p-4p-4WitasekVom DenkenGrundzüge der Psychologie    
 
HERMANN LOTZE
Mikrokosmus
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"Wir unterscheiden in der Erinnerung die verschiedenen Gewichte zweier Gegenstände, aber die genaue Wiedervorstellung des stärkeren Druckes, den uns der eine verursacht, ist nicht auch jetzt wieder ein stärkeres Ergriffensein für uns, als das nicht minder genaue Ruhegefühl der geringeren Last. Die Vorstellung des Schmerzes ist nicht Schmerz, die der Lust nicht Lust selber; leidlos und freudlos erzeugt das Bewußtsein wie aus einer sicheren Höhe herab den Inhalt vergangener Eindrücke mit aller Mannigfaltigkeit seiner inneren Verhältnisse, selbst mit den Bildern der Gefühle, die sich an ihn knüpften, aber nie trübt es die Auflösung seiner Aufgabe dadurch, daß es an der Stelle der Bilder den Eindruck selbst wiederkehren ließe.

1. Vom Verlauf der Vorstellungen

So wie im leiblichen Leben eine Zeit unbeobachteter Wirksamkeit vorangeht, in der überraschende Neubildungen und Umgestaltungen sich drängten, während nach der Geburt kaum mehr als ein gleichförmiges stilles Fortwachsen längst festgestellter Formen übrig bleibt, so finden wir auch in unserer Seele die bleibenden Gewohnheiten ihres Wirkens schon als gegebene Tatsachen vor, sobald wir zuerst mit absichtlicher Aufmerksamkeit ihre Entwicklung zum Gegenstand unseres Nachdenkens machen. Was noch vor unseren Augen geschieht, das scheint uns nichts zu sein, als eine beständige Übung von Kräften, die längst gebildet sind, ein immer zunehmender Ansatz von Erkenntnissen, in Formen gegossen, die aus früherer, unbewußt gebliebener Arbeit des Geistes nun schon fertig ihnen entgegenkommen, eine Ausbreitung endlich unserer Gefühle und Begehrungen über den wachsenden Kreis von Beziehungspunkten, den die Erfahrung, von Tag zu Tag sich mehren, uns für sie darbietet. In allen diesen Vorgängen liegen ohne Zweifel noch sehr entscheidende Gründe, welche die eigentümliche Gestalt und den Wert der höheren menschlichen Ausbildung bedingen; aber da, wo es sich noch nicht um die Entstehung der Humanität handelt, sondern um Natur und Entwicklung der allgemeinen Seelenfähigkeiten, aus deren besonderer Anwendung sie hervorgeht, da scheint uns die innere Beobachtung wenig Aufschluß zu versprechen. Das Meiste von dem, was wir wissen möchten, liegt gleich den ersten großen Bildungsepochen unseres Erdkörpers vor aller Erfahrung und nur durch Vermutungen können wir von den verhältnismäßig doch immer einförmigen und beschränkten Vorgängen, die unser Inneres noch jetzt bewegen, auf die Ereignisse zurückschließen, durch welche die Urzeit unserer Seele für die fernere Entwicklung den festen Boden bereitet hat.

Und noch weit mehr, als die Geologie, werden wir von diesen Schwierigkeiten gedrückt; denn dunkel sind selbst die Gesetze, nach denen das noch Geschehende sich in uns ereignet und mit deren Hilfe allein wir den früheren Tatbestand erraten müßten. Unzählige Eindrücke haben schon früher von uns Besitz genommen und ihre nachwirkende Kraft übt in jedem Augenblick auf das Schicksal jedes späteren einen mitbestimmenden Einfluß, den wir kaum völlig von dem trennen können, was die stets gleichen allgemeinen Gesetze des inneren Lebens für sich allein gebieten würden. Und es ist uns nicht möglich, gleich der Naturwissenschaft im Experiment künstlich die verschiedenen Kräfte zu sondern, um den Beitrag zu bestimmen, den jede einzelne zu diesem zusammengesetzten Erfolg liefert. Denn außerstande, unser vergangenes Leben ungeschehen zu machen, können wir uns nie vom dunklen, keiner Zergliederung fähigen Druck befreien, durch des es alle spätere Geschichte des Bewußtseins mitbedingt; und nie tritt für uns eine Gelegenheit ein, jene einfachen und elementaren Wirkungen zu beobachten, aus denen der unendlich verwickelte Zustand, in dem wir uns finden, hervorgegangen sein muß. So bleibt uns kaum etwas anderes übrig, als uns zunächst an die großen und nicht leicht zu mißdeutenden Umrisse dessen zu halten, was unsere innere Erfahrung noch anbietet. Indem wir dann die allgemeinen Vermutungen, die sich aus dieser Übersicht entwickeln, versuchsweise schärfer ausprägen und die größere oder geringere Übereinstimmung ihrer Folgen mit dem Tatbestand der Beobachtung prüfen, können wir so vielleicht auf weitem Umweg zu einer bestimmteren Einsicht in die Gesetze des geistigen Lebens gelangen.

So unendlich nun dieses Leben für jeden Einzelnen verläuft, so hat doch der übereinstimmende Eindruck aller Selbstbeobachtung zeitig und allgemein die Vorstellung von einem Mechanismus hervorgebracht, dem der Lauf der inneren Ereignisse vielleicht überall und sicher in großer Ausdehnung unterworfen sei, in anderen Formen zwar und nach anderen besonderen Gesetzen, als sie der äußere Naturlauf darbietet, aber mit gleicher durchgängiger Abhängigkeit jedes einzelnen Ereignisses von seinen vorangehenden Bedingungen. So deutlich indessen dieser psychische Mechanismus sich in den Erscheinungen des Gedächtnisses und der Wiedererinnerung, in der Abhängigkeit unserer Gefühle und Strebungen von gewissen Eindrücken zeigt, durch welche sie regelmäßig hervorgerufen werden; so sicher und mit richtigem Takt wir selbst im alltäglichen Leben auf seine unbeirrte Wirksamkeit rechnen, so wenig sind wir doch imstande, die Regeln, denen er folgt, mit der Schärfe von Naturgesetzen anzugeben. Denn die Schwierigkeiten der inneren Beobachtung, deren wir schon gedachten, werden dadurch vermehrt, daß keine allgemeine, für sich selbst gewisse Lehre über die notwendigen Wechselwirkungen, in denen die Zustände jedes Wesens unter sich stehen müßten, uns hier aushelfend entgegenkommt. Die meisten der Grundzüge, die wir im Verhalten des geistigen Lebens bemerken, können wir nur als tatsächliche Einrichtungen ansehen, deren Wert für die höhere Ausbildung wir zwar häufig vollkommen begreifen, aber wir können nicht nachweisen, daß gerade diese Formen des Benehmens für jedes übersinnliche Wesen, das einer unbestimmten Vielheit äußerer Eindrücke offen steht, die notwendigen Folgen dieser seiner Natur sein müßten. Man sieht leicht, wie nachteilig diese Lage der Sachen für die Bedürfnisse der Erklärung ist. Sind wir nur auf eine Sammlung erfahrungsmäßiger Tatsachen angewiesen, so dürfen wir nicht über das hinausgehen, was die Erfahrung selbst uns sagt; vermöchten wir dieselben Tatsachen in ihrem notwendigen Hervorgehen aus der Natur der Seele zu verfolgen, so würden wir ihnen leicht einen strengeren und tieferen Ausdruck geben können, der uns den Zugang zu einer Menge jetzt versagter Folgerungen eröffnete. Diese Schwierigkeiten ist man sehr geneigt geringer zu schätzen, als sie sind; durch die Erfolge der Naturwissenschaft verwöhnt, pflegt man zu oft Sätze, die für die Erklärung physischer Vorgäne eine unbestrittene Geltung besitzen, für allgemeine und notwendige Wahrheiten anzusehen und vergißt darüber, daß alle unbefangene Beobachtung des inneren Lebens uns durchaus andere, mit den Naturerscheinungen kaum noch vergleichbare Formen des Geschehens und Wirkens darbietet. Über die Bewegungen des Stoffes besitzen wir eine Summe wissenschaftlicher genauer Gesetze, über die Äußerungen der Seele eine Anzahl empirischer Anschauungen, aber noch fehlt uns das Dritte und Höhere, dessen wir bedürften: eine allgemeine Lehre, die uns die Gesetze aufwiese, nach denen sich die Zustände der Wesen überhaupt richten und aus welcher als zwei verschiedene Anwendungen die Wissenschaft vom Naturlauf und die vom geistigen Leben hervorgehen könnten.

Zu den einfachsten Tatsachen, in denen sich der psychische Mechanismus zeigt, gehört die bekannte Wahrnehmung, daß von den unzähligen Vorstellungen, die wir äußeren Eindrücken verdanken, in jedem Augenblick nur wenige uns gegenwärtig sind; die meisten sind dem Bewußtsein verschwunden, ohne deshalb zugleich der Seele überhaupt verloren zu sein; denn ohne Erneuerung des äußeren Eindruckes kehren die vergessenen der Erinnerung wieder. Fast immer hat man diese Tatsachen so gedeutet, daß man die ewige Fortdauer jeder einmal erregten Vorstellung als das natürlicherweise zu erwartenden Verhalten ansah; nur für das Vergessenwerden suchte man eine Erklärung und glaubte sie leicht im wechselseitigen Druck zu finden, durch welchen die mannigfaltigen einander begegnenden Vorstellungen sich aus dem Bewußtsein zu verdrängen streben. Aber vergeblich würden wir versuchen, jene Unvergänglichkeit der Vorstellungen als die selbstverständliche Folge eines allgemeinen Gesetzes der Beharrung darzustellen, nach welchem jeder einmal erregt Zustand seines Wesens, sich selbst überlassen, so lange fortdauern müßte, bis eine neue dazwischen kommende Wirkung ihn änderte oder aufhöbe. Die Analogie der Naturwissenschaft, die sich dieses Gesetzes als eines der vorzüglichsten Hilfsmittel in der Lehre von den Bewegungen der Körper bedient, reicht um eines nahe liegenden Unterschieds in der Natur beider Fälle willen nicht aus, seine Anwendbarkeit auf die Vorgänge des Seelenlebens zu sichern. Denn der Körper leidet nichts von seiner Bewegung, die für ihn nur ein äußerlicher Wechsel der Orte ist, von denen keiner für ihn mehr Wert hat als der andere; diesem Wechsel zu widerstehen wird mithin seine eigene Natur weder Grund noch Fähigkeit besiten. Das Vorstellen dagegen ist als inneres Ereignis notwendig zugleich für das Wesen, in dem es geschieht, eine Störung seines ursprünglichen Zustandes; mit dem gleichen Recht nun, wie es scheint, mit welchem wir ein ewiges Beharren der einmal erregten Vorstellung erwarten, könnten wir dasselbe Gesetz auf die Natur der Seele anwenden; wir könnten in ihr ein Bestreben zur Festhaltung ihres früheren Zustandes vermuten, durch welches sie jeden ihr aufgedrängten einzelnen Eindruck nach dem Aufhören der äußeren Gewalt, die ihn erzwang, wieder zu beseitigen suchte. Ohne in das unentschiedene Für und Wider einzugehen, in welches der Streit dieser Ansichten auslaufen würde, wollen wir uns einfacher mit dem Bekenntnis begnügen, daß die Tatsachen des Bewußtseins die Annahme jener Fortdauer der Eindrücke nötig machen und der Zukunft möge der Versuch überlassen bleiben, dieses tatsächliche Verhalten als die unvermeidliche Folge des Wesens der Seele zu begreifen. Fremdartig und als eine sonderbare Einzelheit tritt es auch für uns nicht auf; beruth doch auf dieser Festhaltung der Eindrücke die Erfüllung des Berufes, der dem geistigen Leben gefallen ist: zu vereinigen, was in Raum und Zeit beziehungslos auseinanderfällt und dem Vergangenen einen mitwirkenden Einfluß auf die Gegenwart durch sein zurückgebliebenes Bild zu sichern, lange nachdem es selbst aus der Wirklichkeit des Naturlaufs ausgeschieden ist.

So wenig wir nund die Beharrung der Vorstellungen leugnen, so wenig können wir auch zögern, in dem Einfluß, welchen sie aufeinander äußern, den Grund ihrer Verdrängung aus dem Bewußtsein anzuerkennen. Aber während die Erfahrung überall zur Annahme dieses Einflusses drängt, sind wir sehr wenig imstande, einen Grund für die Notwendigkeit seines Vorkommens nachzuweisen. Es reicht nicht hin, sich auf die Wesenseinheit der Seele zu berufen, welche ihren verschiedenen Zuständen nicht gestatte, unverbunden und wirkungslos nebeneinander zu verlaufen. Denn diese Einheit ließe uns zunächst nichts anderes als das Bestreben erwarten, alle Unähnlichkeit der inneren Zustände in einen gleichförmigen Gesamtzustand zu verschmelzen. Aber wir wissen, daß eine solche Neigung weder im bewußten Vorstellungslauf vorhanden ist, denn alle Mannigfaltigkeit der Eindrücke bleibt in ihm erhalten, noch daß sie in jenen unbewußten Zuständen vorkommen kann, in welche sich die verschwindenden Vorstellungen verwandeln, denn sie kehren aus dieser Vergessenheit mit ungetrübter Schärfe der Gegensätze wieder, die sie im Bewußtsein besaßen. Völlig würden wir uns also in jener Erwartung getäuscht haben, die wir auf die Einheit der Seele gründen zu können glaubten und dieses Mißlingen macht uns darauf aufmerksam, daß überhaupt wohl die Einheit eines Wesens im Allgemeinen zu einer Wechselwirkung seiner verschiedenen Zustände drängen möge, daß aber die bestimmte Form oder der Sinn, in welchem diese Wirkung geschieht, von der besonderen Natur jedes einzelnen Wesens abhänge. Daß die Vorstellungen sich nicht zu einem Mittleren mischen, sondern nur die Beleuchtung durch das Bewußtsein einander streitig machen, davon müssen wir den Grund in dem suchen, was die Seele zur Seele macht oder in dem, wodurch sich das Bewußtsein von anderen Äußerungen ihrer Tätigkeit unterscheidet.

Über die Schwierigkeiten nun, welche die Natur des Bewußtseins darbietet, trösten wir uns im täglichen Leben mit so unvollkommenen Vorstellungen, daß wir kaum Veranlassung hätten, auf diese gewöhnlichen Auffassungen zurückzukommen, wenn uns nicht die Auffälligkeit ihrer Mängel die Rätsel verdeutlichte, welche sie ungelöst lassen. Wir betrachten wohl das Bewußtsein als einen Raum von begrenzter Weite, in welchem sich die Eindrücke ihre Plätze streitig machen; wir kümmern uns wenig dabei um den Grund, welcher der Ausdehnung dieses Raumes Schranken zieht und ebensowenig um die Ursache, welche die Eindrücke veranlaßt, in ihn einzudringen; indem wir endlich an einem Bild körperlicher Gestalten hängen, deren jede freilich durch ihre Undurchdringlichkeit der anderen den Platz entzieht, den sie selbst einnimmt, finden wir es selbstverständlich, daß in diesem begrenzten Raum des Bewußtsein auch nur eine endliche Menge der Vorstellungen nebeneinander sein könne. So haben wir lediglich unter dem Schutz eines ganz unberechtigten Bildes den Gedanken an eine Unverträglichkeit der Vorstellungen untereinander und an die Notwendigkeit eines Druckes, den sie gegenseitig ausüben, nebenher erschlichen. Oder wir sprechen vom Bewußtsein wie von einem Licht von vielleicht veränderlicher, aber doch immer nur endlicher Stärke der Helligkeit und finden es dann natürlich, daß sein Vorrat von Erleuchtungskraft sich über die vorhandene Menge der Eindrücke verteile, durch Zerstreuung auf eine größere Vielheit sich abschwächend, durch Einschränkung auf Weniges sich deutlicher sammelnd. Und bei dieser Vergleichung verläßt uns sogar das Bild, dem wir folgen wollten. Denn jedes Licht, rundeum sich verbreitend, erleuchtet das Viele nicht schwächer als das Wenige und man sieht nicht seine Strahlen von dem Punkt, wo sie nichts zu beleuchten fanden, in krummlinigen Bahnen umschwenken, um sich gesammelter auf die geringere Anzahl vorhandener Gegenstände zu werden. Nur dann werden die vielen schwächer beleuchtet, wenn sie einander deckend sich das Licht entziehen und gerade das war es, was zu erklären war, wie es geschehen könne, daß zwischen Vorstellungen Verhältnisse eintreten, in denen die eine der anderen die Möglichkeit des Gewußtwerdens entziehe. Und nur wenig würden wir gewinnen, wenn wir, diese räumlichen Gleichnisse verlassend, das Bewußtsein überhaupt als eine erschöpfbare Kraft bezeichneten, die nur einen begrentzen Aufwand von Tätigkeit machen könne. Denn immer würde der Grund dafür mangeln, daß einzelne Vorstellungen allein von ihr lebendig erfaßt, andere ganz fallen gelassen werden; wir würden nicht wissen, warum statt einer Dämmerung, die sich mit immer abnehmender Helligkeit über eine stets anwachsende Zahl der Eindrücke verbreitete, dieser Wechsel voller Beleuchtung und völligen Dunkels eintreten müßte, in welchem die Vorstellungen auftauchen und wieder verschwinden.

Doch auch für diese Frage hat unsere gewöhnliche Meinung eine Antwort, die etwas tiefer eingehend auch uns zu weiterem Eingehen nötigt. Von allen jenen Reizen, welche der Seele von außen zukommen, läßt man in ihr zunächst Eindrücke entstehen, die als solche noch nicht Empfindungen, noch nicht Vorstellungen sind, sondern als eine angehäufte Summe innerer Zustände eines Bewußtseins noch warten, das sie wahrnehmen und durch sein Wahrnehmen sie erst zu Empfindungen verklären wird. Die unermeßliche Anzahl solcher Eindrücke, von deren Eigentümlichkeit wir uns natürlich nie eine Anschauung bilden können, weil sie als das, was sie sind, stets dem Bewußtsein entzogen bleiben und aufhören zu sein, was sie waren, sobald sie von ihm ergriffen werden, erscheint uns so als eine verkleinerte und angenäherte Wiederholung der äußeren Welt, zwar in das Innere der Seele versetzt, aber dem Bewußtsein noch eben so fremd, wie alles, was noch ohne Wechselwirkung mit uns in äußerer Ferne ruht. Von diesen Eindrücken gelte das Gesetz beständiger Beharrung; einmal entstanden, vergehen sie nicht wieder; aber veränderlich sei ihr Verhalten zur wissenden Tätigkeit unseres Geistes, die wie ein wandelndes Licht bald dem einen, bald dem andern sich zuwendend, sie bald wahrnehme, bald in das bewußtlose Dasein verborgener Eindrücke zurückfallen lasse.

Es ist nicht ohne Interesse, den verschwiegenen Voraussetzungen nachzugehen, auf denen diese Auffassung beruth. Wo wir durch einen äußeren Reiz irgendein Element zu einer Veränderung bewogen sehen, deren bestimmte Gestalt dieses nur aus seiner eigenen Natur, nicht aus der des Reizes entlehnt, da werden wir das Ganze dessen, was in diesem Element geschieht, in Gedanken stets als eine Aufeinanderfolge zweier Ereignisse, eines Eindruckes und einer lebendigen Rückwirkung gegen ihn, betrachten können. Unsere Beobachtungen im Leben pflegen sich nun stets auf zusammengesetzte Gebilde zu beziehen und hier bedarf es einiges Zeitverlaufes, ehe die Erschütterung des einen Teils, den der Eindruck zunächst getroffen hat, sich über das Ganze verbreitet und durch Anregung der übrigen einen Rückschlag gegen die ursprüngliche Störung hervorruft. So gewöhnen wir uns an die Vorstellung einer Kluft zwischen dem Leiden und der Tätigkeit, die ihm antwortet. Wenden wir nun unsere Gedanken auf die einfache Natur der Seele, so erscheint dieselbe Vorstellung nicht mehr gleich zwingend. Gewiß wird jeder äußere Reiz sie nur dadurch zum Handeln bringen, daß sie von ihm leidet, denn er wäre nicht für sie vorhanden, litte sie nicht; gewiß werden auch ihre inneren Veränderungen, ihr Leiden sowohl als ihre tätige Rückwirkung sich nur in einem Zeitverlauf entwickeln; aber notwendig wenigstens ist es nicht, daß diese beiden für unsere denkende Auffassung unterscheidbaren Teile des ganzen Vorganges in verschiedenen Zeitabschnitten aufeinander folgen, oder daß zum Eindruck der äußeren Reize erst noch irgendeine andere ergänzende Bedingung hinzutreten müsse, um ihm, dem an sich unbewußten, die Aufmerksamkeit des Bewußtseins zuzuwenden. In jedem unteilbaren Augenblick vielmehr können wir beide als gleichzeitig, als so in einander verschmolzen betrachten, daß die verschiedenen Namen, die wir ihnen geben, nicht mehr zwei Vorgänge bezeichnen, sondern den einen und ungeteilten unter verschiedenen Gesichtspunkten auffassen. Denn auch das, was wir Leiden nennen, ist ja nicht eine fertig in das Leidende gebrachte Veränderung, von der es überhaupt nur einen Druck empfände, ohne sich in einer bestimmten Form und Weise bedrückt zu fühlen. Unter demselben Eindruck leiden verschiedene verschieden; so nun zu leiden und nicht anders, ist selbst schon eine Rückwirkung, in der sich die innerste Natur eines jeden lebendig gelten macht.

Wenden wir uns nun zur unmittelbaren Empfindung, welche uns ein äußerer Sinnesreiz veranlaßt, so müssen wir gestehen, daß das ganze Aussehen dieser einfachen Vorgänge wenig für jene trennende, weit mehr für diese vereinigende Auffassung spricht. Wir wissen nicht, warum die Lichtwelle, die unser Auge trifft, durch ihre Nachwirkung auf die Seele zuerst einen unsagbaren unbewußten Eindruck hervorbringen müßte, dem nun erst als eine Rückwirkng die Empfindung folgte, für die er als Blau oder Rot erschiene. Das Sehen dieser bestimmten Farbe, das Hören dieses bestimmten Tones läßt sich unstreitig unmittelbar als der eine ungeteilte Zustand fassen, in den die Seele gerät und wir nennen ihn Eindruck, wen wir an seine Verursachung durch einen äußeren Reiz denken, lebendige Rückwirkung aber, sobald wir uns erinnern, daß derselbe Reiz in anderen Naturen andere Zustände rege gemacht haben würde, die Form des hier vorhandenen mithin vom Wesen dieser Seele abhängt. Nicht anders scheinen wir diese Vorgänge aufassen zu müssen, als so, wie wir auch die Mitteilung der Bewegung zwischen unelastischen materiellen Punkten beurteilen. Wir meinen nicht, daß der gestoßene Körper zuerst nur empfangend die Geschwindigkeit und Richtung aufnehme, die ihm der Stoß zu geben strebt und daß er dann erst vermöge der Bewegung, in welcher er sich bereits befand, auf diesen Eindruck zurückwirkend, jene mittler resultierende Bahn bestimme, die er wirklich durchlaufen wird. Vom ersten Augenblick des Stoßes an kommt vielmehr nichts in ihm zur Wirklichkeit, als diese eine und ungeteilte Bewegung, in welcher der mitgeteilte Eindruck und die Wirksamkeit des ursprünglichen Zustandes ununterscheidbar verschmolzen sind. Von solchen Überlegungen geleitet, würden wir es ablehnen können, unbewußte Erregungen in der Seele der bewußten Empfindung voranzudenken; nicht nur müßig, sondern vielleicht widersinnig erschiene es, in dem Geist, der lauter Bewußtsein und Licht sei, einen dunklen Grund der Nacht zu suchen, aus dem als eine spätergeborene Erscheinung sich die Helle der Gedanken entwickle. Und in der Tat hat hieraus sich eine psychologische Ansicht gebildet, welche die bewußten Empfindungen als die Urvorgänge des Seelenlebens betrachtet und alle übrigen Ereignisse aus ihren Wechselwirkungen ableitet.

Die nötige Rücksicht auf die vergessenen Vorstellungen ändert einigermaßen diesen Stand der Sache. Gewiß dürfen wir es dem Sprachgebrauch nicht verargen, wenn er das, was einst Vorstellung war, auch dann noch so zu nennen fortfährt, wenn es längst das wesentliche Merkmal eingebüßt hat, weswegen ihm dieser Name zukam. Aber die erklärende Untersuchung muß sich doch der Ungenauigkeit dieser Ausdrucksweise erinnern; sie muß zugeben, daß die Namen der vergessenen oder unbewußten Vorstellungen etwas bezeichnen, was in keiner Weise mehr Vorstellung ist und daß diese in sich widersprechenden Benennungen nur als Erinnerungen an den Ursprung, aber nicht als Behauptungen über die gegenwärtige Natur der durch sie angedeuteten Zustände zu dulden sind. Wie sehr man dann auf fortführe, alles unbewußte Geschehen in uns nur aus der Hemmung der Vorstellungen abzuleiten, immer würde auch so diese Auffassung das Geständnis einschließen, daß es doch eben außer dem Bewußtsein noch andere Zustände der Seele gebe, in welche das Bewußte sich verwandeln könne. Müssen wir aber dies einmal zugeben, so wird es schwer sein, die Grenzen der Folgerungen zu bestimmen, die sich daraus ziehen lassen. Eine beständinge Wechselwirkung zwischen dem hellen Leben des Bewußtsein und dem dunklen Grund des Unbewußten haben wir damit einmal zugestanden, und nun gewinnt auch die andere früher erwähnte Ansicht wieder Boden, wenn sie das Vorstellen überhaupt als eine wandelbare Tätigkeit betrachtet, die zu dem aufbewahrten Reichtum unbewußter Eindrücke bald hinzutritt, bald sich von ihnen abwendet.

Im Gegensatz dieser beiden Meinungen liegt wohl einer der hauptsächlichsten von jenen Gründen, welche die psychologischen Ansichten auch der Gegenwart nach verschiedenen Wegen auseinander gehen lassen. Für beide muß es die wesentlichste Aufgabe sein, Erklärungen der bestimmten Reihenfolge und der Ordnung überhaupt zu finden, die sich im Wechsel unserer zeigt. Die eine wird sich die Frage so stellen, daß sie nach den Regeln des Mechanismus sucht, durch welchen die bewußten Zustände einander verdrängen; die andere wird nach den Gründen forschen müssen, durch welche die einzelnen unbewußten Eindrücke die Aufmerksamkeit des Vorstellens auf sich ziehen und von anderen ablenken. Beide werden in ihren Ergebnissen mehrfach zusammentreffen, wie sie denn beide von der Betrachtung eines und desselben Tatbestandes sich müssen leiten lassen; dennoch bleibt die Verschiedenheit in der Art ihres Vorgehens beträchtlich genug, um noch einige Augenblicke unsere Erwartung zu spannen.

In der größeren oder geringeren Stärke der Vorstellungen wird natürlich die erste Ansicht den Grund für das Maß des drängenden Einflusses finden, welchen sie aufeinander üben. Doch sind die Vorstellungen nicht ursprünglich mit abstoßenden Kräften begabt; eine Notwendigkeit ihrer Wechselwirkung überhaupt tritt erst dadurch ein, daß die Einheit der Seele sie zu verbinden strebt, ihre Gegensätze untereinander aber dieser Vereinigung widerstehen. Deshalb wird die Weite des Gegensatzes, der zwei Vorstellungen trennt, im Allgemeinen die Lebhaftigkeit ihrer Wirkung aufeinander, ihre Stärke dagegen das Maß des Leidens bestimmen, welches in dieser Wechselwirkung jede einzelne der andern zufügt oder von ihr erfährt. Daß nun dieser Kampf, obwohl angerecht durch die Gegensätze der Vorstellungen, doch nicht mit einer Ausgleichung derselben endet, sondern daß nur die Stärke der streitenden Vorstellungen ohne Änderung ihres entgegengesetzten Inhalts vermindert wird, diesen Umstand wird die erwähnte Ansicht am besten tun, für eine ebenso unerwartete als unerklärliche Tatsache auszugeben, zu deren Annahme die Beobachtung zwingt. Erst nach dem Zugeständnis dieses Punktes beginnt die Möglichkeit, die verwickelteren Erscheinungen auf ihn zurückführen; die innere Notwendigkeit seines eigenen Vorkommens entgeht uns völlig und wir gewinnen nichts durch das Bemühen, diese Lücke durch täuschende Reden zu füllen.

Aber auch jene Begriffe der Stärke und des Gegensatzes, an die wir in der Berechnung physischer Ereignisse gewöhnt sind, bieten bei ihrem beabsichtigten Gebrauch zur Erklärung des Vorstellungslaufes mehrfache Schwierigkeit. Den Empfindungen, d. h. jenen Vorstellungen, welche durch die gegenwärtige Einwirkung eines äußeren Reizes in uns erregt werden, kommt ohne Zweifel eine gradweis verschiedene Stärke zu, denn keine von ihnen ist eine reine und gleichgültige Darstellung ihres Inhalts; jede wird vielmehr zugleich als eine größere oder geringere Erschütterung, als ein mehr oder minder eingreifender Zustand unseres eigenen Wesens von uns gefühlt. Nicht nur ansich ist das blendende Licht ein Stärkeres, als der sanfte Schimmer, sondern auch uns begegnet mehr, wenn wir jenes, als wenn wir diesen sehen; nicht bloßan sich ist der lautere Klang ein größerer Stoff für unsere Wahrnehmung, sondern auch seine Wahrnehmung ist ein stärkerer Eindruck in uns, als die des leiseren Tones. Und nicht nur die Empfindungen desselben Sinnes sind in dieser Weise vergleichbar; auf die Erregungen des einen können als größere oder geringere Erschütterungen unseres Innern mit denen eines andern zusammengestellt werden. Denken wir uns deshalb eine Seele, deren Bewußtsein noch von keiner Erinnerung früherer Erfahrungen beherrscht wird, einer Mannigfaltigkeit äußerer Reize zum ersten Mal ausgesetzt, so werden wir es wahrscheinlich finden, daß die Empfindung des stärkeren Inhaltes die des schwächeren verdrängen wird. In der ausgebildeten und durch Erfahrung erzogenen Seele finden wir die Ereignisse nicht mehr so einfach; wir wissen, daß ein leises Geräusch unsere Aufmerksamkeit von lautem Lärmen abziehen kann und daß überhaupt die Macht, welche die Vorstellungen über die Richtung unseres Gedankenlaufs ausüben, nicht mehr im Verhältnis zur Stärke des sinnlichen Inhaltes steht, den sie wahrnehmen. Im Fortschritt des Lebens hat sich vielmehr an die Eindrücke ein überwiegendes Interesse geknüpft, das nur noch an den Wert gebunden ist, welchen sie als vorbedeutend, begleitende oder nachbildende Zeichen anderer Ereignisse besitzen. So bestimmt für die Zukunft die Erfahrung, die für jeden eine andere ist, auch für jeden die Werte der einzelnen Vorstellungen anders und bestimmt sie selbst für den Einzelnen nicht unveränderlich. Nur die beharrliche Natur des Geistes und die nicht minder beständigen Grundzüge der körperlichen Organisation sorgen dafür, daß diese Verschiedenheit nicht ins Ungemessene geht, indem die überwältigende Kraft, mit welcher einzelne sinnliche und intellektuelle Eindrücke in alle gleichmäßig eingreifen, überall die Wertbestimmungen des Vorgestellten auf ein gewisses Maß der Vergleichbarkeit und Berechenbarkeit zurückbringt.

So scheint es, als wenn wir dreifach unterscheiden müßten, zuerst das Mehr oder Minder des vorgestellten Inhaltes, dann die Stärke der Erregung, die er uns zufügt, endlich die Macht, welche sein Eindruck über unseren Vorstellungslauf ausübt; und nur in der Empfindung der noch erfahrungslosen Seele würden diese verschiedenen Bestimmungen vollständig zusammenfallen. Aber in unserer Erinnerung verschwindet das zweite dieser Glieder. Indem sie den Inhalt früherer Empfindungen getreu nach Art und Stärke wiederholt, wiederholt sie nicht gleichzeitig die Erschütterung, die wir von ihnen erfuhren, oder wo sie dies zu tun scheint, fügt sie doch in Wahrheit vielmehr das bloße Bild des früheren Ergriffenseins als eine zweite Vorstellung zu der wiedererzeugten Anschauung des früheren Inhaltes hinzu. Das Rollen des Donners ist in unserer Erinnerung verschwindet das zweite dieser Glieder. Indem sie den Inhalt früherer Empfindungen getreu nach Art und Stärke wiederholt, wiederholt sie nicht gleichzeitig die Erschütterung, die wir von ihnen erfuhren, oder wo sie dies zu tun scheint, fügt sie doch in Wahrheit vielmehr das bloße Bild des früheren Ergriffenseins als eine zweite Vorstellung zur wiedererzeugten Anschauung des früheren Inhaltes hinzu. Das Rollen des Donners ist in unserer Erinnerung, so deutlich sie auch seine Eigentümlichkeit und seine Stärke wiedergibt, doch keine gewaltigere Erregung als die gleich deutliche Vorstellung des leisesten Tones; wir gedenken vielleicht wohl der stärkeren Erschütterung mit, die der heftigere Klang uns zufügte, aber auch diese Vorstellung der lebhafteren Erregung ist nicht jetzt wieder eine größer Bewegung in uns, als die gleich deutliche des geringeren Ergriffenseins. Wir unterscheiden in der Erinnerung die verschiedenen Gewichte zweier Gegenstände, aber die genaue Wiedervorstellung des stärkeren Druckes, den uns der eine verursacht, ist nicht auch jetzt wieder ein stärkeres Ergriffensein für uns, als das nicht minder genaue Ruhegefühl der geringeren Last. Die Vorstellung des Schmerzes ist nicht Schmerz, die der Lust nicht Lust selber; leidlos und freudlos erzeugt das Bewußtsein wie aus einer sicheren Höhe herab den Inhalt vergangener Eindrücke mit aller Mannigfaltigkeit seiner inneren Verhältnisse, selbst mit den Bildern der Gefühle, die sich an ihn knüpften, aber nie trübt es die Auflösung seiner Aufgabe dadurch, daß es an der Stelle der Bilder den Eindruck selbst wiederkehren ließe. Ausdrücklich als abwesend stellt es das Vorgestellte vor und ohne vom Größeren mehr als vom kleineren ergriffen zu werden, wiederholt es mit gleicher Leichtigkeit beide, gleich zwei Schatten, von denen keiner schwerer ist als der andere, wie verschieden auch die Gewichte der Körper sein mögen, denen sie entsprechen.

So würde mithin der Gedankenlauf der Erinnerung zwar großen und kleinen, starken und schwachen Inhalt dem Bewußtsein wiederbringen, aber die vorstellende Tätigkeit, die er dazu verwendet, würde gradlos überall dieselbe sein. Und doch würde nur von Unterschieden dieser letzteren die Wechselwirkung der Vorstellungen, da sich ihre Inhalte nicht mischen, abhängig sein können, denn nur in der unmittelbaren Empfindung würde die Größe des Vorgestellten, da sie zusammenfällt mit der Stärke der Erregung, den Sieg des einen Eindrucks über den anderen entscheiden. Wenn wir deshalb von einer Stärke der Vorstellungen so sprechen, daß wir von ihr das Schicksal der Vorstellungen im Streit gegeneinander bestimmt denken, so kann es nur noch in jener dritten Bedeutung geschehen, in welcher sie die Macht ist, welche jede einzelne Vorstellung auf die Richtung des Gedankenlaufes ausübt. Aber diese Macht ist nicht mehr eine vorher klare Eigenschaft, durch welche wir den ferneren Erfolg erläutern könnten, sondern sie ist die Fähigkeit selbst, deren Gründe wir suchen. Von einer Stärke in diesem Sinne die Leistungen der Vorstellungen herzuleiten, würde nicht mehr Aufklärung gewähren, als die Behauptung, daß im Kampf derjenige zu siegen pflege, der aus unbekannt bleibenden Gründen die Oberhand erhalte. Aber ehe wir diese noch unbekannten Gründe anderswo suchen, müssen wir noch einige Verhältnisse erwähnen, die dem Gedanken einer veränderlichen oder verschiedenen Stärke der Vorstellungen doch einige Unterstützung zu gewähren scheinen.

Man ist völlig an die Meinung gewöhnt, daß jeder Inhalt, ohne daß er selbst verändert würde, in unzählig verschiedenen Graden der Klarheit oder Stärke gedacht werden könne und eben, indem sie abwärts die Stufenreihe dieser Grade durchlaufen, sollen die Vorstellungen sich allmählich und stetig verdunkelnd aus dem Bewußtsein verschwinden. Aber das ist die Beschreibung eines Ereignisses, das niemand beobachtet haben kann, da die beobachtende Aufmerksamkeit eben die Möglichkeit seines Eintretens aufheben würde. Erst später, wenn wir inne werden, daß eine Vorstellung eine Zeit hindurch in unserem Bewußtsein gefehlt hat, beantworten wir uns die Frage nach der Art ihres Verschwindens durch diese Vermutung eines allmählichen Erlöschens, für deren Richtigkeit die wirkliche Beobachtung, so weit sie sich der Sache nähern kann, durchaus kein Zeugnis ablegt. Erinnern wir uns des inneren Zustandes, in dem wir uns befanden, wenn eine stark angeregte Vorstellung längere Zeit in uns lebendig war und nach und nach zu verschwinden schien, so werden wir stets finden, daß sie nicht stetig verdunkelt wurde, sondern mit vielen und scharfen Unterbrechungen bald im Bewußtsein war, bald nicht. Jeder neue Eindruck, dessen Inhalt in irgendeiner Beziehung zu jener Vorstellung stand, führte sie augenblicklich wieder in die Erinnerung zurück, durch jeden fremden, in seiner Neuheit auffallenden ward sie augenblicklich wieder verdrängt; so glich sei einem schimmernden Körper, der durch wechselnde Wellen bald plötzlich verschlungen, bald ebenso geschwind gehoben, im einen Augenblick ganz sichtbar ist und im andern gänzlich unsichtbar. Was wir hier als allmähliche Verdunkelung deuten, sind zum Teil die wachsenden Pausen, welche die Wiedererscheinungen der Vorstellungen unterbrechen, teils eine andere Eigentümlichkeit, deren wir später gedenken werden.

Teilen wir nun die vielgestaltige Menge der Vorstellungen in die einfachen Eindrücke der sinnlichen Empfindung und in die zusammengesetzten Bilder, die aus diesen durch mannigfahe Verknüpfung entstehen, so würden wir nicht angeben können, worin für die ersteren die Verschiedenheit ihrer Stärke bestehen sollte, wenn wir nicht den vorgestellten Inhalt unvermerkt verändern. Denselben Ton von derselben Höhe und Stärke, von gleichem Klang des Instrumentes können wir nicht mehr oder weniger deutlich vorstellen; wir haben entweder seine Vorstellung oder wir haben sie nicht oder endlich wir fehlen gegen unsere eigene Voraussetzung, indem wir die Vorstellung eines stärkeren oder schwächeren, also eines anderen Tones an die Stelle einer stärkeren oder schwächeren Vorstellung desselben Tones setzen. Und ebenso dieselbe Schattierung derselben Farbe können wir nicht in derselben Helligkeit ihrer Beleuchtung nun noch mehr oder minder deutlich vorstellen; wohl aber, wenn sie uns durch einen Namen oder eine Beschreibung angedeutet war, können wir im Versuch, uns ihrer zu erinnern, ungewiß schwanken zwischen mehreren verwandten Farbenbildern, die sich anbieten und von denen wir nicht wissen, welches das verlangte ist. Dann deuten wir fälschlich unseren inneren Zustand so, als hätten wir die Vorstellung wirklich, nur in geringer Klarheit, während wir sie in der Tat nicht haben, sondern sie heraussuchen aus einer Menge, mit deren Anzahl unsere Ungewißheit, also die scheinbare Unklarheit der Vorstellung wächst. Noch weniger gehen unsere zusammengesetzten Anschauungen durch eine stetige Verdunklung zugrunde, durch welche ihr ganzes Bild allmählich schwächer beleuchtet verblaßte; sondern sie werden unklar, indem sie wie verwesend sich auflösen. Von einem gesehenen Gegenstand fallen in unserer Erinnerung einzelne minder beachtete Teile aus und die bestimmte Verbindungsweies, in der sie mit anderen zusammengehörten, wird völlig vergessen; beim Versuch, im Gedächtnis das Bild nachzuzeichnen, irren wir ratlos zwischen den mancherlei Möglichkeiten, die entstandenen Lücken auszufüllen oder die Einzelheiten zu verknüpfen, die uns noch in voller Klarheit vorschweben. So entsteht auch hier eine scheinbare Unklarheit der Vorstellung, die in geradem Verhältnis mit der Weite des Spielraums wächst, der unserer ergänzenden Phantasie gelassen ist. Vollkommen klar ist dagegen jede Vorstellung, deren Teile vollständig und zugleich mit zweifelloser Bestimmtheit ihrer gegenseitigen Beziehungen gedacht werden und diese Klarheit ist ansich weder einer Steigerung noch einer Minderung fähig. Dennoch scheint es uns häufig so, als ob selbst ein längst vollständig vorgestellter Inhalt noch an Stärke seines Vorgestelltwerdens zunehmen könne; in der Tat aber wird er in solchen Fällen um einen neuen Gehalt vermehrt. So wie er unklar wird durch entstehende Lücken, die seinen Bestand verkleinern, so scheint er an Klarheit noch zuzunehmen, sobald über seinen eigenen Bestand hinaus noch die mannigfachen Beziehungen ins Bewußtsein treten, die ihn nach allen Seiten hin mit einem anderen Inhalt verknüpfen. Es ist nicht möglich, den Kreis oder das Dreieck mehr oder weniger vorzustellen; man hat entweder ihr richtiges Bild oder hat es nicht; aber gleichwohl scheint die Anschauung beider an Klarheit zu wachsen, wenn unsere geometrische Bildung die zahlreichen wichtigen Beziehungen, durch die beide Figuren sich auszeichnen, sogleich mit erinnert. Dies ist eine Klarheit in dem Sinne, in welchem wir sie als gradweis verschieden zugaben; eine Macht nämlich, die der Vorstellung nicht aus einer eigenen Stärke, sondern aus ihren Konnexionen erwächst. Unklarer scheint uns deshalb in unserem Bewußtsein eine früher lebhafte Vorstellung dann zu werden, wenn sie aus irgendeiner Ursache allmählich abläßt, all die anderen in die Erinnerung mitzubringen, die sich im ersten Augenblick ihrer größten Lebhaftigkeit an sie knüpften oder auf deren Mitgegenwart eben diese Lebhaftigkeit selbst beruhte. So verklingt, wie wir oben erwähnten, eine angerechte Vorstellung in uns, indem sie bald auftauchend, bald verschwindend, bei jeder späteren Rückkehr einen kleineren Teil der Nebengedanken mit sich führt, von denen sie anfangs begleitet war. Deshalb scheint uns auch nachher, wenn wir auf einen vergangenen Vorstellungslauf zurückblicken, ein einzelner Eindruck nur mit geringer Klarheit oder nur in niedriger Höhe durch das Bewußtsein gezogen zu sein, wenn er in der Tat zwar mit derselben gradlosen Deutlichkeit, wie jeder andere, auftrat, aber zu wenige Nebenvorstellungen anregte, durch die er längere Zeit sich hätte halten und auf die Richtung unserer Gedanken Einfluß üben können.

So kommen wir endlich zu der Behauptung zurück, daß die Macht, mit welcher die mannigfaltigen Vorstellungen einander bekämpfen, nicht abhängig ist von einem bestimmten Grad der Stärke, den jede einzelne entweder ursprünglich gehabt hätte oder bald größer bald kleiner in jedem Augenblick aus irgendwelchen Gründen erlangte. Was wir als die Stärke der Vorstellungen bisher kennen lernten, besteht nicht in einer gradweise bestimmbaren Intensität des Wissens um sie, sondern in einer extensiv meßbaren Vollständigkeit ihres notwendigen Inhaltes und im veränderlichen Reichtum überzähliger Elemente, welche sich an den Inhaltsbestand jeder einzelnen anknüpfen. Doch findet vielleicht eine genauere Nachforschung noch etwas, was wir bisher in den Tatsachen übersehen haben; aber ehe wir uns dazu wenden, bedarf das andere Element, auf das man sich in der Betrachtung des Vorstellungslaufes zu stützen pflegt, der Gegensatz der einzelnen Eindrücke untereinander, eine kurze Berücksichtigung.

In der Empfindung, solange wir also gegenwärtige äußere Eindrücke wahrnehmen, sehen wir unser Bewußtsein der größten Mannigfaltigkeit zugänglich. Unzählige Farbenpunkte unterscheidet unser Auge mit einem einzigen Blick und wo diese verschiedenen Eindrücke einander zu trüben scheinen, haben wir Grund, diesen Erfolg nicht von einer Wechselwirkng der schon gebildeten Farbenvorstellungen, sondern von Störungen abzuleiten, welche die körperlichen Erregungen in den Elementen des Sinnesorgans durcheinander erfahren, noch ehe ihre letzte Endwirkung für die Seele zur Veranlassung der Empfindung wird. Am wenigsten dürften wir annehmen, daß in irgendeinem früheren Alter die Farbenpunkte für das Auge, die Töne für das Ohr nur ein unterschiedsloses Gemisch darböten, aus welchem erst die wachsende Aufmerksamkeit die einzelnen Elemente schiede. Denn weder einen Beweggrund würde diese, noch eine Regel des Scheidens haben, wenn nicht der Eindruck verschiedenartige Bestandteile schon erkennbar darböte, zwischen denen sie die Teilstriche wohl vertiefen und zuschärfen, aber da nicht ziehen kann, wo sie durch keine Andeutung vorgezeichnet sind. Ohne Zweifel ist daher das Bewußtsein weder zu eng für eine Vielheit von Empfindungen, noch ist in ihm irgendeine Neigung, die einmal gebildeten verschiedenartigen Vorstellungen zu irgendeinem Mittleren zu verschmelzen. Diese mehrfach erwähnte Eigentümlichkeit nun macht uns zwar mißtrauisch gegen die Annahme, daß der Gegensatz der Vorstellungsinhalte gleichwohl maßgebend sein solle für die Lebhaftigkeit, mit welcher sie sich aus dem Bewußtsein zu verdrängen suchen; aber sie macht doch diesen Einfluß nicht so unmöglich, daß wir nicht zuvor die Entscheidung der Erfahrung einholen müßten. Sehr deutlich sind nun unsere Selbstbeobachtungen in diesem Punkt überhaupt nicht; dennoch scheinen sie jene Annahme in keiner Weise zu bestätigen. Es hat immer große Schwierigkeiten, zwei Vorstellungen unverbunden nebeneinander zu fassen; so weit es indessen gelingt, finden wir die gleichzeitige Vorstellung von Weiß und Schwarz nicht schwerer als die von Rot und Orange, den Versuch, Süß und Sauer zugleich zu denken, nicht mißlicher, als den, zwei ähnliche Süßigkeiten zu vereinigen. Es scheint uns im Gegenteil, als wenn die äußersten Gegensätze, die wir im Inhalt der Vorstellungen erreichen zu können, mit größerer Leichtigkeit nebeneinander gedacht würden, als Verschiedenheiten, deren Weite ein bestimmtes Maß hat. Die Vorstellungen des Lichts und der Finsternis, des Großen und des Kleinen, des Positiven und des Negativen und unzählige ähnliche finden wir so im Bewußtsein verbunden, daß das eine Glied nicht ohne das andere gedacht wird und wenn es uns unmöglich ist, diese entgegengesetzten als gleichzeitige Merkmale eines und desselben zu fassen, so hat es dagegen keine Schwierigkeit, sie auf Verschiedenes zu verteilen und dies reicht hier völlig hin, wo es sich nicht um die Verträglichkeit der Eigenschaften an den Dingen, sondern um die Vereinbarkeit ihrer Vorstellungen in unserem Bewußtsein handelt. Störten in der Tat die Vorstellungen einander nach Maßgabe der Gegensätze in ihrem Inhalt so, daß die unähnlicheren sich mehr von ihrer Klarheit raubten, als die ähnlicheren, so würde daraus die sonderbare Folge entspringen, daß nun auch unsere vergleichende Beobachtung die kleinen Unterschiede klarer fassen müßte als die großen. Aber alle Ausbildung unserer Gedanken beruth vielmehr darauf, daß das Bewußtsein vollkommen unbefangen durch den Inhalt bleibt, und daß es, um die Verhältnisse zwischen dem gegebenen Mannigfaltigen unparteiisch aufzufassen, eben durch die Verhältnisse in seinen Verrichtungen nicht gehemmt oder gefördert wird. Zugeben dürfen wir wohl, daß durch die verschiedenen Beziehungen zwischen den Vorstellungsinhalten Gefühle in uns erregt werden, welche das Maß der Aufmerksamkeit bestimmen, die wir dem einen von ihnen mehr als dem anderen zuwenden; allein abgesehen von diesen Wirkungen, die einem anderen Zweck des geistigen Lebens dienen, glauben wir die Behauptung aussprechen zu dürfen, daß für die gegenseitige Verdunkelung oder Verdrängung der Vorstellungen durch einander der Gegensatzgrad iher Inhalte ohne Bedeutung ist. Man kann an diesem Ergebnis Anstoß nehmen, weil man es in Widerstreit glaubt mit dem allgemein notwendigen Satz, nach welchem entgegengesetzte Zustände eines und desselben Wesens einander aufheben müssen. Aber wie es sich auch um die Gültigkeit dieses Satzes verhalten möge, jene Erfahrungen lehren uns eben, daß die Tätigkeiten, durch welche wir entgegengesetzte Inhalte vorstellen, entweder nicht entgegengesetzt sind oder nich in einem solchen Sinne, in welchem ihr vielleicht vorhandener Gegensatz zum Grund einer Gegenwirkung werden müßte. Auch hier lernen wir nur, wie durchaus anders sich das Geschehen im Geist verhält, als die Ereignisse in der Natur und wie sehr uns die voreilige Anwendung von Erkenntnissen irre führen muß, die in der Naturwissenschaft unbestritten gelten, weil man die Punkte genau kennt, auf die sie anzuwenden sind, während auf dem Gebiet des geistigen Lebens ihre vielleicht auch hier allgemeine Gültigkeit vorläufig nutzlos für uns wird, da wir nicht die Urvorgänge, auf die sie sich beziehen müßten, sondern vielfach vermittelte Folgen derselben vor uns haben.

Keine unserer Fragen ist bisher beantwortet. Für die Notwendigkeit, daß überhaupt das Bewußtsein nur eine begrenzte Menge der Vorstellungen fasse, haben wir keinen zwingenden Grund gefunden. Und setzten wir sie als eine Tatsache voraus, so schien weder im Begriff einer verschiedenen Stärke der Vorstellungen, noch in einem ihrer Inhaltsgegensätze ein Erklärungsmittel für die Größe der Macht gegeben, mit welcher jede derselben sich geltend macht und zu ihrem Teil die Richtung des Gedankenlaufs bedingt. Noch einmal müssen wir versuchen, in dem jetzt verkleinerten Kreis möglicher Annahmen eine taugliche zu finden.

Jene Enge des Bewußtseins nun, die den ersten Gegenstand unserer Fragen ausmachte, findet im Grunde nicht statt für die wirkliche Empfindung äußerer Eindrücke. Alle unsere Sinne können zugleich tätig sein und eine unermeßliche Mannigfaltigkeit einzelner Reize aufnehmen, deren jeder, so lange nicht körperliche Zwischenwirkungen seine Fortleitung zur Seele hemmen, durch eine bewußte Vorstellung wahrgenommen wird. Man mag immerhin behaupten, daß von so vielen Eindrücken doch die meisten nur dunkel und unklar aufgefaßt werden: die Möglichkeit, sich ihrer und selbst ihrer Unklarheit später zu erinnern, beweist uns doch, daß sie wirklich im Bewußtsein gewesen sind, nur daß wie weder durch eine überwiegende sinnliche Erregung noch durch einen größeren Wert ihrer Bedeutung die anderen verdrängen und sich als richtungsbestimmende Mächte im Gedankenlauf hervortun konnten. Es scheint völlig anders, wenn wir, ohne von gegenwärtigen Sinnesreizen genötigt zu sein, in der Erinnerung das abwesende oder vergangene Mannigfaltige zu wiederholen suchen. Fast nur nacheinander kehren hier die Teile des Gesehenen und Gehörten zurück, die in der wirklichen Empfindung gleichzeitig erschienen; und die Gedanken, welche weniger unmittelbar ein Nachbild sinnlicher Eindrücke sind, bilden in unserem Inneren stets einen schmalen und dünnen Strom, der wohl häufig und in scharfen Sprüngen sich von einer Vorstellung zur anderen wendet und in kurzen Abwechslungen Vielfaches durchläuft, aber fast ganz die Fähigkeit verloren zu haben scheint, gleich dem Blick des Auges eine unzählbare Vielheit zugleich zu umfassen. So ist es, als weite nur der Zwang, den die andringenden Reize der Außenwelt uns antun, das Bewußtsein aus, während es in der Erinnerung sich selbst überlassen sich zu einer Enge zusammenzieht, die kaum Mehreres nebeneinander, sondern nur Mannigfaches nacheinander faßt. Dennoch würden wir zuviel behaupten, wenn wir dieses Letztere in voller Strenge aussprechen wollten. Denn obgleich es sehr schwierig sein würde, durch unmittelbare Beobachtung zu entscheiden, ob mehrere Vorstellungen zugleich im Bewußtsein vorkommen können und ob uns nicht vielmehr überall nur die Raschheit der Abwechslung mit diesem Schein täuscht, so nötigt uns doch die Tatsache, daß wir überhaupt Vergleiche anstellen können, zu der Annahme einer möglichen Gleichgültigkeit. Denn wer vergleicht, geht nicht bloß vom Vorstellen des einen der verglichenen Glieder zum Vorstellen des anderen über. Um den Vergleich zu vollziehen, muß er notwendig in einem unteilbaren Bewußtsein beide und zugleich die Form seines Übergangs zwischen beiden umfassen. Wenn wir eine Vergleichung mitteilen wollen, sind wir durch die Natur der Sprache genötigt, die Namen beider verglichener Glieder und die Bezeichung der Beziehung zwischen ihnen zeitlich aufeinander folgen zu lassen, und das verursacht uns wohl die Täuschung, als fände in der Vorstellung, die wir mitteilen wollen, das gleiche Nacheinander statt; aber zugleich rechnen wir doch darauf, daß im Bewußtsein des Andern unsere Aussage nicht drei getrennt Vorstellungen, sondern die eine Vorstellung einer Beziehung zwischen zwei andern veranlassen wird. Obgleich wir endlich, gewöhnt an den Gebrauch der Sprache, auch unseren verschwiegenen Gedankengang in die Form einer innerlichen Rede bringen, so ist doch offenbar auch hier die Reihenfolge, in welcher sich zeitlich die Worte für unsere Vorstellungen verknüpfen, nur eine Nachzeichnung der Beziehungen, die wir zwischen ihren Inhalten früher vorstellten und diese Gewohnheit des innerlichen Sprechens verzögert eigentlich den Gedankenlauf, indem sie das ursprünglich Gleichzeitige in eine Reihe auflöst.

Bürgen uns nun diese Taten des beziehenden Wissens für die Gleichzeitigkeit einer Mehrheit von Vorstellungen, so scheinen sie zugleich die Bedingungen des Stattfindens derselben zu lehren. Nur für das unverbundene Viele hat das Bewußtsein keinen Raum; es ist nicht zu eng für eine Mannigfaltigkeit, deren Glieder wir durch Beziehungen geteilt, geordnet und verbunden denken. Zwei Eindrück zugleich, aber ohne irgendein gegenseitiges Verhältnis vorzustellen, gelingt und nicht. Das Bewußtsein bedarf einer Anschauung des Weges, den es selbst von einem zum andern zurückzulegen hätte; mit dieser umspannt es die größere Vielheit leichter als die kleinere ohne sie. Seine Fassungskraft ist deshalb steigender Ausbildung fähig. Zusammengesetzte sinnliche Bilder wiederholt die Erinnerung, je geübter wir waren, uns schon in der Wahrnehmung nicht nur leidend ihrem Eindruck hinzugeben. Sondern die Verhältnisse ihrer Teile nachzuzeichnen. Die gleichzeitigen Töne einer Musik erden von jedem als solche empfunden, aber schwer von dem erinnert, für den sie nur eine zusammenhangslose Vielheit waren; das musikalisch gebildete Ohr faßt sie von Anfang an als ein Beziehungsreiches Ganzes auf, dessen innere Organisation durch den vorhergehenden Verlauf der Melodie vorbereitet war. Jedes räumliche Bild haftet fester in unserem Gedächtnis, wenn wir imstande sind, seinen anschaulichen Eindruck in eine Beschreibung aufzulösen. Wenn wir vom einen Teil eines Gebäudes sagen, daß er auf dem andern ruhe, inen dritten sttze, sich gegen einen vierten unter einem bestimmten Winkel neige, vermehren wir zunächst die Menge der festzuhaltenden Vorstellungen; aber in diesem sprachlichen Ausdruck durch Sätze verwandelt sich das ruhende Nebeneinander der Teile in eine Reihe von Wechselwirkungen, die zwischen ihnen stattzufinden scheinen und sie deutlicher gegenseitig verbinden, als die unzergliederte Anschauung. Je reicher die Bildung des Geistes wird, je feiner sie die vereinigenden Beziehungen entlegener Gedanken zu finden weiß, umso mehr wächst die Weit des Bewußtseins auch für Vorstellungen, deren Inhalt nicht mehr durch räumliche und zeitliche Formen, sondern durch Zusammenhänge innerer Abhängigkeit verbunden ist.

Erschien uns nun in der Empfindung das Bewußtsein durch die Gewalt der äußeren Reize, die gebieterisch ihre Berücksichtigung verlangen, einer unbegrenzten Vielheit leidentlicher Zustände zugänglich, so stellt sich dieses Wissen der Erinnerung mehr als eine vom Geist ausgeübt beziehende Tätigkeit dar. Solange wir das Bewußtsein als einen Raum behandelten, in welchem die Vorstellungen aus eigener Kraft auf- und absteigen, fehlte es uns an einem Grund für die enge Begrenztheit seiner Ausdehnung und die Vielfalt gleichzeitiger Zustände konnte uns nicht unmöglich scheinen; natürlicher glauber wie dagegen voraussetzen zu müssen, daß die Einheit der Seele eine gleichzeitige Menge unverbundener Handlungen ausschließt und daß sie nur das umfaßt, was sie in der Einheit einer einzigen Handlung zusammenhalten kann. Führt auf diese Weise die Ansicht, welche das Vorstellen als einen beweglichen inneren Sinn die Eindrücke hervorheben läßt, leichter zur Enge des Bewußtseins, nach deren Gründen wir fragten, so ist sie doch weit entfernt, einen Beweise für die Notwendigkeit derselben zu bieten. Noch weniger aber enthält sie selbst schon einen Nachweis der Gesetze, nach denen dieses wandelnde Licht der beziehenden Aufmerksamkeit die Richtung seines Weges wählt. Nicht unbestimmt ins Leere hinaus wird es suchend gehen können, sondern wenn es tätig seine Gegenstände zu erfassen scheint, wird seine Tätigkeit doch nur in der Wahl bestehen, mit der es von den vielen Eindrücken, die sich ihm entgegenkommend aufdrängen, die einen aufnimmt und die andern fallen läßt.

Es sind bekannte Tatsachen, auf die wir hiermit hindeuten. Daß ein neu erzeugter Eindruck die vergessene Vorstellung eines früheren gleichen wiederbelebt oder sie in das Bewußtsein reproduziert, ist das einfachste der allgemeinen Gesetze, welche den Lauf der Erinnerung beherrschen. Aber diese Wiedererweckung ist doch nur insofern von Wert für unser inneres Leben, als sie nicht nur das Vergessene wiederbringt, sondern zugleich das Bewußtsein seiner Gleichheit mit dem neuen Eindruck vermittelt. Neues und Altes darf deshalb nicht völlig zusammenfallen, sondern beide müssen als zwei geschiedene Fälle der gleichen Vorstellung anerkannt werden, und das ist nur möglich, sobald beide durch Nebenzüge, die sich an sie knüpfen, unterscheidbar sind. Der Gewinn jener unmittelbaren Reproduktion beruth daher auf der Möglichkeit, daß der wiedererweckte Inhalt auch die andern mit sich ins Bewußtsein zurückführt, mit denen er früher verbunden war, beständen diese auch in nichts weiter, als dem dunklen Gefühl der allgemeinen Gemütslage, in welche seine frühere Wahrnehmung fiel und die verschieden wäre von der Stimmung, welche seinen neuen Eindruck begleitet. Mit dem Namen der Assoziationen pflegt man dieses gegenseitige Haften der Eindrücke aneinander zu bezeichnen, das wir auch in ihrem unbewußten Zustand als fortbestehend betrachten müssen, um ihr gemeinschaftliches Hervortreten im Augenblick der Wiederbelebung zu begreifen. Vergeblich würde jede Bemühng sein, von der Art und Weise dieses Haftens irgendeine anschauliche Vorstellung zu gewinnen; nur in seinem Erfolg bemerkbar, ist es an sich aller Beobachtung entzogen und hat nirgends eine Analogie auf dem Gebiet der Naturerscheinungen. Ohne deshalb zu fragen, durch welches Bindemittel die Haltbarkeit dieser Vorstellungsverknüpfungen bewirkt werde, können wir nur die Bedingungen zu bezeichnen suchen, unter denen sie auf übrigens unbegreifliche Weise stattfinden.

Alle Assoziationen der Vorstellungen lassen sich nun auf den gemeinsamen Gesichtspunkt zurückführen, daß die Seele die Summe aller ihrer gleichzeitigen Zustände nicht chemisch zu einem einförmigen Mittelzustand, wohl aber mechanisch als Teile zu einem zusammenhängenden Ganzen verbindet, und daß sie ebenso die zeitlich ablaufend Reihe ihrer Veränderungen zu einer Melodie verknüpft, in welcher die Glieder am festesten zusammenhängen, die ohne Dazwischentreten anderer sich unmittelbar berühren. Jede Reproduktion beruth dementsprechend darauf, daß das Wiederbelebte nicht allein auftauchen kann, sondern das Ganze mit sich zu bringen strebt, dessen Teil es früher bildete und aus dem Ganzen zunächst den andern einzelnen Teil, mit dem es am engsten verbunden war. Auf diesen gemeinsamen Ausdruck lassen sich die einzelnen Fälle zurückführen, die man zu unterscheiden pflegt. Er umfaßt vor allem nicht allein die Assoziationen der Vorstellungen, auf die uns unser Zusammenhang hier zunächst führte, sondern schließt die zahlreichen Verknüpfungen mit ein, die in ganz ähnlicher Weies zwischen Gefühlen, zwischen Strebungen untereinander oder zwischen Vorstellungen und Gefühlen, Gefühlen und Strebungen stattfinden und deren mitbestimmender Einfluß in einem vollständigen Gemälde auch des Vorstellungslaufes für sich nie übersehen werden darf. Wir finden ferner in ihn eingeschlossen die Assoziation, durch welche die Bilder einzelner räumlicher Gestaltteile einander und das Ganze zurückrufen. Denn jede Raumgestalt läßt uns ihre Teile entweder gleichzeitg übersehen, oder wir werden uns ihrer in einer Reihenfolge nachbildender Bewegungen unseres Blickes bewußt. Jede andere innerliche Beziehung ferner, durch die wir früher einmal Mannigfaches zum Ganzen eines Gedankens verknüpft hätten, würde ebenso nur in einem gleichzeitigen Vorstellen oder im ununterbrochenen Zug eines zeitlich verlaufenden für uns faßbar gewesen sein. Erinnert uns endlich oft ein Eindruck an einen anderen ähnlichen, mit dem er doch früher nie in gleichzeitiger Wahrnehmung gegeben war, so erfordert doch auch dieser sehr häufige Vorgang keine besondere Erklärung. Er beruth zum Teil auf der unmittelbaren Wiederbelebung des Gleichen durch das Gleiche; die frühere Vorstellung dessen, was beiden Eindrücken gemeinschaftlich ist, strebt zurückzukehren und führt nun durch mittelbare Reproduktion auch die besonderen Züge mit sich, um derentwillen das Alte dem Neuen nur noch ähnlich, nicht gleich ist. Einfache Vorstellungen, deren Ähnlichkeit in einer ebenso einfachen unsagbaren Verwandtschaft ihres Inhaltes besteht, rufen einander mit geringer Lebhaftigkeit hervor; eine Farbe erinnert nur wenig an andere Farben, ein Ton kaum an die Mannigfaltigkeit der Skala; viel kraftvoller reproduzieren beide das Ganze, als dessen Teil sie früher auftraten, die Farbe die Gestalt der Blume, an der sie erschien, die Töne die Melodie, die mit ihnen begann. Das Wort, als eine Reihe von Tönen, erinnert wohl an gleichgebaute und wir verwechseln es; aber doch lebhafter an das Bild der Sache, mit dem es zu einem assoziierten Ganzen verbunden war. In zusammengesetzten Vorstellungen pflegt überall die Verbindungsform des Mannigfachen in unserer Erinnerung über den Eindruck zu überwiegen, den die unmittelbare besondere Eigenschaft der Teile gibt, dieselbe Form der Buchstaben erkennt schon das kindliche Auge wieder, ohne durch die Verschiedenheit ihrer Färbung sich aufhalten zu lassen. Auf das Lebhafteste erinnern daher Bilder aneinaner, deren vielleicht äußerst verschiedene Bestandteile doch in gleicher Art der Verzeichnung, sich nach einem gleichen Schema des Zusammenhangs gruppierten. Die Richtung, welche der Verlauf der geistigen Ausbildung nimmt, bevorzugt allmählich die eine dieser Reproduktionsweisen vor den anderen; je häufiger unsere Aufmerksamkeit auf die gleichen und ähnlichen Verknüpfungsformen des Mannigfachen gerichtet gewesen ist, umso leichter übersteht sie das Verschiedene, das selbst in diesen vorkommt, und hält die allgemeineren Ähnlichkeiten fest; sie gewöhnt sich, auch die innerlichen und unanschaulichen Zusammenhänge aufzufassen und für ihre Erinnerung wird das, was unter allgemeinen Gesichtspunkten begrifflich zusammengehört, näher verwandt, als dasjenige, was seinem Wesen nacheinander fremd, sich nur durch gleichzeitige Wahrnehmung im Bewußtsein zusammenfand. Dann pflegt nicht selten die Schärfe des Gedächtnisses für die Reihenfolge der Vorfälle des Lebens abzunehmen, während seine Treue für die allgemeinen Beziehungen zwischen den Naturen der Dinge wächst. Aber es muß hinreichen, an diese Verhältnisse erinnert zu haben, deren reiche Mannigfaltigkeit hier zu erschöpfen völlig unmöglich sein würde.

So ist durch den Mechanismus der Assoziationen dem Gedankenlauf eine Vielheit möglicher Wege eröffnet, die er einschlagen kann und zwischen denen er wählen muß. Indem nun jede der eben vorhandenen Vorstellungen alle jene andern wiederzubringen strebt, mit denen sie im Lauf des Lebens nach und nach verknüpft worden ist, wird die Entscheidung darüber, was von all dieser Fülle in jedem Augenblick zuerst in das Bewußtsein zurückkehren soll, von einem Zusammenfluß verschiedener Bedingungen abhängen. Je größer die Anzahl der ähnlichen Züge ist, welche irgendeine vergessene Vorstellung mit der eben herrschenden teilt, umso leichter wird sie durch diese wieder erweckt werden, denn um so zahlreicher sind die einzelnen Fäden des Bandes, welches beide vereinigt. Aber die wirksame Verwandtschaft zhwischen ihnen wird doch nicht allein in der Ähnlichkeit ihrer Inhalte bestehen; auch ohne diese Übereinstimmung kann in sehr mannigfaltiger mittelbarer Weise eine Vorstellung mehr oder weniger eng mit dem Sinn einer eben ablaufenden Gedankenreihe zusammenhänge, mit welcher sie frühere Überlegungen als wesentlichen Beziehungspunkt, als Bestandteil, als Beispiel, als begleitendens Phänomen verbunden haben. Selbst eine formlose Stimmung des Gemüts wird zwei Vorstellungsgruppen, welche sie mit gleicher Färbung begleitete, trotz der Verschiedenheit ihrer Inhalte einander verwandter erscheinen lassen, als andere von ähnlicherem Gepräge. An die Stelle eines festen Gegensatzes zwischen den Vorstellungen, welcher maßgebend für die Lebhaftigkeit ihrer gegenseitigen Verdrängung oder Wiederbelegung wäre, haben wir daher eine für jeden Augenblick neu bestimmte Größe ihrer Verwandtschaft zu setzen, die sich ändert, wie der Kontrast zweier Farben mit dem Hintergrund wechselt, auf den sie aufgetragen sind. Und ebenso wandelbar ist die andere Bedingung für die Richtung des Gedankenlaufes, die Größe des Interesses, die jeder Vorstellung zukommt und welche die Stärke ausmacht, mit der sie sich im Bewußtsein geltend zu machen sucht. Kein späterer Augenblick bringt dieselbe Gesamtsumme von Vorstellungen, Gefühlen und Strebungen und dieselbe körperliche Stimmung wieder, im Zusammenhang mit denen früher dem Eindruck die Höhe seines Interesses zugemessen war. Nicht mit diesem alten Wert wirkt er daher für die Bestimmung des weiteren Gedankenlaufes mit, sondern mit dem neubestimmten Grad desselben, den er zu gewnnen vermochte, indem er mit jenem, welchen er früher besaß, in diesen neuen Streit mit neuen Verhältnissen eintrat.

Die Entwicklung eines Vorstellungszuges gestaltet sich unter diesen Bedingungen zu dem wandelbaren und veränderlichen Schauspie, das wir alle in uns kennen und dessen scheinbar regelloser Wechsel uns häufig in Verwunderung setzt, weil wir seine leitenden Gründe nie zu übersehen imstande sind. Denn der vollständige Grund für die Gestalt jedes nächsten Augenblicks liegt nur im vollständigen Gesamtzustand unserer Seele während des gegenwärtigen; aber von ihm zeigt uns unsere Selbstbeobachtung immer nur wenige Bruchstücke; wir werden uns wohl der Reihenfolge unserer vorangegangenen Vorstellungen bewußt, aber nie sind wir in der Lage, zugleich die Eigentümlichkeit unserer körperlichen Stimmung, unserer Gemütslage, unserer Strebungen, endlich die besonderen Wechselbeziehungen zu zergliedern, in denen alle diese Elemente zueinander verflochten waren. Und doch hängt nur von der Summe aller dieser Bedingungen zusammengenommen auch der kleinste und unbedeutendste Zug unseres Vorstellungslaufes ab; denn nicht in einem sonst leeren Bewußtsein ereignet er sich ja überhaupt, sondern nur in der ganzen vollständigen Seele, die immer zugleich in jenen anderen Richtungen tätig ist und in diesen wieder nicht tätig sein kann, ohne vermöge der Einheit ihres Wesens dessen auch in ihrem Vorstellen eingedenk zu sein.
LITERATUR - Hermann Lotze, Mikrokosmus - Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit, Leipzig 1856