in einem Urteil nötigen. In den meisten Fällen ist damit zugleich die Veranlassung zu weit komplizierteren Fällen gegeben. Es kommt zum Vergleich des jetzigen Gewissensurteils mit früheren Urteilen in ähnlicher Lage, und der ganze Assoziationskomplex, der sich um diese Sphäre gebildet hat, gerät in Bewegung. Ethische  Grundsätze,  in welchen eine größere Zahl von Gewissensurteilen ihren allgemeinen Ausdruck gefunden haben, oder welche als Gebote, insbesondere der Religion, dem Bewußtsein eingeprägt sind, werden herbeigezogen, um eine Entscheidung herbeizuführen. Trotzdem treten die primären Bestandteile, die Gewissensgefühle, nicht völlig zurück. Sie begehren ihren Anteil an der Entscheidung und haften, wenn auch in abgeblaßter Weise, selbst an jenen allgemeinen Grundsätzen. Der ganze Vorgang fällt also immer noch in das Gebiet der Gewissenserscheinungen und umfaßt ungefähr das, was in der Geschichte des Gewissensbegriffs "sekundäres Gewissen" genannt worden ist.

6. Doch kehren wir nunmehr zu den Gewissensgefühlen selbst zurück und suchen sie näher zu bestimmen. Dieser Versuch wäre im Voraus als erfolglos zu bezeichnen, wenn wir in demselben durchaus einfache Gefühle zu sehen hätten. Als solche könnten sie ihrer Qualität nach nur erlebt werden, wie die einfache Farbempfindung demjenigen nicht deutlich gemacht werden kann, der sie nicht selbst gehabt hat. Eine Näherbestimmung der, wie wir gesehen haben, sehr verschiedenen Intensitäten der Gewissensgefühle und eine Feststellung der Bedingungen des Wechsels dieser Intensität wäre etwa dann möglich, wenn es gelingen würde, ein einheitliches Maß dieser Intensität zu finden, wie es die physiologisch-experimentelle Psychologie für die Empfindungslehre gewonnen hat. Man könnte etwa an die graphisch darstellbaren physiologischen Begleiterscheinungen wachsender und abnehmender Gefühlsintensität denken. Daß aber die experimentelle Psychologie zu dieser Psychologie des Gewissens noch keine nennenswerten Beiträge geliefert hat, ist wohl in der Natur der Sache selbst begründet. Das Wesen des Handelns selbst, auf welches die Gewissensregungen sich beziehen, widerstrebt diesem Verfahren unter künstlichen Bedingungen. Die Gefühlsreaktion selbst verändert sich unter diesem Einfluß und würde das Ergebnis der Untersuchung verfälschen (14).

Wir sind also hier - zumindest vorläufig - auf die psychologische Analyse angewiesen, deren Haupttätigkeit darin besteht, daß sie die komplizierteren Erscheinungen des Seelenlebens in ihre Elemente zerlegt. Nun stellen sich zwar die den Kern der Gewissenserscheinungen bildenden Gefühle dem Bewußtsein als Vorgänge von einfacher Qualität dar. Die Gewissensregungen selbst erscheinen uns nicht als etwas zusammengesetztes, sondern als einheitliche Gefühle von ausgeprägter Eigenart, die unter sich zwar mancherlei Schattierungen zeigen, unverkennbar aber doch derselben Klasse angehören. Und doch kann darüber kein Zweifel sein, daß in den Gewissensgefühlen stets mehrere andere Gefühle, oft eine große Zahl von solchen zusammengefaßt sind. Wir stehen also vor dem Phänomen einer Verschmelzung einzelner Gefühle zu einem  Totalgefühl,  in welchem die Partialgefühle so aufgehen, daß das Gesamtergebnis (15) im Wesentlichen als ein einfaches Gefühl erscheint. Schon die Vorstellung der Handlung, an welche die Gewissensgefühle sich knüpfen, schließt, wie wir gesehen haben, ein Sichhineinfühlen in die Folgen der Handlung für andere fühlende Wesen, also Regungen des Mitgefühls, der Mitfreude, des Mitleids ein. Ferner können und werden regelmäßig ganze Gruppen von Gefühlen zur Entstehung der Gewissensregung ihren Beitrag liefern, nämlich diejenigen, welche sich an die Zugehörigkeit des Menschen zu kleineren oder größeren sozialen Gemeinschaften knüpfen: Kindesliebe, Elternliebe, Vaterlandsliebe, Menschenliebe und diejenigen, welche sich auf die persönliche Stellung und Würde des Menschen innerhalb derselben beziehen: das Ehrgefühl, das Rechtsgefühl. Weiter stehen die Gewissensregungen häufig in unmittelbarer Beziehung zu dem ganzen Gefühlskomplex, der in einer großen Zahl wohl eingeübter Assoziationen sich an die Berufstätigkeit des Menschen angegliedert hat - denken wir z. B. an den Kassenbeamten, dessen "Gewissensbisse" nach einer Unterschlagung der ihm anvertrauten Gelder neben dem den Diebstahl überhaupt verwerfenden Gewissensurteil gerade durch das Bewußtsein einer Verletzung der Berufspflicht in ihrer Qualität bestimmt sind. Endlich können die sogenannten "höheren geistigen Gefühle", die intellektuellen, ästhetischen, religiösen Gefühle zu Bestandteilen der Gewissenserscheinung werden, indem die Förderung der Güter der Menschheit, aus welchen sie ihre Nahrung schöpfen, zur Gewissenssache gemacht oder die Forderungen des Gewissens durch sie unterstützt werden. Ein besonders wichtiges Beispiel hierfür ist die Verschmelzung der religiösen und der Gewissensgefühle, die in der Geschichte als regelmäßige Begleiterscheinung höherer Kultur aufgetreten ist. (16)

Noch komplizierter wird der im Gewissen sich darstellende Verschmelzungsprozeß, wenn die Gewissenserscheinung infolge der oben erwähnten Anlässe in das sekundäre Stadium der intellektuellen Vorgänge tritt. Dann sind als weitere Komponenten der Gesamterscheinung die Gefühlstöne der Wortvorstellungen von ethischer Bedeutung. Selbst die sittlichen Grundsätze oder Gebote, zu welchen im Falle eingehender Erwägung die in Betracht kommende Handlung oder Gruppe von Handlungen in Beziehung gesetzt wird, sind von abgeblaßten ethischen Gefühlen begleitet. Die Schlußentscheidung kann trotzdem unter dem Einfluß einer im Wesentlichen einheitlichen Erregung der Gewissensgefühle erfolgen, auf deren Art jedoch jene einzelnen Elemente des Gesamtvorganges eingewirkt haben. Die Grundsätze und Gebote üben ihrerseits wieder einen Einfluß auf die Gewissensgefühle, so wie etwa die Äußerungen des Sprachgefühls durch die Kenntnis der Gesetze der Sprache modifiziert werden (17).

Alle die genannten an die einzelnen Bestandteile des gesamten Gewissensvorganges sich knüpfenden Gefühle können also durch Verschmelzung in einem Gewissensgefühl aufgehen. Je nach den gegebenen Anlässen treten die einzelnen Bestandteile hervor und modifizieren durch Irradiation [Reizung der Umgebung - wp] die Qualität des Totalgefühls. Die ideale Aufgabe der Wissenschaft, der Kunst kann dem Künstler, dem Gelehrten zur Gewissenssache werden und man kann im Sinne der dadurch gegebenen Modifikation der Gewissensqualität von einem künstlerischen, einem wissenschaftlichen Gewissen reden. Im bösen Gewissen des Mörders gibt vielleicht das Angstgefühl, mit dem er zuletzt noch das Bild des Gemordeten in sich aufnahm, den Grundton an.

Der Sachverhalt ist dabei ein ähnlicher, wie beim sogenannten körperlichen "Gemeingefühl" [horwicz]. In demselben fließen die mit den inneren Zuständen des Organismus, hauptsächlich mit den vegetativen Funktionen verknüpften Gefühle zu einer einheitlichen Grundstimmung zusammen (18). Die einzelnen Organgefühle haben aber die Tendenz, von dem Punkt aus, an welchem sie ihren Sitz haben, über den ganzen übrigen Organismus auszustrahlen. Infolge dieser Irradiation prägt dann ein einzelnes Gefühl, z. B. das Hungergefühl dem Gemeingefühl seinen Charakter auf. Nicht anders verhält es sich mit dem Gewissen.

Es besteht aber noch eine weitere Analogie zwischen dem Gemeingefühl und dem Gewissen. Sie soll uns dazu dienen, an die allgemeine psychologische Theorie des Gewissens noch eine Annahme hypothetischer Art zu knüpfen, welche geeignet sein könnte, die Bedeutung des Gewissens für die Ethik überhaupt zu beleuchten.

Das Gemeingefühl als das aus der Gesamtheit der von den einzelnen Organen ausstrahlenden Gefühlen entstandene Verschmelzungsphänomen wird gewöhnlich als Maßstab des durchschnittlichen körperlichen Zustandes des Individuums, des Gesamt-Wohl- oder Übelbefindens des Individuums betrachtet. Es zeigt den Zustand des Organismus an und veranlaßt das Individuum, die zur Befriedigung der körperlichen Bedürfnisse, zur Beseitigung der Unlust, zur Herbeiführung der Lust nötigen Bewegungen vorzunehmen. Die Organgefühle werden, sobald sie stark genug sind, das Gemeingefühl erheblich zu beeinflussen, zu Motiven der Tätigkeit.

Ähnlich verhält es sich beim Gewissen (19). Die allgemeinste Formulierung des Inhalts der Gewissensäußerungen führt zu dem Satz, daß diejenigen Handlungen die Billigung des Gewissens erfahren, bei welchen die Absicht des Handelnden auf das Wohl anderer Menschen gerichtet ist, und daß dasjenige Handeln mißbilligt wird, welches auf eine Schädigung des Nächsten abzielt oder die Förderung seines Wohls absichtlich vernachlässigt. Dies kann unmittelbar geschehen, z. B. durch das Erweisen einer Wohltat, durch Hilfe in der Not, durch Schädigung an Gesundheit oder Vermögen, oder mittelbar durch eine Mehrung bzw. Minderung der Güter, welche in der menschlichen Gemeinschaft die Wohlfahrt des Einzelnen gewährleisten, z. B. des Rechts, der staatlichen Ordnung, der Kunst, der Wissenschaft, der Religion. Es ist also das menschliche Gemeinschaftsleben mit den innerhalb desselben gegebenen Beziehungen der Individuen und den innerhalb desselben erzeugten und wachsenden Gütern, auf welches sich die Äußerungen des Gewissens beziehen. Das  soziale Leben  ist der Schauplatz des vom Gewissen gebilligten oder mißbilligten Handelns. Die Empfindlichkeit oder - um den für diesen Gegenstand spezifischen Ausdruck zu gebrauchen - die "Zartheit" des Gewissens ist daher umso größer, je vollständiger die mit dem menschlichen Gemeinschaftsleben verknüpften Gefühlseindrücke sich mit den Gewissensgefühlen verschmolzen haben, je eindringlicher das Mitgefühl des Ich die Verantwortlichkeit für das Wohlergehen anderer und der Gemeinschaft, in welcher er lebt, ihm mitauferlegt. Das individuelle Lebensgefühl des Individuums erweitert sich zum höheren Gefühl für das Leben des sozialen Körpers, dessen Glied das Individuum ist. Wie die Organgefühle auf das Gemeingefühl irradiieren und bei hinreichender Intensität durch diese Änderung des Gesamtbefindens Körperbewegungen hervorrufen, so irradiieren etwa Einzelgefühle der Sympathie auf das Gewissen und appellieren durch dieses an das Wollen und Handeln. Der Anblick menschlicher Not weckt durch das erwachende Mitleid die "Stimme" des Gewissens und durch sie den Entschluß zu brüderlicher Hilfe. Man könnte deshalb das Gewissen auch das  soziale Gemeingefühl  nennen. Wie die Qualität des körperlichen Gemeingefühls durch die auf dasselbe ausstrahlenden Organgefühle bestimmt wird, so die Qualität der Gewissensgefühle durch die Einzelgefühle, welche sich an das Verhältnis zu anderen Menschen oder an die höheren Güter menschlichen Gemeinschaftslebens knüpfen. Falls es ferner richtig ist, daß die Intensität des Gemeingefühls sich nach dem Intensitätsmaximum der darin enthaltenen Einzelgefühle richtet, (20) so dürfte dies auch für das Gewissen zutreffen. Sympathie der für einen frivolen Krieg verantwortlichen Machthaber mit den Opfern desselben verstärkt in demselben Maß die Wucht der Gewissensvorwürfe. Je mächtiger das Gefühlsleben eines Menschen Religion oder Kunst oder Wissenschaft umfaßt hat, umso empfindlicher rügt das Gewissen jede Verfehlung gegen die daraus erwachsenden Pflichten, sofern die ethische Bedeutung derselben überhaupt erkannt und damit eine Verschmelzung dieser Gefühle mit den Gewissensgefühlen gegeben ist.


II. Einige für die Frage nach der Entstehung
des Gewissens wichtige Gesichtspunkte.

1. Unsere bisherige Untersuchung hat ausschließlich das Gewissen des  Individuums  berücksichtigt - mit Recht, da nur dieses uns unmittelbar gegeben ist und unsere erste Aufgabe war, den unmittelbar gegebenen Tatbestand des Gewissensvorganges zu analysieren. Darin lag zugleich die weitere Beschränkung, daß es zugleich das individuelle Gewissen  unserer Kulturepoche  ist, welches die Grundlage der Untersuchung bilden mußte. Nur von unserem eigenen Gewissen aus vermögen wir das Gewissen anderer zeitlich und räumlich von uns geschiedener Menschen zu verstehen.

Vielleicht dient es als Bestätigung unserer zuletzt gegebenen hypothetischen Deutung des Gewissens als des "sozialen Gemeingefühls", daß sie dem sozialen Geist der Gegenwart entgegenkommt, dem zweifellos auch die Ethik mehr und mehr gerecht werden muß. (21)

Sobald wir aber nach der  Entstehung  der Gewissens fragen, werden wir vom Gewissen des Individuums auf das  Gewissen der Gemeinschaft,  von der Ontogenese auf die Phylogenes gewiesen. Das Einzelgewissen ist nicht erklärbar ohne Berücksichtigung seiner Wechselbeziehung zur Gemeinschaft. Man redet deshalb auch von einem öffentlichen Gewissen im Gegensatz um individuellen Gewissen; (22) der Ausdruck ist nicht glücklich, denn er widerspricht gerade dem spezfischen Merkmal des Gewissens, das in der von einem Individuum geübten Selbstbeurteilung, in der Beziehung der Gewissensäußerung auf das individuelle Ich liegt. Besonders charakteristisch für die Eigenart des Gewissens erschien daher stets die kraftvolle Selbständigkeit, mit welcher sich dasselbe als individuelles oft im entschiedensten Widerspruch mit der "öffentlichen" Meinung durchsetzt. Reden wir daher von einem "öffentlichen" oder besser von einem  generellen Gewissen,  so kann dies nur im sekundären Sinn einer Zusammenfassung der einer Zeit, einem Volk, der menschlichen Gattung gemeinsamen Grundzüge individueller Gewissenserscheinungen geschehen.

2. Für die Frage nach der Entstehung des Gewissens ist diese Betrachtungsweise allerdings nicht zu entbehre. Unter den herkömmlichen Auffassungen stehen sich als Hauptgegensätze gegenüber der Empirismus, welcher das Gewissen ausschließlich als ein Produkt der Erfahrung ansieht, und der Nativismus (23), der es als ein angeborenes "Vermögen" oder zumindest als eine Gattungsanlage der Menschheit betrachtet. Sofort tritt hier das Verhältnis des individuellen zum generellen Gewissen als wesentlich hervor. Das Gewissen kann Produkt der Erfahrung  eines  Individuums sein oder der unzähligen Erfahrungen vieler Generationen der Menschheit - individueller und historischer Empirismus. Dem entspricht die Beziehung des Nativismus auf das Gewissen des Individuums oder der Gattung. Die Annahme einer spezifischen Gewissensanlage kann auf bestimmte Individuen einer bestimmten Zeit beschränkt werden, deren Gewissensanlage als Produkt einer geschichtlichen Entwicklung erklärt wird; oder sie kann auf die menschliche Gattung als solche ausgedehnt werden, so daß die Gewissensanlage als unveränderlicher Bestandteil der Gesamtanlage jedes menschlichen Individuums gilt - individueller und genereller Nativismus. Eine nähere Betrachtung zeigt, daß keineswegs sämtliche Formen dieser Hauptgegensätze sich gegenseitig ausschließen. Der auf das individuelle Gewissen sich beschränkende Nativismus ist mit dem historischen Empirismus, der gewöhnlich in der Form des Utilitarismus oder des Evolutionismus auftritt, keineswegs unvereinbar. Er ist z. B. in HERBERT SPENCERs Theorie von den anhand von Erfahrungen über das Nützliche allmählich sich bildenden und in Dispositionen des Nervensystems von Generation zu Generation sich vererbenden moralischen Anlagen mit dem Evolutionismus verbunden.

Es ist nicht meine Absicht, hier das geschichtliche Werden dieser Gegensätze zu schildern oder eine erschöpfende Darstellung der für die kritische Entscheidung darüber maßgebenden Gesichtspunkte zu geben. Beides habe ich an anderer Stelle zu geben versucht (24). Ich hebe nur einige Punkte heraus, die, wie mir scheint, bis jetzt nicht genügende Beachtung gefunden haben und doch für die Entscheidung der Frage wichtig sind.

3. Als Hauptgrund gegen die Möglichkeit einer Gattungsanlage des Gewissens überhaupt wird seit LOCKE regelmäßig die weitgehende  Verschiedenheit der sittlichen Anschauungen  vorgebracht. Es gibt keine praktischen Grundsätze, die allgemein anerkannt wären, folglich können sie nicht angeboren sein; sonst wären sie bei allen Menschen gleichmäßig zu finden. Neuerdings hat besonders PAUL RÉE diese Schlußfolgerung erneuert und durch eine große Zahl von Belegen aus der Völkerkunde ihr Nachdruck zu geben versucht.

Es ist aber klar, daß diese Beweisführung dann nicht mehr zutrifft, wenn sich wahrscheinlich machen läßt, daß jene Verschiedenheit auch im Falle des Vorhandenseins einer Anlage bestehen müßte, und daß andererseits da, wo die Ursachen jener Verschiedenheit der sittlichen Anschauungen mehr zurücktreten, auch die Gemeinsamkeit der Gewissensanlage sich geltend macht.

Ich glaube nicht, daß sich die erwähnte empiristische Grundposition auf dem Weg überwinden läßt, den z. B. MAX WENTSCHER (25) zeigt. Er findet den Grund der Verschiedenheit der sittlichen Anschauungen in der vielfach fundamental verschiedenen Fragestellung, mit welcher die Vertreter der einzelnen Kulturstufen und überhaupt unter verschiedenen Bedingungen ihrer historischen Entwicklung stehende Völker und Individuen an dasselbe sittliche Problem herantreten. So müsse z. B. die Beurteilung des Mordes eine ganz verschiedene werden je nach dem Wert, den eine jede Stufe der Kulturentwicklung einem Menschenleben beizulegen imstande ist. Der Mord z. B. in seiner Sanktionieren durch die Sitte der Blutrache, welche RÉE hervorhebt,  bedeute  etwas anderes als für uns in jener Kulturperiode, in welcher die Behauptung des physischen Daseins noch völlig im Vordergrund aller Interessen steht, und in welcher überdies noch niemand in ein sittliches Verhältnis zu einer Gesamtheit getreten ist, sondern ein jeder ausschließlich sein und seiner Familie Interesse wahrzunehmen hat. Ganz anders müsse naturgemäß die Beurteilung der Vernichtung eines Menschenlebens ausfallen, wo, wie bei uns, der absolute Wert der Persönlichkeit mit ihrer sittlich-religiösen Lebensaufgabe die ganze Anschauungsweise beherrscht.

Liegt aber nicht in jener verschiedenen Fragestellung selbst die Verschiedenheit der sittlichen Anschauungen? Ist der "Wert der Persönlichkeit" nicht selbst erst das Ergebnis einer bestimmten ethischen Betrachtungsweise? Was hier als Grundlage des sittlichen Urteils betrachtet wird, ist vielleicht eher als Folge einer sittlichen Gesamtanschauung anzusehen. Jene "Wertschätzung" ist erst das Ergebnis der niederen oder höheren Stufe der Gewissensentwicklung und nicht umgekehrt.

Noch weniger läßt sich ein anderer Versuch halten, einen gemäßigten Nativismus mit der tatsächlichen Verschiedenheit der Gewissensäußerungen zu vereinigen. Besonders häufig (26) sucht man der Schwierigkeit dadurch beizukommen, daß man die  Form  des Gewissens als angeboren betrachtet und die Verschiedenheiten desselben nach Völkern und Zeiten dem Gewissens inhalt  zuweist. Diese Scheidung ist aber psychologisch undurchführbar. Sie scheint noch am meisten eine Berechtigung zu haben, wenn man etwa die Anlage auf bloße Gefühlsdispositionen beschränkt und die sittlichen Anschauungen aus der jeweiligen menschlichen Gemeinschaft ableitet. Aber jene Gefühlsdispositionen haben, selbst wenn sie auf ein Minimum beschränkt werden, ihrerseits bereits inhaltliche Bedeutung. Es gibt keine "rein formalen Dispositionen". Sie reagieren auf bestimmte Reize in einer bestimmten Weise und geben eben damit den zusammenhängenden intellektuellen Vorgängen eine bestimmte Richtung. Wie keine sinnliche Geschmacksanlage denkbar ist, die nicht irgendwie das Urteil über schmeckbare Gegenstände beeinflussen würde, so läßt sich auch keine Gewissensanlage denken, die nicht als solche schon gewisse Grundzüge des Gewissensurteils vorher bestimmen würde.

Wir können also in dieser Hinsicht die Form nicht vom Inhalt des Gewissens trennen und müssen eine teilweise weitgehende Verschiedenheit der tatsächlichen in ihrer Gesamtheit aufzufassenden Gewissensäußerungen zugeben. Folgt aber daraus wirklich die Unmöglichkeit einer Gewissensanlage?

Halten wir uns einmal an die Analogie anderer ähnlicher Erscheinungen des Geisteslebens. Die Mehrzahl der Forscher wird darin übereinstimmen, daß als Grundlage der intellektuellen Funktionen des Menschen - wenn wir uns auf die geschichtlich und geographisch bekannte menschliche Gattung beschränken - selbst auf der niedersten Kulturstufe Anlagen vorausgesetzt werden müssen. Daß aber die Äußerungen der wichtigsten dieser Funktionen, des Denkens, eine große Verschiedenheit aufweisen, ist unzweifelhaft. Genau mit Hilfe desselben Verfahrens, das jener hauptsächlich von der "Ethik der Menschenfresser" ausgehende Empirismus anwendet, nämlich durch den Nachweis der Verschiedenheit der theoretischen Ergebnisse, ließe sich beweisen, daß es keine dem menschlichen Denken zugrunde liegende Gattungsanlage gibt. Auch die weitere Folgerung, welche sich gewöhnlich daran anschließt: daß es kein allgemeingültiges Sittengesetz gibt, wäre in derselben Weise für die Denkgesetze zu ziehen. Gibt es um der Verschiedenartigkeit der Gewissensäußerungen willen keine Gewissensanlage und kein allgemeingültiges Sittengesetz, so gibt es aus denselben Gründen keine intelektuelle Anlage der Gattung und keine allgemeingültige Wahrheit - ein Skeptizismus, der sich selbst aufhebt, da er in demselben Augenblick, in welchem er das Vorhandensein einer allgemeingültigen Wahrheit leugnet, eben mit dieser Leugnung den Anspruch auf die Anerkennung einer solchen erhebt.

4. Vermögen wir also in dieser Hauptwaffe des Empirismus ansich noch keinen zwingenden Grund gegen eine Gewissensanlage zu erblicken, so schließt andererseits die Behauptung einer solchen Anlage, deren allgemeine Begründung hier nicht erörtert werden soll, die Aufgabe ein,  jene Verschiedenheit der Gewissensäußerungen so zu erklären,  daß diese nativistische Ansicht damit vereinbar ist. Anhaltspunkte hierfür sind schon im Begriff der Anlage selbst gegeben. Wollen wir uns menschliche Anlagen im Sinne angeborener Fähigkeiten oder angeborener Dispositionen anschaulich vorstellen, so ist uns dies nur möglich mit Hilfe der organischen Keimanlage. Wir habe es hier allerdings mit einer geistigen Anlage, mit derjenigen des Gewissens zu tun, aber, wie wir auch das Verhältnis der geistigen zu den körperlichen Anlagen bestimmen wollen (27): gewisse mit der organischen Welt gemeinsame Grundzüge werden wir überall annehmen müssen, wo überhaupt von Anlage und Entwicklung die Rede ist. Dazu gehört zunächst, daß die Anlage nicht selbst etwas Fertiges ist, sondern sich erst auf bestimmte Reize hin und unter bestimmten Bedingungen  entwickeln  muß. Da diese Reize und diese Bedingungen niemals genau dieselben sind, so können auch die aus den Anlagen entstehenden Entwicklungsprodukte niemals genau gleich sein. Kein Organismus gleicht völlig dem andern. Gibt es also überhaupt eine Gewissensanlage, so liegt es im Wesen derselben, daß die aus derselben hervorgehenden Gewissenserscheinungen Verschiedenheiten aufweisen.

Es fragt sich nun aber, ob diese Verschiedenheiten nicht zu groß sind, als daß die Erscheinungen, an welchen sie sich finden, derselben gemeinsamen Gattungsanlage entspringen könnten. Wir werden in Bezug auf das Gewissen diese Frage so wenig bejahen müssen, wie in Bezug auf Organismen, welche vom Normaltypus abweichen. Wie die Pflanze, wo ihr Licht und Luft fehlt, oder wo fortdauernd mechanischer Druck auf sie wirkt, verkrüppeln muß, so wird dies überall zu erwarten sein, wo für die Entwicklung einer Anlage die notwendigen Bedingungen fehlen oder ungünstige Einflüsse auf dieselben einwirken. Daß ferner die in den Grundzügen sich gleich entwickelnden Erscheinungen auf verschiedenen Entwicklungsstufen ein verschiedenes Bild zeigen, liegt in der Natur der Sache. Endlich zeigen die Ergebnisse der Untersuchungen über individuelle Anlagen, denen sich die Forschung mehr als den generellen Anlagen zugewandt hat, daß Anlagen auch latent bleiben können, um unter günstigeren Bedingungen wiederaufzuleben.

Es fehlt also auch unter der Voraussetzung einer Gewissensanlage nicht an Ursachen, welche gerade von dieser Voraussetzung aus zu einer Verschiedenheit der daraus sich entwickelnden Erscheinungen führen müssen. Als die wichtigsten derselben haben sich mir ergeben:
    1. Für abnorme Erscheinungen: Latentbleiben der Anlage oder Verbildung derselben beim Fehlen notwendiger oder bei dauernder Einwirkung ungünstiger Bedingungen.

    2. Für Erscheinungen innerhalb des normalen Typus: eine Variation der Entwicklungsbedingungen.
Ob es Völker und ob es Individuen gibt, bei welchen die Gewissensanlage völlig latent bleibt, läßt sich auf der gegenwärtigen Stufe unserer Kenntnis dieser Verhältnisse kaum mit Sicherheit entscheiden. Das erstere erscheint nach den Ergebnissen der Völkerkunde nicht wahrscheinlich, da ein Minimum von Gewissensäußerungen innerhalb der uns bekannten Völkerwelt überall zu finden sein dürfte. Latentbleiben der individuellen Gewissensanlage wäre im Wesentlichen identisch mit der vielfach angenommenen  moral insanity Die hierher gehörigen Tatsachen würden jedoch ein reinliches Resultat nur dann ergeben, wenn, was die Psychiatrie eher verneint als bejaht,  moral insanity  als isolierte Anlage vorkommen würde (28), ohne daß zugleich andere Fähigkeiten des Individuums geschwächt erscheinen und deshalb die Gesamtanlage des Individuums als pathologisch zu bezeichnen wäre.

Deutlicher lassen sich die modifizierenden Einflüsse verfolgen, welche von den die Entwicklung der Gewissensanlage bedingenden Faktoren und den dieselbe begleitenden Umständen auf diese Entwicklung ausgehen. Da es stets Vorstellungen von Handlungen sind, an welche sich die Gewissensregungen knüpfen, so ist die Entfaltung der Gewissensanlage abhängig von der Stufe und Art des  sozialen Lebens,  welches den Schauplatz des menschlichen Handelns bildet. Die Schattenseiten oder die niedere Entwicklungsstufe des sozialen Lebens reflektieren sich in den Gewissenserscheinungen der betreffenden sozialen Gruppe.

Können wir dementsprechend im sozialen Leben den materialen Faktor der Gewissensentwicklung sehen, so läßt sich als formaler Hauptfaktor derselben die  Intelligenz  bezeichnen. Die einzelnen Gewissensregungen, deren Kern wir in Gefühlen von bestimmter Qualität gefunden haben, müssen, wenn eine höhere Entwicklung des Gewissens stattfinden soll, durch das Denken in Beziehung zueinander gesetzt werden. Aus der logischen Verarbeitung der Gewissensurteile, die sich auf einer gewissen Stufe der Intelligenz so wenig wie irgendwelche andere regelmäßig auftretende Erscheinungen der sondernden und verbindenden Tätigkeit des Denkens entziehen können, entstehen sittliche Grundsätze, die ihrerseits wieder reinigend und Richtung gebend auf die elementaren Gewissensregungen zurückwirken. Je höher die Intelligenz, desto mehr muß auch die Fähigkeit wachsen, die auf dem Boden einer äußerst verfeinerten Kultur sich immer verwickelter gestaltenden sozialen Beziehungen der Menschen verständnisvoll zu umfassen und an den Maßstäben des Gewissens zu messen. Indem dann diese intellektuell-ethische Durchdringung eines höher entwickelten sozialen Lebens auf die Gewissensgefühle zurückwirkt, erfahren diese selbst eine qualitative Verfeinerung, da die aus dem sozialen Komplex stammenden Einzelgefühle von den verschiedensten Seiten her mit dem "sozialen Gemeingefühl" sich verschmelzen und durch Irradiation eine große Zahl neuer Schattierungen desselben schaffen. Beide Hauptfaktoren der Gewissensentwicklung, der materiale des sozialen Lebens und der formale der Intelligenz, kommen sowohl für das individuelle wie für das generelle Gewissen in Betracht. Im Stadium der Gewissensbildung, auf der Stufe der Kindheit wird dem Individuum das soziale Leben in der einfachen Form der Familie repräsentiert und die Intelligenz durch die Schule geübt. Dem in den sozialen Körper seiner Zeit und seines Volkes als aktives Glied eingetretenen Individuum bieten sich die objektiven Mächte einerseits des Staates und der Kulturgesellschaft, andererseits der Wissenschaft als Repräsentanten jener Hauptfaktoren dar, und es wiederholt sich am Individuum im Kleinen die Geltendmachung des Einflusses, welchen sie im Großen auf die generelle Gewissensentwicklung ausgeübt haben. Für das Individuum tritt jedoch hauptsächlich ein neuer wichtiger Umstand hinzu. Es hat nicht etwa aufgrund seiner Anlage und im Zusammenwirken jener Faktoren den Inhalt des Gewissens vollkommen neu zu schaffen, sondern es findet in den sittlichen Anschauungen der Gemeinschaft, in welche es eintritt, in den Formen der Sitte, des Rechts und des Staates, in den Geboten der Religion, die ihm überliefert werden, einen solchen Inhalt bereits vor und sieht sich nur vor die Aufgabe gestellt, sich dieses Material anzueignen und in der durch seine eigene Anlage gegebenen Richtung zu verarbeiten. Doch führt gerade die Erfüllung dieser Aufgabe, wo sie ernst genommen wird, zu einer Selbständigkeit des individuellen Gewissens, bei welcher auch dem überlieferten Inhalt das individuelle Gepräge aufgedrückt wird und das generelle Gewissen nur das Material geliefert hat, aus welchem sich die individuelle sittliche Persönlichkeit gestaltet. Es ist die Aufgabe der Erziehung, diese höhere sittliche Entwicklung, die Individualisierung des generellen Gewissens vorzubereiten, indem sie dem Kind die in einer Kulturgesellschaft geltenden sittlichen Anschauungen stets so einprägt, daß dabei sein eigenes Gewissen, seine eigene sittliche Einsicht nicht durch Zwangsmittel ertötet, sondern zur Selbsttätigkeit mit angeregt wird.

Außer den genannten beiden Hauptfaktoren wären noch mancherlei Einflüsse zu erwähnen, welche von anderen Seiten des Kulturlebens und anderen begleitenden Umständen auf die Entwicklung des Gewissens ausgeübt werden. Neben den genannten objektiven Mächten der Religion, der Wissenschaft, des Staates und des Rechts, der Sitte, ist es insbesondere die Kunst, welche als Pflegerin des Idealen oder als Mittel zu niedrigen Zwecken die normale Entwicklung des Gewissens fördern oder schädigen kann. Außerdem kommen mittelbar in Betracht: die individuelle Gesamtanlage, die Rassen-, Volks- und Stammesanlage, klimatische Extreme, wirtschaftliche Verhältnisse, besonders der Fabrikbetrieb und dgl. (29)

Diese sämtlichen Faktoren und Bedingungen mögen uns also dazu dienen, die Verschiedenheiten der Gewissensäußerungen zu erklären, da die Entfaltung der Gewissensanlage teils gänzlich von ihnen abhängig ist, teils durch sie beeinflußt wird und deshalb mit ihrer Variation ebenfalls variiert.

Außerdem ist aber noch auf zwei weitere Momente hinzuweisen, welche die Verschiedenheit in den Entwicklungsergebnissen einer in den Grundzügen gleichen Anlage noch steigern müssen. Das eine liegt in der  Daseinsform der Anlage,  welche aus dem Wesen des Gewissens erschlossen werden muß, das andere  in der generellen Entwicklung der Anlage selbst. 

Die Daseinsform der Gewissensanlage selbst entzieht sich unserer Kenntnis. Zur Voraussetzung einer Anlage werden wir ja zunächst nur negativ dadurch veranlaßt, daß eine Tatsachengruppe nicht oder nicht vollständig als Erfahrungsprodukt erklärbar ist. Wir nehmen dann etwas dem organischen Keim ähnliches als  causa immanens  an, über dessen Beschaffenheit sich jedoch zumindest bei geistigen Anlagen dieser Art vorläufig nichts Genaueres aussagen läßt, als eben das, was aus dem Entwicklungsprodukt, welches zur Annahme der Anlage führte, erschlossen werden kann. Die den Kern des Gewissens bildenden Gewissensgefühle schienen uns ähnlich dem Gemeingefühl zusammengesetzter Art zu sein, obwohl die Gewissensregungen selbst als einheitliche Ergebnisse der Verschmelzung mehrerer Einzelgefühle in der Regel den Eindruck der Einfachheit machen.

Nun kommt hier eine Beobachtung in Betracht, welche auf diesem noch so dunklen Gebiet zu den wenigen wirklichen Ergebnissen von einiger Wahrscheinlichkeit gehört. Wir dürfen annehmen, daß als Anlagen im engeren Sinn nur die verhältnismäßig  elementaren  Dispositionen bezeichnet werden können. Die Untersuchungen FLECHSIGs [ig-flechsido] "ÜBer die Assoziationszentren des menschlichen Gehirns" (30) haben dieser Annahme die physiologische Grundlage gegeben. Als Anlage finden sich in der Großhirnrinde beim Fötus und Neugeborenen nur die einzelnen Sinneszentren. Erst im Laufe der weiteren Entwicklung bilden sich zwischen den einzelnen Sinnessphären allmählich Leitungsbahnen und Assoziationszentren, welche die Grundlage aller höheren Geistestätigkeit werden. Die Art dieser Geistestätigkeit ist aber zweifellos, wenn auch nicht Anlage im engeren Sinn, so doch durch die Art und das gegenseitige Verhältnis jener isolierten elementaren Anlagen mitbestimmt. Man könnte in diesem Sinne von  primären  und  sekundären  Anlagen reden. Auch die Gewissensanlage wäre eine sekundäre Anlage. Die wichtigsten Einzelgefühle, welche in das Gewissensgefühl eingehen, z. B. die Liebe der Mutter zu ihrem Kind, können als elementare angeborene Gefühlsdispositionen betrachtet werden, und die Gesamtheit dieser elementaren Anlagen stellt einen Komplex dar, der auch als bloße Summe von Dispositionen die künftige Entwicklung des Gewissens innerhalb gewisser Grenzen vorausbestimmt. Der Spielraum innerhalb dieser Grenzen aber muß - dies folgt aus dem genannten Sachverhalt - als ein sehr weiter bezeichnet werden. Die Entwicklung der elementaren Anlagen selbst variiert innerhalb gewisser Grenzen und dementsprechend erhöht sich die Zahl der Möglichkeiten ihrer Kombination und der die Gewissensentwicklung modifizierenden Einflüsse, so daß eine weitgehende Verschiedenheit das Ergebnis sein kann. Je komplizierter die geistige Leistung ist, desto mehr nimmt der Einfluß der Anlage ab.

Diese Variationsmöglichkeiten steigern sich noch, wennwir auch eine  Entwicklung der generellen Gewissensanlage  als möglich in Betracht ziehen. Wir beschränken uns dabei auf die geschichtlich uns bekannte menschliche Gattung. Es ist nicht wahrscheinlich, daß die Gewissensanlage auf einer hohen Kulturstufe dieselbe ist, wie bei einem Naturvolk. Es seien hier nur kurz die wichtigsten Gründe dafür zusammengestellt. Die intellektuelle Anlage, von deren Mitwirkung die an die Intelligenz als den einen Hauptfaktor gebundene höhere Entwicklung des Gewissens abhängig ist, erfährt mit der Entwicklung des Gehirns zweifellos eine generelle Weiterentwicklung. Der tatsächliche Fortschritt der sittlichen Erkenntnis fordert eine höhere Anlage, da das einzelne Individuum ohne dieselbe, nur mit der Anlage des Naturmenschen ausgestattet, nicht imstande wäre, sich die Ergebnisse einer jahrhundertelangen sittlichen Entwicklung und die ethische Betrachtungsweise eines höchst komplizierten sozialen Lebens innerhalb der Frist eines Menschenlebens anzueignen und selbständig zum Inhalt des eigenen Gewissens zu verarbeiten.

Da auf diese generelle Entwicklung der Gewissensanlage, wenn sie einmal als möglich angenommen wird, auch die sämtlichen für die Entwicklung des Gewissens überhaupt in Betracht kommenden Faktoren bis zu einem gewissen Grad einwirken können, liegt darin nicht bloß die Möglichkeit verschiedener Entwicklungsstufen, sondern auch vielfacher Modifikationen der Gewissensanlage.

Und doch ist eine der ganzen menschlichen Gattung gemeinsame Anlage - wenn auch sekundären Charakters - als Grundlage der Gewissenserscheinungen zu betrachten. Die tatsächlichen Verschiedenheiten und Variationsmöglichkeiten schließen dies so wenig aus, wie die Rassenverschiedenheiten und Völkertypen das Vorhandensein anatomischer und physiologischer Grundzüge der menschlichen Gattung. Und wie die höhere Entwicklung des Denkens unter den günstigen Bedingungen des Kulturlebens zu einer trotz aller Verschiedenheiten weitgehenden Gemeinsamkeit der Denkformen und Denkergebnisse geführt hat, so hat auch auf demselben Boden - zumindest für die westeuropäische Kulturgesellschaft - das Zusammenwirken der Entwicklungsfaktoren des Gewissens eine Entfaltung der Gewissensanlage zur Folge gehabt, bei welcher die Gleichartigkeit größer ist als die Verschiedenheit.
LITERATUR - Theodor Elsenhans, Theorie des Gewissens, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 121, Leipzig 1903
    Anmerkungen
    1) HOFMANN, Die Lehre vom Gewissen, 1866; GASS, Die Lehre vom Gewissen 1869; J. J. HOPPE, Das Gewissen 1875; RITSCHL, Vortrag über das Gewissen 1876; KÄHLER, Das Gewissen, Entwicklung seines Namens und seines Begriffes; WECKESSER, Zur Lehre vom Wesen des Gewissens 1886; WILHELM SCHMIDT, Das Gewissen 1889; REINHOLD SEEBERG, Gewissen und Gewissensbildung 1896; W. SCHMIDT, Ethische Fragen II, III (Neue kirchliche Zeitschrift 11, (1900), Seite 645f, 807f)
    2) L. OPPENHEIM, Das Gewissen, Basel 1898; auch ins Holländische übersetzt.
    3) MAX WENTSCHER, Zur Theorie des Gewissens, Archiv für systematische Philosophie, Bd. V, 1899, Seite 215-246.
    4) PAUL BARTH, Die Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. XXIII, 1899, Seite 99f.
    5) GERT CARRING, Das Gewissen im Lichte der Geschichte, sozialistischer und christlicher Weltanschauung, Berlin-Bern 1901. CARRING lehnt sich in der Grundanschauung (wie auch OPPENHEIM) an mein unten zu erwähnendes Werk an.
    6) Vgl. mein Werk "Wesen und Entstehung des Gewissens", Leipzig 1894 und die Abhandlungen und Beiträge zur Lehre vom Gewissen I (Theologische Studien und Kritiken I, 1899, Seite 228-267, II. 1900 Seite 426-503). Über individuelle und Gattungsanlagen (Zeitschrift für pädagogische Psychologie I, 1899, Seite 233-244, 334-343, II, 1900, Seite 41-49). Über Verallgemeinerung der Gefühle (Zeitschrift für Psychologie, Bd. 24, Seite 194-217.
    7) Vgl. hierüber mein "Wesen und Entstehung des Gewissens", Seite 167f und 197f, auf welches Buch ich für diese, wie für andere Einzelfragen insbesondere auch, was die Geschichte des Gewissensbegriffs angeht, verweisen muß.
    8) a. a. O. Seite 217f.
    9) Auch der Sprachgebrauch in Wendungen wie "Gewissensbisse", "bittere Reue", "nagende Vorwürfe des Gewissens" bestätigt diese Auffassung.
    10) Auch PAUL RÉE (Die Entstehung des Gewissens, 1885) hebt diese "lobende oder tadelnde Nebenbedeutung der Wörter", wie er es nennt hervor, sieht aber darin mit Unrecht die wichtigste Ursache für die Entstehung des Gewissens; (vgl. mein "Wesen und Entstehung etc.", Seite 218f)
    11) Über die Möglichkeit einer teleologischen Erklärung dieses Sachverhaltes vgl. meine Abhandlung "Über Verallgemeinerung der Gefühle" (Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 24, Seite 200f)
    12) Daher redet man zwar von Handlungen der Menschen in Bezug auf Tiere, aber nicht von Handlungen innerhalb der Tierwelt; es sei denn mit dem Bewußtsein der Übertragung und von wissenschaftlichen Theorien aus.
    13) Ich kann deshalb auch nicht FRIEDRICH JODL recht geben, wenn er der Grundanschauung meines Werkes über "Wesen und Entstehung des Gewissens" entgegenhält: Gefühle, welche als solche sittlich wären, seien gar kein letztes Datum der Ethik. Ein solches sei nur die Wertschätzung. Wertschätzung komme allerdings nur durch Gefühle zustande, Handlungen und Eigenschaften, welche eine Wertschätzung erfahren, nennen wir  sittliche;  aber das Gefühl, welches die reale Grundlage des Werturteils ausmacht, sei darum kein sittliches Gefühl. (Archiv für systematische Philosophie, 1895, Seite 486) Ich erwidere: Das Attribut "sittlich" bezeichnet hier nicht diese Gefühle selbst als Gegenstand der ethischen Billigung, sondern nur als Gefühle besonderer Qualität, die in das Gebiet des Sittlichen gehören. Im ersteren Fall ständen sie im kontradiktorischen Gegensatz zu "unsittlichen Gefühlen", im zweiten Fall stehen sie im konträren Gegensatz, z. B. zu den ästhetischen und religiösen Gefühlen. Obwohl, wie ich glaube, der Sprachgebrauch diese Bedeutung keineswegs ausschließt, wie z. B. im Ausdruck: "Die soziale Frage eine sittliche Frage", habe ich doch jetzt die für die Klassifikation geeignetere Bezeichnung "ethische Gefühle" gewählt. - - - Sind nun diese Gefühle wirklich die "reale Grundlage des Werturteils", so geht man vielleicht doch sicherer, wenn man zunächst diese Grundlage für sich, die in nächster Beziehung zu der prägnantesten Erscheinung des sittlichen Lebens, zum "Gewissen" steht, zum Gegenstand der Untersuchung macht. Läßt sich vollends nachweisen, daß der Wertbegriff im Verhältnis zu ihnen ein sekundäres Erzeugnis intellektueller Prozesse ist, so wird dieses Verfahren zur Notwendigkeit.
    14) Vgl. hierüber meine Schrift "Selbstbeobachtung und Experiment in der Psychologie", ihre Tragweite und ihre Grenzen, 1897, Seite 57f. Denkbar wäre nur die vom eigenen Handeln absehende sekundäre Erregung der ethischen Gefühle durch die Darbietung von Vorstellungen ethisch bedeutsamer Handlungen in der Erzählung oder im Drama, wobei der Wechsel der Gefühlsintensität in der Kurve gewisser physiologischer Erscheinungen aufgezeichnet würde. Aber die hierbei notwendige Ausschaltung anderweitiger Einflüsse auf das Gefühlsleben wäre kaum möglich.
    15) WILHELM WUNDT, Grundriß der Psychologie, dritte Auflage, 1898.
    16) Über das Verhältnis des religiös-bestimmten und des nicht religiös-bestimmten Gewissens, dessen Auffassung für das Verhältnis von Religion und Sittlichkeit überhaupt maßgebend ist, vgl. mein "Wesen und Entstehung des Gewissens", Seite 189f.
    17) PAUL BARTH, a. a. O., Seite 99f
    18) Vgl. darüber und über die Bedeutung dieses Sachverhaltes für die Gefühlslehre überhaupt und für die ethischen Gefühle insbesondere meine Abhandlung "Über Verallgemeinerung der Gefühle" (Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 24, Seite 203f)
    19) Die Zulässigkeit dieser Analogie hängt nicht von der neuerdings vielverhandelten Frage ab, ob die biologische Betrachtungsweise auf psychologische und auf soziologische Probleme zu übertragen ist, da es sich hier  beiderseits  nur um diejenige Seite der Erscheinungen handelt, welche der psychologischen Betrachtungsweise untersteht, also um Analogie zwischen psychischen Vorgängen untereinander.
    20) Vgl. meinen Aufsatz "Über Verallgemeinerung der Gefühle", a. a. O., Seite 207.
    21) Einen beachtenswerten Beitrag hierzu liefert die obengenannte Arbeit von GERT CARRING über das Gewissen, der unter treffender Darlegung der Notwendigkeit sittlicher Selbsterziehung auch für den "Sozialisten" die Bedeutung des Gewissens für den Sozialismus und die des Sozialismus für das Gewissen bespricht.
    22) So auch MAX WENTSCHER, a. a. O., Seite 224f.
    23) Der in der Geschichte des Gewissensbegriffs vielfach gebrauchte Ausdruck "Apriorismus" wird besser vermieden, teils um den durch KANTs Terminologie dem Ausdruck anhaftenden ethischen Wertmaßstab auszuschalten, teils um diese Frage nicht mit der Streitfrage über das Verhältnis des kantischen Apriori zum Angeborenen zu vermengen.
    24) Vgl. die oben zitierten Arbeiten.
    25) WENTSCHER, a. a. O., Seite 226f.
    26) Vertreter dieser Anschauung siehe mein "Wesen und Entstehen etc.", Seite 269f.
    27) Vgl. meine Abhandlung "Über individuelle und Gattungsanlagen", a. a. O.
    28) In diesem Fall wäre die der  moral insanity  entsprechende Anlage zugleich ein Beweis für den spezifischen und selbständigen Charakter der Gewissensanlage, da die isolierte Variation dieser Anlage in der Richtung des Abnormen die Möglichkeit einer isolierten und spezifischen normalen Anlage voraussetzen würde.
    29) Für die weitere Ausführung und Begründung dieser die Gewissensentwicklung betreffenden, hier nur angedeuteten Punkte muß ich auf mein "Wesen und Entstehung des Gewissens", Seite 296f, verweisen.
    30) Bericht des III. internationalen Kongreß für Psychologie, 1897, Seite 47f.