ra-2 G. AdlerF. StaudingerF. BitzerF. A. LangeH. Schüssler    
 
THEOBALD ZIEGLER
Die soziale Frage
eine sittliche Frage

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"Weit schwieriger noch als die Frage, wie weit in der Welt des Sozialismus der Individualität die Möglichkeit und das Recht sich durchzusetzen und zu behaupten, sich zu entwickeln und auszuleben gewahrt bleiben würde, ist die andere: wenn das eigene Interesse bei der Arbeit nicht mehr ins Spiel kommt, fällt damit nicht die stärkste Triebfeder zur Arbeit selbst weg? Zunächst: ganz aufheben will ja auch der Sozialismus den Egoismus nicht; auch hier muß der Mensch arbeiten, um zu leben; Faulheit ist geradezu ein Verbrechen, das Hauptverbrechen im sozialistischen Staat; ein Mensch, der fähig ist Dienst zu tun, sich dessen aber hartnäckig weigert, wird zu Isolierhaft bei Wasser und Brot verurteilt, bis er sich willig zeigt. Auf der anderen Seite aber soll allerdings der im Privatbesitz und Privatgewinn liegende egoistische Anreiz wegfallen, wir sollen sorglos in den Tag hineinleben können und nicht ängstlich für den nächsten Tag sorgen müssen. Und darum, wenn bisher gerade in dieser eogistischen Sorge für sich und im Trieb reich zu werden ein Haupthebel allen materiellen Fortschritts bestanden hat, wird dann nicht mit dem Wegfallen jener Sorge auch dieser Fortschritt künftighin lahmgelegt werden, Stillstand und Rückschritt eintreten und unredliche Trägheit umsich greifen? Nein, antwortet darauf der Sozialist; denn zweierlei tritt an die Stelle jenes im Privateigentum wurzelnden Reizmittels, - die Ehre und die Pflicht."

Zweites Kapitel
Die sozialistischen Utopien

Utopie, Nirgendheim - so heißt das Land; und doch, wer die erste und älteste dieser Utopien, PLATONs Republik, mit Aufmerksamkeit und Verständnis gelesen hat, der weiß, wie viele von den staatssozialistischen Träumen dieses Griechen in Erfüllung gegangen sind; und wer vollends die Utopie desjenigen kennt, der allen diesen Staatsromanen den Namen gegeben hat, (1), der einnert sich, wie realistisch nüchtern dieser Engländer mit der Frage beginnt, ob man recht daran tue, die Diebe zu hängen; und verneint wird dieselbe von ihm, weil andere und anderes schuld sei dann, daß so viel gestohlen werde -, anderes d. h. jene bedenklichen agrarischen Zustände Englands, in denen der scharfe Verstand des THOMAS MORUS schon damals eine große soziale Gefahr erkannte: anstelle kleinbäuerlicher Bewirtschaftung die großen Latifundien müßiger und verschwenderischer Herren, auf welchen aus Äckern Weideland gemacht, Schafe gehalten und die Bauern ausgetrieben wurden. Wer das von den Utopien weiß und so über sie urteilt, der sieht in ihnen nicht ohne weiteres ein Nie und Nirgends, sondern immer nur ein Noch nicht und ein Nicht so, und will daher mit dem Namen zunächst nur eine Tatsache bezeichnen, nicht sofort auch ein Werturteil fällen.

Doch erst handelt es sich um den Weg in das gelobte Land.

Die äußere Umgestaltung, mit der der Sozialismus so rasch als möglich beginnen möchte, glaubt er auf doppelte Weise herbeiführen und verwirklichen zu können: entweder gewaltsam durch Revolution oder friedlich und legal durch Abstimmung und Gesetz. Über den ersten Weg ist aus naheliegenden Gründen nicht zu diskutieren; ich halte es geradezu für gefährlich, wenn den Sozialdemokraten gegenüber immer wieder betont wird, daß sie nur durch Gewalt und blutigen Umsturz ihre Ziele würden erreichen können, und wenn daher Angehörige der sogenannten staatserhaltenden Parteien den Teufel der sozialen Revolution mit Pulverdampf und Barrikadenkämpfen an die Wand malen. Man gewöhnt so förmlich an den Gedanken und stumpft die im deutschen Volk glücklicherweise noch recht weit verbreitete Scheu ab, die davor zurückschreckt. Nein, lieber wollen wir sie beim Wort nehmen und ihre Führer auf der oft wiederholten Versicherung festnageln, daß es auch ohne Blut, auf friedlichem Weg gehen könne und gehen müsse.

Freilich eine Machtfrage bleibt es auch dann. Der Staat, der ja allein in legitimer Weise zwingen kann, und speziell die gesetzgebende Gewalt des Staates müßte zu diesem Zweck in die Hände der Sozialisten fallen. Wie der Staat überall, wo Parlamente, vollends wo diätenlose Parlamente an der Gesetzgebung teilnehmen, vielfach dem Einfluß des Großkapitals und der Großindustrie unterstellt ist und deshalb seine Maschinerie zu ihren Gunsten und in ihrem Interesse funktionieren läßt, so hätte er künftig in anderer Richtung zu arbeiten, sich und die in ihm lebende Gesellschaft im Sinn des Sozialismus umzugestalten. Und das Mittel dazu wäre - das allgemeine Stimmrecht. Freilich, noch ist es nicht so weit; im deutschen Reichstag beträgt die Zahl der Mitglieder der sozialdemokratischen Partei von 397 immer erst 45. Aber ihr Wachstum ist unverkennbar ein rapides, 1887 waren 763 128 sozialdemokratische Stimmen abgegeben worden, 1893 bereits 1 786 738, und ohne Frage ist ja die Zahl der Arbeiter - das Wort im sozialdemokratischen Sinn genommen - größer als die aller übrigen Klassen zusammen; gelingt es also, sie alle in  einem  Sinn und unter  einer  Fahne zur Wahlurne zu führen, gelingt es namentlich, die bisher der Bewegung noch wenig zugänglichen ländlichen Arbeiter zu einmütigem Zusammengehen zu bewegen, und ganz aussichtslos ist das ja nicht, so ist es in der Tat nur noch eine Frage der Zeit, wann die Klinke der Gesetzgebung in ihre Hand gelegt werden wird. Bleibt freilich, vor allem in monarchischen Staaten, noch die Regierung. Allein  auf die Dauer  kann gegen den Willen der Majorität, wenn wir nicht mit Ausnahmemenschen wie BISMARCK rechnen wollen, nicht regiert werden. Tut es die Regierung dennoch und greift sie schließlich zum Staatsstreich, so fällt die Verantwortung auf sie; ihr Recht, das bloße Notrecht des äußersten Falles, ist dann nicht besser und nicht schlechter, als das des Volkes zur Revolution, und der Ausgang des nun natürlich fast unvermeidlichen Kampfes - von allem Hier und allem Heute selbstverständlich weit abgesehen - wäre zum mindesten zweifelhaft.

Es ist aber auch noch ein anderes denkbar: daß sich die Regierung, der Fürst des Landes von der Gerechtigkeit und Vernünftigkeit der sozialistischen Forderungen überzeugt, selber an die Spitze der Bewegung stellt, und dann -, ja dann macht sich alles einfach und leicht genug. Vielleicht! Vorausgesetzt nämlich, daß sich nicht im Alten ungeahnt neue Kräfte des Widerstands entwickeln; und dann wären zwar die Rollen vertauscht, aber eine Machtfrage wäre es auch in diesem Fall.

Doch wichtiger als der in Dunkel gehüllte Weg zum Sieg ist der Inhalt dieses Sieges, das Was dessen, was das sozialistische Parlament zu beschließen und die sozialistische Regierung zu verfügen und auszuführen hätte. Wir kennen dieses Ziel bereits: Verwandlung des Privateigentums, wenigstens soweit es Produktionsmittel ist, in staatliches oder richtiger in gesellschaftliches Eigentum. Das ist in einer kurzen Formel alles und das Ganze, nur das, weiter nichts; aber in der lapidaren Kürze inhaltsreich und inhaltsschwer genug. Das Programm enthält zweierlei - ein Negatives, die Beseitigung des Privateigentums, und ein Positives, die Schaffung von staatlichem oder Gesellschaftseigentum, soweit das Produzierte nicht konsumiert wird, sondern Mittel zu neuer Produktion werden kann.

Aber auch hier wäre sofort wieder und zuvörderst mit FAUST zu fragen: wie fangen wir das an? und der sozialdemokratische MEPHISTOPHELES, der uns vom Marterort des Privateigentums fortlocken möchte, erwidert darauf: wir expropriieren! Dabei sorgt nach sozialistischer Lehre der Kapitalismus selsbt durch den immanenten Gang seiner Entwicklung für Vereinfachung und Abkürzung des Verfahrens. In seinem Wesen liegt, wie wir das an der Verdrängung und Aufsaugung des Kleinhandwerks durch die Großindustrie, der bäuerlichen Zwergwirschaften duch die Großgrundbesitzer und ebenso an der immer häufigeren Verwandlung und Zusammenballung selbständiger Betriebe, Brauereien, Druckereien, Spinnereien usw. in große Aktienunternehmungen und an der großartigen Ausdehnung der gewerblichen Kartelle sehen können, - im Wesen des fortschreitenden Kapitalismus selbst liegt die Neigung zum Großbetrieb und folglich zur Verschlingung der vielen Kleinen durch wenige Große. So müssen sich allmählich sämtliche Produktionsmittel, alles Kapital in immer wenigeren Händen vereinigen, die Kleinen werden durch die Großen expropriiert. Und nun vollzieht sich - man erkennt am ganzen Raisonnement unschwer die Herkunft dieser Theorie aus der Schule HEGELs und ihrer Dialektik - das Selbstgericht an diesen Großen, und der sozialistische Staat tut ihnen nur wieder, was sie bis dahin an anderen geübt und verübt haben, er expropriiert die Expropriateurs.

In dieser Schilderung des Hergangs, deren Voraussetzungen auf ihre Tatsächlichkeit hin und deren Verallgemeinerung unter Berufung auf zahlreiche, aber doch immer nur in gewissen Gebieten beobachtete Erscheinungen auf ihre methodologische Richtigkeit zu prüfen ich der Nationalökonomie überlassen muß, vor deren Richterstuhl die ganze Argumentation einen schweren Stand haben wird (2), liegt aber zugleich auch die Entscheidung über Recht und Unrecht der geplanten und geforderten Maßregel mit ausgesprochen. So gut der Staat heute schon im Interesse der Gesamtheit und zum Wohl des Ganzen das Expropriationsrecht hat, so gut hätte er es auch bei jenem letzten umfassenden Schritt. Aber wäre es nicht doch in diesem erweiterten, über das heutige Maß weit hinausreichenden Umfang ein gewaltiger Eingriff in das geheiligte Recht des Privateigentums? Zunächst ist ja auch hier wie beim jetzt gültigen Enteignungsverfahren nicht ausgeschlossen, daß die zu expropriierenden Expropriateurs entschädigt würden. Die sozialistische Gesellschaft braucht kein Geld mehr, und daher könnte ihnen bei Wegnahme ihrer Grundstücke, Fabriken, Maschinen, Rohstoffe und Vorräte Geld gegeben werden, soviel sie begehrten. Es würde ihnen damit freilich leicht ebenso ergehen, wie König MIDAS mit seinem Gold: sie könnte in einem Land, wo man um Geld nichts kaufen und bekommen kann, mit allen ihren Millionen verhungern müssen. Allein da es vorläufig neben den sozialistisch organisierten Staaten und Nationen noch andere nach dem alten individualistischen System verwaltete geben würde, so hätten die Expropriierten zu optieren und könnten mit ihrem Geld auswandern dahin, wo sich solches noch verwerten ließe, wenn sie es nicht doch vorzögen, sich der neuen Gesellschaftsordnung in der Heimat zu fügen und in ihr zu leben. Es bliebe dabei sogar noch eine andere Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß man sie und vielleicht die sämtlichen lebenden Mitglieder ihrer Familien durch Gewährung einer Genußmittelrente auf Lebenszeit als Staatspensionäre ohne Arbeit unterhielte, also in ähnlicher Weise bevorzugte und privilegierte, wie in unseren Staaten die Standesherren von gewissen Lasten und Leistungen befreit sind; wozu vielleicht dann am ehesten Aussicht vorhanden wäre, wenn diese Kapitalisten die Expropriation möglichst gutwillig über sich ergehen ließen; andernfalls freilich würde es, so fürchte ich, heißen: Doch bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt, und von Entschädigung würde bald keine Rede mehr sein.

Allein abgesehen von diesem sich in Wirklichkeit natürlich bei weitem nicht so glatt und einfach abspielenden Übergangsprozeß, wie steht es mit der gegen diese Maßregel angerufenen Heiligkeit und Unantastbarkeit des Privateigentums? Darüber ist kein Zweifel, daß dasselbe innerhalb unserer heutigen Gesellschaftsordnung zu Recht besteht in der Tat einen hohen Grad von Festigkeit und wirklicher Unantastbarkeit hat und haben muß. Aber doch nur  innerhalb  dieser Ordnung: mit ihr steht es, mit ihr könnte es auch fallen. So gut es eine Zeit gab, wo jedenfalls Grund und Boden Kollektiveigentum war, so gut könnte eine solche Zeit auch wiederkommen. Ein  absolutes  Recht ist in der Tat das Eigentumsrecht nicht. Heute scheint es uns so, wie es im RÜCKERTschen Gedicht heißt:
    So ging es ewig an diesem Ort,
    Und wird so gehen ewig fort;
aber wir wissen:
    Und aber nach fünfhundert Jahren
    Will ich desselbigen Weges fahren!
An der Peripherie wird das zuerst klar. Das Erbrecht ist ein Annex des Privateigentums, vor allem in der Form freier testamentarischer Verfügung: in einer solchen behauptet der Einzelne über sein individuelles Dasein hinaus das Bestimmungsrecht über sein Vermögen, er kann den Übergang desselben etwa an gewisse Bedingungen knüpfen und so in eine ferne Zukunft hinein und abgesehen von jedem Familienzusammenhang die Ursache gewisser Handlungen werden, die ursprünglich vielleicht vernünftig und richtig gedacht, später sich als unvernünftig und drückend herausstellen können. Und daher der naheliegende Gedanke einer Beschränkung erst dieser freien testamentarischen Verfügung, dann aber auch der auf Blutsverwandtschaft ruhenden Erbfolge. Diese Fragen stehen ja gegenwärtig auf der Tagesordnung, zunächst in der noch ganz im Rahmen unserer heutigen Einrichtungen ich haltenden Form einer mehr und mehr wachsenden Erschaftssteuer, die, wenn sie gewisse bescheidene Ansätze übersteigt, tatsächlich nichts anderes ist als eine teilweise Einziehung des Privatvermögens beim Tod des Besitzers. Von da wäre es nur ein nächster Schritt, eine andere Form für dasselbe, wenn etwa der Staat für die zu vererbenden Summen ein bestimmtes Maximum festsetzte und das Plus des Vorhandenen für sich in Anspruch nähme. Ob das klug wäre, lasse ich dahingestellt; ob es mit der Entwicklung unserer Rechtsanschauung in Einklang stünde und sich leicht und rasch Eingang in dieselbe zu verschaffen wüßte, ebenso; aber daß es Recht, formales Reht werden könnte, ist zweifellos.

Würde sich hierdurch das Privateigentum stufenweise beschränken oder doch in gewissen bestimmten Grenzen gehalten, die Bildung abnorm großer Familienvermögen verhindert werden können, so ist eine zweite gegenwärtig viel ventilierte (3) Frage die nach dem Fortbestand oder der Abschaffung des Eigentums an Grund und Boden, die Rückverwandlung des Grundbesitzes in Gemeingut. Wie das private Landeigentum vielfach aus Kollektivbesitz der Gemeinde hervorgegangen ist und im Interesse einer vorteilhafteren Bewirtschaftung und rationellen Bodenverbesserung aufrecht erhalten wurde, so könnte in der Zeit der Maschinen und ihrer Anwendung auch auf landwirtschaftliche Betriebe zum Zweck einer noch weit intensiveren Ausnützung der Boden wieder in Gemeingut zurückverwandelt oder geradezu verstaatlicht werden, sei es daß dann, in anderer Verteilung natürlich, die bisherigen Besitzer zu Staatspächtern gemacht oder daß aller Boden in genossenschaftlicher Bearbeitung von Staatswegen und durch Arbeiter und Angestellte des Staats bebaut werden sollte.

und endlich könnte man wenigstens daran denken, allen überbauten und in absehbarer Zeit zu überbauenden Boden in Stadt und Dorf zu Gemeindeeigentum zu machen und so der kapitalistischen Bauplatzspekulation mit  einem  Schlag ein Ende zu bereiten, um dadurch die brennende Frae der Beschaffung guter und billiger Wohnungen für die Armen auf einem andern, im wesentlichen sozialistischen Boden ihrer Lösung entgegenzuführen. Allerdings würden hier die Schwierigkeiten der Enteignung und der Festsetzung der zu bezahlenden Entschädigung vermutlich noch überboten von der Größe der damit an die Kommunen herantretenden Aufgabe, die in ihren Besitz übergegangenen Baustellen richtig und gerecht, rationell und human zugleich zu verwerten: das in London herrschende Leasing-System (4) könnte wenigstens zeigen, wie es nicht gemacht werden dürfte.

Scheinen aber diese Betrachtungen über die Relativität des Eigentumsrechts allzu utilitaristisch nur den "Zweck im Recht" zu berücksichtigen, so ist ein weit darüber hinausgreifender ethischer Gedanke der, daß das Privateigentum seinem Besitzer nicht nur Rechte verleihe, sondern ihm auch gewisse Pflichten auferlege im Dienste der Gesamtheit und des Gemeinwohls, durch deren Nichterfüllung dasselbe vor dem Richterstuhl der Moral verwirkt werde. Der Ursprung des Privateigentums ist gewiß vielfach begleitet gewesen von roher Gewalt und arger List, aber es ist heute nicht nur durch den Staat legalisiert, sondern auch in der sittlichen Anschauung der Nachgeborenen längst schon sanktioniert worden dadurch, daß es zu einem Gegenstand und Produkt menschlicher Arbeit wurde: menschliche Kraft ist dafür eingesetzt, der Stempel des Menschlichen ist ihm aufgedrückt, es ist geradezu ein Stück des Menschen selbst geworden und hat so weithin segensreich gewirkt im Dienste der menschlichen Kultur. Eben darum ist aber auch seine Fortexistenz nur gewährleistet, wenn es in Verbindung bleibt mit sittlicher Kraft und Leistung und wenn es in Verbindung bleibt mit sittlicher Kraft und Leistung und wenn es soziale Funktionen übernimmt als ein Mittel, die Kultur zu fördern, nicht aber sie zu hemmen; denn nur das Sittliche und sittlich Gewohnte verbürgt die Dauer einer rechtlichen Institution. Wird man in weiten Kreisen an Berechtigung und Nutzen irre, so wird mit dem Glauben an den Kern auch die Form zerstört, mit dem Herzog fällt auch der Mantel.

Das Gesagte sollte zeigen, daß eine rechtliche - früher hätte man gesagt: eine naturrechtliche Nötigung, am Privateigentum im bisherigen Umfang in alle Ewigkeit festzuhalten, nicht besteht. Völlig unberührt davon bleibt aber natürlich die andere Frage, ob es im Interesse unserer Sitte und Sittlichkeit wäre, das Privateigentum in erheblichem Maße zu beschränken oder gar völlig abzuschaffen. Daß damit ein Stück Glück, und daß vor allem eine der mächtigsten Triebfedern menschlichen Handelns und ein Hauptfaktor allen Kulturfortschritts verloren ginge, liegt auf der Hand und wird von den Gegnern dieser Einrichtung über ihren freilich auch vorhandenen Nachteilen und üblen Folgen viel zu wenig gewürdigt. Allein da doch alles darauf ankommt, was an seine Stelle gesetzt werden und seine Funktionen übernehmen soll, so erörtern wir diese Frage besser gleich im Zusammenhang mit der anderen positiven Seite des sozialistischen Programms: was würde denn die geforderte Verwandlung des Privateigentums in gesellschaftliches Eigentum der Produktionsmittel leisten und bringen?

Das im Einzelnen auszuführen ist eben Sache der sogenannten Utopien, der Gesellschaftsideale der Sozialisten. Nun ist es allerdings schon wiederholt von den Führern der Partei für kindisch erklärt worden, solche Ideale aufzustellen: "zu erfragen, wie es in einem sozialdemokratischen Zukunftsstaat aussehe, kann nur ein Narr verlangen" -; auch das ein Zeichen von der praktischeren Haltung der Sozialdemokratie für die Zukunft, ein Zeichen, daß sie nicht mehr von heute auf morgen alles und das Ganze erreichen zu können glaubt und damit den Weg der Reformen von Fall zu Fall wenigstens nicht grundsätzlich mehr verschmäht und abweist. Allein solange daneben doch noch an jenem umfassenden letzten Verlangen festgehalten wird, solange wird man immer wieder in die Partei dringen dürfen und müssen: sagt uns, wie ihr euch die so umgestaltete Gesellschaft vorstellt und was ihr von einer solchen radikalen Umgestaltung erwartet? und Freund und Feind lockt es immer wieder, Zukunftsbilder zu entwerfen und sich auf das weite Meer der Möglichkeiten hinauszuwagen. Meist freilich sind es Gegner, so nicht gerade ungeschickt EUGEN RICHTER in seinen "Irrlehren der Sozialdemokratie" (5). Dann weiterhin SCHÄFFLE in jener Periode seiner an Wandlungen reichen Schriftstellerlaufbahn, wo er dem Sozialismus sympathisch gegenüberstand, ja geradezu "unter die Sozialisten gegangen war": erst in der "Quintessenz des Sozialismus" (1875), dann im dritten Band seines Werkes "Bau und Leben des sozialen Körpers" (1878) war er bemüht, aus allerlei Umhüllungen und unter Weglassung der schlimmsten Übertreibungen den möglichen Kern herauszuschälen und das Maß der Durchführbarkeit einer sozialistischen Kollektivorganisation nachzuweisen. Von sozialistischer Seite selbst aber hat zuletzt BEBEL, hierin offenbar weniger zurückhaltend und kühl als sein Freund LIEBKNECHT, in seinem Buch "Die Frau und der Sozialismus" (25. Aufl. 1895) uns einen Blick in die sozialistische Zukunft tun lassen, wobei er sich allerdings bewußt zu sein Zukunft tun lassen, wobei er sich allerdings bewußt zu sein erklärt, daß "kein Mensch heute zu übesehen vermöge, wie künftige Generationen ihre Einrichtungen treffen, ihre Bedürfnisse am vollkommensten befriedigen werden"; und so "kann es sich selbstverständlich nicht um die Feststellung unumstößlicher Grenzlinien und unabänderlicher Maßregeln handeln", sondern höchstens darum, wie nach der Expropriation aller Arbeitsmittel "die Dinge auf den verschiedenen Hauptgebieten der menschlichen Tätigkeit wahrscheinlich sich gestalten werden". Endlich ist - neben THEODOR HERTZKAs Schilderung einer in Afrika zu gründenden freiheitlich-sozialistischen Kolonie "Freiland" u. a. m. - hier noch EDWARD BELLAMY mit seinem vielgenannten und wohlbekannten "Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887" zu nennen, der von BEBEL als "wohlwollender Bourgeois" um seiner "Halbheit" willen doch unverdient schlecht behandelt wird. Ja für uns ist gerade dieses BELLAMYsche Zukunftsbild der interessanteste Versuch, da in ihm auch die sittliche Seite dieser neuen Welt eingehend berücksichtigt wird. Umso mehr ist - natürlich nicht die lustige, halb dichterische Form im allgemeinen, welche einem solchen Zukunftsroman ganz wohl ansteht, sondern das ist zu bedauern, daß BELLAMY durch die phantastische Einführung dem Ganzen von vornherein den Stempel des Unwahrscheinlichen aufgedrückt und daß er durch die eingefügte fleisch- und blutlose Liebesgeschichte den Ernst der Sache teilweise beeinträchtigt und das Interesse an den Figuren nicht erhöht, sondern vielmehr abgeschwächt hat.

Also Stoff genug, und unsere Aufgabe vielmehr die: ohne allzuviel Zukunftsmusik nackt und glatt herauszuschälen, was bei dieser sozialistischen Gesellschaftsordnung  für das sittliche Leben  der Menschen herauskommen soll. Dagegen müssen wir es der Nationalökonomie überlassen, diese Utopien auf ihren wirtschaftlichen Wert oder Unwert, auf Möglichkeit oder Unmöglichkeit hin zu prüfen. Eines freilich ist nie zu vergessen, daß man sich stets im luftigen Reich der Phantasie und der bloßen Möglichkeiten bewegt und daß daher die leichteste Verschiebung genügt, um uns diese Gebilde jetzt im Licht idealer Verklärung und gleich darauf in lächerlicher Verzerrung erscheinen zu lassen. Der Anhänger wird alles verheißungsvoll und vielversprechend, alles möglich und ausführbar finden, der Gegner überall nur Berge von Schwierigkeiten und verhängnisvollen Konsequenzen erblicken. Enscheiden, wer richtiger sieht, läßt sich hier, wo uns die Erfahrung fehlt, natürlich nicht. Und selbst Versuche im Kleinen, wie sie ja in der einen und anderen Form immer wieder gemacht worden sind und werden, beweisen wenig oder nichts; denn ob sie gelingen oder mißlingen, immer bleibt dem, gegen den sie zeugen, die Ausrede: Ja, aber im Großen und allgemein durchgeführt würde sich die Sache ganz anders gestalten; im Kleinen hängt alles von der an der Spitze stehenden Persönlichkeit ab, nur im Großen und allgemein durchgeführt würde sich die Sache ganz anders gestalten; im Kleinen hängt alles von der an der Spitze stehenden Persönlichkeit ab, nur im Großen wirkt die Einrichtung als solche und unabhängig von den glücklich oder unglücklich dafür organisierten Menschen. Und so ergeht es uns mit diesen Utopien vielfach, so wie GRETCHEN mit FAUSTs Christentum:
    Wenn man's so hört, möcht's leidlich scheinen,
    Steht aber doch immer schief darum.
Doch nun zur Sache selbst.

Wozu produziert auf dem Boden der individualistischen Gesellschaftsordnung der Einzelne? Um sich zu erhalten und sich zu bereichern -, sich und fügen wir gleich hinzu: seine Familie. Wie die übrigen bei diesem seinem aufs Erwerben gerichteten Tun fahren, das ist ihm im wesentlichen gleichgültig. Da aber tatsächlich nur der reüssiert und profitiert, der mit seinem Angebot der Nachfrage entgegenkommt, mit seinen Produkten Absatz findet und die Bedürfnisse möglichst vieler befriedigt, so gehen doch bis zu einem gewissen Grad die Interessen von Produzenten und Konsumenten Hand in Hand. Diese richtige Beobachtung liegt dem manchesterlichen  laisser aller, laisser faire  [geschehen lassen - wp] zugrunde, sie wird von ihm verallgemeinert und zum allgemeingültigen Gesetz der freien Konkurrenz erhoben. Alles reguliert sich nach dieser individualistischen Anschauung von selbst: sorge nur jeder möglichst intensiv für sich, so ist damit auch für die Gesamtheit am besten gesorgt. Allein die ganze Argumentation beruth doch auf einer Abstraktion und vorschnellen Verallgemeinerungen richtiger Beobachtungen. Jener Optimismus wird durch die fast mit der Regelmäßigkeit von Ebbe und Flut wiederkehrenden Krisen widerlegt. Diese Geschäfts- und Handelskrisen sind, wenn wir von den dabei mitwirkenden Börsenspekulationen absehen, eine Folge der Überproduktion, des Mißverältnisses von Produktion und Konsumtion, der Unverantwortlichkeit der Unternehmer für ihr darauf los Produzieren im eigenen Interesse, mit einem Wort also die Folge der völligen Planlosigkeit und Zufälligkeit unseres gegenwärtigen Produzierens.

Während wir aber hierbei vielfach nur an die Großen Denken, die das Opfer solcher Krisen werden und recht sichtlich von ihrer stolzen Höhe in das Dunkel einer kümerlichen Existenz hinabstürzen, wohl auch in den meisten Fällen nicht ganz frei sind von Übermut und Schuld und so bald eine gewisse Schadenfreude, bald etwas wie tragisches Mitleid mit ihrem Sturz wachrufen, vergessen wir über ihnen nur zu leich die vielen tausend kleinen und armen Leute, die durch diese selbe Katastrophe völlig ohne Schuld von heute auf morgen arbeits- und brotlos auf das Pflaster geworfen werden. Diese entlassenen und nun zeitweise unbeschäftigten Arbeiter bilden mit ihren Familien die große Reservearmee der Industrie. Denn wenn die Krise überwunden ist und die Geschäfte wieder zu blühen anfangen, so werden ihr die Arbeitskräfte zur Ergänzung der reduzierten und zur Einstellung in die neu in Gang gesetzten Betriebe entnommen. Und zugleich setzt hier das eherne Lohngesetz ein, soviel an demselben Tatsächliches und Gültiges ist: daß nämlich eben durch diese immer zur Verfügung stehenden Scharen von unbeschäftigten Arbeitern der durchschnittliche Arbeitslohn nie dauern über eine gewisse untere Minimalgrößer erhöht zu werden braucht und sich - zwar nicht notwendig auf der Grenze, denn darin bestand die Übertreibung, aber doch vielfach in der Nähe der Grenze des sogenannten Hungerlohns hält. Arbeit ist Ware geworden, und jene Reservearmee sorgt dafür, daß sie es immer bleibt und daß die Ware nie zu teuer wird.

Das alles soll nun im Sozialistenstaat anders und von Grund auf besser werden. Indem die Produktion planmäßig geleitet und einheitlich organisiert, indem somit richtig produziet und jede Überproduktion vermieden wird, fällt die auf ein solches Zuviel von Produkten verwendete und verschwendete Arbeit in Zukunft weg, es wird Kraft gespart. Und da alle zu arbeiten haben, auch für die industrielle Armee die allgemeine Wehrpflicht eingeführt wird und niemand von der Arbeit dispensiert und frei ist, so wird eine ganze Schar nichtstuender Vagabunden und nichtstuender Rentner, wie wir sie heutzutage haben und wie sie unter uns von anderer Leute Arbeit leben, und dazu das ganze große Heer der unnötig werdenden Zwischenhändler wegfallen und in die Reihen der produktiven Arbeiter eingestellt werden, so daß also zu den bisherigen ein gewaltiges Plus von Arbeitskräften hinzukäme und das Resultat im ganzen erheblich weniger Arbeit und Arbeitszeit für den Einzelnen wäre. Und umgekehrt, das Plus des Arbeitsertrags, das jetzt in irgendeiner Form als Unternehmergewinn den Kapitalisten zufällt und diese bereichert, verschwindet in dieser immer nur wenigen zugute kommenden Gestalt vollständig. Aller Ertrag und der volle Ertrag jeder Arbeit gehört der Gesamtheit, und somit bekommt, natürlich nach Abzug dessen, was zur "gemeinnützigen Verwendung" bestimmt ist, jeder Einzelne - hier scheiden sich nun aber die Zukunftsgedanken und Hoffnungen der verschiedenen Utopisten. Nach den Einen erhält jeder dasselbe, welche Art von Arbeit er auch leistet; und der Anspruch aller auf dasselbe "ruht auf der Tatsache, daß jeder Einzelne ein Mensch ist," (6) wobei immerhin die Voraussetzung die ist, daß jeder sein Bestes leistet. Oder aber weniger konsequent: die Ungleichheit bleibt, der eine tut mehr, der andere weniger, und so erhält er dann auch nach dem Maß seiner Leistungen mehr oder weniger, aber unter allen Umständen jeder genug, vollauf genug zum Leben. Also erheblich weniger Arbeit und daneben dennoch erheblich mehr Lohn, das wäre das Resultat.

Doch das Wort "Lohn" will überhaupt nicht mehr passen. Denn zunächst wird, was einer verdient, nicht in Geld bezahlt, dieses hat in der neuen Gesellschaftsordnung überhaupt keine Gültigkeit mehr; es werden ja keine Waren mehr produziert, die sich kaufen und verkaufen ließen, sondern lediglich Bedürfnis- und Gebrauchsgegenstände, und der einzige Wertmesser für alles ist die Arbeitzeit. Den großen Staatsmagazinen und Bazaren entnimmt jeder, was er braucht und haben will, direkt, ohne Zwischenhandel und zahl dafür mit Arbeitsstunden, die ihm gutgeschrieben und in der Form von Arbeitszertifikaten ausgehändigt worden sind. Mittel, um diese Checks nicht selbst wieder zu einem Handelsartikel und Papiergeld werden zu lassen, müssen gefunden werden. Ganz so einfach ist das freilich nicht; und wenn die Menschen nicht verhindert werden können, "das Nichtverbrauchte zu verschenken" oder "freiwillig für einen anderen zu arbeiten, damit dieser dem Dolce far niente [das süße Nichtstun - wp] obliegen kann", (7) so ist in der Tat die Möglichkeit vorhanden, daß Werte angehäuft und zum Loskauf von der Arbeitspflicht verwendet werden; und damit würde sich allerdings, wie Richter sagt, "der Teufel der jetzigen Weltordnung" auch in in die sozialistische Gesellschaft wieder eingeschlichen haben.

Endlich noch, und das ist für uns geradezu die Hauptsache, die veränderte Stellung der Arbeiter: sie alle werden Beamte der Gesellschaft; dem Staatsbetrieb, der über alle Produktionszweige ausgedehnt wird, entspricht der Staatsangestellte, an die Stelle des Lohns tritt das Einkommen, und diese Besoldung wird statt in Geld in Produkten ausbezahlt, die sich der Beamte für seine Arbeit nach Bedürfnis und Wahl geben lassen kann.

Damit ist ein häufig gehörter Einwand gegen diese Utopie von vornherein entkräftet: die Freiheit des Genießens, die individuelle Gestaltung des Privatlebens ist gewahrt, das Privateigentum an Gegenständen des täglichen Lebens nicht ausgeschlossen, sogar die Möglichkeit einer Vererbung der so erworbenen mobilen Habe und Gebrauchsgegenstände übrig gelassen.

Schwieriger zu beantworten ist daggen die Frage nach der freien Wahl des Berufs und der Art der Arbeit. Und doppelt schwierig wird dieses Problem der Berücksichtigung der Individualität bei Anweisung und Verteilung der Arbeit dadurch, daß die Sozialisten - was ja bei der Entstehung ihrer Ideen natürlich genug ist - unter Arbeit in erster Linie bloß Handarbeit verstehen und geistige Arbeit gar zu leicht nur im Licht der Erholung und des Genießens betrachten. Und so kann sich selbst BEBEL, der das doch besser wissen müßte, den Satz leisten: "Die künftige Gesellschaft wird Gelehrte und Künstler jeder Art und in ungezählter Menge besitzen, die einen mäßigen Teil des Tages physisch arbeiten und in der übrigen Zeit nach Geschmack ihren Studien und Künsten obliegen." (8) Während sich aber BEBEL dieser ganzen Frage gegenüber schließlich nur auf das Abwechslungsbedürfnis der Menschen beruft und recht oberflächlich fabuliert, wie "die gewaltige Steigerung der Produktivkräfte, verbunden mit immer größerer Vereinfachung des Arbeitsprozesse auch die Erlernung der verschiedenen Handgriffe und Fertigkeiten erleichtern und so die Berufsphysiognomien, die unsere Gesellschaft heute aufweist, mehr und mehr verschwinden" lassen werde, hat BELLAMY sich der Frage ernsthafter angenommen. Er denkt an eine dreijährige Probezeit bis zur Entscheidung für einen bestimmten Beruf, den sich jeder seinen natürlichen Anlagen und Neigungen entsprechend selber wählt; die Aufgabe der Verwaltung aber ist es, durch eine verschiedene Festsetzung der Arbeitszeit für die einzelnen Gewerbe die Anziehungskraft derselben beständig im richtigen Gleichgewicht zu halten und so die Nachteile der "blinden Produktion" tunlichst zu vermeiden. Zugleich gibt seine dreijährige Dienstzeit der Rekruten die Möglichkeit, eine Reihe von untergeordneten Dienstleistungen durch diese Mädchen für alles besorgen zu lassen; und wo eine Verrichtung besonders anstrengend oder gar gefährlich ist, da rechnet er ohnedies erst recht auf die Freiwilligkeit der jüngeren Leute.

Immerhin bleiben die Bedenken gegen die Möglichkeit einer wirklich freien Berufswahl im sozialdemokratischen Zukunftsstaat ungelöst, und damit bleiben zunächst äußerliche Schwierigkeiten bestehen, die aber doch bald genug ins tiefste Innere dieser Zukunftsmenschen dringen müßten. Freilich sehen dieselben von oben her weit größer aus, als sie die Menschenwelt von unten aus betrachtenden Majorität von heute erscheinen werden. Denn wie groß ist tatsächlich die freie Bewegung in der Wahl des Berufes für unsere Fabrikarbeiter oder Taglöhner, für unsere Dienstboten oder Näherinnen? Es ist zwar nicht "ohne Übertreibung", aber in der Sache doch richtig, wenn BEBEL meint, "die meisten Menschen haben einen Beruf, der ihren Fähigkeiten nicht entspreche, weil nicht freier Wille, sondern Zwang der Verhältnisse ihnen die Bahn angewiesen". Und so wäre wirklich der Gewinn an Freiheit für diese Vielen zumindest ebenso groß als für die Wenigen, für die zehntausend Oberen der Verlust.

Weit schwieriger aber noch als die Frage, wie weit in der Welt des Sozialismus der Individualität die Möglichkeit und das Recht sich durchzusetzen und zu behaupten, sich zu entwickeln und auszuleben gewahrt bleiben würde, ist die andere: wenn das eigene Interesse bei der Arbeit nicht mehr ins Spiel kommt, fällt damit nicht die stärkste Triebfeder zur Arbeit selbst weg?

Zunächst: ganz aufheben will ja auch der Sozialismus den Egoismus nicht; auch hier muß der Mensch arbeiten, um zu leben; Faulheit ist geradezu ein Verbrechen, das Hauptverbrechen im sozialistischen Staat; "ein Mensch, der fähig ist Dienst zu tun, sich dessen aber hartnäckig weigert, wird zu Isolierhaft bei Wasser und Brot verurteilt, bis er sich willig zeigt," meint wenigstens BELLAMY. Auf der anderen Seite aber soll allerdings der im Privatbesitz und Privatgewinn liegende egoistische Anreiz wegfallen, wir sollen sorglos in den Tag hineinleben können und nicht ängstlich für den nächsten Tag sorgen müssen. Und darum, wenn bisher gerade in dieser eogistischen Sorge für sich und, setzen wir wieder hinzu: für die Seinigen, im Trieb reich zu werden ein Haupthebel allen materiellen Fortschritts bestanden hat, wird dann nicht mit dem Wegfallen jener Sorge auch dieser Fortschritt künftighin lahmgelegt werden, Stillstand und Rückschritt eintreten und unredliche Trägheit umsich greifen? Nein, antwortet darauf der Sozialist; denn zweierlei tritt an die Stelle jenes im Privateigentum wurzelnden Reizmittels, - die Ehre und die Pflicht.

Alle Arbeiter sind Beamte, sind Soldaten. Auch bei unseren Beamten und Soldaten ist es nicht - sollte wenigstens nicht sein - die Aussicht auf Gewinn und materiellen Vorteil, die sie das Ihrige tun heißt, sondern die egoistisch-ideale Rücksicht auf die Ehre und das rein soziale Pflichtgefühl. Und so hat auch in der großen Armee der Gesellschaftsindustrei im Zukunftsstaat jeder die Möglichkeit und Aussicht voranzukommen: ein weitverästeltes Klassifizierungssystem, eine Hierarchie von Graden und Rangunterschieden, von Stellen und Ämtern zur Aufsicht, Verwaltung und Leitung der Arbeit und Produktion ist nicht zu entbehren, und außerdem mögen öffentliche Belobigungen und ehrende Erwähnungen, Medaillen und Abzeichen, ganz wie das niedliche Spielzeug unserer Orden, den Ehrgeiz befriedigen und die Einzelnen anspornen, es den anderen zuvorzutun. Allein wenn dieses Motiv auch bisher schon neben dem materiellen Gewinn nicht gefehlt hat, so hieße das schließlich doch nur: wir sollen in Zukunft auf einem Bein gehen, während wir bisher auf zweien gegangen sind; auf einem Bein aber geht man nicht, sondern man hüpft und man humpelt bloß. Doch dazu kommt ja nun noch das soziale Pflichtgefühl. Denn wir sollen nicht glauben, daß "darum, weil unter dem neuen System dem Sporn des Wetteifers freies Spiel gelassen ist, derselbe das Motiv sei, das bei edleren Naturen zu erwarten oder ihrer würdig wäre; diese finden ihre Motive in sich, nicht außer sich und bemessen ihre Pflicht nach ihrer eigenen Begabung, nicht nach der anderer."

Das Pflichtgefühl - gewiß; nur freilich ob es etwas so Selbstverständliches ist und jemals so gemein werden wird wie Brombeeren? Zu einer sozialistischen Gesellschaftslehre gehört auch eine soziale Ethik, gehört die Erkenntnis und Einsicht, daß die Pflicht nicht als etwas Angeborenes gewissen aristokratisch "edlen Naturen" vom Himmel geschenkt wird, sondern daß sie und das Gefühl für sie ein Produkt der Gesellschaft ist, das im Einzelnen immer neu erworben werden muß und sich mühsam, langsam emporrankt aus und zwischen ganz gemeinen egoistischen Motiven, der Furcht vor Strafe und der Freude an äußerer Ehre und fremdem Lob. Und ehe es sich hinauswagt in das Weite und sich einstellt in den Dienst für das Ganze, muß erst im engen Kreis, im Schoß der Familie und im Umgang mit den Altersgenossen, in Beruf und Arbeit dazu der Grund gelegt, es muß Respekt und Achtung vor Eltern und Lehrern, vor Gesetz und Sitte geweckt und es muß das idealere Ehrgefühl zu Hilfe gerufen werden, um das Pflichtgefühl in dieser Verhüllung heranwachsen und erstarken zu lassen, bis es kräftig und selbständig genug ist, um die Hüllen und die Krücken beiseite zu werfen und selbstlos zu dienen und ohne Ehrgeiz zu regieren.

Und hier enthüllt sich uns nun doch der Zirkel jenes utopistisch-revolutionären Sozialismus. Macht die Welt anders, so werden auch die einzelnen Menschen anders sein! Aber jene kann nicht anders werden, wenn nicht auch zugleich diese anders, mit den idealen Faktoren der Ehre und der Pflicht erfüllt werden. Je schlechter somit der Sozialismus die Welt von heute findet und schildert, desto unmöglicher macht er sich selbst. Eine neue Zeit wächst aus der alten heraus; liegen also nicht in dieser alten selbst schon die Kräfte, Ansätze und Keime zur Hervorbringung des Neuen, so ist es um dieses Neue im Voraus geschehen. Aus nichts wird nichts -, das ist auch ein Gesetz geistigen Lebens. Darum ist SUDERMANNs "Ehre" ein so bedeutsames Stück, weil es uns zeigt, wie es im Hinterhaus ebenso an Ehrgefühl mangelt wie im Vorderhaus, seine Schwäche aber liegt darin, daß es uns nicht begreiflich macht und sehen läßt, wie auf diesem Sumpfboden mangelnder und irriger Ehrbegriffe der Baum der Pflicht kraftwoll heranzuwachsen vermag. Pflicht statt Geldgier, Pflicht statt Ehre, gewiß, zumal wenn diese so hohl und wurmstichig ist wie bei den Reserveleutnants im Vorderhaus und bei der Arbeiterfamilie im Hinterhaus! Aber daß man sich diese Pflicht in Indien holen soll und daß sie plötzlich da ist wie das Mädchen aus der Fremde - man wußte nicht, woher sie kam -, das ist der utopistische Zug im Bild, und darin gleicht das Schauspiel des Realisten dem Roman des Sozialisten.

Innerhalb  des Alten und  auf dem eigenen Boden  dieses Alten gilt es, die neuen Kräfte wachsen und erstarken zu lassen, welche imstande sind, eine neue Welt zu bauen. Und darum ist es viel wichtiger, auch viel interessanter als alle jene utopistischen Ausblicke in eine ferne Zukunft, von der wir nichts wissen können, den sozialen Geist in  unserer  Welt aufzusuchen und zu fragen, was von ihm schon da ist. Und an dieses Vorhandene heißt es dann anknüpfen, diesen Geist auf unserem Boden pflanzen und pflegen und Veranstaltungen treffen, um ihm zum Durchbruch zu verhelfen und ihn in die richtige Bahn zu lenken. Was ist und was werden kann, das zu wissen ist wertvoller, als nicht zu wissen und doch zu fabulieren, was im Jahre 2000 sein wird.

Zugleich zeigt sich hierbei eine doppelte Schwäche aller diser "mit breitem Pinsel gemalten Freskobilder der sozialen Zukunft": es fehlt ihnen der Sinn für Geschichte und es fehlt ihnen das Verständnis des menschlichen Herzens und seiner Gesetze. Der Sinn für Geschichte -, ich meine damit nicht den Respekt vor dem geschichtlich Gewordenen, obgleich es auch darum eine schöne Sache ist und dieses Gefühl der Achtung vor dem, was seit Urväter Zeiten her so gewesen ist, sich in dem Augenblick erst als eine Macht enthüllen wird, wo mit dem Anderswerden Ernst gemacht werden sollte. Sondern ich meine ganz einfach das Verständnis dafür, daß die Geschichte ein Faden ist, der nie abreißt: auch eine Revolution siegt nur dann, wenn sie vorbereitet ist und das Alte zuvor schon innerlich überwunden hat; und nachdem sie gesiegt hat, ist die Welt nicht mit einem Schlag neu, das Alte ist noch immer da und wirkt fort; die Formen können plötzlich neu werden, die Sitten niemals, die Gesetze und Einrichtungen können auf den Kopf gestellt werden, die Menschen bleiben die alten. Und dieser Zusammenhang des Alten mit dem Neuen ist nicht nur dem unhistorischen Sinn verschlossen, sondern ihn versteht auch derjenige nicht, der den Menschen nicht kennt. Sehr deutlich zeigt sich das bei BELLAMY: erst schildert er uns den Prozeß, "der nur seine  logische  Entwicklung zu vollenden braucht, um der Menschheit eine goldene Zukunft zu eröfnnen"; dann behauptet er, um zu erklären, daß im Jahre 2000 alles anders und neu ist: "die menschlichen  Lebensbedingungen  haben sich geändert und mit ihnen die  Motive  des menschlichen Handelns." Also erst der logische Prozeß, dann die Lebensbedingungen und zum Schluß die Motive -, hier ist alles auf den Kopf gestellt und umgekehrt. Vielmehr, ändert gleichzeitig auch die Motive, sonst bleibt es auch in den äußeren Verhältnissen beim Alten und bleibt selbst unter neuen Formen beim Alten (9). Die Erkenntnis aber, daß in der Umwandlung wenn auch nicht gerade logische, so doch vernünftige Gesetze gewaltet haben, die überlaßt dem Geschichtsphilosophen der Zukunft welcher dereinst auf die abgeschlossene Entwicklung aus der Vogelperspektive herabschauen kann. Wenn ihr aber mit der Logik anfangt und mit den Motiven aufhört, dann fürchte ich wird überhaupt nichts neu werden.

Und doch soll nicht alles bleiben, wie es ist; denn der  soziale Geist  hat recht und ihm gehört die Zukunft. Aber mit dem Traum, daß dieser Geist des Morgens, wenn wir aufwachen, da sein werde, ist es nichts. Sitte und Sittlichkeit snd langsam wachsende und werdende Mächte. Und darum Schritt für Schritt! im Gegebenen, am Gegebenen umbauen, weiterbauen, auf dem alten Boden in den neuen Geist hineinwachsen, geduldig arbeiten und sich und andere erziehen, sittlich erziehen für den neuen Geist und im neuen Geist und uns so fähig machen zur Erfüllung unserer sozialen Aufgaben -: das ist zwar nicht so vielversprechend und so morgenschön, wie der goldene Traum vom Leben der Menschen in Utopia; aber es ist praktischer als träumen!
LITERATUR: Theobald Ziegler, Die soziale Frage eine sittliche Frage, Stuttgart 1895
    Anmerkungen
    1) Darüber siehe Näheres in meiner Rede über "Thomas Morus und seine Schrift von der Insel Utopia" zum 27. Januar 1889, Straßburg; über die Staatsromane überhaupt ROBERT von MOHL, die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, Bd. 1, Seite 165 - 214; und über den prophetischen Blick der platonischen Republik EDUARD ZELLER, Die Philosophie der Griechen II, 4. Auflage, Seite 921f und in seinen Vorträgen und Abhandlungen I, "Der platonische Staat in seiner Bedeutung für die Folgezeit".
    2) Sehr gut ist, was hiergegen von EUGEN RICHTER, Irrlehren der Sozialdemokratie, Seite 10 - 14 und 22 - 24 sagt.
    3) Der Hauptvertreter dieser sozialistischen Bodenreform ist der Amerikaner HENRY GEORGE in seinem Buch "Fortschritt und Armut". Eine Untersuchung über die Ursachen der industriellen Krisen und der Zunahme der Armut bei zunehmendem Reichtum. Deutsch 2. Auflage 1884. In Deutschland werden seine Ideen vor allem vertreten von MICHAEL FLÜRSCHEIM, z. B. in seinem Buch "Auf friedlichem Weg". Ein Vorschlag zur Lösung der sozialen Frage 1884; in Österreich sagte THEODOR HERTZKA, die Gesetze der sozialen Entwicklung 1886, von dem nun auch ein sozialpolitischer Roman "Entrückt in die Zukunft" (1895) vorliegt. Über GEORGE und HERTZKA vgl. auch GUSTAV SCHMOLLER, "Zur Literaturgeschichte der Staats- und Sozialwissenschaften", Seite 247f und Seite 269f.
    4) Über das Leasing in London für den Aufsatz von H. ALBRECHT, Wohnungen für die Armen, Deutsche Rundschau, Novemberheft 1890, Seite 270f.
    5) EUGEN RICHTER, Die Irrlehren der Sozialdemokratie, zu dessen manchesterlichen Ansichten ich mich freilich in prinzipiellem Gegensatz befinde. Die übrigen im Text genannten Werke sind dort schon genau bezeichnet. Wie SCHÄFFLE jetzt über die Frage denkt, zeigt seine Schrift "Die Bekämpfung der Sozialdemokratie ohne Ausnahmegesetz" 1890.
    6) Bei BELLAMY, dessen Rückblick Seite 74 (in der Reclamschen Sammlung) die im Text zitierte Stelle entnommen ist, ist die Sache klar: alle bekommen dasselbe. Weniger deutlich hat sich BEBEL, "Die Frau im Sozialismus", erklärt. Einerseits setzt nach ihm die Gesellschaft die tägliche Arbeitszeit fest (Seite 283), und "da alle unter gleichen Lebensbedingungen in der Gesellschaft tätig sind und jeder dort tätig ist, wohin Neigung und Geschicklichkit ihn weisen, so werden auch die Unterschiede in der Leistung sehr geringe sein" (Seite 285), umso mehr als Kopfarbeit, die den Freistunden überlassen bleibt (Seite 281), offenbar nicht bezahlt wird. Andererseits aber, wenn einer "findet, daß seine Bedürfnisse geringer sind, als was er für seine Leistung erhält, so arbeitet er entsprechend kürzere Zeit" (Seite 284); damit würde zwar nicht der Unterschied zwischen Intelligenten und Dummen, aber doch der zwischen Faulen und Fleißigen (Seite 285) aufs neue statuiert. So ist dann freilich das Belieben des Einzelnen in Arbeit und Genuß gewahrt, aber das Behagen der Gesellschaft, das Bestehen und der Fortschritt der Kultur aufs äußerste gefährdet.
    7) BEBEL, a. a. O., Seite 284. Das in der vorigen Anmerkung Gesagte gilt auch von dieser Stelle: BEBEL zeigt sich hier überall schwankend und vielfach inkonsequent, und so ist es dann auch kein Wunder, daß er in diesem Zusammenhang, von RICHTER, a. a. O., Seite 38f, in die Enge getrieben, statt zu widerlegen - schimpft.
    8) BEBEL a. a. O. Seite 281, die gleich darauf im Text zitierte Stelle ebenda Seite 279.
    9) Gegen die Belehrung FRANZ STAUDINGERs in seinem Aufsatz "Die sittliche Frage eine soziale Frage", Philosophische Monatshefte, Bd. 29, daß ich hierin "selber sehr Unrecht habe" und den Einfluß der wirtschaftlichen Lage auf die intellektuellen und sittlichen Anschauungen verkenne, hätte mich billig das Seite 27, 70, 84, 146 Gesagte und die ganze Tendenz meiner Schrift schützen sollen; sind doch auch die "Gedanken eines Arbeiters über Gott und Welt" von GUSTAV BUHR, die er u. a. gegen mich ins Feld führt, - von mir herausgegeben worden. Im übrigen bleibe ich freilich dabei, daß die Änderung der äußeren Lebensformen nicht genügt, sondern daß eine sittliche Erneuerung und soziale Erziehung der Menschen damit Hand in Hand gehen muß.