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LEO STRAUSS
Tatsachen und Werte

Dem Soziologen wäre nicht gestattet, von "Sittlichkeit", "Religion", "Zivilisation" usw. zu sprechen, wenn er das Denken von Völkern oder Stämmen interpretiert, die sich solcher Begriffe nicht bewußt sind.

Jedes von der Sozialwissenschaft benutzte Begriffsschema gliedert die Grundprobleme, und diese Probleme verändern sich mit dem Wechsel der sozialen und kulturellen Situation. Die Sozialwissenschaft ist mit Notwendigkeit das Verstehen der Gesellschaft vom Standpunkt der Gegenwart aus. Lediglich die Erkenntnisse von Tatsachen und ihren Ursachen gehen über das Geschichtliche hinaus. Genauer gesagt ist es die Gültigkeit dieser Erkenntnisse, die transhistorisch ist; aber die Wichtigkeit oder die Bedeutung jeder Erkenntnis hängt von Wertideen und damit von historisch veränderlichen Prinzipien ab. Letztlich trifft dies auf jede Wissenschaft zu. Alle Wissenschaft setzt voraus, daß Wissenschaft wertvoll ist; doch ist diese Voraussetzung das Produkt gewisser Kulturen und damit historisch relativ.

Nun enthalten jedoch die konkreten und historischen Wertideen, von denen es eine unendlich große Vielfalt gibt, Elemente von transhistorischem Charakter: die höchsten Werte sind ebenso zeitlos wie die Prinzipien der Logik. Es ist die Anerkennung zeitloser Werte, die WEBERs Position am deutlichsten vom Historismus unterscheidet. Nicht so sehr der Historismus als vielmehr ein eigentümlicher Begriff zeitloser Werte bildet die Grundlage für seine Ablehnung des Naturrechts.

WEBER hat niemals erklärt, was er unter "Werten" verstand. Ihm kam es in erster Linie auf die Beziehungen zwischen Werten und Tatsachen an. Tatsachen und Werte sind absolut heterogen (ungleichartig), wie sich unmittelbar aus der absoluten Heterogenität von Tatsachenproblemen und Wertproblemen ergibt. Man kann von keiner Tatsache auf deren Wertcharakter schließen; auch können wir den tatsächlichen Charakter einer Sache nicht daraus folgern, daß diese wertvoller oder wünschenswert ist. Die Vernunft unterstützt weder achselträgerisches noch Wunschdenken. Mit dem Beweis, daß eine gegebene Sozial- und Gesellschaftsordnung das Ziel des historischen Prozesses ist, ist noch lange nichts über den Wert jener Ordnung oder darüber gesagt, daß sie wünschenswert ist. Wenn man nachweist, daß gewisse religiöse oder sittliche Ideen eine sehr große oder keine Wirkung ausübten, sagt man gar nichts über den Wert dieser Ideen aus. Eine tatsächliche oder mögliche Wertung zu verstehen, ist etwas völlig anderes, als diese zu billigen oder zu entschuldigen.

WEBER behauptete, die absolute Heterogenität von Tatsachen und Werten mache den wertneutralen Charakter der Sozialwissenschaft notwendig: die Sozialwissenschaft kann Fragen nach Tatsachen und deren Ursachen beantworten; für die Beantwortung von Wertfragen ist sie nicht zuständig. Er betonte sehr nachdrücklich die Rolle, die die Werte in der Sozialwissenschaft spielen: die Gegenstände der Sozialwissenschaft sind durch "Wertbeziehungen" gegeben. Ohne eine solche "Beziehung" gäbe es keinen Brennpunkt des Interesses, keine vernünftige Auswahl von Themen und keine Prinzipien zur Unterscheidung zwischen Tatsachen, die zum Gegenstand der Untersuchung, und solchen, die nicht dazugehören.

Durch "Beziehung auf Werte" heben sich die Gegenstände der Sozialwissenschaften aus dem Ozean oder Morast von Tatsachen heraus. WEBER bestand aber nicht weniger ausdrücklich auf dem grundlegenden Unterschied zwischen "Wertbeziehungen" und "Werturteilen": wenn man z.B. sagt, etwas sei im Hinblick auf die politische Freiheit bedeutsam, dann nimmt man weder für noch gegen die politische Freiheit Stellung. Der Sozialwissenschaftler wertet die durch "Wertbeziehungen" gegebenen Gegenstände nicht, sondern erklärt sie lediglich, indem er sie auf ihre Ursachen zurückverfolgt. Die Werte, auf die sich die Sozialwissenschaft bezieht und zwischen welchen der handelnde Mensch wählt, bedürfen der Klärung. Diese Klärung ist die Aufgabe der Sozialphilosophie. Aber auch die Sozialphilosophie kann die entscheidenden Wertprobleme nicht lösen. Sie kann keine Werturteile kritisieren, die sich nicht selbst widersprechen.

WEBER behauptete, daß sein Begriff einer "werfreien" oder ethisch neutralen Sozialwissenschaft durch das, was er als den grundlegendsten aller Gegensätze betrachtet, völlig gerechtfertigt werde, nämlich durch den Gegensatz zwischen Sein und Sollen oder zwischen Wirklichkeit und Norm oder Wert. Doch ist der Schluß von der radikalen Ungleichartigkeit zwischen Sein und Sollen auf die Unmöglichkeit einer wertenden Sozialwissenschaft offenbar nicht zwingend. Nehmen wir an, wir besäßen echte Erkenntnis von Recht und Unrecht oder vom Seinsollen bzw. vom wahren Wertsystem.

Wenn diese Erkenntnis auch nicht von der empirischen Wissenschaft herstammt, so würde sie doch mit Recht alle empirische Sozialwissenschaft leiten; sie wäre die Grundlage aller empirischen Sozialwissenschaft; denn Sozialwissenschaft soll ja von praktischem Wert sein. Sie versucht, die Mittel für gegegebene Zwecke zu finden. Aus diesem Grunde muß sie die Zwecke verstehen. Gleichgültig ob diese Zwecke in anderer Weise als die Mittel "gegeben" sind, gehören die Zwecke und Mittel zusammen; daher "gehört der Zweck zur gleichen Wissenschaft wie das Mittel" (WEBER).

Gäbe es echte Erkenntnis der Zwecke, dann würde diese Erkenntnis natürlich alles Suchen nach Mitteln leiten; es bestünde dann kein Grund, das Erkennen der Zwecke der Sozialphilosophie und die Suche nach den Mitteln einer unabhängigen Sozialwissenschaft zu übertragen. Auf der Grundlage echter Erkenntnis der wahren Zwecke würde die Sozialwissenschaft nach den geeigneten Mitteln für diese Zwecke suchen. Sie würde zu objektiven und spezifischen Werturteilen in bezug auf Verhaltens- und Handlungsweisen führen. Die Sozialwissenschaft wäre dann viel mehr eine wahrhaft richtungweisende, um nicht zu sagen architektonische Wissenschaft, als lediglich Lieferant von Daten für diejenigen, die tatsächlich die Entscheidung treffen.

Der wahre Grund, weshalb WEBER auf dem wertneutralen Charakter der Sozialwissenschaft wie auf der Sozialphilosophie beharrte, war somit nicht sein Glaube an den fundamentalen Gegensatz zwischen Seiendem und Seinsollendem, sondern seine Überzeugung, daß es keine echte Erkenntnis des Seinsollenden geben kann. Er stellte vollständig in Abrede, daß es für Menschen irgendeine empirische oder rationale Wissenschaft oder irgendeine wissenschaftliche oder philosophische Erkenntnis des wahren Wertsystems geben könnte: das wahre Wertsystem existiert nicht; es gibt eine Vielfalt gleichrangiger Werte, deren Forderungen einander widersprechen und deren Konflikt durch menschliche Vernunft nicht gelöst werden kann. Die Sozialwissenschaft und die Sozialphilosophie können nicht mehr tun, als diesen Konflikt mit allen seinen Nebenwirkungen klarstellen; die Lösung muß der freien, nicht-rationalen Entscheidung eines jeden einzelnen überlassen werden.

Ich behaupte, daß WEBERs These mit Notwendigkeit zum Nihilismus oder zu der Ansicht führt, daß die Vernunft außerstande ist, zwischen dem Bösen, Gemeinen oder Unsinnigen und deren Gegenteil zu entscheiden ist. Eine Bemerkung WEBERs über die Aussichten der abendländischen Zivilisation ist ein unmißverständliches Kennzeichen für diese Notwendigkeit. Er sah folgende Alternative: entweder eine geistige Erneuerung ("ganz neue Propheten oder eine mächtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale") oder "mechanisierte Versteinerung, mit einer Art von krampfhaftem Sich-wichtig-Nehmen verbrämt", d.h. die Vernichtung jeder Möglichkeit menschlicher Entfaltung außer der der "Fachmenschen ohne Geist" oder der "Genußmenschen ohne Herz". Gegenüber dieser Alternative fühlte WEBER, daß jede Entscheidung zugunsten einer der beiden Möglichkeiten ein Wert- oder Glaubensurteil sein und sich damit jenseits der Zuständigkeit der Vernunft befinden würde. Dies gleichbedeutend mit dem Zugeständnis, daß die Lebensweise von "Fachmenschen ohne Geist" oder "Genußmenschen ohne Herz" ebenso vertreten ist wie die von AMOS oder SOKRATES geforderten Lebensweisen.

WEBER ging von einer Kombination der Ansichten KANTs, wie sie von gewissen Neukantianern verstanden wurden, mit den Ansichten der historischen Schule aus. Vom Neukantianismus übernahm er seinen allgemeinen Begriff des Wesens der Wissenschaft wie auch des Wesens der "individuellen" Ethik. Dementsprechend verwarf er den Utilitarismus (Nützlichkeitstheorie) und jede Form des Eudämonismus (Glückseligkeitstheorie).

Von der historischen Schule übernahm er die Ansicht, daß es keine mögliche soziale oder kulturelle Ordnung gebe, die man als 'die' richtige oder vernünftige Ordnung bezeichnen könnte. Beide Positionen verband er mit Hilfe der Unterscheidung zwischen sittlichen Geboten (oder ethischen Imperativen) und kulturellen Werten. Sittliche Gebote appellieren an unser Gewissen, während kulturelle Werte unser Gefühl ansprechen: das Individuum soll seine sittlichen Pflichten erfüllen, während es völlig von seiner Willkür abhängt, ob es Kulturideale verwirklichen will oder nicht.

Kulturidealen oder -werten mangelt es am spezifisch verpflichtenden Charakter moralischer Imperative. Diese Imperative besitzen eine ihnen eigene Würde, deren Anerkennung WEBER sehr am Herzen zu liegen schien. Doch gerade wegen des grundsätzlichen Unterschiedes zwischen sittlichen Geboten und Kulturwerten schweigt die eigentliche Ethik über kulturelle und soziale Fragen. Vornehme oder ehrliche Menschen stimmen mit Notwendigkeit in moralischen Dingen überein, aber mit Recht gehen ihre Ansichten über solche Dinge wie gotische Architektur, Privateigentum, Monogamie, Demokratie usw. auseinander.

Auf diese Weise wird man auf den Gedanken gebracht, daß WEBER die Existenz absolut bindender rationaler Normen, nämlich der moralischen Imperative, zugestand. Man sieht jedoch schon bald, daß, was er eben über die sittlichen Gebote sagte, nicht viel mehr ist als das Überbleibsel einer Tradition, in welcher er erzogen worden war und welche in der Tat niemals aufhörte, ihn als Menschen zu bestimmen. In Wirklichkeit dachte er, daß ethische Imperative ebenso subjektiv sind wie Kulturwerte. Nach seiner Ansicht kann man mit demselben Recht die Ethik im Namen der Kulturwerte verwerfen, wie die Kulturwerte im Namen der Ethik, oder jedwede Kombination zwischen beiden Normentypen annehmen, die sich nicht selbst widerspricht.

Diese Entscheidung war die unvermeidliche Folge seines Begriffs der Ethik. Nur durch die "Relativierung" der Ethik konnte er seine Ansicht, wonach die Ethik über die richtige Sozial- und Gesellschaftsordnung schweigt, mit der unleugbaren ethischen Relevanz der sozialen Probleme versöhnen. Es geschah auf dieser Grundlage, daß er seinen Begriff der "Persönlichkeit" oder der Würde des Menschen entwickelte. Die wahre Bedeutung der "Persönlichkeit" hängt von der wahren Bedeutung der Freiheit ab. Man kann vorläufig sagen, daß das menschliche Handeln in dem Maß frei ist, in welchem es nicht durch äußeren Zwang oder durch unwiderstehliche Gefühlserregungen beeinflußt, sondern durch vernünftiges Abwägen der Mittel und Zwecke bestimmt wird.

Doch erfordert die wahre Freiheit eine bestimmte Art von Zwecken, und diese Zwecke müssen in einer bestimmten Art und Weise gewählt werden. Sie müssen in letzten Werten verankert sein. Die Würde des Menschen, seine Erhabenheit über alles lediglich Natürliche oder über alle Tiere besteht darin, daß er sich seine letzten Werte selbst setzt, daß er diese Werte zu seinen ständigen Zwecken macht und daß er auf vernünftige oder rationale Weise die Mittel zu diesen Zwecken wählt. Die Würde des Menschen besteht in seiner Autonomie, d.h. in der freien Wahl seiner eigenen Werte oder Ideale oder in seinem Gehorsam gegenüber dem Gebot: "Werde der du bist."

In diesem Stadium haben wir immer noch etwas, das einer objektiven Norm ähnelt, einen kategorischen Imperativ: "Du sollst Ideale haben." Dieser Imperativ ist "formal". Er bestimmt in keiner Weise den Inhalt der Ideale, aber er scheint doch noch einen verständlichen und nicht-willkürlichen Maßstab einzuführen, der es uns erlauben würde, in verantwortlicher Weise zwischen menschlicher Vortrefflichkeit und Verworfenheit zu unterscheiden. Damit schiene er eine allgemeine Bruderschaft aller edlen Seelen zu schaffen, aller Menschen, die nicht von ihren Gelüsten, Leidenschaften und selbstischen Interessen versklavt sind, eine Bruderschaft aller "Idealisten" - aller Menschen, die sich gegenseitig achten oder respektieren können.

Doch dies ist nur eine Täuschung. Was zunächst eine unsichtbare Kirche zu sein scheint, erweist sich als ein Kampf jedes gegen jeden oder vielmehr als die Hölle. WEBERs eigene Formulierung seines kategorischen Imperativs lautete: "Folge deinem Dämon" oder "Folge deinem Gott oder Dämon". Sich darüber zu beklagen, daß WEBER die Möglichkeit böser Dämonen außer acht gelassen hätte, wäre unbillig, obgleich man sagen kann, daß er sich ihrer Unterschätzung schuldig gemacht hat. Hätte er nur an gute Dämonen gedacht, dann wäre er gezwungen gewesen, ein objektives Kriterium zuzugestehen, welches ihm die prinzipielle Unterscheidung zwischen guten und bösen Dämonen erlaubte. In Wirklichkeit bedeutet sein kategorischer Imperativ: "Folge deinem Dämon ohne Rücksicht darauf, ob es ein guter oder ein böser Dämon ist."

Es herrscht ein "unüberbrückbarer tödlicher" Kampf zwischen den verschiedenen Werten, unter welchen der Mensch zu wählen hat. Was für den einen von Gott ist, ist für den anderen mit gleichem Recht des Teufels. Somit muß der kategorische Imperativ wie folgt formuliert werden: "Folge, wie du willst, Gott oder dem Teufel, doch welche Wahl du auch immer triffst, triff sie aus ganzem Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit all deiner Kraft. Absolut niedrig ist es, seinen eigenen Gelüsten und Leidenschaften oder seinem Eigennutz zu folgen gegenüber Idealen oder Werten, gegenüber Gott oder dem Teufel indifferent oder lau zu sein.

WEBERs "Idealismus", d.h. seine Anerkennung aller "idealen" Ziele oder aller "Sachen" scheint eine nicht-willkürliche Unterscheidung zwischen Vortrefflichkeit und Niedrigkeit oder Verworfenheit zuzulassen. Gleichzeitig gipfelt er in dem Imperativ: "Folge Gott oder dem Teufel", was in nichttheologischer Sprache bedeutet: "Strebe entschlossen nach Vortrefflichkeit oder Gemeinheit." Will WEBER nämlich sagen, daß die bevorzugte Wahl des Wertsystems A gegenüber dem Wertsystem B mit tatsächlicher Achtung des Wertsystems B vereinbar ist und nicht die Verwerfung des Wertsystems B als niedrig bedeutet, dann wußte er nicht, was er tat, wenn er von der Wahl zwischen Gott und Teufel sprach; er muß lediglich einen Unterschied im Geschmack gemeint haben, als er von einem tödlichen Kampf sprach.

Auf diese Weise zeigt sich, daß Vortrefflichkeit und Gemeinheit für WEBER als Sozialphilosophen ihre primäre Bedeutung vollkommen verloren haben. Vortrefflichkeit heißt jetzt, sich einer "Sache" hingeben, sei sie gut oder schlecht, und Niedrigkeit oder Gemeinheit ist Indifferenz gegenüber allen "Sachen". Die so verstandene Vortrefflichkeit und Niedrigkeit sind Vortrefflichkeit und Niedrigkeit höherer Ordnung. Sie gehören einem Bereich an, der weit über die Sphäre des Handelns erhaben ist, und können, obgleich sie beanspruchen, jeder Entscheidung vorauszugehen, nur dann gesehen werden, wenn wir uns von der Welt, in der wir Entscheidungen zu treffen haben, vollkommen frei gemacht haben. Sie sind die Korrelate einer rein theoretischen Haltung gegenüber der Welt des Handelns.

Diese theoretische Haltung beruht auf gleicher Respektierung aller "Sachen"; doch ist eine solche Respektierung nur demjenigen möglich, der überhaupt keiner "Sache" ergeben ist. Wenn nun Vortrefflichkeit die Hingebung an eine "Sache" und Niedrigkeit die Indifferenz gegenüber allen "Sachen" ist, dann müßte die theoretische Haltung gegenüber allen "Sachen" niedrig genannt werden. So ist es kein Wunder, daß WEBER zum Zweifel am Wert der Theorie, der Wissenschaft, der Vernunft, des Bereichs des Geistigen und damit sowohl der moralischen Imperative als auch der Kulturwerte getrieben wurde. Er war gezwungen, dem, was er "rein vitalistische Werte" nannte, die gleiche Würde zuteil werden zu lassen wie den sittlichen Geboten und den Kulturwerten. Man kann sagen, daß die "rein vitalistischen Werte" vollständig zur "Sphäre der eigenen Individualität" gehören, indem sie nämlich rein persönlich und in keiner Weise Prinzipien einer "Sache" sind. Daher sind sie, strenggenommen, keine Werte.

WEBER behauptete ausdrücklich, es sei durchaus berechtigt, gegenüber allen unpersönlichen und überpersönlichen Werten und Idealen und damit gegenüber allem Interesse an der "Persönlichkeit" oder der wie zuvor bestimmten Würde des Menschen eine feindselige Haltung einzunehmen; denn nach ihm gibt es nur einen einzigen Weg, eine "Persönlichkeit" zu werden, nämlich den der absoluten Hingabe an eine "Sache". Sobald die "vitalistischen" Werte als mit Kulturwerten gleichrangig anerkannt werden, wird der kategorische Imperativ "Du sollst Ideale haben" in das Gebot "Du sollst leidenschaftlich leben" umgewandelt. Niedrigkeit bedeutet nicht mehr Indifferenz gegenüber jedem der miteinander unvereinbaren großen Ziele der Menschheit, sondern daß man ganz in der Sorge um seine Behaglichkeit und sein Ansehen aufgeht.

Aber mit welchem Recht - außer dem des bloßen Beliebens - kann man die Lebensweise des Philisters im Namen der "vitalistischen" Werte verwerfen, wenn man die sittlichen Geboten im Namen der "vitalistischen" Werte ablehnen kann? Es war die stillschweigende Anerkennung der Unmöglichkeit, auf abschüssiger Straße stehen zu bleiben, die WEBER zu dem offenen Zugeständnis veranlaßte, es sei lediglich ein subjektives Glaubens- oder Werturteil, wenn man "Fachmenschen ohne Geist und Genußmenschen ohne Herz" als entartete menschliche Wesen verachte. Die endgültige Formulierung des ethischen Prinzips WEBERs wäre damit: "Du sollst etwas bevorzugen" - ein Sollen, dessen Erfüllung durch das Sein vollauf gesichert ist.

Ein letztes Hindernis für das völlige Chaos scheint zu bleiben. Welche Neigung ich auch haben mag und zu welcher Bevorzugung ich mich auch entscheiden mag, ich muß vernünftig handeln: ich muß aufrichtig mit mir selbst sein, ich muß in meinem Festhalten an meinen grundsätzlichen Zielen konsequent sein, und ich muß die für meine Zwecke erforderlichen Mittel vernünftig auswählen. Aber warum? Welchen Sinn hat das noch, nachdem wir in einen Zustand zurückgeworfen sind, in welchem die Maximen des herzlosen Genußmenschen wie die des sentimentalen Philisters als genauso verfechtbar betrachtet werden müssen wie die des Idealisten, des vornehmen Menschen oder des Heiligen?

Wir können dieses verspätete Bestehen auf Verantwortlichkeit und gesundem Verstand, dieses inkonsequente Interesse an der Konsequenz, dieses irrationale Lob der Vernunftmäßigkeit nicht ernst nehmen. Kann man nicht ein sehr viel stärkeres Argument zugunsten der Inkonsequenz konstruieren als WEBERs Argument, um den Vorzug von Kulturwerten vor bloß moralischen Imperativen zu erweisen? Entwertet man nicht notwendigerweise die Vernünftigkeit in jeder Form in dem Augenblick, da man es für rechtmäßig erklärt, "vitalistische" Werte zu seinen höchsten Werten zu machen? WEBER hätte wahrscheinlich darauf bestanden, daß man, für welche Bevorzugung man sich auch immer entscheidet, aufrichtig sein muß, zumindest mit sich selbst, und vor allem, daß man keinen unaufrichtigen Versuch machen darf, seinen Neigungen oder Bevorzugungen eine objektive Grundlage zu geben, die eine unechte Grundlage sein müßte.

Sollte er das aber getan haben, dann wäre er lediglich inkonsequent gewesen; denn nach WEBER kann man mit gleichem Recht die Wahrheit wollen oder nicht wollen oder die Wahrheit zugunsten des Schönen oder Heiligen zurückweisen. Warum sollte man dann nicht angenehme Täuschungen oder erbauliche Mythen der Wahrheit vorziehen? WEBERs Achtung der "rationalistischen Selbstbestimmung" und "intellektuellen Rechtschaffenheit" ist ein Zug seines Charakters, der nur in seiner nicht-rationalen Bevorzugung der "rationalen Selbstbestimmung" und "intellektuellen Rechtschaffenheit" begründet ist.

Den Nihilismus, zu welchem WEBERs These führt, kann man einen "edlen Nihilismus" nennen. Dieser Nihilismus entstammt nämlich nicht einer primären Indifferenz gegenüber allem Edlen, sondern der angeblichen oder wirklichen Einsicht in das grundlose Wesen alles dessen, was für edel gehalten wird. Man kann jedoch nicht zwischen edlem und gemeinem Nihilismus unterscheiden, wenn man nicht wenigstens einiges Wissen darüber besitzt, was edel und was gemein ist. Um ein Recht zu haben, WEBERs Nihilismus als 'edel' zu bezeichnen, muß man sich von seiner Position losgemacht haben.

Gegen die bevorstehende Kritik könnte man folgenden Einwand erheben. Was WEBER wirklich meinte, kann überhaupt nicht durch Begriffe wie "Werte" oder "Ideale" ausgedrückt werden. Es wird durch sein Zitat "Werde der du bist", d.h. "Wähle dein Schicksal", viel zutreffender ausgedrückt. Dieser Interpretation gemäß lehnte WEBER objektive Normen ab, weil objektive Normen mit der menschlichen Freiheit und mit der Möglichkeit des Handelns unvereinbar sind. Wir müssen die Frage offenlassen, ob dieser Grund zur Verwerfung objektiver Normen ein guter Grund ist und ob die nihilistische Konsequenz durch diese Interpretation der WEBERschen Ansicht vermieden würde. Es genügt zu bemerken, daß ihre Annahme einen Bruch mit den Begriffen "Wert" und "Ideal" erfordern würde, auf welchen WEBERs wirkliche Lehre beruht, und daß jene wirkliche Lehre und nicht die erwähnte mögliche Interpretation die heutige Sozialwissenschaft beherrscht.

Viele Sozialwissenschaftler unserer Zeit scheinen den Nihilismus als ein kleineres Übel zu betrachten, welches weise Männer mit Gleichmut tragen, weil es der Preis ist, den man für die Erlangung jenes höchsten Gutes, nämlich einer wahrhaft wissenschaftlichen Sozialwissenschaft, zahlen muß. Sie wollen nichts anderes als wissenschaftliche Ergebnisse, obwohl diese nicht mehr als "unfruchtbrare Wahrheiten, die keine Schlüsse hervorbringen", sein können; denn die "Schlüsse" können nur durch rein subjektive Werturteile oder willkürliche Bevorzugungen erzeugt werden. Wir müssen daher erwägen, ob die Sozialwissenschaft als rein theoretisches Unternehmen, aber immer noch als eines, das zum Verständnis sozialer Erscheinungen führt, auf der Grundlage der Unterscheidung zwischen Tatsachen und Werten möglich ist.

Wir rufen uns WEBERs Bemerkung über die Zukunftsaussichten der abendländischen Kultur ins Gedächtnis zurück. WEBER sah die folgende Alternative: entweder eine geistige Erneuerung oder aber eine "mechanisierte Versteinerung", d.h. die Tilgung jeder menschlichen Möglichkeit außer jener der "Fachmenschen ohne Geist" und der "Genußmenschen ohne Herz". Er schloß: "Doch wir geraten damit auf das Gebiet der Wert- und Glaubensurteile, mit welchen diese rein historische Darstellung nicht belastet werden soll." Es ist unzulässig und geziemt sich somit für den Historiker oder Sozialwissenschaftler nicht, daß dieser einen gewissen Lebenstypus als geistig leer oder einen Fachmenschen ohne Geist und einen Genußmenschen ohne Herz wahrheitsgemäß als das beschreibt, was sie sind. Ist das aber nicht absurd? Ist es nicht die einfache Pflicht des Soziologen, die sozialen Phänomene wahrheitsgemäß und getreu darzulegen? Wie können wir ein soziales Phänomen ursächlich erklären, wenn wir es nicht zunächst als das sehen, was es wirklich ist? Erkennen wir nicht die Versteinerung oder geistige Leere, wenn wir sie sehen? Und wenn jeman nicht fähig ist, Phänomene dieser Art zu erkennen, ist er dann nicht gerade aus diesem Grunde als Sozialwissenschaftler ungeeignet, ebenso wie ein Blinder als Begutachter von Gemälden ungeeignet ist?

WEBER war besonders an der Soziologie der Ethik und der Religion interessiert. Jene Soziologie setzt eine grundlegende Unterscheidung zwischen "Ethos" und "Lebenstechnik" (oder "Geschäftsklugheit") voraus. Der Soziologe muß also imstande sein, ein "Ethos" an seinem besonderen Wesen zu erkennen. Er muß, wie WEBER zugab, Gefühl und Verständnis dafür haben. Aber schließt denn ein solches Verständnis nicht notwendigerweise ein Werturteil ein? Schließt das nicht ein, daß man sich eines gegebenen Phänomens als eines 'echten' "Ethos" und nicht als einer 'bloßen' "Lebenstechnik" bewußt wird? Würde man einen Menschen nicht auslachen, der eine Soziologie der Kunst geschrieben zu haben beansprucht, in Wirklichkeit aber eine Soziologie des Kitsches geschrieben hat?

Der Religionssoziologe muß zwischen Phänomenen, die einen religiösen Charakter haben und solchen, die areligiös sind, unterscheiden. Um dazu imstande zu sein, muß er wissen, was Religion ist: er muß Verständnis für religiöse Dinge haben. Im Gegensatz zu dem ,was WEBER sagte, setzt ihn nun ein solches Verständnis in die Lage und zwingt ihn, zwischen echter und unechter Religion, zwischen höheren und niederen Religionen zu unterscheiden; dabei sind solche Religionen höher, in welchen die spezifisch religiösen Motivierungen in einem stärkeren Maße wirksam sind. Oder sollen wir sagen, dem Soziologen sei es erlaubt, das Vorhanden- oder Nichtvorhandensein von Religion oder "Ethos" festzustellen - das wäre nämlich lediglich eine Beobachtung von Tatsachen -, nicht aber zu wagen, sich über den Stärkegrad auszulassen, in dem sie vorhanden sind, d.h. über den Rang der besonderen Religion oder des besonderen "Ethos", welche er gerade untersucht?

Der Religionssoziologe kann nicht umhin, den Unterschied zwischen denjenigen, die die Gunst der Götter durch Schmeichelei und Bestechung, und denjenigen, die sie durch Herzensänderung zu gewinnen suchen, festzustellen. Kann er diesen Unterschied sehen, den Unterschied zwischen einer käuflichen und einer nichtkäuflichen Haltung? Ist er nicht gezwungen zu erkennen, daß der Versuch, die Götter zu bestechen, dem Versuch gleichkommt, der Herr oder Arbeitgeber der Götter zu sein, und daß ein grundsätzliches Mißverhältnis zwischen solchen Versuchen und dem besteht, was die Menschen ahnen, wenn sie von Göttern sprechen? Tatsächlich steht und fällt WEBERs gesamte Religionssoziologie mit solchen Unterscheidungen wie "Gesinnungsethik", und "priesterlicher Formalismus" (oder "versteinerte Maximen"); "erhabenes" religiöses Denken und "bloße Zauberei"; "der frische Quell einer wirklich und nicht nur scheinbar tiefen Einsicht" und "ein Wust von völlig unanschaulichem symbolischen Überschwang der Bilder"; "plastische Phantasie" und "Buchdenken".

Sein Werk wäre nicht nur langweilig, sondern absolut sinnlos, wenn er nicht fortwährend von praktisch allen intellektuellen und sittlichen Tugenden und Lastern in der zutreffenden Sprache spräche, d.h. in der Sprache des Lobes und des Tadels. Ich denke dabei an folgende Wendungen: "Großartige Gestalten", "unvergleichliche Großartigkeit", "nirgends überbotene Vollendung", "Pseudo-Systematik", "beispielloses Prestige", "diese Laxheit war allerdings zweifellos ein Verfallsprodukt", "absolut unkünstlerisch", "geistreiche Konstruktion", "geistig sehr hochstehend", "ungleich majestätischere Gestaltung", "Wucht, Plastik und Präzision der Formulierung", "erhabener Charakter der ethischen Forderungen", "volle innere Konsequenz", "rohe und dunkle Vorstellungen", "männliche Schönheit", "reine und tiefe Überzeugung", "erhebliche Leistung", "Kunstwerke ersten Ranges".

WEBER schenkte dem Einfluß des Puritanismus auf Dichtung, Musik usw. einige Aufmerksamkeit. Er stellt eine gewisse negative Wirkung des Puritanismus auf diese Künste fest. Diese Tatsache (falls sie zutrifft) verdankt ihre Bedeutung ausschließlich dem Umstand, daß ein echter religiöser Impuls sehr hoher Ordnung die Ursache des Niederganges der Kunst war, d.h. des "Austrocknens" vorher bestehender echter und hoher Kunst. Denn einem Falle, in dem ein hinsiechender Aberglaube Kitsch hervorbrachte, würde wohl kein vernünftiger Mensch auch nur die geringste Aufmerksamkeit schenken. In dem von WEBER untersuchten Falle war die Ursache eine echte und hohe Religion, und die Wirkung war der Niedergang der Kunst: sowohl die Ursache als auch die Wirkung werden nur auf der Grundlage von Werturteilen sichtbar, die sich von der bloßen Bezugnahme auf Werte unterscheiden. WEBER hatte die Wahl zwischen Blindheit gegenüber den Erscheinungen und Werturteilen. In seiner sozialwissenschaftlichen Praxis traf er eine gute Wahl.

Das Verbot von Werturteilen in der Sozialwissenschaft würde in der Folge für uns die Erlaubnis mit sich bringen, eine streng faktische Beschreibung sichtbarer Handlungen, wie sie in Konzentrationslagern beobachtet werden können, und eine vielleicht ebenso faktische Analyse der Motive der betreffenden Täter zu geben, aber es würde uns nicht gestatten, von Grausamkeit zu sprechen. Jeder nicht völlig stumpfsinnige Leser einer solchen Beschreibung würde selbstverständlich bemerken, daß die beschriebenen Handlungen grausam sind. Die faktische Beschreibung wäre in Wirklichkeit eine bittere Satire. Was ein schlichter Bericht zu sein beanspruchte, wäre ein ungewöhnlich verklausulierter Bericht. Der Autor würde absichtlich sein besseres Wissen unterdrücken oder, um WEBERs Lieblingsausdruck zu benutzen, er würde sich der intellektuellen Unredlichkeit schuldig machen. Oder, um keine moralischen Geschütze auf Dinge abzufeuern, die es nicht wert sind: die ganze Prozedur erinnert uns an ein kindliches Spiel, bei dem man verliert, wenn man gewissen Worte ausspricht, die auszusprechen man aber ständig durch seine Spielkameraden angespornt wird.

Wie jeder andere Mensch, der jemals soziale Angelegenheiten in angemessener Weise erörterte, so konnte es auch WEBER nicht vermeiden, von Geiz, Gier, Skrupellosigkeit, Eitelkeit, Ergebenheit, Sinn für Maß und ähnlichen Dingen zu reden, d.h. Werturteile zu fällen. Er äußerte sich ungehalten gegen Leute, die nicht den Unterschied zwischen Gretchen (im Faust) und einer Prostituierten sahen, d.h. die nicht den Adel der Empfindung bei der einen und dessen Fehlen bei der anderen bemerkten. Was WEBER zu verstehen gab, kann folgendermaßen formuliert werden: Die Prostitution ist ein anerkannter Gegenstand der Soziologie. Man kann diesen Gegenstand nicht sehen, wenn man nicht zur gleichen Zeit das Erniedrigende an der Prostitution sieht.

Wenn man die Tatsache "Prostitution" im Unterschied zu einer willkürlichen Abstraktion erkennt, dann hat man schon ein Werturteil gefällt. Was würde aus der politischen Wissenschaft werden, wenn man ihr nicht erlaubte, sich mit Erscheinungen wie engem Parteigeist, Funktionärsherrschaft, Lobbyismus, staatsmännischer Kunst, Korruption, ja sogar sittlicher Verderbtheit zu befassen, d.h. mit Phänomenen, die erst durch Werturteile gleichsam konstituiert werden? Die diese Dinge bezeichnenden Ausdrücke in Anführungsstriche zu setzen, ist ein kindlicher Trick, der einen in den Stand setzt, über wichtige Dinge zu sprechen und gleichzeitig die Prinzipien zu verleugnen, ohne die es keine wichtigen Dinge geben kann - ein Trick, der es einem erlauben soll, die Vorteile des "common sense" mit der Verleugnung des "common sense" zu verbinden. Oder kann man z.B. überhaupt etwas Belangvolles über die öffentliche Meinungsbefragung sagen, ohne daß man sich der Tatsache bewußt ist, daß viele Antworten in den Fragebogen von unintelligenten, unwissenden, heuchlerischen und unvernünftigen Personen abgegeben werden, und daß nicht wenige Fragen von Leuten des gleichen Kalibers formuliert werden - kann man überhaupt etwas Belangvolles über öffentliche Meinungsbefragungen sagen, ohne ein Werturteil nach dem anderen zu fällen?

Betrachten wir ein Beispiel, welches WEBER selbst einigermaßen ausführlich erörtert hat. Der Staatswissenschaftler oder Historiker hat z.B. die Handlungen von Staatsmännern und Generälen zu erklären, d.h. er hat ihre Handlungen auf deren Ursachen zurückzuverfolgen. Er kann dies nicht tun, ohne die Frage zu beantworten, ob die betreffende Handlung durch vernünftiges Erwägen der Mittel und Zwecke oder etwa durch emotionale Faktoren verursacht worden ist. Zu diesem Zwecke hat er sich das Modell einer vollkommen rationalen Handlung unter den gegebenen Umständen zu konstruieren. Nur so wird er imstande sein zu sehen, welche irrationalen Faktoren, wenn überhaupt welche vorhanden waren, seine Handlung vom streng rationalen Kurs abweichen ließen.

WEBER gab zu, daß eine solche Untersuchung eine Wertung einschließt: wir sind zu der Aussage gezwungen, daß der betreffende Akteur diesen oder jenen Fehler beging. Aber, so argumentierte WEBER, die Konstruktion des Modells und das sich daraus ergebende Werturteil über die Abweichung vom Modell bilden lediglich ein Übergangsstadium im Prozeß kausaler Erklärung. Als gute Kinder sollen wir denn also so bald wie möglich vergessen, was wir im Vorbeigehen unweigerlich bemerken mußten, aber nicht bemerken sollten. Wenn der Historiker aber erstens durch objektive Konfrontation der Handlung eines Staatsmannes mit dem Modell "rationalen Handelns unter den gegebenen Umständen" zeigt, daß der Staatsmann einen Schnitzer nach dem anderen beging, dann fällt er ein objektives Werturteil, nämlich: der Staatsmann war im höchsten Maße unfähig.

In einem anderen Fall gelangt der Historiker durch das gleiche Vorgehen zu dem ebenso objektiven Werturteil, daß ein General ungewöhnliche Findigkeit, Entschlossenheit und Klugheit zeigte. Diese Art von Erscheinung zu verstehen ist unmöglich, wenn man sich nicht des Urteilsmaßstabes bewußt ist, welcher der Situation innewohnt und von den Handelnden selbst als Selbstverständlichkeit akzeptiert wird; und es ist unmöglich, von diesem Maßstab nicht durch tatsächliches Werten Gebrauch zu machen. Zweitens könnte man sich fragen, ob das, was WEBER als bloß zufällig oder einem Zwischenstadium zugehörig betrachtete - nämlich die Einsicht in das Wesen der Torheit und Weisheit, Feigheit und Tapferkeit, Barbarei und Humanität usw. -, des Interesses des Historikers nicht würdiger wäre als jede kausale Erklärung nach der WEBERschen Art und Weise. Was die Frage anbetrifft, ob die unvermeidlichen und einwandfreien Werturteile ausgedrückt oder unterdrückt werden sollten, so ist dies in Wirklichkeit die Frage, wie diese ausgedrückt werden sollten, nämlich "wo, wann, durch wen und gegenüber wem"; sie gehört daher vor ein anderes Forum als das der Methodologie der Sozialwissenschaften.

Die Sozialwissenschaft könnte Werturteile nur durch striktes Verbleiben innerhalb der Grenzen einer rein historischen oder "interpretierenden" Denkweise vermeiden. Der Soziologe würde sich ohne Murren der Selbstauslegung seiner Gegenstände beugen müssen. Es wäre ihm nicht gestattet, von "Sittlichkeit", "Religion", "Zivilisation" usw. zu sprechen, wenn er das Denken von Völkern oder Stämmen interpretiert, die sich solcher Begriffe nicht bewußt sind. Andererseits müßte er als Sittlichkeit, Religion, Kunst, Staat etc. akzeptieren, was Sittlichkeit, Religion, Kunst etc. zu sein beansprucht. Tatsächlich existiert eine Soziologie des Wissens, wonach alles, was Wissen zu sein vorgibt - sogar wenn es notorischer Unsinn ist -, vom Soziologen als Wissen akzeptiert werden muß.

WEBER setzte die Typen gesetzmäßiger Herrschaft dem gleich, was man für Typen gesetzmäßiger Herrschaft hält. Diese Beschränkung setzt einen jedoch der Gefahr aus, daß man jeder Täuschung und jeder Selbsttäuschung der Leute, die man untersucht, zum Opfer fällt. Sie hemmt jede kritische Haltung. Sie beraubt daher die Sozialwissenschaft jeglichen möglichen Wertes. Was ein General, der große Fehler gemacht hat, von sich selbst hält, kann vom politischen Historiker nicht akzeptiert werden, und wie sich ein alberner Verseschmied selbst versteht und interpretiert, kann vom Literaturhistoriker nicht akzeptiert werden. Auch kann sich der Soziologe nicht mit der Interpretation eines gegebenen Phänomens zufriedengeben, die von der Gruppe, innerhalb welcher es auftritt, akzeptiert wird.

Neigen Gruppen weniger zur Selbsttäuschung als Einzelpersonen? Es war für WEBER leicht, die folgende Forderung aufzustellen: "Darauf allein, wie das Individuum tatsächlich von den charismatisch Beherrschten, den 'Anhängern' oder 'Schülern', bewertet wird, kommt es an (für die Bezeichnung einer gegebenen Eigenschaft als charismatisch)". Acht Zeilen weiter lesen wir: "Einen anderen Typus (eines charismatischen Führers) verkörpert JOSEPH SMITH, der Mormonenstifter, der jedoch nicht mit absoluter Gewißheit als ein solcher Typus klassifiziert werden kann, da die Möglichkeit besteht, daß er, vielleicht aber nicht ganz sicher, wirklich ein raffinierter Schwindler war", d.h. daß er lediglich vorgab, ein Charisma zu haben.

Der Soziologe kann nicht dazu verpflichtet sein, es bei den juristischen Fiktionen zu belassen, die eine gegebene Gruppe niemals als juristische Fiktionen anzusehen wagte; er ist gezwungen zu unterscheiden, wie eine gegebene Gruppe sich die Autorität, von welcher sie beherrscht wird, tatsächlich vorstellt, und was die wahre Natur der betreffenden Autorität ist. Andererseits kann die streng historische Forschungsweise, welche sich darauf beschränkt, die Menschen so zu verstehen, wie diese sich selbst verstehen, sehr fruchtbringend sein, wenn sie in ihrem Bereich bleibt. Indem wir uns dies klarmachen, erfassen wir ein legitimes Motiv, welches der Forderung nach einer nichtwertenden Sozialwissenschaft zugrunde liegt.

Heute ist es trivial zu sagen, daß der Soziologe fremde Gesellschaften nicht gemäß den Maßstäben seiner eigenen Gesellschaft beurteilen darf. Er sieht seinen Stolz darin, nicht zu loben und nicht zu tadeln, sondern zu verstehen; er kann aber nicht ohne ein Begriffsschema oder ein Bezugssystem verstehen. Nun ist nichts wahrscheinlicher, als daß sein Bezugssystem eine bloße Reflexion der Art und Weise ist, in welcher sich seine eigene Gesellschaft zu seiner Zeit selbst versteht. Demzufolge wird er andere Gesellschaften als seine eigene auf eine für diese Gesellschaften völlig fremde Art und Weise interpretieren. Er wird sie in das Prokrustesbett seines Begriffsschemas zwingen und nicht so verstehen, wie diese sich selbst verstehen.

Da das Eigenverständnis einer Gesellschaft ein wesentliches Element ihres Seins ist, wird er diese Gesellschaften nicht verstehen, wie sie wirklich sind, und da man seine eigene Gesellschaft nicht in angemessener Weise verstehen kann, wenn man nicht andere Gesellschaften versteht, so wird er sogar nicht einmal imstande sein, seine eigene zu verstehen. Somit muß er verschiedene Gesellschaften der Gegenwart und Vergangenheit oder bedeutende "Teile" jener Gesellschaften genau so verstehen, wie diese sich selbst verstehen oder verstanden haben. Innerhalb der Grenzen dieser rein historischen und daher bloßen Vorbereitungs- oder Hilfsarbeit ist jene Art der Objektivität, die das Unterlassen von Wertungen einschließt, statthaft und sogar von jedem Gesichtspunkt aus unentbehrlich. Besonders hinsichtlich eines solchen Phänomens wie etwa einer Lehre ist es offenbar, daß man ihre Vernünftigkeit nicht beurteilen oder etwa soziologisch erklären kann, bevor man sie verstanden hat, d.h. bevor man sie genau so verstanden hat, wie ihr Urheber sie verstand.
LITERATUR - Leo Strauss, Die Unterscheidung zwischen Tatsachen und Werten, in Hans Albert / Ernst Topitsch, Werturteilsstreit, Darmstadt 1979