ra-2L. NelsonF. DahnE. Ehrlichvon KirchmannF. DehnowR. Stammler    
 
GUSTAV von RÜMELIN
(1815-1889)
Werturteile und
Willensentscheidungen

[Prorektoratsrede]

"Dem Einzelnen, der eine Entscheidung zu treffen hat, kann dieselbe ganz zweifellos erscheinen, wenn er über die Abwägung der in Betracht kommenden Werte keine Bedenken hat. Und es gibt auch sicher eine große Zahl von Werturteilen, in Bezug auf welche eine allgemeine Übereinstimmung herrscht. Es ist nur nicht möglich, sämtliche Werturteile als allgemeingültige aufzustellen und mit der Aussicht auf eine sichere Einigung über dieselben zu streiten. Viele Fragen wird der Eine so, der Andere anders beantworten und die getroffenen Entscheidung wird deshalb einen subjektiven Charakter haben. Wenn es anders sein sollte, wenn auf diesem Gebiet durchgehend Urteile möglich sein sollten, die den Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben können, so müßten verschiedene Voraussetzungen erfüllt sein. Es müßten nicht bloß die Werte, die in Betracht kommen, bzw. die den Werturteilen in letzter Instanz zugrunde liegenden Lust- und Unlustgefühle genau meßbar sein; es müßte auch eine Vergleichbarkeit und eine Rangordnung der verschiedenen und unter Umständen kollidierenden Werte gegeben sein. Daß im Ernst nicht daran zu denken ist, diese Voraussetzungen zu erfüllen, bedarf wohl keiner weiteren Ausführung; ist es ja doch schon bestritten, ob auch nur die einfachsten unserer Empfindungen meßbar sind."


Hochansehnliche Versammlung!

Wenn ein Universitätslehrer Veranlassung hat, bei einem feierlichen akademischen Akt einen Vortrag zu halten, so ist es für ihn wohl das Nächstliegende, über die Fortschritt der Wissenschaft, die er zu vertreten hat, zu berichten und seine Zuhörer mit den Resultaten eigener und fremder Forschung bekannt zu machen. Wollte jedoch der Jurist dies versuchen, so würde er auf Schwierigkeiten stoßen, zumindest dann, wenn er beabsichtigt, unzweifelhaft feststehende und allgemein anerkannte Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeit mitzuteilen. Die Vermehrung der juristischen Literatur läßt allerdings kaum etwas zu wünschen übrig; es wird wohl auch auf diesem Gebiet wahr sein, daß wir Deutschen dasjenige Volk sind, welches die meisten Bücher schreibt, und die Juristen sind deshalb mit Schuld daran, wenn die Räume unserer Bibliothek nicht mehr ausreichen wollen. Aber wenn man die Ergebnisse dieser literarischen Produktion näher betrachtet, so hat man häufig den Eindruck, daß die wissenschaftliche Forschung nicht vorwärts dringt, sondern nur in die Breite geht. Die Literatur häuft sich vielfach bei einzelnen bestimmten Problemen an, aber führt nicht zu einer Klärung der Fragen und Einigung der Ansichten, sondern nur zu einer wachsenden Zersplitterung und Verworrenheit derselben. Und man kann deshalb manchmal zweifelhaft sein, ob sich die neuen literarischen Produktionen mit gewonnenen wertvollen Früchten vergleichen lassen oder ob man nicht vielmehr im Anschwellen der Literatur an einzelnen Stellen das Symptom eines tiefer sitzenden Übels erblicken soll. Zumindest wird man sich dieses letzteren Eindrucks bei den Disziplinen nicht ganz erwehren können, welche, wie in erster Linie das römische Recht, schon eine lange historische Entwicklung hinter sich haben, während diejenigen Juristen, die eine neuere Disziplin vertreten oder denen wenigstens durch die Gesetzgebung neues Material zugeführt worden ist, sich wohl in dieser Richtung in besserer Lage befinden mögen.

Die Möglichkeit eines Fortschrittes der wissenschaftlichen Erkenntnis soll damit natürlich nicht in Abrede gestellt noch der Glaube an dieselbe erschüttert werden. Wir Juristen werden nur anerkennen müssen, daß der Fortschritt bei uns ein langsamerer ist als auf manchen anderen Wissensgebieten. Hiermit hängt auch zusammen, daß es für den Juristen schwerer ist als für die Vertreter anderer Fächer, insbesondere die Naturforscher, seine Wissenschaft für sich allein in entscheidender Weise zu beeinflussen und zu fördern, sich über das Durchschnittsmaß der Leistungen in ungewöhnlicher Weise zu erheben. Ich verkenne übrigens nicht, daß auf dieses Verhältnis noch manche andere und vielleicht wichtigere Faktoren einwirken. Die Geschichte der Jurisprudenz weist keine solche Zahl berühmter Namen auf wie wir sie bei manchen andern Wissenschaften finden. Der bekannte Satz:  dat Galenus opes, dat Justinianus honores  [Galen (die Arzneikunst) gibt Schätze, Justinian (die Rechtsgelehrsamkeit) schafft Ehre, // der arme Aristoteles (die Philosophie) muß zu Fuß gehen. - wp] ist, wenn wir bei den  honores  an die öffentlichen Ämter denken, auch heute noch zutreffend und vielleicht sogar in höherem Maß als früher; faßt man aber dabei die höchste Ehre, welche der Gelehrte erstreben kann, großen wissenschaftlichen Erfolg und hervorragende Stellung in der Geschichte seiner Wissenschaft ins Auge, so wird man nicht verkennen dürfen, daß die Juristen in dieser Beziehung hinter den Vertretern anderer Disziplinen zurückstehen.

Man wird es den Juristen nicht verdenken, wenn wir die Gründe für den erwähnten langsamen Fortschritt unserer Wissenschaft zunächst nicht in der Qualität der Arbeitenden, sondern in der besonderen Beschaffenheit der Objekte, die uns vorliegen und der Aufgaben, die uns gestellt sind, suchen. Und so möge es mir gestattet sein, Ihnen einige hiermit zusammenhängende methodische Betrachtungen vorzulegen.

Die Berechtigung und Notwendigkeit methodischer Untersuchungen ist wohl gegenwärtig auf juristischem Gebiet ziemlich allgemein anerkannt und man wird behaupten dürfen, daß die Juristen, welche das Gleichgewicht ihrer wissenschaftlichen Überzeugungen ausschließlich durch den mitgeführten historischen Ballast zu erhalten suchen, im Verschwinden begriffen sind.

Die wissenschaftliche Tätigkeit der Juristen nimmt ihren Ausgang vom Wortlaut der Gesetze oder vom zweifellosen Inhalt der das Gewohnheitsrecht begründenden Übrung. So mannigfaltig nun auch die Gedankengänge und Operationen sind, welche sich an diese erste Grundlage anschließen, so bieten sich doch einer Betrachtung, die nur die allgemeine Richtung der juristischen Arbeiten ins Auge faßt, drei Hauptaufgaben dar, welche die Jurisprudenz zu lösen hat. Es handelt sich einmal darum, den Sinn der gegebenen Gesetzesworte durch Interpretation festzustellen und zu präzisieren; aus den feststehenden Sätzen sind ferner, soweit möglich, weitere Sätze abzuleiten; die einzelnen Detailsätze sollen dann endlich in möglichst allgemeine Sätze zusammengefaßt und in eine systematische Ordnung gebracht werden. Neben die Interpretation tritt also Ergänzung und Zusammenfassung, Deduktion und Reduktion. Wie im Einzelnen die Grenzlinien zwischen diesen häufig in enger Verbindung vorkommenden Operationen zu ziehen sind, ob die Erklärung der geltenden Rechtssätze, sowie die Schilderung ihres historischen Werdens schon als in jenen Tätigkeiten enthalten zu betrachten ist, oder ob man hierin weitere Aufgaben der Jurisprudenz erblicken soll, kann hier auf sich beruhen, da die folgenden Betrachtungen von der Beantwortung dieser Frage unabhängig sind.

Die gewöhnliche Auffassung geht nun dahin, daß diese verschiedenen Operationen rein logischer Natur sind, die sämtlich zu einem sicheren unzweifelhaften Resultat führen müssen, wenn sie nur richtig vorgenommen werden, so daß aller Streit auf dem Gebiet der Jurisprudenz, zumindest soweit es sich um die  lex lata  [geltendes Recht - wp] und nicht um die  lex ferenda  [zukünftiges Recht - wp] handelt, sich stets um ein richtig oder unrichtig, wahr oder falsch dreht. Dieser Auffassung gegenüber ist nun meines Erachtens auf das lebhafteste zu betonen, daß es sich vielfach nicht um rein logische Operationen, sondern um Zweckmäßigkeitserwägngen oder sonstige Werturteile handelt, bei denen häufig zweifellose und sichere Entscheidungen nicht möglich sind. Die definitive Feststellung des anzuwendenden Rechts kann dann nur durch Willensentscheidungen erfolgen, welche  den Willensakten  nahestehen, durch welche der Gesetzgeber neues Recht schafft. Eine derartige Anschauung hat allerdings auch schon bisher einige Vertreter gefunden, aber soweit ich es übersehen kann, ist ihr in der wissenschaftlichen Detailarbeit so gut wie keine Beachtung zuteil geworden. Und dann bewegt sich ihre Verteidigung bis jetzt stets in ganz allgemeinen Argumentationen, während zu einem Erfolg meines Erachtens nur zu gelangen ist, wenn nachgewiesen wird, daß und in welchem Umfang in den einzelnen juristischen Operationen Willensentscheidungen enthalten sind. Hierauf möchte ich mir erlauben im Folgenden Ihre Aufmerksamkeit zu lenken.

Wenn wir zunächst die Interpretation ins Auge fassen, so ist bekanntlich eine der wichtigsten, wenn nicht  die  wichtigste Interpretationsregel die, daß von einem vernünftigen, normalen Willen des Gesetzgebers auszugehen ist; es ist der beste Sinn zu suchen, der sich mit den Worten des Gesetzgebers verbinden läßt. Damit ist gewissermaßen schon ausgesprochen, daß es sich hierbei um Werturteile handelt. Nun ist ja allerdings der Interpret zunächst an den Wortlaut des Gesetzes gebunden. Aber es tritt eben häufig der Fall ein, daß verschiedener Sinn mit den Gesetzesworten verbunden werden kann und daß weder die Sprachgesetze noch der Sprachgebrauch für eine Auffassung entschieden den Ausschlag geben. Dann muß die Entscheidung unter Berücksichtigung der Wertverhältnisse der verschiedenen möglichen Auslegungen getroffen werden. Es kann aber auch sein, daß die sprachlichen Betrachtungen eine Auffassung als näher liegend erscheinen lassen, während eine sprachlich entfernter liegende Auslegung zu einem wertvolleren Resultat führt. Es ist in seinem solchen Fall durchaus nicht selbstverständlich, daß die sprachlichen Betrachtungen unbedingt den Ausschlag geben müssen. Wenn der Gesetzgeber einerseits sagt: nimm an, daß ich mich möglichst korrekt ausgedrückt habe, andererseits: geh davon aus, daß ich etwas Vernünftiges und Zweckmäßiges habe sagen wollen, so steht nicht fest, daß die erstere Weisung der letzteren unbedingt vorgeht. Es kann sehr wohl sein, daß man den Willen des Gesetzgeber dann trifft, wenn man dem sprachlich entfernter liegenden, aber wertvolleren Sinn den Vorzug gibt.

Ein Beispiel für die Kollision sprachlicher und materieler Erwägungen bietet folgende Interpretationsfrage. Eine Stelle des  corpus juris  lautet:  Puberes sine curatoribus suis possunt ex stipulatu obligari.  Minderjährige können sich ohne ihren Vormund verpflichten, während in anderen STellen gesagt ist, daß sie Veräußerungen, also inbesondere Eigentumsübertragungen nicht vornehmen können. Es ist nun mit Recht bemerkt worden, daß es keinen vernünftigen Sinn macht, dem Minderjährigen Veräußerungen zu verbieten und Verpflichtungen zu gestatten. Man kann sich hiervon leicht überzeugen, wenn man etwa an den Fall denkt, daß ein Student nach Hause schreibt, er habe sich in Geldnot befunden und deshalb Veräußerungen vornehmen müssen. Diese Nachricht wird wahrscheinlich keinen sehr großen Eindruck auf seine Angehörigen hervorbringen, während dieselben ohne Zweifel in größere Aufregung versetzt werden, wenn der Student meldet, daß er in Geldnot in größerem Umfang Schulden gemacht hat. Derartige Erwägungen haben nun zu dem Vorschlag geführt, die Worte  possunt ex stipulatu obligari  zu übersetzen: es ist möglich, daß sie sich - unter besonderen Umständen - verpflichten, während als bekannt vorausgesetzt wird, daß sie sich in der Regel nicht verpflichten können. Geistreich ist diese Interpretation zweifellos, welche die Stelle gerade das Gegenteil vom nächstliegenden Sinn sagen läßt; aber es wird doch nicht in Abrede zu stellen sein, daß dieselbe sprachlich ungleich ferner liegt, als die zuerst angeführte. Von einer Entscheidung der Frage, sowie von der Berührung anderer Interpretationsmöglichkeiten glaube ich hier absehen zu sollen, da es mir nur darauf ankommt, zu zeigen, daß bei einer solchen Kollision sprachlicher und materieller Erwägungen zu einem ganz unzweifelhaften Resultat nicht zu gelangen ist.

Eine andere Aufgabe der Jurisprudenz, deren Lösung wohl auch noch zur Interpretation gezählt werden kann, besteht darin, daß die Begriffe, deren sich der Gesetzgeber bedient, genau fixiert und scharf abgegrenzt werden. Bei dieser Begriffsbildung können verschiedenartige Betrachtungen eine Rolle spielen, aber in letzter Instanz muß auch hier wieder auf Werturteile rekurriert werden. Wenn eine Begriffsbestimmung auf andere Weise nicht zu erzielen ist, so muß angenommen werden, daß der Gesetzgeber die Abgrenzung des Begriffs gewollt hat, welche am besten in den Rechtssatz hineinpaßt; diejenige Begriffsformulierung ist allen anderen vorzuziehen, welche, in den Rechtssatz eingesetzt, diesen als einen wertvollen erscheinen läßt. Wenn es sich also um die Abgrenzung eines Begriffs handelt, durch den der Gesetzgeber einen reichtliche Folgen nach sich ziehenden Tatbestand bezeichnet, so kommt es bei den Fällen, bei denen es zweifelhaft ist, ob sie unter den Begriff fallen oder nicht, gerade darauf an, ob irgendwelche Gründe dafür sprechen, sie dem Rechtssatz zu unterstellen und die angeordneten Rechtsfolgen bei ihnen eintreten zu lassen. Wenn z. B. darüber gestritten worden ist, ob ein Zirkusdirektor, der eine von ihm arrangierte Pantomime hat aufführen lassen, das Recht hat, die Wiederholung derselben in einem anderen Zirkus zu verbieten, so kommt es hierbei auf die genaue Abgrenzung des Ausdrucks "dramatisches Werk" bzw. "dramatisch-musikalisches Werk" an, da der Gesetzgeber den Urhebern solcher Werke den fraglichen Schutz verleiht. Wenn wir nun die verschiedenen öffentlichen Aufführungen vom eigentlichen Drama und der Oper an über die Posse und das Ballett bis zur Aufführung im Zirkus und im Affentheater verfolgen, so wird uns der Sprachgebrauch in den extremen Fällen, beim eigentlichen Drama und bei der Affentheateraufführung allerdings eine unzweifelhafte Antwort auf die Frage erteilen, ob ein dramatisches Werk vorliegt. Aber zu einer scharfen Grenzziehung in Bezug auf die in der Mittel liegenden Fälle werden wir vom Sprachgebrauch aus nicht gelangen können. Gehen wir auf die Intentionen des Gesetzgebers ein, so wird sich zumindest sagen lassen, daß der Gesetzgeber nur die einigermaßen wertvollen Produkte, bei denen die aufgewandte geistige Arbeit Anspruch auf Berücksichtigung durch den Gesetzgeber erheben kann, unter den Schutz des Gesetzes hat stellen wollen. Damit ist allerdings noch keine Abgrenzung des dramatischen Werks, aber doch zumindest ein Anhalt für eine solche gewonnen.

In der Streitfrage über den Vertragsschluß unter Abwesenden wird darüber gestritten, ob es zum bindenden Vertrag erforderlich ist, daß der Offerent Kunde von der erfolgten Annahme seiner Offerte habe, ob also Perfektion des Vertrags und damit Gebundenheit der Parteien schon in einem früheren Zeitpunkt oder erst dann eintritt, wenn der Brief, der die Annahme enthält, gelesen ist. Man hat in dieser Streitfrage auch mit dem Begriff des Vertrags oder der Willenserklärung zu operieren und hieraus eine Entscheidung der Frage abzuleiten gesucht. Wenn man sich darüber im Klaren ist, daß es einen ansich feststehenden Begriff des Vertrags nicht gibt und nicht geben kann, so wird ein Operieren mit dem Begriff nur in der Weise möglich sein, daß nach einem Vertragsbegriff gesucht wird, welcher in den Satz, daß der Vertrag bindet, möglichst gut hineinpaßt. Durch die Begriffsfixierung soll also dem Satz von der bindenden Kraft der Verträge ein möglichst brauchbarer und zweckmäßiger Sinn gegeben werden.

Ebenso dreht sich der Streit um den Begriff der  vis major,  der höheren Gewalt - ich muß um die Erlaubnis bitten, einige Beispiele nur an- nicht auszuführen - zumindest mit darum, einen Begriff zu finden, durch den die auf die  vis major  Bezug nehmenden Rechtssätze einen deutlichen und brauchbaren Sinn bekommen.

Handelt es sich darum, vom Wortlaut der Gesetze aus zu weiteren Rechtssätzen zu gelangen, so ist es wohl das Nächstliegende, aus den allgemein gefaßten Rechtssätzen sämtliche Konsequenzen abzuleiten. Hier ist die Möglichkeit gegeben, auf logischem Weg zu unzweifelhaften und sicheren Resultaten zu gelangen, wenn nur die in den allgemeinen Sätzen verwendeten Begriffe scharf präzisiert sind. Ist dies nicht der Fall, - und diese Eventualität wird häufig eintreten - so hängt die Deduktion von der Präzisierung der Begriffe ab, bei der wieder in der schon geschilderten Weise Wertverhältnisse eingreifen können.

Wenn der Gesetzgeber seinen Rechtssätzen nicht die möglichst allgemeine Formulierung gegeben, sondern eine Reihe von Detailsätzen aufgestellt hat, so entsteht für die Jurisprudenz die Aufgabe, die einzelnen Sätze auf dem Weg der Reduktion auf allgemeine Sätze zurückzuführen. Hier handelt es sich zunächst wieder um eine rein logische Frage, bei der eine sichere, zweifellose Entscheidung möglich ist. Die Entscheidung kann aber auch lauten und lautet öfters, als es dem Forschenden lieb ist, daß eine Zusammenfassung sämtlicher ein Rechtsinstitut betreffender Detailsätze in ein allgemeines Prinzip nicht möglich ist. Häufig zeigt es sich, daß allgemeine Prinzipien nur teilweise zutreffen, so daß wieder Ausnahmen statuiert werden müssen. Es kann schließlich auch vorkommen, daß verschiedene allgemeine Formulierungen nebeneinander möglich sind, daß dieselben sich ziemlich gleichwertig gegenüberstehen, da keine vollständig zutreffend ist, von jeder wieder Ausnahmen statuiert werden müssen. Dann spitzt sich die Frage schließlich dahin zu, auf welche Weise das geltende Recht am einfachsten und zweckmäßigsten zum Ausdruck gebracht werden kann und damit stehen wir wieder vor einer Frage, bei der eine ganz sichere Entscheidung nicht möglich ist. Wenn z. B. darüber gestritten wird, ob der Begriff der juristischen Person durch den des Zweckvermögens ersetzt werden soll, so handelt es sich hierbei zumindest mit um die Frage, ob durch eine der Formulierungen bei den einschlagenden Verhältnissen gleichmäßig geltende Rechtssätze zusammengefaßt und deutlich zum Ausdruck gebracht werden und es will mir scheinen, daß dieses Ziel durch beide Formulierungen in annähernd gleich großem oder vielleicht richtiger in gleich geringem Maß erreicht wird. In der Lehre von der Bedingung hat man lebhaft darüber gestritten, ob der erfüllten Bedingung rückwirkende Kraft zukommt; da nun aber die Detailsätze der Art sind, daß wohl in einzelnen Beziehungen, aber nicht in allen von Rückwirkung gesprochen werden kann, so scheint es nicht von großer Wichtigkeit zu sein, ob man die Rückwirkung bejaht oder verneint, da von jeder Behauptung doch wieder Ausnahmen statuiert werden müssen. Jedenfalls ist eine zweifellose Entscheidung nicht möglich.

Was bisher über die Reduktion gesagt wurde, gilt übrigens nur für die Fälle, in welchen die Detailsätze vollständig feststehen und die Reduktion ausschließlich die Aufgabe der Zusammenfassung hat. Meistens aber hat die zu allgemeinen Sätzen führende Reduktion auch noch eine andere Bedeutung, indem aus dem gewonnenen allgemeinen Prinzip auch weitere Detailsätze abgeleitet werden, die der Gesetzgeber selbst nicht ausgesprochen hat. In diesem Fall handelt es sich nicht mehr um die rein logische Frage, ob die ausgesprochenen Sätze richtig in das allgemeine Prinzip zusammengefaßt werden können. Die Zulässigkeit der Verallgemeinerung ist auch davon abhängig, ob die weiteren Konsequenzen des Prinzip dem vermutlichen Willen des Gesetzgebers entsprechen und dies wird nur dann bejaht werden können, wenn dieselben irgendwie als wertvoll erscheinen. Wenn z. B. die Jurisprudenz seit langer Zeit große Anstrenungen macht, die zahlreichen Quellenstellen, die vom Besitzerwerb handeln, zu einem einfachen Prinzip zusammenzufassen, so spielt dabei immer der Gedanke eine dominierende Rolle, daß ein brauchbares Besitzrecht geschaffen werden soll, aus dem für alle vorkommenden Fälle eine wertvolle Entscheidung abgeleitet werden kann.

Die römischen Quellen bezeichnen, um ein weiteres Beispiel anzuführen, in einzelnen besonderen Fällen das Selbstkontrahieren des Stellvertreters für zulässig. Eine Verallgemeinerung dieser Entscheidungen dahin, daß das Selbstkontrahieren des Stellvertreters in allen Fällen statthaft sei, wird auch wieder von Werturteilen abhängen.

Ich habe mich im Bisherigen des Ausdrucks  Reduktion  bedient, mit welchem das der Deduktion entgegengesetzte Verfahren, das Aufsteigen von speziellen Sätzen zu allgemeineren bezeichnet zu werden pflegt. Die beiden Arten der Reduktion, die ich unterschieden habe, die nur zusammenfassende und die zu weiteren, neuen Rechtssätzen führende, müssen, da die logische Natur beider Operationen eine verschiedene ist, scharf auseinander gehalten werden. Ob diese Verschiedenheit nun auch durch verschiedene Namen zum Ausdruck gebracht werden soll - man könnte daran denken, für die zu weiteren Rechtssätzen führende Reduktion das Wort  Konstruktion  zu verwenden, das wohl auch mit in diesem Sinn gebraucht wird - will ich dahingestellt sein lassen.

Mit der weiterführenden Reduktion ist die Analogie nahe verwandt. Man spricht von analoger Anwendng eines Rechtssatzes dann, wenn man denselben auf einen anderen, ähnlichen Fall anwendet. Die Analogie beruth ebenfalls auf einer Reduktion; man steigt auch hier zu einem allgemeinen Satz auf, aus dem man wieder die Anwendung auf den weiteren Fall ableitet. Der Unterschied von der bisher besprochenen Reduktion liegt nur darin, daß bei der Analogie sofort die Anwendung auf einen anderen Detailfall hinzutritt, während die allgemeine Regel, welche die Brücke von einem Fall zum anderen bildet, hier mehr oder weniger zurücktritt und nicht besonders zum Ausdruck kommt.

Die Analogie, die im Rechtsleben eine große Rolle spielt, beruth nun auch wieder auf einem Werturteil. Wenn der Gesetzgeber einen Rechtssatz für einen bestimmten Fall aufgestellt hat und derselbe nun auch auf einen anderen ähnlichen Fall Anwendung finden soll, so ist das nur dann zulässig, wenn das, was den gesetzlich regulierten Fall von einem anderen unterscheidet, nicht gerade derartig ist, daß es die Anwendung des Rechtssatzes ausschließt; die Ausdehnung auf einen weiteren Fall darf nur statuiert werden, wenn sie aus irgendeinem Grund als angemessen erscheint.

Der Wortlaut der Gesetze weist nicht in erster Linie auf die Analogie hin, die nächstligende Annahme ist vielmehr die, daß der Gesetzgeber seine Bestimmung nur für einen bestimmten Fall hat treffen wollen, da er nur diesen genannt hat. Diese Auffassung ist tatsächlich häufig begründet; man spricht spezielle von  argumentum a contrario,  wenn daraus, daß für einen Fall eine Bestimmung getroffen ist, für andere Fälle die entgegengesetzte Bestimmung abgeleitet wird. Von der speziellen Bestimmung aus eröffnen sich mithin zwei in entgegengesetzter Richtung führende Wege, das  argumentum a contrario  und die Analogie und es kann nur aufgrund von Werturteilen bestimmt werden, welcher Weg einzuschlagen ist. In manchen Fällen sind diese Werturteile sehr einfacher Natur, so daß sie keinem Zweifel Raum lassen. Wenn z. B. bestimmt wird, daß die Vorlesungen am Tag der Prorektoratsübergabe ausfallen, so ist die Intention hierbei nicht auf eine analoge Ausdehnung gerichtet, die Bestimmung geht zweifellos von der Anschauung aus, daß die Vorlesungen an anderen Tagen zu halten und zu besuchen sind. Jedem Juristen ist wohl das JHERINGsche Beispiel des Bärenführers bekannt, der seinen Bären in den Wartesaal der Eisenbahn bringt und sich darauf beruft, es sei angeschrieben, Hunde dürfen nicht hereingebracht werden, daraus folge per  argumentum a contrario,  daß Bären Zutritt haben. Die Angemessenheit der Analogie, die den Bären ebenso wie den Hund ausschließt, sowie die Zulässigkeit der Reduktion, daß größere, das Publikum belästigende Tiere ausgeschlossen sind, wird hier kaum einem Zweifel unterliegen.

In anderen Fällen ist dagegen die Entscheidung nicht so zweifellos. Die juristisch Beanlagten unter den hiesigen Droschkenkutschern fassen in der Bestimmung des Tarifs, daß Kinder unter 10 Jahren, wenn sie mit einem Erwachsenen fahren, frei sind, das Wort "einem" als Zahlwort und schließen dann per  argumentum a contrario,  daß Kinder, wenn sie mit zwei Erwachsenen fahren, zu zahlen haben. Eine Entscheidung dieser Frage wird meines Erachtens nicht möglich sein, ohne darauf einzugehen, bei welcher Auffassung man zu einer angemessenen und sachgemäßen Bezahlung der Leistung des Droschkenführers gelangt.

Die sogenannte  lex Rhodia de jactu  bestimmt, daß wenn bei einer Seegefahr Waren über Bord geworfen werden, um das Schiff zu retten, der entstandene Schaden von allen Beteiligten zu tragen ist. Von verschiedenen Schriftstellern wird die analoge Ausdehnung dieses Satzes auf andere Fälle verlangt. Wenn z. B. bei einem Brand ein Haus eingerissen wird, um das Weitergreifen des Feuers zu verhindern, so soll auch hier der Schaden von den Beteiligten gemeinschaftlich getragen werden. Dieser Analogie steht kein Bedenken entgegen: beim  Schiff  steht zweifellos fest, wer die Beteiligten sind, beim Feuer dagegen nicht. Im letzteren Fall wird jeder, der herangezogen werden soll, zu behaupten versuchen, er sei nicht beteiligt, das Feuer wäre nicht mehr zu ihm gekommen, während diejenigen, die beigezogen sind, eine möglichst große Ausdehnung der Beitragspflicht verlangen werden. Dem ansich richtigen Prinzip stellt sich also hier eine Schwierigkeit in der Ausführung entgegen und es liegt wohl auf der Hand, daß beim Abwägen so verschiedenartiger Gesichtspunkte eine ganz zweifellose Entscheidung nicht möglich ist.

Das Reichsgericht hatte in einem Prozeß eine Entscheidung darüber zu fällen, ob die Bestimmung des römischen Rechts, nach welcher der auf Veräußerung einer erwarteten Erbschaft gerichtete Vertrag, der bei Lebzeiten des Erblassers abgeschlossen wird, ungültig ist, analog auf Vermächtnisse auszudehnen sei. Das Reichsgericht hat die Analogie abgehnt, weil es sich in diesem Fall um ein Spezialgesetz handelt, welches rein positiver Natur ist. Es läßt sich meines Erachtens füglich bezweifeln, ob diese Argumentation richtig ist. Denn was zunächst die angeblich positive Natur der Bestimmung betrifft, so steth mit derselben im Widerspruch, daß die Vorschrift ausdrücklich auf die Unsittlichkeit eines derartigen Vertrages gestützt wird. Und ferner würde es mir richtiger erscheinen, zunächst zu untersuchen, ob eine analoge Anwendung des Rechtssatzes möglich ist und eventuell auf die Verneinung dieser Frage die Behauptung zu stützen, daß ein Spezialgesetz vorliegt, als umgekehrt aus der in der Luft stehenden Annahme eines Spezialgesetzes die Ablehnung der Analogie abzuleiten. Die Unsittlichkeit des Vertrages über die Erbschaft eines Lebenden hat darin ihren Grund, daß bei demselben auf den Tod des Erblassers gerechnet wird und in dieser Richtung dürfte der Vertrag über ein Vermächtnis dem Vertrag über eine Erbschaft wohl gleich stehen, so daß ich mich hier für die Zulässigkeit der Analogie aussprechen würde. Die Sachlage wäre vielleicht wieder eine andere, wenn nicht das Vermächtnis als solches, sondern die vermachte Sache den Gegenstand des Vertrages bildet.

Auch in einem anderen Fall ist es mir zweifelhaft, ob das Reichsgericht mit der Ablehnung der Analogie das Richtige getroffen hat. Ein preußisches Gesetz verbietet die Übertragung von Pensionen von Staatsbeamten, das Reichsgericht hat die Ausdehnung dieser Bestimmung auf Wittwenpensionen mit der kurzen Motivierung abgelehnt, daß es an genügenden Gründen für die Ausdehnung fehlt, während sich doch mancherlei für dieselbe anführen läßt.

Die romantische Literatur kennt nun aber noch weitere Fortbildungen des Rechts, die sich vom Buchstaben der Gesetze noch mehr entfernen, so daß man nicht mehr von Analogie reden kann. Wenn die Haftung juristischer Personen für die Delikte ihrer Beamten, das Einstehen für das negative Vertragsinteresse bei einer Inkongruenz von Wille und Erklärung, die Haftung des Stellvertreters bei fehlender Vollmacht statuiert wird, so ist das treibende Motiv bei diesen Bildungen zweifellos das praktische Bedürfnis, dessen Feststellung wieder auf nicht schwierigen Werturteilen beruth. Die Theorie trägt allerdings Bedenken, einfach auf das praktische Bedürfnis, mag dasselbe noch so dringend sein, neue Rechtssätze zu stützen, was sich namentlich darin zeigt, daß für dieselben außerdem noch im Gewohnheitsrecht oder in einzelnen Quellenstellen oder in allgemeinen Argumentationen eine Grundlage gesucht wird.

Auch bei rein theoretischen Untersuchungen, die zunächst in keiner Weise auf praktische Resultate gerichtet sind, können wieder Werturteile in Betracht kommen. Die diagnostische Definitioni hat im Gegensatz zur vollständigen, erschöpfenden Begriffsbestimmung für Zwecke der Darstellung und der Rechtsanwendung nur die wichtigsten Merkmale aufzunehmen und bei manchen Definitionsfragen wird in Wirklichkeit nur darüber gestritten, welche Merkmale in die abgekürzte Definition aufzunehmen sind. Daß die Wichtigkeit mit Wertverhältnissen zusammenhängt, daß es sich mithin hierbei um Werturteile handelt, bedarf wohl keiner weiteren Ausführung.

Zu den letzten Aufgaben der Jurisprudenz gehört es, die Zusammenhänge festzustellen, welche zwischen den einzelnen Rechtssätzen stattfinden. Die in unserer Literatur eine so große Rolle spielenden Fragen nach Wesen und Natur der Rechtsverhältnisse haben vielfach keinen anderen angebbaren Sinn, als daß solche Zusammenhänge gesucht werden. Dieselben können nun aber gerade darin bestehen, daß bei der Statuierung eines Rechtssatzes ein anderer als wünschenswert oder zweckmäßig erscheint, so daß sie auch wieder auf Wertverhältnissen beruhen.

Wenn es sich endlich um die Erklärung der Rechtssätze handelt, so liegt auf der Hand, daß die Wahl zwischen verschiedenen Motiven auch wieder mit Werturteilen zusammenhängt.

Die bisherige Betrachtung hatte ausschließlich dogmatische Untersuchungen im Auge, bei denen es sich um die Feststellung des geltenden Rechts handelt. Ganz ähnliche Operationen wie die bisher geschilderten kommen nun aber auch bei historischen Untersuchungen zur Anwendung; nur scheinen mir die Resultate hier noch unsicherer zu sein als auf dogmatischem Gebiet; denn die Annahme, von der auf letzterem ausgegangen wird, daß der Gesetzgeber das Beste und Vernünftigste gewollt habe, ist historische durchaus nicht sicher zutreffend und dann ist es in Bezug auf die Vergangenheit noch schwieriger als in Bezug auf die Gegenwart zu sagen, was der beste und zweckmäßigste Willensinhalt ist.

Das Resultat der bisherigen Betrachtungen ist, daß auf dem Gebiet des Zivilrechts in großem Umfang Werturteile und auf diesen beruhenden Willensentscheidungen vorkommen, daß das auf dem Willen des Gesetzgebers beruhende System von Rechtssätzen nicht präzisiert und nicht fortgebildet werden kann, ohne daß neue Willensentscheidungen getroffen werden. Ganz unbedingt kann diese Behauptung allerdings nicht aufgestellt werden. Denkbar wäre es ja, jeden Zweifel und damit auch jede Willensentscheidung durch folgende Argumenation auszuschließen. Die Tätigkeit des Gesetzgebers besteht darin, daß sie juristische Wirkungen an bestimmte Tatbestände knüpft. Der Richter hat aber nur die juristischen Wirkungen anzuerkennen, von denen es ganz zweifellos feststeht, daß der Gesetzgeber sie angeordnet hat. Besteht also auch nur der geringste Zweifel darüber, ob ein Tatbestand eine juristische Folge nach sich zieht, so greift dieselbe nicht Platz; bestehen irgendwie Bedenken über den Umfang einer juristischen Wirkung, so ist derselben nur die Ausdehnung zu geben, die ganz zweifellos vom Gesetzgeber angeordnet ist. Die bisherige Darstellung zeigt wohl deutlich, daß eine derartige Auffassung sich in stärksten Gegensatz zur Anschauung der Rechtswissenschaft und der Praxis der Rechtsprechung setzen würde. Eine definitive Begründung der herrschenden Ansicht läßt sich aber auch wieder nur auf Wertverhältnisse, nämlich darauf stützen, daß die entgegenstehende Behandlungsweise den Anforderungen des Rechtslebens schlechterdings nicht genügen, zahlreiche wertvolle, ja unentbehrliche Rechtssätze beseitigen würde. Nur dann, wenn auch die Werturteile zu keinem Ausschlag führen, läßt sich auf jenes Prinzip, keine Rechtsfolge, sofern sie nicht irgendwie angeordnet ist, rekurrieren und so zu einer Verteilung der wissenschaftlichen Beweislast gelangen. Wenn z. B. beim Genußkauf darüber gestritten wird, wann die Gefahr übergeht, so läßt sich der Satz, daß dies im Zweifel mit der Tradition erfolgt, damit rechtfertigen, daß in diesem Moment die Gefahr zweifellos übergehen muß, von einem früheren Moment aber nicht nachgewiesen werden kann, daß er den Gefahrübergang nach sich zieht.

Es geht aus der ganzen bisherigen Darstellung wohl deutlich hervor, daß die Entscheidung bei den in Frage stehenden Werturteilen keine rein willkürliche ist oder zumindest nicht sein muß. Dem Einzelnen, der eine Entscheidung zu treffen hat, kann dieselbe ganz zweifellos erscheinen, wenn er über die Abwägung der in Betracht kommenden Werte keine Bedenken hat. Und es gibt auch sicher eine große Zahl von Werturteilen, in Bezug auf welche eine allgemeine Übereinstimmung herrscht. Es ist nur nicht möglich, sämtliche Werturteile als allgemein gültige aufzustellen und mit der Aussicht auf eine sichere Einigung über dieselben zu streiten. Viele Fragen wird der Eine so, der Andere anders beantworten und die getroffenen Entscheidung wird deshalb einen subjektiven Charakter haben. Wenn es anders sein sollte, wenn auf diesem Gebiet durchgehend Urteile möglich sein sollten, die den Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben können, so müßten verschiedene Voraussetzungen erfüllt sein. Es müßten nicht bloß die Werte, die in Betracht kommen, bzw. die den Werturteilen in letzter Instanz zugrunde liegenden Lust- und Unlustgefühle genau meßbar sein; es müßte auch eine Vergleichbarkeit und eine Rangordnung der verschiedenen und unter Umständen kollidierenden Werte gegeben sein. Daß im Ernst nicht daran zu denken ist, diese Voraussetzungen zu erfüllen, bedarf wohl keiner weiteren Ausführung; ist es ja doch schon bestritten, ob auch nur die einfachsten unserer Empfindungen meßbar sind.

Die fehlende Meßbarkeit und Rangordnung der zu berücksichtigenden Werte schließt aber nicht bloß vielfach die Möglichkeit allgemeingültiger Urteile auf diesem Gebiet aus, sondern hat auch zur Folge, daß der Einzelne, der eine Entscheidung zu treffen hat, häufig für sich allein zu keinem sicheren und ihm selbst unzweifelhaften Resultat gelangen kann. Wenn die in Betracht kommenden Werte sich einigermaßen das Gleichgewicht halten und das Zünglein an der Waage dauernd hin und her schwankt, dann muß der Abschluß schließlich durch einen Willensakt erfolgen und deshalb kommen unter den Faktoren, durch welche die Aus- und Fortbildung des Rechtssystems zu erfolgen hat, neben den Werturteilen auch die Willensentscheidungen in Betracht. Eine derartige Willensentscheidung nimmt nicht bloß der Richter vor,, der in zweifelhaften Fällen sein Urteil fällen muß, auch beim Schriftsteller, dem Dozenten, der eine Ansicht als die richtige aufstellt und verteidigt, ist unter Umständen eine solche Willensentscheidung vorhanden.

Wenn die vorstehenden Betrachtungen richtig sind, so dürften sich aus denselben verschiedene für Theorie und Praxis wichtige Konsequenzen ableiten lassen.

Die wichtigste Konsequenz scheint mir darin zu bestehen, daß eine größere Beachtung der methodischen Gesichtspunkte, eine genauere Präzisierung der Fragestellung einzutreten hat. Kreuzen sich auf juristischem Gebiet die allerverschiedenartigsten Betrachtungen, wechseln rein logische Fragen mit Werturteilen und Willensentscheidungen, so scheint es mir hier mehr als anderswo geboten, die Fragen scharf zu sondern und bei jedem Problem genau festzustellen, auf welchem Weg eine Lösung zu erzielen ist und ob eine solche Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben kann. Manche Streitfrage, mit deren Lösung man sich jetzt abmüht, wird vielleicht ihren Abschluß in dem Nachweis finden, daß eine sichere und zweifellose Entscheidung überhaupt nicht möglich ist. Die Behauptung, daß auf juristischem Gebiet, insbesondere bei der richterlichen Tätigkeit Willensentscheidungen notwendig sind, ist schon öfters aufgestellt worden. Aber es genügt nicht, zur Begründung dieser Behauptung den schon den römischen Juristen ausgesprochenen Satz zu wiederholen, daß die Fülle der Bildungen des praktischen Lebens so groß sei, daß der Gesetzgeber unmöglich alle einzelnen Fälle besonders normieren könne. Denn es ist hierbei durchaus nicht ohne weiteres einleuchtend, warum die Entscheidungen für die vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich behandelten Fälle nicht in logisch unzweifelhafter Weise aus den gegebenen Vorschriften abgeleitet werden können. Es ist vielmehr eine genauere Begründung und zugleich eine Abgrenzung des Gebiets erforderlich, auf welchem der Fortschritt auf dem Weg der Werturteile und Willensentscheidungen erfolgt. Und dies ist nur zu erzielen, indem die verschiedenen geistigen Operationen, die auf juristischem Gebiet vorkommen, im Einzelnen darauf geprüft werden, inwieweit sie rein logischer Natur sind, oder auf Wertschätzungen oder Willensentscheidungen beruhen. Die vorstehenden Betrachtungen erheben selbstverstänglich nicht den Anspruch, in dieser Richtung etwas Vollständiges zu bieten, sie haben nur die Aufgabe, die Notwendigkeit und Möglichkeit derartiger Untersuchungen darzulegen.

Wenn die methodische Forschung bei dem Resultat anlangt, daß die Entscheidung durch einen Willensakt zu erfolgen hat, so ist damit die wissenschaftliche Arbeit nicht abgeschlossen. Es wird sich dann einmal darum handeln, alle die Umstände, welche bei der Willensentscheidung Beachtung verdienen, möglichst vollständig anzuführen. Und wenn auch die Abschätzung der Werte unter Umständen ein rein subjektives Element enthält, so ist damit doch nicht ausgeschlossen, daß Argumentationen in Bezug auf die Wertverhältnisse stattfinden und Erfolg haben. Die Wertschätzungen, welche auf dem Gebiet des Zivilrechts Ausschlag gebend sind, beruhen vielfach auf sehr komplizierten Gedankengängen, so daß leicht eine Vermehrung unserer Einsicht auch eine Veränderung unserer Werturteile nach sich ziehen kann. Kommen doch z. B. jetzt erst die höher stehenden Gesellschaftsklassen aufgrund mannigfacher Beobachtungen und Untersuchungen zu der Einsicht, daß es auch in ihrem eigenen Interesse liegt, die Lage der Arbeiter zu verbessern.

Soweit irgendwie möglich, muß versucht werden, auf dem Weg der Werturteile und Willensentscheidungen noch zu festen Regeln zu gelangen und eine Einigung der widerstreitenden Ansichten herbeizuführen. In vielen Fällen wird sich dieses Ziel allerdings nicht erreichen lassen, namentlich ist oft eine scharfe Abgrenzung der Regeln, bzw. der in denselben verwendeten Begriffe gar nicht möglich, so daß die Feststellung im einzelnen Fall dem richterlichen Ermessen überlassen werden muß. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn ein Übergang von einem Begriff zum andern durch eine Reihe von zahlreichen Zwischengliedern mit verschwindend kleinen Unterschieden möglich ist. Wenn z. B. oben die Behauptung aufgestellt wurde, daß öffentliche Aufführungen soweit den Schutz des Autorenrechts genießen, wie die auf ihre Komposition gerichtete geistige Arbeit als eine wertvolle bezeichnet werden kann oder wenn das römische Recht in Bezug auf die zu prästierende [leistende - wp] Sorgfalt in erster Linie mit dem Maßstab des  bonus pater familias  [guten Familienvaters - wp] operiert, so sind damit Begriffe gegeben, bei denen eine scharfe Abgrenzung gar nicht möglich ist, vielmehr dem richterlichen Ermessen notwendig ein freier Spielraum bleiben, die Grenzziehung im einzelnen Fall unter Umständen eine mehr oder weniger willkürliche werden muß.

Es darf aber nicht außer Acht gelassen werden, daß es stets ein Übelstand ist, wenn man zu festen Regeln nicht gelangen kann, vielmehr die Entscheidung im einzelnen Fall dem richterlichen Ermessen anheimstellen muß. Es ist eine wohl begründete Forderung des Rechtslebens, daß die rechtlichen Wirkungen und die Ausgänge der Prozesse sich in möglichst großem Umfang mit Sicherheit im Voraus übersehen lassen. Und diese Möglichkeit verschwindet, sobald es an festen, präzisen Rechtsregeln fehlt. Die Verweisung auf das richterliche Ermessen, auf die bona fides [guten Glauben - wp], auf Treu und Glauben redlicher Leute ist wohl ein Auskunftsmittel, zu dem man unter Umständen gedrängt wird, aber sie darf nicht ein Ruhekissen bilden, auf dem man sich eingehende Feststellungen und weitere Arbeit erspart.

Die wissenschaftliche Arbeit ist wohl mühsamer, wenn es sich um die Beeinflussung der Werturteile und der Willensentscheidungen handelt; zu gewinnende Resultate stehen nicht in so naher und sicherer Aussicht, wie wenn sich der Streit nur um ein wahr oder falsch dreht und damit dürfte unter anderem der langsame Fortschritt unserer Wissenschaft zusammenhängen, von dem ich am Eingang gesprochen habe.

Mit dem häufigen Vorkommen von zweifelhaften Werturteilen steht auch die Tatsache in Verbindung, daß wir Juristen oft auf Fragen, die an uns gestellt werden, keine bestimmten und zweifellosen Antworten zu geben vermögen.

Wenn es sich um die Umbildung von Werturteilen oder um den Ausschlag in streitigen Wertfragen handelt, kann die Stimme des Einzelnen nicht in dem Grad Beachtung fordern, wie bei rein logischen Fragen. Dort ist die Zahl der Stimmen mehr geeignet, ins Gewicht zu fallen als hier, wo es ausschließlich auf die Beschaffenheit der angeführten Gründe ankommt. Bei den römischen Juristen, die mehr als wir heutzutage zu Willensentscheidungen geneigt und bereit sind, ist es in großem Umfang üblich, daß ein Schriftsteller sich auf die Autorität anderer beruft, Stimmen für seine Ansicht sammelt, während in unserer Literatur das Bestreben vorherrscht, die Mitarbeiter zu übertreffen. Wir täten vielleicht gut, wenn wir auch in dieser Beziehung die römischen Juristen nachahmen würden, zumindest sofern es sich um Willensentscheidungen handelt.

Sofern die Wertverhältnisse, die bei einer Frage in Betracht kommen, zu keinem zweifellosen Resultat führen, sind in erster Linie die Gerichte berufen, die Entscheidung zu treffen, da sie mit der hierzu nötigen Autorität bekleidet sind. Da die wissenschaftliche Untersuchung in solchen Fällen nicht beanspruchen kann, zu einem unbedingt richtigen Resultat zu führen, so muß sie sich mit einer beratenden Stimme begnügen, die nur  eine  Entscheidung als die bessere und zweckmäßigere empfiehlt. Überhaupt ist vielleicht die Stellung der Theorie gegenüber der Praxis überschätzt worden. Es werden ja auf theoretischer Seite vielfach Klagen geführt über den losen Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis und über den geringen Einfluß, den erstere auf letztere ausübt. Ich bezweifele jedoch, ob diese Klagen begründet sind. Der Theoretiker hat gegenüber dem Praktiker insofern eine bevorzugte Stellung, als er seine Arbeit längere Zeit auf einen Punkt konzentrieren kann, was dem Praktiker in der Regel nicht möglich ist. Der Erstere wird also dem Letzteren gegenüber da im Vorteil sein, wo die Entscheidung einer Frage auf ein sehr umfangreiches Material, sei es historischer oder anderer Natur, zu stützen ist, zu dessen sorgfältiger Durcharbeitung dem Praktiker die Zeit fehlt. Wo diese Voraussetzung nicht zutrifft, wird der Anspruch der Theorie, einen entscheidenden Einfluß auf die Praxis auszuüben, der sich ja schließlich nur auf die Behauptung eines Klügerseins und Besserwissens stützen könnte, Beachtung nicht erwarten können.

In der Praxis selbst wird die Erkenntnis, daß vielfach nicht ganz zweifellose Willensentscheidungen getroffen werden müssen, unter anderem vielleicht insofern von Bedeutung sein, als sie die Unterwerfung der Untergerichte unter die höher stehenden erleichtert. Faktisch geschieht es ja wohl durchgehend, daß die Präjudizien der höher stehenden Gerichte beachtet werden, aber es ist dabei wohl ab und zu die Vorstellung vorhanden, daß es streng genommen doch eigentlich Pflicht des erkennenden Gerichts ist, nach der eigenen Überzeugung zu urteilen,wenn auch das Urteil sicher durch das höher stehende Gericht umgestoßen wird. Diese Anschauung wird jedenfalls da nicht begründet sein, wo das höhere Gericht aufgrund von zweifelhaften Werturteilen eine Willensentscheidung getroffen hat.

Man kann zweifelhaft darüber sein, ob nicht die Willensentscheidungen auf dem Gebiet des Zivilrechts in noch größerem Umfang Platz greifen sollten, als bisher. Ich habe schon angeführt, daß jetzt vielfach Bedenken vorhanden sind, wenn einem dringenden praktischen Bedürfnis zu liebe ein neuer Rechtssatz aufgestellt werden soll. In Zukunft wird ein noch größeres Bedürfnis nach einer Weiterentwicklung des Rechts vorhanden sein, wenn die Bestimmung des Entwurfs, die das Gewohnheitsrecht beseitigt, Gesetz geworden sein wird. Ich hoffe, daß dies der Fall sein wird. Ohne irgendwie den großen Wert zu verkennen, den die Übung des Rechtslebens für die Jurisdiktion hat, scheint es mir doch richtiger, es den Gerichten zu überlassen, sich die wertvollen Sätze aus der Übung selbst nach eigenem Ermessen auszusuchen, als die Gerichte ohne weiteres an den Inhalt einer gleichmäßigen Übung zu binden. Werden die Gerichte, wenn das Gewohnheitsrecht beseitigt wird, sich selbst diese erweiterte Machtstellung beilegen, indem sie dieselbe aus ihrer allgemeinsten Instruktion ableiten, alles das zu tun, was im Interesse einer guten Rechtsprechung notwendig ist, oder wird man den Gerichten eine derartige Befugnis erst ausdrücklich verleihen müssen? Der letztere Weg würde den Vorteil bieten, daß man zugleich die notwendige Weiterbildung des Rechts in der Hand des Reichsgerichts konzentrieren könnte. Und das würde mir wünschenswert erscheinen. Denn es gehört in unseren komplizierten Verhältnissen eine feinfühlende, kundige Hand dazu, um den Pulsschlag des Rechtslebens deutlich zu erkennen und ein selbstbewußter, überlegter Wille, um die dem Rechtsleben heilsamen Anordnungen zu treffen. Die politischen Parteien, deren Tendenz in erster Linie auf eine Steigerung der Parlamentsmacht gerichtet ist, werden allerdings einer derartigen Steigerung der Macht der staatlichen Organe wenig geneigt sein. Aus der Betrachtung des römischen Rechts läßt sich aber wohl die Befürwortung eines solchen Maßregel ableiten. Die Römer haben ihrem Jurisdiktionsmagistrat, dem Prätor, faktisch in großem Umfang legislatorische Funktionen beigelegt und diese Einrichtung hat sich auf das Glänzendste bewährt. Man kann in derselben einen der Gründe erblicken, welche zu der hohen Vollendung des römischen Rechts geführt haben.

In den Plenarbeschlüssen des Reichsgerichts ist zumindest ein Ansatz zu einer derartigen Entwicklung gegeben. Man kann vielleicht Zweifel darüber haben, ob die in Frage stehende Funktion richtig einer großen Versammlung und nicht besser einem engeren Ausschuß übertragen wird. Dem Letzteren anzugehören wäre dann wohl die höchste Ehrenstelle, die der Jurist erreichen kann. Ich glaube jedoch, mich über diese schwierige und zunächst nicht praktische Frage nicht weiter äußern zu sollen, umso weniger, als meine Kollegen ebensogut wie ich in der Lage sind, sich ein Urteil darüber zu bilden, ob und in welchem Umfang große Plenarversammlungen das geeignetste Organ für wichtige und schwierige Entscheidungen sind.

Ich brauche wohl kaum zu befürchten, daß meine Ausführungen dazu beitragen, das Ansehen der Rechtswissenschaft zu vermindern. Die von mir vertretene Auffassung wird mehr als eine andere geeignet sein, die Aufgaben des Juristen als schwierig, ein eifriges Studium zur Vorbereitung als notwendig erscheinen zu lassen. Der Jurist kann nicht alles, was er später im praktischen Leben braucht, auf der Hochschule lernen; er muß unter Umständen an die Lebensverhältnisse, in die er einzugreifen berufen ist, mit einem selbständigen Wertmaßstab herantreten, muß die Entscheidung, die er zu treffen hat, durch einen Willensakt hervorbringen: aber die Tätigkeit des Willens wird nur dann eine segensreiche sein, wenn sie von einem umfassenden Wissen getragen und von weiser Mäßigung geleitet ist.
LITERATUR Gustav Rümelin, Werturteile und Willensentscheidungen im Zivilrecht, Freiburg im Breisgau 1891